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Die europäisch-antiamerikanische Partnerschaft | APuZ 22/1966 | bpb.de

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APuZ 22/1966 Artikel 1 Die europäisch-antiamerikanische Partnerschaft Zukunftsprobleme Chinas

Die europäisch-antiamerikanische Partnerschaft

J. Robert Schaetzel

Kontinuierliche Europa-Politik der USA

überblickt man die internationalen Beziehungen unserer Zeit in ihrer Gesamtheit, so zeichnet sich die amerikanische Politik gegenüber Westeuropa durch eine ungewöhnliche Beständigkeit und Kontinuität aus. Der Wechsel der Präsidenten, Außenminister und Regierungsparteien hat an den Grundlinien dieser Politik nichts geändert. Die Regierung befindet sich dabei im Einklang mit der amerikanischen öffentlichen Meinung, denn der viel-berufene Mann auf der Straße ist nach wie vor fest davon überzeugt, daß Westeuropa für die Vereinigten Staaten lebenswichtig ist.

Die NATO symbolisiert die Metamorphose der amerikanischen Außenpolitik — die Abkehr von 150 Jahren Isolation, die Bereitschaft, eine führende Rolle zu spielen, und die Anerkennung der Tatsache, daß die amerikanische Sicherheit nur in Zusammenarbeit mit einem freien Westeuropa gewährleistet werden kann. In der Einsicht, daß die Bedeutung Europas im Wirtschaftsleben der Welt ständig zunimmt, ergriffen die Vereinigten Staaten 1960 die Initiative zur Gründung einer Parallelorganisation zur NATO, der Organisation für wirtschafliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Das zweite Hauptelement der amerikanischen Politik ist die Unterstützung der Idee eines geeinten Europas. Noch bevor Robert Schuman im Mai 1950 die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl anregte, fügte der amerikanische Kongreß jedes Jahr in das Bewilligungsgesetz für den Marshall-Plan einen Passus ein, in dem Europa ermahnt wurde, sich zu einigen. Diese amerikanische Reaktion ist nicht überraschend; es ist ja ein natürlicher Gedanke, daß Institutionen, die einem Volk gute Dienste leisten, anderen Völkern ebenso nützlich sein könnten. Einer der ersten Amerikaner, der Europa diesen Rat gab, war Benjamin Franklin. Am 22. Oktober 1787 schrieb er aus Philadelphia an Ferdinand Grand in Paris:

Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber nachgedruckt aus FOREIGN AFFAIRS, April 1966. Copyright by the Council on Foreign Relations Inc., New York. „Beigeschlossen sende ich Ihnen die vorgeschlagene neue Bundesverfassung für diese Staaten. Ich habe im letzten Sommer vier Monate lang an der Versammlung teilgenommen, die sie ausgearbeitet hat. Jetzt wird sie vom Kongreß den einzelnen Staaten zur Bestätigung geschickt. Findet sie Beifall, so sehe ich keinen Grund, warum Ihr in Europa nicht das Projekt des guten Heinrich IV. ausführen und, vermittels einer ähnlichen Versammlung, einen Bundesstaat und eine große Republik aller seiner verschiedenen Staaten und Königreiche gründen solltet; denn wir hatten viele Interessen miteinander zu versöhnen." Im Herbst 1962 schien die Verwirklichung der Vision einer atlantischen Partnerschaft — das sich einende Europa in konstruktiver, harmo-

Lucian W. Pye Zukunftsprobleme Chinas......................... S. 15 nischer Zusammenarbeit mit Amerika — zum Greifen nahe. Aber die amerikanischen Erwartungen und das amerikanische Urteil über den Stand der europäischen und atlantischen Angelegenheiten waren stark gefärbt durch naiven Optimismus und nicht selten auch durch Mangel an Wirklicbkeitssinn. Nach Äußerungen des britischen Lordsiegelbewahrers im Unterhaus im November 1962 schien es nur noch eine Sache von Wochen oder allenfalls Monaten zu sein, bis das Vereinigte Königreich seine Verhandlungen abgeschlossen haben und dem Gemeinsamen Markt beigetreten sein würde.

Die bevorstehenden großen Ereignisse in Europa vor Augen, verabschiedete der amerikanische Kongreß den Trade Expansion Act. Dieses Gesetz gab dem Präsidenten bisher beispiellose Vollmachten, über Zollsenkungen zu verhandeln. Es ging von der Annahme aus, daß Europa neue Schritte in Richtung auf die Einheit unternehmen werde, daß Großbritannien und mehrere andere Länder sich diesem Europa anschließen würden und daß man auf beiden Seiten des Atlantiks ein Interesse daran habe, die Handelsschranken abzubauen.

Fragen und Zweifel

Heute herrscht eine andere Stimmung. An die Stelle der Hoffnung sind Fragen und Zweifel getreten. Zwei große Fragen werden gestellt. Erstens: Beweist nicht der unglückselige Stand der Dinge auf der europäischen Seite des Atlantiks, daß der Gedanke eines geeinten Europas ein glänzendes, aber unerreichbares Ziel bleibt, wie er das seit Jahrhunderten gewesen ist? Ist es nicht so, daß die wirkliche Welt nun einmal aus Nationalstaaten besteht? Die andere Frage lautet: Ist mit einem wirtschaftlich und politisch geeinten Europa — vorausgesetzt, daß die Europäische Gemeinschaft ihre augenblicklichen Schwierigkeiten überwindet und wieder in Gang kommt — den amerikanischen Interessen wirklich gedient? Mit einem Europa, das volkreicher ist als die Vereinigten Staaten, dessen wirtschaftliche und technische Kapazität der amerikanischen potentiell gleichkommt und das — dies ist wohl der beunruhigendste Gedanke — seinen eigenen Willen hat?

Die jetzige Krise des Gemeinsamen Marktes ist Teil eines Konflikts, bei dem es um viel mehr geht als um die Geschicke von sechs europäischen Ländern. Zur Debatte steht, wie die freie Welt organisiert werden soll. Soll es vornehmlich auf der Basis von Nationalstaaten geschehen oder durch immer engere Formen der Zusammenarbeit und im Rahmen neuer Institutionen? Die sechs Länder haben sich ehrgeizige Ziele gesetzt und ganz neuartige sehr interessante Institutionen geschaffen; aber die NATO und die OECD stehen durchaus in Einklang mit den politischen Prinzipien die der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zugrunde liegen. So sind auch die Einwände, die die französische Regierung gegen die NATO, ihre integrierte Kommandostruktur und ihr politisches Konsultationsverfahren vorbringt, im wesentlichen die gleichen, die von den Franzosen gegen den Gemeinsamen Markt erhoben werden, zum Beispiel von Präsident de Gaulle in seiner Pressekonferenz am 9. September 1965.

Eine Vorfrage beantwortet sich von selbst: Ist Westeuropa noch wichtig? Alle alten Gründe sind unvermindert gültig. Westeuropa ist die einzige stabile und wohlhabende Region, die imstande ist, gemeinsam mit den Vereingten Staaten die Verantwortung für die Sicherheit und das wirtschaftliche Wohlergehen der freien Welt als Ganzes zu tragen. Zusammen sind die beiden Seiten des Atlantiks an Stärke jedem anderen Machtblock turmhoch überlegen. Sollte Westeuropa zum Osten übergehen, so wäre das eine verhängnisvolle Verschiebung im Gleichgewicht der Mächte. Westeuropa ist heute stabil, und die gemeinsamen Interessen der verschiedenen europäischen Staaten überwiegen; aber auch Leute mit kurzem Gedächtnis sollten noch nicht ganz vergessen haben, welche Katastrophen durch alte europäische Streitigkeiten über die Welt gekommen sind. Die Klugheit gebietet uns, immerfort dafür zu arbeiten, daß das Erreichte bewahrt bleibt.

Chancen der Europa-Idee

Welche Chancen bestehen auf längere Sicht für die europäische Einheit? Was für Unterlagen stehen Amerikanern zur Verfügung, die sich darüber ein begründetes Urteil bilden wollen? Es liegt ein ungeheures Material vor, das sich kaum in Kürze zusammenfassen läßt. Da ist das Netz von Einrichtungen der EWG; da sind staatliche und private Gruppen zur Unterstützung des Einheitsgedankens, der Europarat, das von Jean Monnet gegründete einflußreiche Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten Europas; da sind Arbeiter-, Bauern-und Unternehmerorganisationen, die für ein geeintes Europa eintreten; da sind schließlich Meinungsumfragen. Ein Zitat soll die proeuropäische Stimmung verdeutlichen.

Im November vorigen Jahres erklärte der Präsident des Nationalrats der französischen Industrie (CNPF), George Villiers: „Unsere französische Unternehmerschaft wünscht das [eine Überwindung der Krise des Gemeinsamen Marktes] um so mehr, als sie seit nunmehr fast zehn Jahren Investitionsprogramme, Modernisierung und Anlage der Absatzorganisationen entschlossen so plant und verwirklicht, daß sie zu dem neuen europäischen Wettbewerb passen, den der Gemeinsame Markt geschaffen hat." (France Actuelle, 15. November 1965, S. 2.)

Besonders zuverlässig lassen sich wohl die Aussichten auf ein geeintes Europa an den steigenden Investitionen europäischer und auswärtiger Geldgeber ablesen. Ein weiterer Maßstab ist die Anhängerschaft, die die Idee unter jungen Menschen in allen Ländern Europas und besonders in England hat. Kurz, im Laufe von fünfzehn Jahren hat sich eine breite und tiefe Europa-Bewegung entwickelt. Nach der französischen Präsidentschaftswahl schrieb der hervorragende französische Politologe Raymond Aron im Figaro: „Alle Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Republik gaben sich Mühe, als gute Europäer'zu erscheinen; danach zu urteilen, bleibt die französische Öffentlichkeit der Europa-Idee weiterhin zugetan."

Die französische Öffentlichkeit und Europa

Ohne französische Ideen und ohne französische Führung hätte es keine Europa-Bewegung gegeben. Aber seit der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch Frankreich im Jahre 1954 ist die französische Haltung zur europäischen Einheit der entscheidende Faktor. Im Grunde handelt es sich darum, ob Frankreich und sein Volk, ohne dessen Teilnahme es kein geeintes Europa geben kann, im Begriff ist, sich von der Integration abzuwenden und zum traditionellen System unabhängiger Nationalstaaten zurückzukehren. Ein Amerikaner, der auf diese Frage eine Antwort sucht, hört sich am besten bei Sachverständigen und unparteiischen Franzosen um.

Die Vielfalt der Meinungen ist groß. Im Januar brachte die Zeitschrift Reaiites eine gründliche Studie über französische Ansichten zur Außenpolitik. Die Quintessenz dieser Ansichten lautet: „Ja zum vereinigten Europa, aber nichts überstürzen. . . . Die Franzosen wissen, es ist ein klares, brennendes Problem, das gelöst werden muß. Im allgemeinen sind sie für die Vereinigung; sie sind aber verschiedener Ansicht über die Form, in der sie erfolgen soll. Viele wünschen eine arbeitsfähige, starke europäische Regierung mit einer parlamentarischen Versammlung, die auf Mehrheitsbasis arbeitet. Sie wollen die europäische Integration, aber die Mehrheit möchte eine Union, die die Rechte jedes einzelnen gewährleistet, die die nationale Unabhängigkeit bewahrt, die im Falle schwerwiegender Meinungsverschiedenheiten den Austritt zuläßt." Diese recht widersprüchlichen Ideen zeigen, daß die französische Öffentlichkeit ähnliche Wünsche hat wie alle anderen Menschen: Es soll anders werden, ohne daß sich etwas ändert.

Die Ergebnisse von Meinungsbefragungen vor und nach der französischen Wahl unterstützen diese allgemeinen Schlußfolgerungen. Nach der Wahl analysierte Alain Duhamel (Le Monde, 1. Januar 1966) die Befragungen des Institut Fran ; ais de l'Opinion Publique. Er kam zu dem Schluß, daß Europa und der Gemeinsame Markt unter den großen Problemen an dritter Stelle standen — nach wirtschaftlichen und sozialen Fragen und dem Prestige Frankreichs. Eine Befragung, die das Institut de Science Politique der Pariser Universität Mitte Dezember durchführte, ergab, daß nach Ansicht von 79 Prozent „Europa ein Hauptthema im Wahlkampf war", während 15 Prozent dies bestritten und 6 Prozent keine Meinung hatten. Bei der gleichen Befragung wurde die Frage „Ist Ihre eigene Stimmabgabe von der Stellung der Kandidaten zu Europa und zum Gemeinsamen Markt beeinflußt worden?" wie folgt beantwortet: 51 Prozent sagten „nein", 41 Prozent „ja", 8 Prozent äußerten keine Meinung. Eine andere Frage lautete: „Glauben Sie, daß der Gemeinsame Markt für Frankreich gut oder schlecht ist?" 82 Prozent antworteten „gut", 6 Prozent „schlecht", 12 Prozent waren unentschieden.

Aus ähnlichem Material zieht Aron den Schluß, daß die französische Regierung der vorherrschenden Meinung in Frankreich direkt zuwiderhandeln würde, wenn sie die augenblickliche Krise bis zur Auflösung des Gemeinsamen Marktes triebe. Aron gründet seinen Zukunftsoptimismus und seine Hoffnung auf einen Kompromiß darauf, daß die Regierung „Dolmetsch der tiefen Sehnsucht des Landes sein will. Und die Mehrheit der Nation bleibt der europäischen Idee treu. ..." (Le Figaro, 7. Januar 1966.)

Man kann nur resümieren, daß die Franzosen sehr für ein geeintes Europa sind, daß die Außenpolitik für sie gewiß ein wichtiges, aber kein beherrschendes politisches Thema ist und daß der Durchschnittswähler nicht imstande war, die unterschiedlichen Standpunkte der einzelnen Kandidaten in dieser Frage auseinanderzuhalten. Es scheint, daß über die Grundfrage Europas in den Köpfen der Franzosen keine sehr klaren Vorstellungen bestehen.

Wenn wir die Haupttendenzen der französischen öffentlichen Meinung feststellen wollen, müssen wir uns natürlich die großen Interessengruppen ansehen. In dem mit dem Juli 1965 zu Ende gegangenen Landwirtschaftsjähr empfing Frankreich aus dem Gemeinsamen Markt spezielle Zahlungen im Betrag von über 100 Millionen Dollar. Darin sind die Einkünfte nicht enthalten, die es dank seinem bevorzugten Zugang zu dem großen Markt der Europäischen Gemeinschaft als Mitglied der EWG und als einer ihrer größten Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte erzielte. In dem Maße, wie die gemeinsame Agrarpolitik Wirklichkeit wird, muß sich der Absatzmarkt für die französische Landwirtschaft verbessern und müssen die Zahlungen steigen. Nach Ansicht der französischen Bauernverbände dürfte es der Regierung nicht leicht fallen, Alternativen zu finden, falls Frankreich aus dem Gemeinsamen Markt austreten oder dieser zusammenbrechen sollte.

Die maßgebendste Äußerung zu dieser Frage aus französischen Unternehmerkreisen war die schon genannte von George Villiers im vorigen November. Villiers befürwortete eine wirkliche Wirtschaftsunion, die „mit einem gemeinsamen Markt für Agrarund Industrieprodukte, mit Harmonisierung der allgemeinen Politik, der Gesetzgebung und der Tarife die Voraussetzung für einen ehrlichen und fruchtbaren Wettbewerb ist. In dieser außerordentlich bedeutungsvollen Entwicklung hat es schon zu viele Verzögerungen gegeben...." (France Actuelle, 15. November 1965.)

Diese Ansichten werden nicht zitiert, um politische Entscheidungen auf der Grundlage der öffentlichen Meinung und der Stellungnahmen von Interessengruppen vorauszusagen. Diese sind zwar wichtig, können aber der Regierung nur als positive oder negative Fingerzeige für ihr Handeln dienen. Einige wichtige Punkte scheinen jedoch festzustehen: Frankreich ist europäisch gesinnt; Argwohn und Haß gegen Deutschland sind weitgehend verschwunden; der Gemeinsame Markt und die europäische Einheit haben viele Anhänger.

Wandlung in Großbritannien

Bei der Beurteilung der europäischen öffentlichen Meinung sind die Ansichten der Briten von besonderem Interesse. Erst in jüngster Zeit kommen diesem Inselvolk Zweifel an der berühmten Schlagzeile: „Nebel über dem Ärmelkanal — Kontinent isoliert." Vor Macmillans Ankündigung im Jahre 1961, daß sich Großbritannien um die Mitgliedschaft im Gemeinsamen Markt bewerben werde, betrachteten die meisten Engländer die europäische Integration als eine Donquichotterie, ein Projekt, das allenfalls zweifelhaften Wert hatte und höchstwahrscheinlich den britischen Interessen zuwiderlief. 1962 war in der öffentlichen Meinung des Landes bereits eine beträchtliche Verschiebung zugunsten des Anschlusses an Europa eingetreten. Es war aber noch sehr ungewiß, ob die Befürworter in der Mehrzahl waren.

Im Oktober 1965 teilte National Opinion Poll mit, daß 50 Prozent der Engländer den Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt befürworten, daß 22 Prozent ihn ablehnen und 28 Prozent keine Meinung haben. Die Tendenz wird erkennbar, wenn man das Ergebnis mit dem einer Befragung vom August 1964 vergleicht. Auf die gleiche allgemeine Frage antworteten damals nur 41 Prozent mit Ja, 37 Prozent mit Nein und 22 Prozent waren ohne Meinung.

Am meisten fällt auch hier wieder die Haltung der jungen Menschen auf. In einem Seminar, das kürzlich an der Universität Cambrigde veranstaltet wurde, wurden Christopher Soames, der Außenminister des Schatten-kabinetts, und Lord Walston, der parlamentarische Staatssekretär im Außenministerium, heftig von ihrem studentischen Publikum bedrängt, das eine viel aktivere britische Europa-Politik verlangte.

Im Augenblick dreht sich die Diskussion der Frage in England zwangsläufig mehr um allgemeine Ziele als um einzelne Punkte. Die Engländer sehen keine großen Chancen für eine baldige Wiederaufnahme der Verhandlungen, da die Haltung der französischen Regierung, die zum Abbruch der Verhandlungen im Januar 1963 führte, unverändert erscheint. In einer Darlegung der Gründe, die für die Europäische Gemeinschaft und die Beteiligung Großbritanniens an ihr sprechen, geht Kenneth Younger von Chatham House auf einen Punkt ein, der Europäer auf beiden Seiten des Kanals jetzt stark beschäftigt und für die Anhänger der Idee von einem integrierten Europa oft das Hauptmotiv sein mag. Younger argumentiert, allein die europäische Einheit biete „eine Hoffnung, daß es [Europa] in der Weltpolitik den Einfluß ausüben kann, zu dem seine industriellen und technischen Fähigkeiten es berechtigen". (Listener, 25. November 1965.)

Das deutsche Problem

Younger erörtert dann einen weiteren grundlegenden Faktor, der das Denken von britischen, kontinentaleuropäischen und amerikanischen Fürsprechern eines geeinten Europas stark beeinflußt -— nämlich das deutsche Problem. „Die Zukunft Deutschlands bleibt das zentrale Problem für die Zukunft Europas." Nach Youngers Ansicht gibt es in Deutschland heute kein Streben nach Weltherrschaft oder europäischer Hegemonie, wie es zum Ersten und Zweiten Weltkrieg führte; „. . . aber trotzdem existiert ein ernstes deutsches Problem, das von der Rivalität der Großmächte, der Teilung Deutschlands im Jahre 1945 und der gefährlichen Situation in Berlin herrührt — ein Problem, das noch kompliziert wird durch das schreckliche Erbe der jüngeren deutschen Geschichte, besonders der Nazi-Ara". Younger meint: „Deutsche Staatsmänner der Nachkriegszeit sahen die Lösung nicht in der Wiederbelebung eines rein nationalen deutschen Patriotismus, auch nicht darin, daß Deutschland sich auf immer in die Rolle einer Nation zweiter Klasse schickte, sondern in der Schaffung einer größeren Gemeinschaft, in der die Deutschen einen würdigen Platz finden konnten, ohne bei ihren Partnern das Gespenst einer neuen deutschen Vorherrschaft heraufzubeschwören." Ich teile Youngers Überzeugung, daß sich dieses ausgewogene Konzept bewährt hat. In Deutschland ist die öffentliche Meinung fast einmütig für ein geeintes Europa im Rahmen der nordatlantischen Institutionen mit besonderer Betonung der NATO. Damit verbunden ist ein grundlegendes und natürliches deutsches Ziel: die Wiedervereinigung des Landes. Hierin hat die Bundesrepublik die volle Unterstützung Amerikas. Eine Gefahr für Deutschland und potentiell für seine Verbündete läge darin, wenn der starke und konstruktive deutsche Wunsch nach europäischer Integration und atlantischer Zusammenarbeit nicht befriedigt würde. Würde Deutschland dieser Weg blockiert, dann könnte es seine rastlose Energie ausschließlich anderen Zielen zuwenden, besonders der Wiedervereinigung, und die wichtigen internationalen Verpflichtungen, die es zu tragen hat, vernachlässigen. Aber die führenden deutschen Politiker sind davon überzeugt, daß einem Vorstoß an dieser Front in absehbarer Zeit wegen der sowjetischen Unnachgiebigkeit kaum irgendwelche Chancen beschieden sind. Deutschland könnte durch einen solchen Schritt in eine außenpolitische Sackgasse geraten und herbe Enttäuschungen erleben.

Younger fragt, wie den Deutschen zumute sein wird, wenn wir ihnen das Zukunftsbild eines Europas der Nationalstaaten zeigen, in dem „eine nationale Atombombe das Symbol nationaler Unabhängigkeit ist" — eine Waffe, die Frankreich und Großbritannien beide besitzen und zu behalten gedenken. Er antwortet, im Grunde sei das eine Einladung an die Deutschen, sich wieder ausschließlich „auf ihre eigenen, rein deutschen Kräfte zu verlassen — ein fleißiges Industrievolk in einer geographischen Schlüsselposition, die es ihnen, wenn sie wollen, ermöglicht, die gefährliche . Realpolitik'wiederaufzunehmen, die sie zuerst von Friedrich dem Großen gelernt haben".

Schließlich faßte die Londoner Times (3. Januar 1966) in einem Jahresrückblick die Situation wie folgt zusammen: „Die neue Labour-Regierung hat mit eigenen Augen einiges von Europa gesehen und viel gelernt; sie hat ihre Erfahrung zu einem Zeitpunkt gemacht, wo das Pfund Sterling und das Commonwealth, diese beiden Pfeiler, angeknackst erscheinen. . . . Wenn Mr. Michael Stewart, der Außenminister, einer sozialistischen Versammlung sagen kann, daß er in Europa gern etwas sehen möchte, das mehr dem EWG-Prinzip als dem EFTA-Prinzip entspricht, dann haben sich die Zeiten sichtlich geändert. Kurz, Großbritannien steht Europa viel näher als je zuvor. Die große Frage ist nicht ob, sondern wann.“

Amerikanische Wünsche

Wenn wir annehmen, daß es auch künftig eine zwar nicht gleichmäßige, aber doch anhaltende Bewegung für ein geeintes Europa geben wird, so bleibt die Frage, ob das vom amerikanischen Standpunkt wünschenswert ist. Dabei müssen wir uns über eines klar sein: Was die Europäer tun, muß nicht notwendig in allen Punkten mit dem übereinstimmen, was die Vereinigten Staaten als in ihrem Interesse liegend betrachten, und ebensowenig werden amerikanische Vorstellungen von der Organisation Europas das Denken der Europäer beherrschen. Das entbindet die Amerikaner jedoch nicht von der Pflicht, sich Gedanken zu machen über das Europa, das sie entstehen sehen möchten.

Was Amerika wünscht — und braucht —, ist erstens, ganz einfach ausgedrückt, ein politisch stabiles und wirtschaftlich blühendes Europa, das fähig und willens ist, einen angemessenen Beitrag zu seiner eigenen Sicherheit und der der Allianz zu leisten. Zweitens ist es das Ziel der Vereinigten Staaten, daß Deutschland, das zentrale ungelöste Problem des Zweiten Weltkrieges, gleichberechtigt die Lasten und Verantwortlichkeiten der atlantischen Welt tragen hilft, und zwar innerhalb des stabilisierenden Rahmens, den es selbst wünscht, nämlich in den Institutionen der Europäischen Gemeinschaft und der NATO. Drittens wünscht Amerika, daß Europa — das einzige Gebilde von wirklichem Großmachtcharakter in der freien Welt außerhalb der Vereinigten Staaten — seinen Einsatz für wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit in anderen Weltteilen nicht einschränkt, sondern erweitert. Viertens hoffen die Vereinigten Staaten, daß Westeuropa gemeinsam mit ihnen nach Wegen sucht, die friedlichen Kontakte zwischen Ost und West auszuweiten, mit dem Ziel, durch einen evolutionären Wandel im Osten zu normaleren, für beide Teile vorteilhaften Beziehungen zwischen den Nationen Osteuropas und denen des Nordatlantiks zu kommen.

Rückkehr zum Nationalismus?

Es gibt, in groben Zügen, drei verschiedene Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen Europa und Nordamerika zu organisieren. Die erste ist das System der Nationalstaaten. Es hat vor allem den Vorteil, daß jedermann daran gewöhnt ist. Es gestattet den Menschen, im alten Trott weiterzumachen. Für Amerikaner, die einem geeinten Europa mit Sorge entgegensehen und befürchten, es könnte eigenwillige Ideen entwickeln, hat das aus dem 19. Jahrhundert stammende System der Nationalstaaten den Vorzug, nicht mit unbekannten, sondern mit bekannten Gefahren zu drohen. Angesichts der Tatsache, daß das Bruttosozialprodukt des größten europäischen Staates (Deutschland) nur etwa 15 Prozent desjenigen der Vereinigten Staaten ausmacht, haben die Amerikaner wenig Grund zu der Befürchtung, daß einer der größeren europäischen Staaten für sich allein imstande wäre, die westliche Politik zu diktieren. Mit einem Wort: diese Form der atlantischen Organisation scheint die verlockende Aussicht auf bewußte oder unbewußte Vorherrschaft Amerikas zu bieten, die sich einige als eine Art amerikanischen Commonwealth vorstellen.

Keine Chancen für eine atlantische Föderation

Die zweite Möglichkeit ist die atlantische Union oder die förderative atlantische Gemeinschaft. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, unmittelbar nach einem Weltkrieg, der alles verändert hatte und eine Zeitlang alles möglich erscheinen ließ, fand die Idee einer föderativen atlantischen Union viel Beachtung. Entschließungen des amerikanischen Kongresses sprachen sich für sie aus. Die unermüdlichen Fürsprecher dieser Idee sind von den höchsten Motiven beflügelt. Sie wissen das gemeinsame kulturelle und politische Erbe Europas und Amerikas zu würdigen und erkennen klar die Notwendigkeit, das große Machtpotential der Nordatlantik-Staaten in eine organisierte Form zu bringen. Sie fordern Washington auf, die Initiative zu ergreifen und nach dem Vorbild des Konvents zu Philadelphia von 1787 eine atlantische Versammlung einzuberufen. Sie sind begeistert von der Vorstellung, daß eine Konferenz im 20. Jahrhundert zusammentreten und die Verfassung einer nordatlantischen Föderation ausarbeiten könnte.

Wenn es für die atlantische Union jemals eine Chance gab, dann in den dunklen Nachkriegsjahren. Das notleidende und politisch demoralisierte Europa hatte damals kaum eine Wahl und war in seiner verzweifelten Lage bereit, nahezu jede Lösung auszuprobieren. Die Vereinigten Staaten, in neuem Kraftbewußtsein und befreit von der außenpolitischen Selbstbeschränkung der Vergangenheit, zeigten sich für Neuerungen sehr aufgeschlossen; zudem waren sie — auch das war sehr wichtig — um 1948 zu der Überzeugung gekommen, daß die Sowjetunion unter Stalin entschlossen nach der Weltherrschaft strebte. Aber selbst in jenen einzigartigen Jahren schöpferischer Gärung wurde die atlantische Union niemals zum Gegenstand ernsthafter zwischenstaatlicher Verhandlungen gemacht. Heute ist zwar nach wie vor das Ziel glaubhaft und die Begründung unanfechtbar, aber bei den Völkern und Regierungen hat der Gedanke wenige Anhänger — besonders in Europa. Manche Befürworter einer atlantischen Föderation behaupten, die Idee würde der französischen Regierung zusagen. Indes ist der Widerstand Frankreichs gegen Mehrheitsentscheidungen im Kreis der sechs Länder, sein Widerstreben, einem gemeinsamen Exekutivorgan Machtbefugnisse einzuräumen, eine Hauptursache des gegenwärtigen innereuropäischen Streits. Durch welchen logischen Salto mortale schließt man dann auf eine Bereitschaft Frankreichs, ähnliche Beschränkungen seiner Souveränität in einer größeren atlantischen Gemeinschaft hinzunehmen, die noch dazu unweigerlich von den Vereinigten Staaten beherrscht würde?

Machtunterschied zwischen Amerika und Europa

Einige Probleme wären in der atlantischen Union die gleichen wie im System der Nationalstaaten. Von überragender Bedeutung ist der große und weiterhin wachsende Unterschied an Macht — politischer, militärischer und wirtschaftlicher Macht — zwischen den Vereinigten Staaten und selbst den stärksten europäischen Ländern. Die amerikanische Vorherrschaft in diesen beiden Systemen mag manchen Amerikanern als reizvoller Vorzug erscheinen, aber man muß auch die nachteiligen Nebenwirkungen erkennen. Der Hauptnachteil eines sehr unausgewogenen transatlantischen Verhältnisses besteht darin, daß Amerika gezwungen ist, die Hauptverantwortung für die Sicherheit der freien Welt zu tragen. Diese Bürde ist den Vereinigten Staaten in einem historischen Zeitpunkt zugefallen, wo die Stellung des Führers keinen der wirklichen oder eingebildeten Vorteile mehr bietet, denen zuliebe sich die europäischen Staaten im 18. und 19. Jahrhundert in ihre imperialen Abenteuer stürzten. Die Amerikaner zeigen auch gar keine Freude am einsamen Glanz ihrer weltpolitischen Führerrolle. Sie sind ihrer psychischen Anlage nach ein Volk, das Kollegen und Partner haben will.

In diesem Zusammenhang erlangt der Macht-unterschied seine Bedeutung. Die einzelnen europäischen Länder sind auf Grund ihrer Kleinheit und ihrer beschränkten Mittel weder willens noch imstande, mehr als eine Handlangerrolle zu spielen. Und die Vereinigten Staaten, die einen großen Teil der Lasten und Kosten tragen, können realistischerweise nicht die Verantwortung für politische Entscheidungen mit widerwilligen Juniorpartnern teilen. Der alte Verfassungsgrundsatz wird umgedreht und lautet nun: „Keine Vertretung ohne Besteuerung." Es ist ein Teufelskreis: Amerika wünscht die Teilnahme Europas, kann aber seine Entscheidungsrechte nicht wirklich mit ihm teilen, solange die Europäer nicht einen Beitrag leisten, der dem amerikanischen in der Größenordnung angemessen ist; die Europäer verfügen weder über die für einen solchen Beitrag erforderliche Organisation, noch sind sie sehr daran interessiert, ihn zu leisten.

Einige der kleineren Mitglieder der Allianz bekunden die größte Zufriedenheit mit dem derzeitigen Stand der Dinge, daß nämlich die Sicherheit Westeuropas durch die Macht Amerikas gewährleistet wird; es sind zugleich diejenigen NATO-Mitglieder, welche die geringsten materiellen Opfer für ihre eigene oder die gemeinsame Sicherheit bringen. Mit Verteidigungsaufwendungen von etwa drei Prozent ihres Bruttosozialprodukts stehen sie am unteren Ende des Ausgabenspektrums. Die meisten dieser NATO-Länder haben keine allgemeine Wehrpflicht. Die durchschnittliche Dienstzeit beträgt ungefähr zwölf Monate. In den Vereinigten Staaten besteht allgemeine Wehrpflicht. Die Dienstzeit beläuft sich je nach Waffengattung auf zwei bis vier Jahre. In den kleineren Ländern stehen etwa 1, 1 Prozent der Bevölkerung im Militärdienst, in den Vereinigten Staaten dagegen 1, 5 Prozent — rund ein Drittel mehr. Aus diesen groben Zahlenangaben ziehe ich den Schluß, daß Größe und Verantwortung in einem richtigen Verhältnis zueinander stehen. Warum sollten sich kleine Länder danach drängen, hohe Rechnungen für die gemeinsame Verteidigung zu bezahlen? Können sie, wenn sie ihre Verteidigungsleistungen verdoppeln, überzeugt sein, daß dann auch ihre Sicherheit doppelt so groß ist?

Irritierte Amerikaner

Beunruhigend sind die Auswirkungen dieser europäischen Verhaltensweisen auf die Haltung der Amerikaner. Diese werden gereizt, wenn sie sehen, wie ihr Land überall in der Welt den Gendarmen spielen muß, während die „wohlhabenden Europäer" — so das gängige Bild — die Sicherheit genießen, die sie den nicht genügend gewürdigten amerikanischen Bemühungen verdanken. Die Amerikaner neigen dazu, einige wichtige Punkte zu übersehen: Die Europäer leisten einen wesentlichen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung; die amerikanischen Truppen in Europa sind nicht nur zum Schutz Westeuropas, sondern auch zum Schutze Amerikas dort; man kann die Vereinigten Staaten mit seinem Bruttosozialprodukt von 700 Milliarden Dollar nicht mit den einzelnen europäischen Staaten vergleichen. Aber die Flut irrationaler Gereiztheit und Kritik kann steigen und schließlich in die Forderung münden: Wenn Europa nicht bereit ist, sich selbst zu verteidigen oder uns beim Ausgleich unserer Zahlungsbilanz zu helfen oder einen angemessenen Beitrag in Südostasien zu leisten, dann ist es angebracht, das amerikanische Engagement in Europa zu vermindern. Besonders ins Auge fallend ist der Macht-unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und den europäischen Ländern an den vorgeschobenen wissenschaftlichen Fronten der modernen Wirtschaft. Eine der besten Analysen dieses Unterschieds ist in einem neueren Bericht der OECD enthalten. Daraus geht hervor, daß die Vereinigten Staaten im Jahre 1962 für Forschung und Entwicklung viermal soviel ausgegeben haben wie Westeuropa und drei-bis viermal soviel wie die UdSSR. (Summary Report 31, 16. April 1965, S. 11.) Das gleiche Bild ergibt sich bei der sogenannten „Zahlungsbilanz" für technisches Fachwissen (Patente, Lizenzen und dergleichen), die stark zugunsten der Vereinigten Staaten ausfällt. Ein vielkritisiertes Phänomen ist der Zustrom von Wissenschaftlern nach Amerika. Die Anziehungskraft, die die Vereinigten Staaten auf fähige Europäer ausüben, ist zwar so alt wie die nordamerikanische Republik selbst; aber der Zustrom wächst ständig und ist schon zum Gegenstand von Kontroversen geworden. Nach dem eben zitierten Bericht belief sich die Zahl der in die Vereinigten Staaten einwandernden Wissenschaftler und Ingenieure von 1952 bis 1963 jährlich „auf über 4 Prozent der Gesamtzahl der einheimischen [amerikanischen] Hochschulabsolventen technischer und naturwissenschaftlicher Fächer und erreichte 1957 einen Höchststand von acht Prozent".

Dritter Weg: Partnerschaft

Die dritte Möglichkeit ist die der Partnerschaft mit einem sich einenden Europa. Die Bedeutung des Wortes „Partnerschaft" ist an sich eng umschrieben. Aber in dem Sinne, wie es 1962 von Präsident Kennedy und anschließend von Präsident Johnson gebraucht wurde, drückt es eine weitgespannte Idee aus — die Idee eines geeinten Europas, mit dem die Vereinigten Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung eng zusammenarbeiten können. Eine auf dieses Ziel gerichtete Politik wäre durchaus nicht frei von Problemen und Ungewißheiten. Die Ungewißheiten des Augenblicks liegen nur allzu deutlich auf der Hand; zum Beispiel sind die Zollverhandlungen der Kennedy-Runde praktisch festgefahren, solange die Krise des Gemeinsamen Marktes nicht gelöst ist. Selbst angenommen, daß sich die Europäer untereinander verständigen und wieder zu einem Bewußtsein gemeinsamer Ziele kommen, so liegen doch auf dem Wege der atlantischen Partner viele Schwierigkeiten. Die Aufgabe, Europa zu einigen, wird allein schon durch ihre Größe und Neuheit die Europäer ganz in Anspruch nehmen. Mit diesen Angelegenheiten beschäftigt, werden die europäischen Regierungen zumindest fürs erste weniger geneigt sein, ihre Aufmerksamkeit gemeinsamen europäisch-amerikanischen Problemen zuzuwenden —-selbst wenn sie sie als solche anerkennen — oder wichtigen internationalen Fragen eine hohe Dringlichkeit einzuräumen. Unvermeidlich ist auch ein gewisses Maß von „europäischem Nationalismus". Damit ist kein aggressiver Nationalismus gemeint, sondern eine egozentrische Haltung: Die Europäer werden sich in erster Linie für die Entwicklung des geeinten Europas interessieren. Es ist auch nicht zu erwarten, daß die Haltung der Europäer völlig frei von Antiamerikanismus sein wird. Gerade weil das Riesenmaß Amerikas anspornend auf die Schaffung eines geeinten Europas wirkt, werden die sich herausbildenden atlantischen Beziehungen von Neid und Ressentiments gefärbt sein, und mitunter wird sich Europa auch bewußt von den Vereinigten Staaten distanzieren.

Aus einem gewissen Abstand und auf längere Sicht betrachtet, scheinen jedoch die Grund-interessen der Vereinigten Staaten und Europas einander nicht zu widerstreiten, sondern zusammenzufallen. In den grundlegenden Wertvorstellungen gibt es kaum Unterschiede. Die komplexen Industriegesellschaften Europas und Amerikas sind theoretisch und praktisch miteinander verbunden und ringen im wesentlichen mit den gleichen Problemen. In bezug auf Einzellösungen mag es Meinungs-versdriedenheiten geben; sie kommen auch unter Amerikanern und unter Europäern vor. Es ist schwer vorstellbar, daß unterschiedliche Ambitionen oder Zielsetzungen in der Politik gegenüber den unterentwickelten Teilen der Welt zu Konflikten zwischen den atlantischen Nationen führen könnten. Außer in den Köpfen von Propagandisten und unverbesserlichen Marxisten gibt es keine kolonialistischen Bestrebungen Europas oder Amerikas. Es geht heute genau um das Gegenteil: Wie zügelt man das Streben der Europäer — und auch der Amerikaner —, sich zurückzuziehen, die Verantwortung für Sicherheit und Entwicklung auf andere Schultern zu laden?

Manche Europäer sehen das Eintreten der Amerikaner für die europäische Einheit als Heuchelei an. Wenn der Verlust der nationalen Souveränität gut für Europa ist, warum ist er dann nicht auch gut für Amerika? Eine Antwort auf diese Frage lautet: Die Amerikaner sehen es im Augenblick als nicht besonders dringlich an, Einschränkungen ihrer nationalen Handlungsfreiheit zu erwägen. Die Bereitschaft dazu wird vermutlich vorhanden sein, wenn es zu einer Krise kommt oder wenn Europa so organisiert ist, daß derartige Veränderungen oder Einschränkungen attraktiv, notwendig oder unvermeidlich werden. Es gibt einige Anzeichen dafür, daß ein solcher Anstoß grundlegende Wandlungen herbeiführen könnte.

Amerikaner wären zu Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit bereit

Der Beschluß der amerikanischen Regierung im Jahre 1962, kühne neue Schritte zur Liberalisierung des Handels zu unternehmen, ist zweifelsfrei auf den Erfolg des Gemeinsamen Marktes und auf europäische Ideen über den Inhalt künftiger Zollverhandlungen zurückzuführen. Der Gemeinsame Markt hat den Europäern bewiesen, daß ihre Befürchtungen wegen des teilweisen Wegfalles der Schutzzölle übertrieben waren, daß man durch Beseitigung der Handelsschranken das wirtschaftliche Wachstum anregen und den Lebensstandard heben kann. Der Zweck des Trade Expansion Act war es unter anderem, die daraus gezogenen Lehren allgemein nutzbar zu machen und die vorteilhaften Wirkungen der Handelsausweitung auf die übrige Welt auszudehnen. Aber sogar die amerikanischen Erwägungen, die dem Angebot einer fünfprozentigen linearen Zollsenkung zugrunde lagen, hatten ihre Wurzel in einem früheren, vom Gemeinsamen Markt angenommenen französischen Vorschlag, eine zwanzigprozentige lineare Senkung im gemeinsamen Außentarif der Gemeinschaft anzubieten. Dieser Vorschlag setzte die Vereinigten Staaten unter Druck, doch waren sie zur Zeit der Dillon-Runde nicht in der Lage, Gegenvorschläge auf gleicher Basis zu unterbreiten. Diese historische europäische Initiative bewog den Präsidenten, die neuen Vollmachten zu verlangen, die ihm die Legislative auch gewährte.

Ein anderes Beispiel findet sich auf dem Gebiet der Währungspolitik. Im Jahre 1961 fanden in der Gruppe der Zehn (Vereinigte Staaten, die Hauptländer Westeuropas, Kanada und Japan) Verhandlungen statt zur Festlegung der Formen, in denen der Internationale Währungsfonds im Bedarfsfall bei den genannten Ländern Anleihen zur Auffüllung seiner finanziellen Reserven machen könnte. Nach seinem Statut faßt der Fonds seine laufenden Beschlüsse auf Grund eines Stimmenschlüssels, der die Stimmen entsprechend der Höhe der Beiträge zum Fonds verteilt. Nach diesem Schlüssel haben die Vereinigten Staaten von allen Mitgliedsländern die größte Stimmen-zahl. In den Verhandlungen von 1961 beantragten die Kontinentaleuropäer, deren finanzielle Position sich inzwischen bedeutend verbessert hatte, eine grundlegende Abänderung des Abstimmungsverfahrens zu ihren Gunsten, und die Vereinigten Staaten erklärten sich einverstanden. Diese Beispiele besitzen keine absolute Beweiskraft, aber sie deuten doch darauf hin, daß sich die Vereinigten Staaten für europäische Ansichten empfänglich zeigten, wenn ih-nen eine organisierte europäische Macht gegenüberstand. Die Ergebnisse lagen in beiden Fällen im allgemeinen Interesse — auch im amerikanischen.

Partnerschaft und amerikanische Interessen

Im Licht dieser Analyse ist es möglich, die drei Alternativen — Nationalismus, atlantische Union und atlantische Partnerschaft — unter dem Gesichtspunkt der vier Hauptinteressen der Vereinigten Staaten zu prüfen.

Ihr erstes Ziel sind wirtschaftliches Wachstum und eine gerechtere Verteilung der Sicherheitslasten. In dieser Hinsicht können weder der Nationalismus noch eine lockere, von den Vereinigten Staaten beherrschte atlantische Union soviel leisten wie die Politik der atlantischen Partnerschaft. Diese These beruht nicht auf politischer Spekulation, sondern ergibt sich aus bekannten Verhaltensweisen, aus den gegenwärtigen Beiträgen der kleineren Länder und aus der abnehmenden Bedeutung der größeren europäischen Staaten.

Hinsichtlich des deutschen Problems versagen die Lösungen, die der Nationalismus und die atlantische Gemeinschaft zu bieten haben, im entscheidenden Punkt. Die klassische Weltordnung souveräner Nationalstaaten überläßt Deutschland wiederum seinem Schicksal. Es war 1950 Adenauers bewußte Entscheidung, Deutschlands Zukunft an eine europäische Gemeinschaft zu binden. Das ist bis zum heutigen Tag das Kernstück der deutschen Außenpolitik. Zugleich hat sich Deutschland die europäische Einheit niemals losgelöst von einer starken atlantischen Partnerschaft vorgestellt.

Im Hinblick auf die Dritte Welt — die weniger entwickelten Länder der südlichen Hemisphäre — besteht das Problem darin, bei den Europäern das Gefühl für Mitverantwortung zu stärken und sie zu tatkräftigerer Mitarbeit anzuregen. Im Augenblick ist ein Nachlassen des europäischen Interesses festzustellen. Viele Europäer haben heute den Eindruck, nur Handlanger der Vereinigten Staaten zu sein. Daß sich an diesem Zustand in einem System von Nationalstaaten oder einer lose organisierten atlantischen Gemeinschaft, in der die europäischen Staaten nur kleine Bestandteile wären, nichts ändern würde, braucht wohl nicht erst bewiesen zu werden.

Schließlich das schwierige Problem der Normalisierung der Beziehungen zum Osten: Hier kann man mit Professor Brzezinski annehmen, daß ein wirtschaftlich blühendes, politisch stabiles und geeintes Westeuropa am ehesten in der Lage ist, evolutionäre Wandlungen von jener Art auszulösen, wie wir sie anstreben.

Sollte die westeuropäische Einheit zerbröckeln und das System der Nationalstaaten neu erstehen, so verschwände damit eine Phänomen, das jetzt auf den Osten magnetische Anziehungskraft ausübt.

Selbst aus dieser kurzgefaßten Analyse geht klar hervor, daß wir uns im Grunde zwischen einem System europäischer Nationalstaaten und einer atlantischen Partnerschaft entscheiden müssen. Die Chancen einer atlantischen Union — oder Föderation — sind von vornherein gering, und zwar hauptsächlich deshalb, weil diese Alternative bei den Europäern zur Zeit so wenig Anklang findet. Es ist jedoch anzumerken, daß später einmal das Interesse an der atlantischen Partnerschaft durchaus mit dem Interesse an einer atlantischen Union zusammenfallen kann. Im Begriff der atlantischen Partnerschaft liegt nichts, was den dereinstigen Zusammenschluß eines vereinigten Europas mit den Vereinigten Staaten ausschlösse.

Mag man also die Politik der atlantischen Partnerschaft für richtig halten, so ist es doch eine Politik, die im Augenblick nicht vom Fleck kommt. Es gibt praktisch keinen europäischen Partner. Die Amerikaner sind sich der Tatsache sehr genau bewußt, daß die Welt nicht stillsteht und wartet, bis die atlantischen Nationen ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht haben. Sie sind ein ungeduldiges Volk und gehen an die Außenpolitik etwa mit der gleichen Einstellung heran, die sie veranlaßt, zwei Jahre alte Autos umzutauschen. Je älter eine Politik, desto verdächtiger ist sie. Aber am verdächtigsten ist eine alte Politik, die offenbar zu keinen Ergebnissen führt. Diese gefühlsmäßige Reaktion steht in starkem Widerspruch zur Geschichte großer politischer und sozialer Ideen. Alle Bewegungen, die das Denken der Menschen oder die Ordnung ihrer Angelegenheiten von Grund auf verändert haben, mußten harten Widerstand und große Trägheit überwinden.

Eines von zahllosen Beispielen, die diesen Satz bestätigen, ist die Zähigkeit, mit der Cavour die Einigung Italiens betrieb. Von den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an nahm eine Generation von Italienern eine Aufgabe in Angriff, deren Lösung erdrückend schwer, wenn nicht hoffnungslos erscheinen mußte. Cavour war entschlossen, die ausländische Herrschaft abzuschütteln und die kleinen Regionalstaaten zu einem einheitlichen, unabhängigen Italien zusammenzuschließen. Der Aufstand Mazzinis von 1833 scheiterte; ebenso der Aufstand des Jungen Italiens von 1834; die sardinischen Streitkräfte wurden 1848 und 1849 geschlagen; erst 1860 wendete sich das Blatt. Im März 1861 trat das erste italienische Parlament zusammen und proklamierte das Königreich Italien. Drei Monate später starb Cavour. Um die Richtigkeit einer auf lange Sicht berechneten Politik zu beurteilen, braucht man feinere Kriterien; unmittelbare Resultate reichen nicht aus.

Zukünftige Möglichkeiten im Auge behalten

Es bleibt jedoch eine Tatsache, daß die Politik der atlantischen Partnerschaft im Augenblick stagniert. Was ist zu tun? Sicherlich bedarf es der Klarheit über die „strategische Richtung". Bei Regierungsbeamten und Privatleuten, die ihre eigenen Entscheidungen zu treffen haben, sollte darüber nie ein Zweifel aufkommen dürfen. Diese strategische Richtung wird in periodischen Erklärungen gewiesen, zum Beispiel in Präsident Johnsons Rede vom 7. Mai 1965 und im Johnson-Erhard-Kommunique nach dem Treffen der beiden Staatsmänner in Washington im Dezember 1965. Aber daneben ist es auch wichtig, wie Amerikaner und Europäer mit den Problemen des Augenblicks fertig werden. Ein Beispiel: Trotz der Wichtigkeit und Dringlichkeit der Verhandlungen der Kennedy-Runde haben die Amerikaner und andere Diskussionsteilnehmer eingesehen, daß die EWG zunächst ihre eigenen Angelegenheiten regeln muß, ehe ernsthafte Gespräche wiederaufgenommen werden können. Zugleich hat Amerika erkannt, daß die EWG für diese Verhandlungen entscheidend ist und als Einheit behandelt werden muß.

Als zweites Beispiel kann das Problem der europäischen Nuklearbewaffnung dienen, gleichgültig, wie es schließlich gelöst werden mag. Europäischen Wünschen nachkommend, haben sich die Vereinigten Staaten bereit erklärt, in jeden dereinst zustande kommenden Plan eine „Europa-Klausel" aufzunehmen. Diese Klausel soll sicherstellen, daß gewisse Wahlmöglichkeiten offenbleiben. Ohne Voraussagen über die Organisation Europas zu machen oder auch nur amerikanische Wünsche in dieser Hinsicht anzudeuten, würde die Klausel besagen: „Wenn zu irgendeinem künftigen Zeitpunkt ein vereinigtes Europa entsteht, das fähig ist, grundlegende Entscheidungen über Krieg und Frieden zu fällen, dann soll das, worüber wir uns jetzt geeinigt haben, der Überprüfung und neuerlichen Verhandlungen im Lichte dieser fundamentalen Veränderungen unterworfen sein." Amerika sollte also Augenblicksprobleme, wenn es kann, so behandeln, daß dadurch seine strategischen Ziele gefördert werden; ist das nicht möglich, dann sollte es wenigstens keine Möglichkeiten verbauen, die offenzuhalten sowohl die Amerikaner als auch die Europäer wünschen.

Man kann die Frage aufwerfen, ob das Ziel der atlantischen Partnerschaft nicht zu weit-gespannt sei. Kühnheit in den reinen Wissenschaften ist heutzutage für uns etwas Selbstverständliches, aber wir zögern, in unserem politischen Verhalten ebensolche Kühnheit an den Tag zu legen. Allgemein wird die Meinung vertreten, große politische Veränderungen seien nur möglich unter dem Druck der Umstände oder in Zeiten akuter, handgreiflicher Gefahr. Ich bestreite diese Ansicht. Aber selbst angenommen, für politische Neuerungen bedürfe man der Gefahr als Ansporn, dann haben wir ja Gefahr im Überfluß, mag sie auch nicht immer in eindeutiger Gestalt auftreten. Richtig begriffen, müßte sie den Anstoß zur Entwicklung neuer, schöpferischer und lebensfähiger politischer Ideen geben. Ein Rahmen, in dem solche Ideen Gestalt annehmen könnten, ist die keimhafte Konzeption einer atlantischen Partnerschaft.

Die Idee der europäischen Einheit ist nicht mehr auszurotten

Statt Spekulationen anzustellen und Hoffnungen nachzuhängen, habe ich versucht, Tatsachen und grundlegende Interessen aufzuzeigen. Aber die wichtigste „Tatsache" ist doch vielleicht die Zähigkeit, mit der der europäische Geist am Traum von der Einheit festhält. Ideen, die zu tiefen politischen Wandlungen führen, sind gewöhnlich einfach und leicht zu verstehen. Die Einigung Europas ist solch eine Idee. Die Amerikaner sollten in aller Besonnenheit dieses Empfinden richtig würdigen; sie sollten erkennen, daß die Idee der Einheit die Europäer fest in ihrem Bann hält, und sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß die neuen europäischen Institutionen arbeiten, daß sie begonnen haben, den Anforderungen komplexer Industriegesellschaften gerecht zu werden.

Diese Schlußfolgerungen helfen freilich nicht viel zur Voraussage des Zeitpunkts und des Charakters künftiger Schritte. Nicht einmal die eifrigsten Europäer äußern sich optimistisch oder klar über die nähere Zukunft. Eine Perspektive tut not. Die Europäer sind heute und morgen — und hoffentlich übermorgen in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten — damit beschäftigt, politisches Neuland zu erkunden. Sie sind auf der Suche nach neuen Methoden, mit den Wirklichkeiten ihrer eigenen politischen Welt fertig zu werden — Methoden, die den Bedürfnissen und Interessen ihrer Völker entsprechen. Mit der Formel von der „atlantischen Interdependenz" erkennt Amerika an, daß die alten Formen nicht mehr ausreichen und daß es bereit ist, neue Beziehungen ins Auge zu fassen. Es ist für mich unvorstellbar, daß die amerikanische Nation mit ihrer Begabung für das politische Denken und ihrer Tradition erfolgreicher politischer Neuerungen nicht ihren Mann stehen sollte, wenn ihr ein geeintes Europa gegen-übertritt, das fähig und bereit ist, gemeinsam mit ihr die vor uns liegenden Aufgaben anzupacken.

Fussnoten

Weitere Inhalte

J . Robert Schaetzel, Deputy Assistant Secretary of State für Atlantische Angelegenheiten im amerikanischen Außenministerium, geb. 1917 in Kalifornien.