. wir (die Lao Dong [Kommunistische] Partei) erbauen den Sozialismus in Vietnam. Wir erbauen ihn jedoch nur in einer Hälfte des Landes, während wir in der anderen Hälfte erst noch die demokratisch-bürgerliche und antiimperialistische Revolution zum Abschluß bringen müssen. Tatsächlich muß unsere Partei gegenwärtig zwei verschiedene Revolutionen vollenden, im Norden und im Süden. Das ist eines der charakteristischsten Merkmale unseres Kampfes."
Ho Chi Minh, Juni 1959
Drama in mehreren Akten
Der gegenwärtige Kampf in Süd-Vietnam ist seinem Wesen nach der dritte Akt eines noch andauernden politischen Dramas, dessen Prolog sich über die dreißiger Jahre erstreckte, dessen erster Akt in den Jahren 1941 bis 1945 spielte und dessen zweiter den Krieg zwischen den Franzosen und den Vietminh von 1946 bis 1954 umfaßte. Die Szene der Haupthandlung in diesem Drama hat mehrfach gewechselt; dasselbe gilt für die Identität der Neben-darsteller (nämlich die chinesischen Nationalisten, die Briten, die Franzosen, die chinesischen Kommunisten und jetzt die Amerikaner) und die politische Verkleidung einiger der Hauptdarsteller. Während seines ganzen Verlaufes jedoch war das durchgängige Thema dieses Dramas das unermüdliche Ringen der Kommunistischen Partei Vietnams um die politische Herrschaft über ganz Vietnam. Seine Hauptprotagonisten waren immer und sind noch heute die kleine, ergebene und doktrinäre Gruppe, die unter der Führung von Ho Chi Minh die Kommunistische Partei Vietnams in den dreißiger Jahren gründete und aufbaute und nach dem Zweiten Weltkrieg die nationalistische Revolution usurpierte und ihren Zwecken dienstbar machte. Es sind dieselben Leute, die die Macht in dem bereits in Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers nachgedruckt aus FOREIGN AFFAIRS, April 1966. Copyright by the Council on Foreign Relations Inc., New York; siehe auch: George A. Carver, Die Revolution in Süd-Vietnam, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19/66 vom 12. Mai 1965
Nord-Vietnam etablierten kommunistischen Staat ausüben und jetzt den Aufstand steuern, der nunmehr den südlichen Teil des Landes unter ihre Herrschaft bringen soll.
Die Bezeichnung „Vietcong" kam etwa 1956 in Gebrauch als Mittel, um einige der Darsteller in dem gegenwärtigen Akt des andauernden politischen Dramas von den Darstellern im zweiten Akt zu unterscheiden. „Vietcong" ist eine Zusammenziehung der Bezeichnung „Vietnam Cong-San", was ganz einfach „Vietnamesische Kommunisten" bedeutet. Es ist ein beschreibender Ausdruck, nicht notwendig ein abwertender, außer vielleicht für jene, die sich getroffen fühlen. Es ist ein nützlicher, genauer und — wie wir sehen werden — zutreffender Gattungsname für die Einzelpersonen, die die gegenwärtige Aufstandsbewegung auf allen Ebenen befehligen und für die Organisation, die diesen Aufstand steuert. Es ist nicht überraschend, daß die Reaktion vieler, die sich erst seit kurzer Zeit für Vietnam interessieren, der Reaktion von Theaterbesuchern gleicht, die erst mitten im dritten Akt eines außerordentlich verwickelten Dramas eintreffen, ohne zu wissen, was vorher geschehen ist. Um den Vietcong-Auf-stand, sein Verhältnis zum nord-vietnamesischen Regime in Hanoi (der „Demokratischen Republik Vietnam“), zur Nationalen Befreiungsfront und zur Volksrevolutionären Partei in Süd-Vietnam (und das jeweilige Verhältnis dieser Kräfte untereinander) zu verstehen, ist es unentbehrlich, die historische Situation, in der sich die Vietcong-Bewegung entwickelte, und die Ziele, um deren willen sie geschaffen wurde, richtig einzuschätzen.
Kenntnis der jüngsten Geschichte Vietnams ist nützlich
Während des beinahe vier Jahrzehnte unaufhörlichen Kampfes um die politische Macht haben die vietnamesischen Kommunisten großes Geschick in der Meisterung neuer Probleme und große taktische Beweglichkeit in der Verfolgung unwandelbarer strategischer Ziele bewiesen. Und doch sind sie — obwohl geschickt darin, aus früheren Fehlern zu lernen — oft früheren Erfolgen zum Opfer gefallen. Im vergangenen Vierteljahrhundert haben die vietnamesischen Kommunisten in doktrinärer Weise an der Idee einer ausgedehnten Front-organisation festgehalten, die aus dem Hintergrund durch disziplinierte kommunistische Kader beherrscht und dirigiert wird, jedoch für Vorstellungen eintritt, die von Personen aller politischen Richtungen vertreten werden können (wenngleich für die Formulierung dieser Vorstellungen in jedem Falle eine spezielle Sammlung wesentlicher Begriffe verwendet wird, denen Kommunisten und Nicht-Kommunisten radikal verschiedene Bedeutung beimessen.) Sie haben militärische Aktionen immer streng den politischen Zielen untergeordnet und sie nicht unternommen, um den feindlichen Streitkräften eine strategische Niederlage im konventionellen Sinne beizubringen, sondern um durch Abnutzung den Kampfwillen des Gegners zu untergraben und ihn zu zwingen, politische Interimslösungen zu akzeptieren, die für die weitere Verfolgung der kommunistischen politischen Ziele günstig sind.
Wegen dieser Neigung der vietnamesischen Kommunisten, politische und militärische Listen immer wieder anzuwenden, ist die Kenntnis der jüngsten vietnamesischen Geschichte besonders nützlich für das Verständnis des gegenwärtigen Aufstandes. Wenngleich im Westen weithin Unkenntnis des Drehbuches und der Einzelheiten des Handlungsverlaufs der vorangegangenen Akte des immer noch andauernden vietnamesischen politischen Dramas herrscht, gilt das für die Vietnamesen ganz sicher nicht. Praktisch alle politisch denkenden Vietnamesen habe den kommunistischen Kampf um die Macht miterlebt, seit sie erwachsen sind, wenn nicht sogar solange sie leben. Es gibt wenige, deren Leben durch ihn nicht geändert, bestimmt oder geformt worden ist. Ohne in Rechnung zu stellen, was die Vietnamesen durchgemacht haben und ohne einige Dinge zu beachten, die sie sehr genau kennen — oft aus allzu direkter Erfahrung —, kann man unmöglich die Haltung der Vietnamesen, die gegenwärtig südlich des 17. Breitengrades leben, gegenüber dem Aufstand, der Vietcong, der Nationalen Befreiungsfront und dem kommunistischen Regime in Hanoi verstehen.
Die Vietminh
Unter der Führung des Mannes, der sich heute Ho Chi Minh nennt, wurde die Kommunistische Partei Indochinas im Jahre 1930 gegründet. Während der nächsten zehn Jahre kon-zentrierten sich die vietnamesischen Kommunisten darauf, ihre Organisation zu vervollkommnen, sich eine Position innerhalb der aufkommenden anti-französischen nationalisti4 sehen Bewegung aufzubauen und jene nationalistischen Führer oder Gruppen auszuschalten, die sie nicht in ihrem Sinne ändern oder unter kommunistische Herrschaft bringen konnten, wobei sie alle erdenklichen Mittel anwendeten, einschließlich des Verrats an die Franzosen.
Im Jahre 1941 schlossen sich die vietnamesischen Kommunisten einer nationalistischen Organisation an, genannt „Liga für die Unabhängigkeit Vietnams"'(Viet Nam Doc Lap Dong Minh Hoi — oder Vietminh), die von den chinesischen Nationalisten gefördert wurde als Mittel, um Druck auf die japanischen Streitkräfte in Indochina auszuüben, jedoch bald durch die vietnamesischen Kommunisten infiltriert wurde, die damit ihre eigenen politischen Ziele zu verfolgen suchten. 1945 war die Vietminh-Bewegung schließlich völlig unter kommunistischer Kontrolle, obwohl in ihr nach wie vor nicht-kommunistische nationalistische Elemente in untergeordneten Positionen vertreten waren, deren Namen und Talente die Kommunisten auszunützen nur zu bereit waren. In dem Chaos, das auf die plötzliche japanische Kapitulation folgte, benutzten die Kommunisten die Vietminh als Mittel, um die Macht in Hanoi an sich zu reißen und (am
Am 11. November 1945 löste Ho in dem Versuch, die Vietminh-Regierung den nicht-kommunistischen Vietnamesen und den chinesischen nationalistischen Streitkräften, die zu dieser Zeit Vietnam bis hinunter zum 16. Breitengrad besetzten, schmackhafter zu machen, die Kommunistische Partei Indochinas formell auf. Die Wirkung dieser Geste wurde allerdings beträchtlich dadurch vermindert, daß am gleichen Tage eine neue „Vereinigung für Marxismus-Studien" gegründet wurde. Die völlige Herrschaft über die Vietminh und den nachfolgenden Widerstandskampf blieb jedoch unverändert in genau denselben Händen, die heute Nord-Vietnam und den Aufstand südlich des 17. Breitengrades beherrschen 2).
Gegen Ende des Frühjahrs 1946 wurde es immer offensichtlicher, daß die Kommunisten tatsächlich die Vietminh beherrschten (obwohl die Partei „nicht existierte") und daß Hos politisches Lavieren und die hinhaltenden Verhandlungen mit den zurückkehrenden Franzosen zu keinem Ergebnis führen würden. In Vorbereitung des unvermeidlichen Kampfes versuchte Ho die Basis der nationalistischen Unterstützung der Kommunisten zu verbreitern.
Der Kampf gegen die Franzosen
Im Mai 1946 kündigte er die Schaffung einer neuen „nationalen Volksfront" (Lien-Hiep Quoc Dan Viet Nam) an, die unter dem Namen Lien Viet bekannt wurde. Ihr erklärtes Ziel war es, die „Unabhängigkeit und Demokratie" zu erreichen. Die Vietminh wurde mit der Lien Viet vereinigt und ging schließlich in ihr auf, wenn ihr Name auch als Bezeichnung für jene, die an dem folgenden bewaffneten Kampf gegen die Franzosen teilnahmen, weiter verwendet wurde. Die Kommunisten brachten in die Lien Viet auch zwei kleine Splitterparteien ein, die zu dieser Zeit bereits völlig unter kommunistischer Kontrolle standen: die „Demokratische Partei", die dazu bestimmt war, sich an die „bourgeoisen Elemente" (d. h. städtische Handelskreise, die Wirtschaft und die freien Berufe) zu wenden, und die „Radikal-Sozialistische Partei", die die Sympathien von Studenten und Intellektuellen auf sich ziehen sollte. Der Krieg mit den Franzosen brach am 19. Dezember 1946 aus. Sein Verlauf ist hinreichend bekannt, so daß er hier nicht noch einmal wiedergegeben zu werden braucht. Der Hauptschauplatz der militärischen Operationen lag im Nordteil Vietnams; der Kampf im Süden war zwar heftig, bestand aber in erster Linie aus Terror-und Störaktionen, die die Franzosen nicht zur Ruhe kommen lassen und sie daran hindern sollten, ihre Aufmerksamkeit’ und ihre Streitkräfte auf den Krieg im Norden zu konzentrieren. Wenn die Vietminh diese Ziele auch erreichten, so waren ihre Anstrengungen in Süd-Vietnam doch ständig mit einer Reihe von Pr*oblemen belastet. Da die Franzosen die See, die Luft und die wichtigsten Fernverkehrsstraßen beherrschten, waren die Vietminh-Streitkräfte im Süden hinsichtlich Nachschub, Verstärkungen, Kadern und Nachrichtenverbindungen von einem Geflecht von Dschungelpfaden abhängig, die durch Laos liefen (entlang dem westlichen Abhang der annamitischen Gebirgskette) und unter dem Sammelbegriff „Ho Chi Minh-Pfad" bekannt wurden. Die politischen Verhältnisse in Saigon waren beträchtlich komplizierter als die in Hanoi, und die nicht-kommunistischen vietnamesischen politischen Gruppen waren im Süden zahlreicher und auch mächtiger als im Norden. Außerdem hatten die kommunistischen Führer der Vietminh eine Reihe von Problemen in bezug auf das Kommando und die Kontrolle ihrer südlichen Organisationen, deren Lösung einige Jahre erforderte.
Die Vietminh-Führung in Süd-Vietnam
1945 war der oberste Vietminh-Beauftragte in Süd-Vietnam ein in Moskau ausgebildeter Schüler von Ho Chi Minh und der Dritten Internationale namens Tran Van Giau, dessen eklatante Rücksichtslosigkeit und wahllos angewandte Terror-Taktik maßgebliche Gruppen wie die Hoa Hoa, die Cao Dai und die Binh'Xuyen zurückstießen, die die Vietminh bemüht waren, für sich zu gewinnen. Giau wurde infolgedessen im Januar 1946 nach Hanoi zurückberufen, und seine Aufgaben als Vietminh-Befehlshaber im Süden wurden von Nguyen Binh übernommen. Obwohl außerordentlich erfolgreich im Kleinkrieg gegen die Franzosen und der Förderung der Sache der nationalistischen Revolution, gewann Binh — ein früheres Mitglied der militantesten nationalistischen Rivalin der Kommunisten, der VNQDD — niemals das volle Vertrauen des kommunistischen Oberkommandos im Norden und wurde schließlich als allzu unabhängig angesehen. 1951 wurde er durch Le Duan ersetzt, einem Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Indochinas, der jetzt Erster Sekretär der Kommunistischen Partei in NordVietnam und eine der mächtigsten Figuren des Regimes in Hanoi ist. Bis 1954 und vielleicht noch länger spielte Le Duan eine bedeutende Rolle bei dem Aufbau und der Führung der Vietminh-Organisation im Süden und der Sicherstellung einer wirksamen kommunistischen Kontrolle über sie. Gegen Ende 1952 oder Anfang 1953 wurde er jedoch offenbar gezwungen, seine Machtbefugnisse mit Le Duc Tho zu teilen, dem gegenwärtigen Leiter des Organisationsbüros der Nordvietnamesischen Kommunistischen Partei und zugleich Mitglied ihres Politbüros
Wiederbegründung der kommunistischen Partei
Der kommunistische Sieg in China im Jahre 1949 hatte einen tiefgreifenden Einfluß auf den Lauf der Dinge in Vietnam, vor allem nachdem die Vietminh-Offensive im Herbst 1950 die Franzosen aus dem Grenzgebiet vertrieben und den Vietminh eine gemeinsame Grenze mit ihrem neuen kommunistischen Nachbarn verschafft hatte. Die militärischen Konsequenzen der sich daraus ergebenden Unterstützung der chinesischen Kommunisten für die Sache der Vietminh sind hinreichend bekannt. Die politischen Konsequenzen, weit weniger bekannt im Westen, waren mindestens ebenso bedeutungsvoll. Mit einem zunehmend mächtigeren brüderlichen Verbündeten in unmittelbarer Nachbarschaft wurde die kommunistische Führung der Vietminh weniger abhängig von dem guten Willen und der Unterstützung der nichtkommunistischen vietnamesischen Nationalisten. Die Maske konnte jetzt fallen gelassen werden. Die Tatsache der kommunistischen Steuerung der Vietminh brauchte nicht länger verheimlicht zu werden, die Instrumente der kommunistischen Kontrolle konnten wirksamer gemacht, die Kontrolle konnte strenger gehandhabt und auf immer weitere Bereiche ausgedehnt werden.
Der erste wichtige Schritt in dieser Richtung wurde am 3. März 1951 getan, als die Kommunistische Partei Indochinas als Dang Lao Dong Viet Nam, als Vietnamesische Arbeiterpartei, wiederauftauchte. Die Lao Dong hatte sehr bald die absolute politische Vorherrschaft innerhalb der Lien Viet-Front, obgleich, um den Anschein zu waren, die oben erwähnte „Demokratische" und die „Sozialistische" Partei bestehen blieben. Die offene Wiederbegründung der Kommunistischen Partei war zweifellos durch eine Vielzahl von Überlegungen ausgelöst worden, deren wichtigste wahrscheinlich darin lag, daß die verschleierte Beherrschung der Vietminh-Bewegung mittels eines geheimen Apparats, dessen bloße Existenz schon verheimlicht werden mußte, ein lästiges und hinderliches Verfahren war. Es setzte voraus, daß man sowohl Überredung als auch Zwang anwendete, und komplizierte außerdem die Aufgabe, kommunistische politische Ziele in den unter Vietminh-Herrschaft stehenden Gebieten zu verfolgen.
Die Vietminh war vorgeblich eine rein n? tionalistische Bewegung, die sich dem doppelten Ziel der Unabhängigkeit und Demokratie verschrieben hatte; ihr erklärtes Ziel während der ersten Phase des bewaffneten Kampfes (1946 bis 1951) war lediglich, die Franzosen hinaus-zuwerfen. Die Entstehung der „neuen" Partei brachte jedoch eine neue Losung zutage: „Der anti-imperialistische und anti-feudale Kampf sind von gleicher Wichtigkeit." Was das bedeutete, wurde zunehmend durch ein systematisches Programm deutlich, das die Kommunisten alsbald einleiteten und innerhalb von fünf Jahren vollendeten. Es war dazu bestimmt, die Partei selbst ideologisch doktrinärer zu machen und die ganze Gesellschaft, zumindest in Nord-Vietnam, nach Prinzipien umzugestalten, die mit dem kommunistischen Dogma übereinstimmten. Dieses Programm wurde in fünf Stufen ausgeführt, deren jede sorgfältig vorbereitet war und durch intensive Sitzungen zur „Gedankenreform" für Kader aus Parteimitgliedern und Parteilosen eingeleitet wurde, um so sicherzustellen, daß sie auch tatsächlich die Befehle ausführen würden, die sie erhalten sollten.
Fünf-Stufen-Programm der Kommunisten
Die erste Stufe, die der „ökonomischen Nivellierung", begann 1951 und war dazu bestimmt, das wohlhabendere Bauerntum und die städti-sche Geschäftswelt zu ruinieren (in dem Maße, wie die französische Kontrolle der Städte das gestattete), und zwar durch ein kompliziertes System willkürlich und als Strafmaßnahme festgesetzter Steuern, das dem von den chinesischen Kommunisten geschaffenen Modell nachgebildet war — was übrigens für alle Phasen dieses Programms der vietnamesischen Kommunisten gilt
Die zweite Stufe war eine kurze, heftige Terrorwelle, die in weiten Teilen Nord-Vietnams an einem Abend im Februar 1953 begann, eine Woche vor Tet, dem Mond-Neujahr, und genau 15 Tage dauerte
Die nächste Phase des kommunistischen Programms, die in den Jahren 1953 und 1954 ab-lief, wurde euphemistisch als „GrundrentenReduktion“ bezeichnet. Sorgfältig ausgewählte und geschulte Abteilungen besonders zuverlässiger kommunistischer Kader (von denen einige mit ziemlicher Sicherheit chinesische „Berater" hatten) begaben sich unauffällig in jedes Dorf, freundeten sich mit den Dorfarmen an, organisierten sie in Zellen und halfen ihnen, Listen anzulegen, in denen ihre wohlhabenderen Nachbarn nach Vermögen, gesellschaftlicher Stellung, politischer Einstellung und revolutionärem Eifer eingestuft wurden. Nachdem alles bereit war, traten die „Bodenreform-Bataillone" aus der Verborgenheit heraus, bildeten „Gerichte" und übten „Volksjustiz" gegen „Ausbeuter" und „Verräter". Jede Bodenreform-Abteilung hatte eine vorher festgelegte Quote von Todesstrafen und Zwangsarbeitsurteilen zuzumessen, und diese Quoten wurden nur selten nicht voll erfüllt. Neben dieser berechnenden und umfassenden Anwendung von Terror bedienten sich die Kommunisten all der Niedrigkeit, Eifersucht und Rachsucht des Dorflebens, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Die Strafen wurden nicht nur an jenen vollzogen, die selbst irgendwelcher „Verbrechen" für schuldig befunden wurden, sondern wurden auch auf ihre Familien ausgedehnt. Sie wurden ihrer Habe beraubt, aus ihren Behausungen vertrieben, sie durften sich ihren Lebensunterhalt nicht verdienen, und die Lebensmittelkarten — unentbehrlich für die Existenz in einer von Kommunisten beherrschten Gesellschaft — wurden ihnen entzogen. Sie wurden offiziell „Un-Personen", denen beizustehen ein Verbrechen war. Die Tatsache, daß viele dieser Verurteilten und eine weit größere Zahl ihrer unmittelbaren Verwandten, die unter den Folgen litten, aktiv am Widerstand gegen die Franzosen teilgenommen hatten, wurde als unerheblich und unwesentlich angesehen. Niemand war vor den Urteilssprüchen der „Volksgerichte" sicher, nicht einmal Leute, die ihr Leben lang der kommunistischen Partei angehört hatten.
Bodenreform-Kampagne als Höhepunkt
Trotz ihrer unglaublichen Barbarei und Heftigkeit war die Grundrenten-Reduktions-Kampagne nur ein Vorspiel — und ein vergleichsweise mildes — zu der folgenden Bodenreform-Kampagne, die von 1954 bis 1956 dauerte. Dabei wurden genau dieselben Methoden und Techniken angewandt — nur in einem viel größeren Ausmaß (z. B. wurde die obligatorische Quote der Todesurteile und Haftstrafen für jedes Dorf um das Fünffache vermehrt). Niemand wird jemals genau wissen, wieviel Menschenleben diese beiden Kampagnen gefordert haben; wahrscheinlich liegt die Anzahl der Getöteten in der Größenordnung von 100 000, und die Zahl jener., die entsetzliche Entbehrungen erdulden mußten, beträgt wahrscheinlich eine halbe Million. Da Nord-Vietnam eine Bevölkerung von etwa 18 Millionen hat, hatten diese Kampagnen eine politische Wirkung, die etwa der vergleichbar wäre, die sich in Amerika einstellte, wenn die amerikanische Regierung vorsätzlich die Ermordung von über einer Million amerikanischer Bürger veranlaßte.
Der Grund dieses politisch motivierten Gemetzels lag in dem ideologischen Fanatismus der Führung der vietnamesischen Kommunisten. Die Tatsache, daß nur ein kleiner Prozentsatz der Parteimitglieder eine echte proletarische oder kleinbäuerliche Abstammung aufzuweisen hatten, war höchst irritierend und machte eine Säuberung unbedingt erforderlich. Das Dogma verlangte, daß die „feudale Grundbesitzer-Klasse" ausgetilgt werden mußte. Obgleich eine solche Klasse in Nord-Vietnam nicht vorhanden war, mußte sie geschaffen werden, damit sie vernichtet werden konnte. Der Zweck der Übung war es, die Partei zu säubern, die Gesellschaft in Nord-Vietnam umzugestalten, jedwede tatsächliche oder potentielle Opposition zu zerschlagen und den eisernen Griff der kommunistischen Herrschaft zu festigen. Die Exzesse, mochten sie auch bedauerlich sein, waren „notwendig".
Nachdem die Grundrenten-Reduktions-und die Bodenreform-Kampagne ihre Ziele erreicht hatten, trat die Lao Dong in die fünfte Phase ihres Fünf-Stufen-Programms. Sie wurde bekannt als „Berichtigung der Irrtümer" und zielte darauf ab, in Nord-Vietnam den „Normalzustand" in kommunistischer Version wiederherzustellen. Die Exzesse der jüngsten Vergangenheit wurden offiziell zugegeben, und man leistete — zumindest unausgesprochen — Abbitte. Flo weinte wieder. Truong Chinh trat als Generalsekretär der Partei zurück (wenn er auch Mitglied ihres Politbüros blieb), ebenso der stellvertretende Minister für Bodenreform der „Demokratischen Republik Vietnam" (DRV). General Giap hielt eine Rede vor dem 10. Kongreß des Zentralkomitees der Partei, in dessen Verlauf er eine lange Liste von „Irrtümern" zugab und erwähnte, daß 12 000 Parteimitglieder aus den Kerkern entlassen worden waren, in die man sie ungerechtfertigterweise geworfen hatte (wieviele insgesamt eingekerkert worden waren, wurde niemals mitgeteilt). Die Entschuldigungen und Erklärungen lieferten jedoch eine überwältigende Menge unwiderlegbaren Beweismaterials für das, was sich tatsächlich ereignet hatte, und machten mehr als deutlich, daß die Partei während all dieser Vorgänge sich von dem Prinzip leiten ließ, daß „es besser ist, zehn Unschuldige zu töten als einen Feind entkommen zu lassen", wie einer ihrer Sprecher zugab
Die Genfer Vereinbarungen
Noch während der eben in aller Kürze geschilderten Geschehnisse brachte die Genfer Konferenz von 1954 den Krieg zwischen den Franzosen und den Vietminh zum Abschluß und beendete so den zweiten Akt des gegenwärtigen politischen Dramas in Vietnam. Das Ergebnis dieser Konferenz waren vier miteinander zusammenhängende Dokumente, die als die „Genfer Vereinbarungen" bekannt sind.
Drei waren Waffenstillstands-Vereinbarungen (je eine für Laos, Kambodscha und Vietnam)
und die vierte war eine nicht unterzeichnete „Abschlußerklärung", deren Rechtsgültigkeit strittig ist. Eine Vielzahl von außerhalb kommender politischer Überlegungen und Pressionen (einschließlich der französischen Innenpolitik) hatten erheblich mehr Einfluß auf den Wortlaut der Vereinbarungen als die objektiven Gegebenheiten der Situation in Vietnam. Das Problem, Frankreich auf möglichst elegante Weise aus seinen indochinesischen Verstrickungen zu befreien, wurde erfolgreich gelöst und dem Schießen wenigstens zeitweise Einhalt geboten, aber wesentlichere Probleme der politischen Zukunft Vietnams wurden ignoriert oder vom Tisch gefegt. Damals schienen die entscheidenden Lücken und Zweideutigkeiten der Genfer Vereinbarungen verhältnismäßig unwichtig zu sein, da die meisten Teilnehmer der Konferenz es als praktisch unvermeidlich ansahen, daß ganz Vietnam alsbald von einem Vietminh-Regime beherrscht werden würde, mit dem gütigen und (so dachte man) sich allgemeiner Wertschätzung erfreuenden „Onkel Ho" an der Spitze. Die Bedeutung der Lücken sollte erst mehrere Jahre später offenkundig werden.
Obwohl die Rechtsvorgängerin der gegenwärtigen Regierung von Saigon an der Konferenz teilnahm (als der Assoziierte Staat Vietnam), erwähnte keines der auf der Genfer Konferenz entstandenen Dokumente sie namentlich oder übertrug ihr irgendwelche Rechte oder schrieb ihr eine Rechtsstellung zu. Die Waffenstillstandsvereinbarung für Vietnam wurde durch einen französischen General im Auftrag des „Oberkommandierenden der Streitkräfte der Französischen Union in Indochina" und dem Stellvertretenden Minister für Nationale Verteidigung der „Demokratischen Republik Vietnam" im Auftrag des „Oberkommandierenden der Volksarmee von Vietnam" unterzeichnet. Bei der Erörterung der „politischen und administrativen Maßnahmen in den beiden Umgruppierungszonen“ (Artikel 14) nimmt sie flüchtig bezug auf „allgemeine Wahlen, die die Vereinigung Vietnams herbeiführen werden" — ein Thema, das näher ausgeführt, aber nicht geklärt wurde in der Abschlußerklärung (die als äußersten Termin den Juli 1956 festsetzte). Nirgendwo wurde im einzelnen genau bestimmt, worüber die Vietnamesen abstimmen sollten oder wie die Rechte der verschiedenen Kräfte innerhalb des vietnamesischen Staates geschützt werden sollten. Es ist nicht überraschend, daß die Saigoner Regierung formell energisch gegen diesen vagen und leeren Machtspruch hinsichtlich des künftigen Schicksals Vietnams Einspruch erhob, wobei sie betonte, daß sie an diesen Abmachungen nicht beteiligt war und sich infolgedessen nicht an sie gebunden betrachtete
Die Rückführung der Vietminh-Truppen nach dem Norden
Einige von Hos Statthaltern empfanden, daß die Genfer Übereinkunft sie um die vollen Früchte ihres Sieges betrogen hatte, aber insgesamt gesehen hatten die Kommunisten keinen Grund, mit dem Ergebnis unzufrieden zu sein. Das Bodenreform-Programm war damals in vollem Gange und die Konsolidierung der kommunistischen Herrschaft über den Norden stand unmittelbar bevor. Der Süden konnte warten, vor allem da seine Chancen des über-lebens als unabhängiges Staatswesen zum damaligen Zeitpunkt gleich Null schienen. Die Führung der Lao Dong hielt ihre Handlungen offenkundig in Übereinstimmung mit den Bedingungen des Waffenstillstandsvertrages, obgleich sie eine Reihe von Schritten unternahm, um ein subversives Potential im Süden zurückzulassen und sich so gegen ungünstige politische Eventualitäten zu sichern. Entsprechend den Vereinbarungen wurden einige 50 000 Angehörige der Vietminh-Truppen in festgelegten Gebieten südlich des 17. Breitengrades zusammengezogen und nach Norden gebracht, zusammen mit über 25 000 Anhängern und Helfern der Vietminh. Die Kommunisten waren jedoch darauf bedacht, ein Netz von Kadern zu hinterlassen, die den Befehl hatten, sich anzupassen, ihre Zugehörigkeit zu den Kommunisten zu leugnen und zugunsten der vorgesehenen Wahlen zu agitieren. Sie hinterließen auch eine große Zahl geheimer Waffenlager (3561 von ihnen wurden zwischen September 1954 und Juni 1959 entdeckt) für den Tag, da der Apparat im Süden vor der Notwendigkeit stehen mochte, seinen politischen Aktionen mit Waffengewalt Nachdruck zu verleihen. Die Zusammenstellung der nach Norden transportierten Einheiten wurde ebenfalls im Hinblick auf eventuelle zukünftige Erfordernisse vorgenommen. Die Kommunisten stellten sicher, daß sie zum großen Teil aus jungen Leuten bestanden, und sie wandten alle Arten des Zwanges an, um die Leute zu bekommen, die sie haben wollten. Bevor sie abzogen, wurden die für die Rückführung vorgesehenen Mannschaften dazu ermuntert oder in vielen Fällen direkt dazu kommandiert, Ehen mit ortsansässigen Mädchen zu schließen oder andere Familienverbindungen in Süd-Vietnam einzugehen. Das würde ihnen gut zustatten kommen, sollten sie jemals zurückkehren.
900 000 fliehen vor den Kommunisten
Nach Genf war das Gebiet südlich des 17. Breitengrades in einem Zustand des politischen Chaos, das an Anarchie grenzte. Ngo Dinh Diem, der am 7. Juli 1954 Regierungschef wurde, hatte lediglich das Gerippe einer Regierung, keine leistungsfähige Verwaltung und eine Armee, die nichts weniger als zuverlässig war. Zusätzlich zu allen ihren anderen Schwierigkeiten sah sich die Regierung Diem auch alsbald vor ein unerwartetes Problem größten Ausmaßes gestellt: die Flüchtlinge aus dem Norden. Der Mythos, daß die Vietminh eine rein nationalistische Bewegung war, der praktisch alle Vietnamesen aus freien Stücken ihre politische Unterstützung gaben, und daß „Onkel Ho" von seinen Landsleuten fast einhellig geliebt und geschätzt wurde, wurde zertrümmert durch eine der — wenn man die Größenverhältnisse in Betracht zieht — aufsehenerregendsten politisch motivierten Wanderungsbewegungen der Geschichte.
Artikel 14 d der Waffenstillstandsvereinbarungen für Vietnam sah vor, daß sich Zivilisten frei in die „Umgruppierungszone" begeben konnten, in die sie zu gehen wünschten. Die Kommunisten akzeptierten diese Bestimmung mit einem bemerkenswerten Mangel an Enthusiasmus, behinderten ihre Durchführung auf mannigfaltige Art und verletzten sie schließlich auf flagrante Art und Weise, als ihre Anwendung sie in eine allzu peinliche Lage brachte. Trotz aller Einschüchterungen, Obstruktionsversuchen und Störungen seitens der Kommunisten flohen etwa 900 000 Menschen aus dem Norden in den Süden. Sie verließen ihre Heimat und ihre gewohnte Umgebung, um nicht unter dem kommunistischen Regime Ho Chi Minhs leben zu müssen (wenn man die Größenordnung der Bevölkerung in Betracht zieht, so kommt das der Flucht von 9 Millionen Nordamerikanern aus den Vereinigten Staaten gleich). Weitere 400 000 wollten darüber hinaus fliehen und hatten nach Artikel 14 d das Recht dazu, wurden aber durch die kommunistischen Behörden daran gehindert.
Wachsende Stabilität im Süden
Die Zweijahresperiode von 1954 bis 1956 brachte Fortschritte und Errungenschaften für Süd-Vietnam, die man in diesem Ausmaß zur Zeit von Genf für unmöglich gehalten hatte. Die sich im Sommer 1956 ergebende Situation zwang Hanoi, sich Gedanken über seine weiteren Aussichten zu machen. Die pro forma-Proteste, die Hanoi beim Verstreichen des in den Genfer Vereinbarungen festgelegten Wahltermins einlegte, lassen darauf schließen, daß die Machthaber in Hanoi nicht so sehr deshalb irritiert waren, daß keine Wahlen abgehalten wurden, sondern mehr wegen des wachsenden Unterschiedes zwischen den politischen Zuständen nördlich und südlich des 17. Breitengrades, ein Gegensatz, der für ihr Regime nicht gerade schmeichelhaft war. Der Norden erholte sich gerade von den Erschütterungen der Bodenreform-Kampagne und war wirtschaftlich in einem katastrophalen Zustand, während der Süden ein Bild wachsender politischer Stabilität und beginnender Prosperität bot.
Hanoi erkannte infolgedessen, daß entschlossenere Aktionen erforderlich waren, wenn der Süden unter seine Herrschaft gebracht werden sollte. Das Netz kommunistischer Kader, das im Süden zurückgelassen worden war, erhielt Instruktionen, mit der Agitation zu beginnen und eine politische Organisation ins Leben zu rufen. Die Lao Dong richtete eine Abteilung ihres Zentralkomitees ein, die den Namen „Zentrale Wiedervereinigungs-Abteilung" erhielt und für alle Angelegenheiten jener Personen verantwortlich war, die im Zuge der Genfer Vereinbarungen umgruppiert worden waren. Im folgenden Jahr (1957) wurde ein Generalmajor der nordvietnamesischen Volksarmee namens Nguyen Van Vinh, der während des Krieges zwischen den Franzosen und den Vietminh mehrere verantwortliche Posten im Süden innegehabt hatte, als Vorsitzender dieser Wiedervereinigungs-Abteilung eingesetzt. Er ist es immer noch.
Das Regime Diem hat seinen Höhepunkt überschritten
Die Periode zwischen 1956 und 1958 war ungewöhnlich komplex, sogar für vietnamesische Verhältnisse. Diem erreichte seinen politischen Höhepunkt etwa in der Mitte des Jahres 1957. Nach diesem Zeitpunkt nahmen seine Methoden, seine Charakterzüge und die Abhängigkeit von seiner Familie immer mehr Züge an, die letztlich zu seinem Sturz führten. Trotz der unleugbaren Fortschritte in den Anfangsjahren gelang es seiner Regierung niemals, die Masse der süd-vietnamesischen Bauern dazu zu bringen, ihr persönliches Geschick und das politische Schicksal dieser Regierung als identisch anzusehen. Die Verwaltungsbeamten, die Diem aufs Land schickte, waren oft korrupt und stammten selten aus dem jeweiligen Amtsbezirk. Das führte dazu, daß sie von der außerordentlich stammesbewußten und provinziell eingestellten Bauernschaft als „Ausländer" angesehen wurden. Die Landwirtschaftspolitik war zwar oft bewundernswert in ihren Worten, aber bemerkenswert schwach in ihren Taten und wirkte sich häufig mehr zum Wohle des weit entfernt von seinem Besitz lebenden Großgrundbesitzers aus als des Bauern, der tatsächlich den Boden bestellte.
Der Vietcong-Aufstand beginnt
Derartige Faktoren, zusammen mit den immer noch spürbaren Folgen eines Jahrzehnts kriegerischen Verwicklungen, gaben der Bauernschaft echte Gründe zu Klagen, die die Kommunisten eifrig ausnützten und schürten. Die kommunistischen Kader begannen ihre organisatorische Arbeit bei den Mißvergnügten und Zurückgesetzten. Sie ritten auf örtlichen Mißständen herum und vermieden es, die marxistische Ideologie zu predigen. Zellen wurden gebildet, Dorfkomitees gegründet und kleine militärische Einheiten organisiert. Es begann ein Terror aus politischen Gründen, der sich gegen die Vertreter der Saigoner Regierung richtete und sich auf die wirklich schlechten und die wirklich guten konzentrierte. Die ersteren wurden liquidiert, um die Gunst der Bauern zu gewinnen, die letzteren, weil ihre Fähigkeiten die Kommunisten bei der Verwirklichung ihrer Ziele behinderten. Der Terror richtete sich nicht nur gegen Beamte, sondern gegen alle, deren Arbeit wesentlich für das Funktionieren einer organisierten politischen Gesellschaft war: Lehrer, Angehörige des Gesundheitsdienstes, Landwirtschaftsfachleute usw. Das Ausmaß und der Aktionsbereich dieses Terrors und der Tätigkeit der Aufständischen vergrößerten sich langsam, aber stetig. Gegen Ende des Jahres 1958 bedrohten die Angehörigen dieser beginnenden Aufstandsbewegung, die Saigon korrekt als „Vietcong" bezeichnete, ernstlich die politische Stabilität Süd-Vietnams. Trotz der wachsenden Schwierigkeiten, die die Vietcong-Banden verursachten und trotz der anfänglichen Erfolge der Vietcong bei ihrer organisatorischen Arbeit, war Hanoi durchaus nicht zufrieden mit dem Tempo ihrer Fortschritte. Besonders enttäuscht war es, daß es der Bewegung nicht gelang, eine wirklich be-deutende politische Gefolgschaft zu gewinnen. Mehrere Kadermitglieder der Vietcong, die später gefangen genommen worden sind, haben berichtet, daß gegen Ende 1958 Le Duan selbst auf eine ausgedehnte Inspektionstour in den Süden entsandt wurde und daß er nach seiner Rückkehr nach Hanoi Anfang 1959 eine Reihe von Empfehlungen vorlegte, die in der Folge von dem Zentralkomitee der Lao Dong aufgegriffen wurden und von denen auf den Schulungsveranstaltungen der Vietcong-Kader als „Resolution 15“ gesprochen wurde. Diese Empfehlungen entwarfen das zukünftige Programm der Aufstandsbewegung im Süden, einschließlich der Gründung einer Nationalen Befreiungsfront, die vom Zentralkomitee des süd-vietnamesischen Zweiges der Lao Dong beherrscht und die durch eine süd-vietnamesische „Befreiungsarmee" unterstützt werden sollte. Die Front sollte den Auftrag erhalten, mit Rückendeckung durch eine bewaffnete Streit-macht den politischen Kampf mit dem Ziel zu führen, den Süden zu neutralisieren und den Weg für die „Wiedervereinigung", d. h. die politische Beherrschung durch Hanoi zu bahnen. Wir können sicher sein, daß ein derartiger Entschluß etwa um diese Zeit gefaßt wurde, denn im Mai 1959 erklärte das Zentralkomitee der Lao Dong, daß „die Zeit gekommen ist, einen heroischen und beharrlichen Kampf zu führen, um (die süd-vietnamesische Regierung) zu zerschmettern."
Die Folgen dieser Beschlüsse von Hanoi wurden zunehmend sichtbarer während der 18 Monate, die der Sitzung des Zentralkomitees im Mai 1959 folgten. Das Ausmaß und die Intensität der Aktivität der Vietcong begannen sprunghaft zu wachsen. Militärische Operatio-B nen der Kommunisten in Laos sicherten einen Korridor entlang der nord-vietnamesischen Grenze und einsickernde Kräfte aus dem Nor-den kamen den Ho Chi Minh-Pfad herunter: einige wenige hundert Mann im Jahre 1959, rund 3000 im Jahre 1960 und über 10 000 1961.
Fehler der Regierung werden ausgenützt
Die Jahre 1959 und 1960 brachten eine Fort-entwicklung verschiedener charakteristischer Züge des süd-vietnamesischen Staates. Diems Armee war dafür geschaffen worden, mit einer konventionellen Invasion fertig zu werden und erwies sich als wenig geeignet, einen Guerillakrieg zu führen. Die Qualität der Regierungsbeamten wurde eher schlechter als besser, da Diem immer mehr dazu neigte, bei Ernennungen für Schlüsselstellungen Loyalität gegenüber seiner Person und seiner Familie vor Fähigkeiten zu setzen. Seine Agrarpolitik, vor allem das unglückselige Programm der „Agrostädte" von 1959, gab neue Anlässe für Unzufriedenheit auf dem Lande. Die Vietcong beeilte sich, die Fehler der Regierung auszunutzen und erhöhte stetig die Intensität ihrer Terroraktionen. Um die Dinge noch mehr zu komplizieren, gab es wachsende Zwistigkeiten im nicht-kommunistischen Lager, und das Gefühl verstärkte sich, daß Diem entfernt werden müsse, bevor seine Regierungsmethoden den Sieg der Kommunisten unvermeidlich machten. In der Periode von 1958 bis 1960 verhehlte Hanoi nur noch höchst unvollkommen, daß es bei den Schwierigkeiten im Süden seine Hand im Spiele hatte. Im August 1958 sendete Radio Hanoi, das sich als die „Stimme der Befreiungsfront“ ankündigte, Instruktionen an die Streitkräfte der Vietcong und an die Kader in den Dörfern, in denen es sie anwies, sich den Erfordernissen der politischen Lage in Süd-Vietnam anzupassen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Im Oktober 1958 appellierte es offen an die Bergstämme, zu revoltieren, und fügte hinzu, daß „die Regierung unseres geliebten Ho hinter euch steht". Im September 1959 und im Februar 1960 berichtete Hanoi über die jüngsten Aktionen der Vietcong, indem es sie als „unsere Angriffe" bezeichnete und das „Geschick unseres Befehlshabers und den guten Willen unserer Soldaten" pries.
Im September 1960 erhielten Hanois Pläne für die Aufstandsbewegung im Süden ziemlich offen ein offizielles Siegel aufgedrückt, als Le Duan auf dem Dritten Nationalkongreß der Lao Dong eine langatmige Rede hielt, in der er darlegte: „Der gegenwärtige Nationalkongreß wird für die ganze Partei und für das ganze Volk die Linie für die Durchführung der sozialistischen Revolution im Norden, für die Vollendung der nationalen volksdemokratischen Revolution im ganzen Land und für die Herbeiführung der Wiedervereinigung der Nation festlegen." In seiner Rede rief Le Duan zur Schaffung einer „breiten nationalen Einheitsfront" im Süden auf. Praktisch gab er die politischen Beschlüsse, die die Lao Dong in den vorahgegangenen Monaten gefaßt hatte, öffentlich bekannt. Aus dem Ton und dem Charakter der Ansprache Le Duans wurde deutlich, daß der Aufstand der Vietcong im Begriff war, Merkmale eines offenen Krieges anzunehmen.
Gründung der „Nationalen Befreiungsfront"
Gegen Ende Januar 1961 gab Radio Hanoi bekannt, daß „verschiedene Kräfte, die in Opposition zum faschistischen Ngo Dinh Diem-Regime stehen," am 20. Dezember 1960 eine „Nationale Front für die Befreiung Süd-Viet-nams" gebildet hatten und daß diese ein Manifest und ein politisches Zehn-Punkte-Programm herausgegeben hatte. Die Sprache beider, so wie sie durch Radio Hanoi verbreitet wurde, machte überaus deutlich, wo die politi14 sehe Vaterschaft der Front zu suchen war. Der vierte Punkt des Programms lautete zum Beispiel, es sollte „eine Grundrenten-Reduktion vorgenommen werden, die Rechte der Bauern, das von ihnen gegenwärtig bewirtschaftet Land zu bestellen, sollten garantiert und das Gemeindeland sollte zur Vorbereitung einer Bodenreform verteilt werden." Vietnamesen, die Bescheid wußten, machten solche Worte ganz klar, wer hinter der Front stand und was Süd-Vietnam zu erwarten hatte, sollte sie je zur Macht kommen.
Am 11. Februar 1961 widmete Hanoi eine zweite Sendung dem Manifest und dem Programm der Nationalen Befreiungsfront, wobei die Sprache beider zu sanfteren Tönen abgewandelt wurde, um die offen kommunistische Terminologie der ursprünglichen Version zu mildern. Selbst diese mildere Version jedoch (die der „offizielle" Text wurde) machte ausgedehnte Anleihen bei Le Duans Rede vom September und ließ wenig Zweifel daran, wer die Förderer der Front in Wahrheit waren und wo ihre Ziele lagen.
Nach den Ankündigungen von Radio Hanoi begann die Vietcong sofort ihre ganze Aktivität — auf militärischem Gebiet sowohl wie auf politischem — unter dem Banner der Nationalen Befreiungsfront zu verstärken und eine intensive organisatorische Tätigkeit in ihrem Namen zu entfalten. Eine Propagandastelle, die Befreiungs-Nachrichtenagentur, wurde prompt gegründet und begann eine Flut von Meldungen und Berichten loszulassen (die durch Hanoi und kommunistische Medien in der ganzen Welt wiederholt wurden), in denen die Front als eine spontane, einheimische Koalition süd-vietnamesischer Nationalisten dargestellt wurde. Im ersten Jahr ihres angeblichen Bestehens blieb diese Front jedoch ein Schemen, ohne fest umrissene Struktur und mit einer gesichtslosen, nicht identifizierbaren Führung.
Die „Volksrevolutionäre Partei"
Die Front war nur eines der beiden organisatorischen Instrumente, die Hanoi zur Erreichung seiner politischen Ziele südlich des 17. Breitengrades als notwendig ansah. Das andere — absichtlich im Westen weniger bekannt gemacht, aber von größerer Bedeutung in Süd-Vietnam selbst — trat zum erstenmal ans Licht der Öffentlichkeit in einer Sendung der Befreiungs-Nachrichtenagentur vom 13. Januar 1962, die bekanntgab, daß eine „Konferenz marxistisch-leninistischer Delegierter in den letzten Tagen des Dezember 1961" in Süd-Vietnam stattgefunden hatte, auf der beschlossen worden war, daß „zur Erfüllung ihrer historischen und glorreichen Aufgabe ... die Arbeiter und Bauern in Süd-Vietnam eine Vor-hut brauchen, die als wirklich revolutionäre Partei dient." Infolgedessen hatte die Konferenz die „Volksrevolutionäre Partei" gegründet. Sie besteht offiziell seit dem 1. Januar 1962
Die Gründer „unterstützten wärmstens" das Programm der Nationalen Befreiungsfront und „erboten sich, in sie einzutreten". Tatsächlich übernahm die Volksrevolutionäre Partei sofort die vollständige Kontrolle über die Front („übernahm die historische Mission, die Rolle der Vorhut in der Revolution im Süden zu spielen") und wird von Hanoi allgemein als „die Seele" der Nationalen Befreiungsfront bezeichnet
Erbeutete kommunistische Dokumente haben seither hinreichend klar gemacht, daß die Schaffung der Volksrevolutionären Partei das darstellt, was man im Geschäftsleben die Abspaltung einer voll im Besitz der Mutter verbleibenden Tochtergesellschaft nennt.
Die Volksrevolutionäre Partei ist tatsächlich lediglich der südliche Zweig der Lao Dong.
Eine Parteidirektive formulierte es richtig so: „Die Volksrevolutionäre Partei ist nur scheinbar unabhängig: in Wahrheit ist unsere Partei nichts anderes als die Lao Dong (kommunistische) Partei von Vietnam, die einheitlich von Nord nach Süd unter der Führung des Zentralen Exekutivkomitees der Partei steht, dessen Oberhaupt Präsident Ho ist."
Die Organisation der Vietcong
Da die organisatorische Struktur der Vietcong in den vergangenen vier Jahren ausgebaut worden ist, ist sie in groben Zügen recht gut bekannt geworden. In der Anfangsphase des Aufstandes (1954— 1959) behielten die Kommunisten die aus der Vietminh-Zeit stammende Unterteilung des heutigen Süd-Vietnam in die „Interzone V" (Französisch-Annam südlich des 17. Breitengrades) und in die „Nambo" (Kotschin-China) bei, wobei jedes Gebiet der direkten Kontrolle Hanois unterstand. Ende 1960 oder Anfang 1961 wurde diese Regelung fallengelassen und die Kontrolle über alle Aspekte des Vietcong-Aufstandes im Kampfgebiet einer einzigen immer noch existierenden Kommandozentrale übertragen, die ursprünglich als das Zentralbüro für Süd-Vietnam (ein immer noch verwendeter Terminus) bekannt geworden ist, jetzt aber von gefangengenommenen Vietcong-Angehörigen gewöhnlich einfach als das Zentralkomi-tee der Volksrevolutionären Partei bezeichnet wird. Diese Kommandozentrale, zu der auch das Hauptquartier der Nationalen Befreiungsfront gehört, ist eine mobile Einheit, die sich zeitweise in ständiger Bewegung befindet. Sie hält sich gewöhnlich in der äußersten Nordwestspitze der Provinz Tay Ninh auf, klüglich in der Nähe der kambodschanischen Grenze. Unter diesem Hauptquartier des Zentralkomitees teilt die Vietcong Süd-Vietnam in fünf numerierte Militärregionen und eine spezielle Zone für Saigon und seine unmittelbare Umgebung ein. Jede dieser fünf Regionen ist unterteilt in Provinzen, jede Provinz in Distrikte und jeder Distrikt in Dörfer
Nord-vietnamesische Führung
Zwar sind die Umrisse der organisatorischen Struktur der Vietcong recht gut bekannt, nicht bekannt sind jedoch ihre Führer. Es sind Männer ohne Gesicht, altgediente kommunistische Revolutionäre, die ihr Leben lang ihre Identität unter Decknamen und noms de guerre verborgen haben und sich besondere Mühe geben, verborgen im Hintergrund zu bleiben, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß der Aufstand von der Nationalen Befreiungsfront und ihren angeblichen Führern geleitet wird. Bei der Genfer Laos-Konferenz von 1962 ließ ein Mitglied der nord-vietnamesischen Delegation versehentlich durchblicken, daß die veröffentlichte Mitgliederliste des Zentralkomitees der Lao Dong einige Mitglieder nicht enthielt, deren Identität geheimgehalten wurde, weil sie militärische Operationen in Süd-Vietnam leiteten. Eines der vier Beispiele, die er aufführte, war Nguyen Van Cuc
Die Nationale Befreiungsfront: Anspruch und Wirklichkeit
Wie oben angedeutet, war die Nationale Befreiungsfront im ganzen ersten Jahr ihres Bestehens eine ebenso schemenhafte und ge-sichtslose Organisation, wie es die Volksrevolutionäre Partei noch heute ist. Sie wurde angeblich gegründet „nach einer Konferenz von Vertretern verschiedener Kräfte, die in Opposition zum faschistischen Regime in Süd-Vietnam stehen", aber die Identität dieser Vertreter oder der „Kräfte", die sie vertraten, wurde niemals angegeben. Der Mythos der Front nahm kein Fleisch und Blut an — indem die ihr angehörenden Organisationen oder ihre Führer öffentlich bekannt gemacht wurden —, bis schließlich die Volksrevolutionäre Partei als ihre Vorhut präsentiert wurde. Die Nationale Befreiungsfront erhebt heute den Anspruch, eine Koalition von über 40 angeschlossenen Organisationen zu sein, die angeblich zusammen praktisch alle Schattierungen und Schichten des politischen und sozialen Lebens in Süd-Vietnam repräsentieren. Diese Koalition schließt drei politische Par-B teien ein: die Volksrevolutionäre Partei, die „Demokratische Partei" und die „Radikalsozialistische Partei" (die beiden letzteren tragen fast genau dieselben Namen wie die zwei „kleineren" Parteien, die in Nord-Vietnam bestehen dürfen, und sollen offensichtlich eine ähnliche Rolle spielen). Praktisch keine der angeschlossenen Organisationen hat unter ihrem gegenwärtigen Namen oder in ihrer gegenwärtigen Form vor der Gründung der Nationalen Befreiungsfront bestanden, viele existieren ziemlich sicher nur auf dem Papier, und eine sorgfältige Analyse der eigenen Propaganda der Nationalen Befreiungsfront zeigt deutlich, daß bei einer beträchtlichen Anzahl von ihnen Funktionäre, Führungsstäbe und Personal identisch sind. Einige dieser Organisationen haben jedoch nach ihrer Gründung Bedeutung gewonnen und spielen heute eine wichtige Rolle bei den Bemühungen der Front, die Landbevölkerung zu organisieren und zu kontrollieren.
Nationale Befreiungsfront ohne Süd-Vietnamesen von Rang und Namen
Es ist ziemlich leicht, ein Organisationsgerippe zu erfinden, das einer politischen Fiktion Wahrscheinlichkeit zu verleihen imstande ist, um so mehr, wenn man versucht, ein ausländisches Publikum zu täuschen, das in den politischen Angelegenheiten des Landes unbewandert ist. Dieses Gerippe mit Leben zu erfüllen, im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehende Posten mit bekannten Persönlichkeiten zu besetzen, ist beträchtlich schwieriger. Die Vietcong hoffte offensichtlich, daß die Nationale Befreiungsfront Süd-Vietnamesen von Format und Ruf gewinnen würde, vorzugsweise Persönlichkeiten, die nicht sofort als Kommunisten oder mit den Kommunisten Sympathisierende erkennbar wären, die das Prestige und die politische Anziehungskraft der Front vergrößern und eine mehr oder weniger harmlose Fassade errichten würden, hinter der die kommunistischen Chefs der Nationalen Befreiungsfront in sicherer Verborgenheit wirken könnten. Bis heute ist die Vietcong in dieser Hinsicht bemerkenswert erfolglos geblieben, wenn man auch das ganze Ausmaß ihres Fehlschlages viel besser in Süd-Vietnam als im Ausland richtig einzuschätzen weiß. Kein Vietnamese mit bedeutendem persönlichen Prestige oder beruflicher Reputation — nicht einmal einer mit Linksneigungen — ist jemals bereit gewesen, sich öffentlich der Befreiungsfront anzuschließen oder ihr die Verwendung seines Namens zu gestatten.
Das erste Zentralkomitee der Nationalen Befreiungsfront wurde erst im März 1962 bekanntgegeben, gut ein Jahr nach der angeblich spontanen Gründung. Obgleich das Komitee vorgeblich 52 Mitglieder hatte, konnte die Front nur 31 Namen nennen, von denen die meisten sogar in Süd-Vietnam praktisch unbekannt waren. Das zweite und gegenwärtige Zentralkomitee aus 41 Mitgliedern, das im Januar 1964 bekanntgegeben wurde, weist ebensowenig bedeutende Namen auf.
Der Vorsitzende des Präsidiums und Zentral-komitees der Front ist Nguyen Huu Tho, ein früherer Provinzanwalt mit einem langen Register von Betätigungen im kommunistischen Sinne, aber mit geringer politischer Reputation und geringem beruflichen Ansehen bei seinen früheren Kollegen in der süd-vietnamesischen Anwaltschaft, die ihn im allgemeinen als einen „avocat sans brefs" einstufen. Der gegenwärtige Generalsekretär (zugleich Generalsekretär der „Demokratischen Partei“ und Vorsitzender des Komitees der Zone Saigon der Nationalen Befreiungsfront) ist Huynh Tan Phat, der gewöhnlich in der Propaganda der Front als Architekt bezeichnet wird, obwohl man Mühe haben würde, irgendwelche Bauten zu finden, die er entworfen hat. Von 1945 bis 1948 war er anscheinend Mitglied des Exekutivkomitees der Vietminh bzw. Vietcong in Nambo und Propagandachef der Kommunisten für die spezielle Zone Saigon. Der erste Generalsekretär der Nationalen Befreiungsfront (und zugleich Generalsekretär der „Radikalsozialistischen Partei") war Nguyen Van Hieu; er bereist heute als ihr wichtigster Beauftragter das Ausland. Hieu, früher Journalist und Lehrer (wie es heißt, für Biologie oder auch für Mathematik), ist seit den späten vierziger Jahren kommunistischer Propagandist gewesen. Der Vorsitzende des Komitees für Äußere Beziehungen (d. h. für auswärtige Angelegenheiten und Propaganda) der Front ist Tran Buu Kiem, Mitglied des Zentralkomitees, der kurze Zeit Generalsekretär nach Hieu und vor Phat war. In den offiziellen Biographien der Nationalen Befreiungsfront als „intellektueller und glühender Patriot" bezeichnet, hat Kiem den Hauptteil der vergangenen zwei Jahrzehnte als Führer verschiedener kommunistisch gesteuerter Jugendgruppen verbracht. Figuren wie diese sind das beste, was die Front für die Besetzung ihrer wichtigsten öffentlichen Ämter finden konnte. Ihre organisatorischen und revolutionären Talente mögen eindrucksvoll sein, aber ihr persönliches Format und ihr Prestige beim südvietnamesischen Volk sind es nicht.
Die Propaganda-Kampagne der Nationalen Befreiungsfront
In den abgelaufenen vier Jahren hat sich die Vietcong große Mühe gegeben, ihr Image außerhalb der süd-vietnamesischen Grenzen zu verbessern und ein Höchstmaß internationaler Unterstützung für ihre Sache zu gewinnen, ihr organisatorisches Gefüge in Süd-Vietnam auszubauen, um damit ihre interne politische’Position zu stärken, schließlich ihre militärischen Anstrengungen zu vergrößern, um die Erreichung ihrer politischen Ziele zu erleichtern und nach Möglichkeit eine Aura der Unbesiegbarkeit zu schaffen, durch die der Wille ihrer Gegner zur Fortsetzung des Kampfes gebrochen werden kann.
Die Kampagne zur Verbesserung des Image im Ausland war dazu bestimmt, die Nationale Befreiungsfront bekanntzumachen und ihr Prestige und ihren Ruf zu steigern. Ihr Ziel war es, die allgemeine Anerkennung der Front als einer einheimischen süd-vietnamesischen politischen Koalition (zugegebenermaßen mit einigen kommunistischen Mitgliedern) zu erreichen, die spontan entstanden war, um die bösen Exzesse des von den Amerikanern gestützten Diem-Regimes zu bekämpfen, und die nur Frieden, Demokratie und Wiedervereinigung, wie in den Genfer Vereinbarungen vorgesehen, anstrebt. Obgleich moralische — und in einem gewissen Maße vielleicht auch materielle — Unterstützung von Nord-Vietnam und anderen brüderlichen sozialistischen Staaten gewährt wird (so wird argumentiert), ist die Nationale Befreiungsfront grundsätzlich ein unabhängiger politischer Faktor mit einer eigenen Politik und einem eigenen Willen. Diese Kampagne ist auf verschiedene Weise geführt worden: durch die von der Befreiungs-Nachrichtenagentur verbreitete und durch kommunistische (und nicht-kommunistische) Medien in der ganzen Welt wiederholte Propaganda; durch einen ständigen Fluß von Botschaften der Front an ausländische Regierungen und Staatsoberhäupter (vor allem der afro-asiatischen Nationen); durch die ständig zunehmende Teilnahme einer Handvoll unermüdlicher Vertreter der Front an (von den Kommunisten oder der Linken veranstalteten) Konferenzen und Tagungen im Ausland; schließlich durch die Errichtung ständiger „Missionen" der Nationalen Befreiungsfront in Havana, Peking, Moskau, Prag, Ost-Berlin, Budapest, Kairo, Djakarta und Algier. Diese ganze Aktivität hat Nutzen aus der Tatsache gezogen, daß die Kenntnis der Realitäten des politischen Lebens in Süd-Vietnam außerhalb seiner Grenzen nicht sehr weit verbreitet ist. Sie war geleitet von einem ausgeprägten Gefühl dafür, wie wirksam unaufhörliche Wiederholung ist, wenn es darum geht, Legenden in angebliche Realitäten zu verwandeln.
Gleichartige Organisation der Nationalen Befreiungsfront und der Volksrevolutionären Partei
In ganz Süd-Vietnam hat die Vietcong den Apparat der Nationalen Befreiungsfront ausgebaut und ihn dafür benutzt, in intensiven Anstrengungen die Bevölkerung, vor allem die ländliche, zu organisieren, sie in die Aufstandsbewegung einzuspannen und unter ihre politische Herrschaft zu bringen. Die Details dieser Bemühungen variieren von Ort zu Ort und werden wesentlich bestimmt durch Faktoren wie die relative Stärke der Vietcong in dem betreffenden Gebiet. Das Ziel ist jedoch immer, die geschlossene Teilnahme und das totale Engagement der örtlichen Bevölkerung zu sichern, um die absolute Herrschaft der Vietcong zu etablieren. Sie versuchen durch Überredung — und wenn die Verhältnisse es erlauben, durch Zwang — jeden Einwohner der betreffenden Gegend dazu zu bringen, sich irgendeiner Teilorganisation der Front anzuschließen und sich aktiv in ihr zu betätigen. Bauern werden veranlaßt oder gezwungen, in die Befreiungs-Bauernvereinigung einzutreten, Frauen in die Befreiungs-Frauenvereinigung, Kinder in den Befreiungs-Jugendverband. Wo die Vietcong-Herrschaft mächtig ist, entkommt niemand dem Netz. Körperlich geeignete Männer dienen, soweit sie nicht zu irgendeiner anderen militärischen Einheit der Vietcong gesandt werden, in der örtlichen Milizabteilung oder im Selbstverteidigungsaufgebot, Frauen, Kinder und alte Männer helfen, Bambuspfosten und Fallen herzustellen oder reißen Straßen auf, um die Regierungsstreitkräfte zu behindern. Sie dienen als Informanten und Kuriere oder machen Besorgungen in den nahe gelegenen, von der Regierung kontrollierten Marktorten. Jedermann macht mit und sorgt dafür, daß sein Nachbar sich ebenfalls beteiligt. All diese Aktivität wird koordiniert und dirigiert von örtlichen Komitees der Nationalen Befreiungsfront, die — wenn es die Umstände erlauben —-die Rechte und Aufgaben der örtlichen Verwaltung übernehmen. Diese örtlichen Komitees wiederum sind höheren Befehlsebenen unterstellt, an der Spitze — zumindest nach außen hin — dem Zentralkomitee der Nationalen Befreiungsfront selbst.
Der organisatorischen Gliederung der Nationalen Befreiungsfront entspricht auf jeder Stufe eine gleichartige Gliederung der Volks-revolutionären Partei, die jene kontrolliert. Unter der Oberleitung ihres Zentralkomitees ist die Partei auf geographischer Basis in den verschiedenen Regionen, Provinzen und Distrikten bis hinunter zur Dorfebene organisiert. Jede Stufe hat ein weisunggebendes Komitee, das für die Überwachung aller Tätigkeit der Partei — und damit der Vietcong sowie der Nationalen Befreiungsfront — zuständig ist. Diese Komitees differieren in Größe und organisatorischer Zusammensetzung, sogar auf derselben Ebene, aber jedes hat einen einzigen Vorsitzenden und mehrere untergeordnete Mitglieder oder Unterkomitees mit festgelegten Zuständigkeiten. Die Anzahl und die Bezeichnungen dieser Unterkomitees sind ebenfalls gebietsweise unterschiedlich. Normalerweise zählen zu ihren Aufgaben militärische Probleme, wirtschaftliche und finanzielle Fragen und was die Kommunisten als „Frontangelegenheiten und Bekehrung von Zivilpersonen" bezeichnen. Der Vorsitzende dieses letzteren Unterkomitees ist verantwortlich für die Kontrolle der gesamten Tätigkeit der Nationalen Befreiungsfront in dem betreffenden Gebiet. Wenn die Partei-Organisation auf dieser Stufe genügend ausgebildet ist, wird er wiederum ihm unterstellte Mitglieder seiner Partei-Unterkomitees haben, die jede der der Front angeschlossenen Organisationen überwachen. Zwar ist erbeuteten Dokumenten zu entnehmen, daß die Vietcong versucht, den Anteil der Parteimitglieder unter zwei Fünfteln der Gesamtmitgliedschaft jeder Organisation der Front zu halten, doch übt die Volks-revolutionäre Partei mittels der eben beschriebenen organisatorischen Gliederung (verstärkt durch ein Netz von geheimen Parteizellen überall in der Front) eine vollständige Kontrolle über alle Teile der Front auf allen Ebenen aus.
Der Apparat der Vietcong
Der militärische und terroristische Apparat der Vietcong ist organisatorisch genauso gegliedert und geführt, womit gesichert ist, daß die Kampftätigkeit auf allen Ebenen streng den politischen Zielen untergeordnet ist und unter straffer Kontrolle der Partei gehalten wird. Die Streitkräfte der Vietcong umfassen zur Zeit über 90 000 Mann (einschließlich 12 000 Mann regulärer nord-vietnamesischer Truppen), verstärkt und unterstützt von etwas über 100 000 Mann paramilitärischen Personals und Partisanen „auf Zeit". Diese ganze Streitmacht wurde jedoch aus politischen Gründen aufgebaut und dient politischen Zielen. Der politische Apparat der Vietcong war schon dabei, die Grundlagen für den Aufstand zu schaffen, lange bevor es auch nur ein dörfliches Selbstverteidigungsaufgebot der Vietcong gab.
Der Leiter des erwähnten Unterkomitees für militärische Fragen ist häufig auch der Befehlshaber der Vietcong-Streitkräfte, die zu der betreffenden Stufe gehören. Dorfkomitees haben den Befehl über die Dorfaufgebote, Distriktkomitees über die Distriktkompanien, Provinzkomitees über die Provinzbataillone. Komitees von Regionen haben Streitkräfte in Stärke eines oder mehrerer Regimenter zu ihrer Verfügung, und die gesamten Streitkräfte der Vietcong unterstehen der Leitung des Zentralkomitees der Volksrevolutionären Partei. überall in dieser militärischen Gliederung werden einheitlich dieselben Grundprinzipien der Organisation und der Befehlsverhältnisse angewendet. Es gibt keine militärische Einheit der Vietcong, die unabhängig vom Parteiapparat oder frei von straffer politischer Kontrolle wäre. Wahrscheinlich sind nicht mehr als ein Drittel der Vietcong-Angehörigen Parteimitglieder, aber durch die Wirksamkeit ihres organisatorischen Mechanismus kontrolliert die Partei die „Befreiungsarmee" auf dieselbe Weise, wie sie die Nationale Befreiungsfront kontrolliert.
Die Rolle der „umgruppierten" Vietminh
Wenn man die organisatorische Struktur der Vietcong versteht, erkennt man die wahre Bedeutung und Funktion der mehr als 50 000 Mann, die nach Südvietnam eingeschleust worden sind, seit die Lao Dong 1959 beschlossen hat, ihr Ziel der politischen Eroberung durch einen Guerillakrieg zu verfolgen. Bis Mitte oder Ende 1963 waren die Infiltranten praktisch durchweg geborene Süd-Vietnamesen, die aus der Masse der 1954 „umgruppierten“ und nach dem Norden gebrachten Vietminh-Angehörigen und -Helfern stammten. Es waren keine einfachen Soldaten und kein Kanonenfutter (zumindest bis Hanoi Ende 1964 oder Anfang 1965 begann, ganze nord-vietnamesische Einheiten zu entsenden). Vielmehr waren es disziplinierte, ausgebildete und ideologisch geschulte Kader und Techniker. Sie wurden Gruppenführer, Zugführer, politische Offiziere, Stabsoffiziere, Einheitskommandeure, Waffen-und Nachrichtenspezialisten, die aus den militärischen Verbänden der Vietcong das machten, was sie heute sind. Sie wurden auch Dorf-, Distrikt-, Provinz-und Regions-Komiteevorsitzende oder Komiteemitglieder in Schlüsselpositionen, die den politischen Apparat der Vietcong aufbauten.
Die zuerst Angekommenen hatten mindestens fünf Jahre der Schulung und Ausbildung in Nord-Vietnam oder anderswo im kommunistischen Block hinter sich, bevor sie sich an ihre Aufgabe im Süden machten; einige der später Gekommenen waren fast ein Jahrzehnt in dieser Weise vorbereitet worden. Bis zum kürzlichen starken Anstieg der Verluste der Vietcong waren schätzungsweise ein Drittel des gesamten Personals der Vietcong-Einheiten auf und oberhalb der Ebene der Distrikt-Kompanien im Norden ausgebildete „Rück21 kehrer". Mindestens die Hälfte der Mitglieder der meisten Distriktkomitees der Volksrevolutionären Partei und ein sogar noch größerer Anteil auf höheren Ebenen waren anschei-nend ebenfalls „Rückkehrer". Kurz, ohne diese Infiltration aus dem Norden hätte die gegenwärtige Vietcong-Organisation niemals aufgebaut werden können.
Wie mächtig ist die Vietcong?
Der Vietcong-Aufstand ist zweifellos ein Meisterstück revolutionärer Organisation, aber seine volle Wirksamkeit und seine wirkliche politische Stärke sind außerordentlich schwer abzuschätzen. Die Vietcong hat ihre organisatorischen Anstrengungen hauptsächlich auf das flache Land konzentiert, und dort ist sie am stärksten. (Die Regierung beherrscht alle großen Städte, alle wichtigen kleineren Städte und Provinzhauptstädte und, abgesehen von einigen wenigen, alle Distrikthauptorte.) Es gibt jedoch Anzeichen dafür, daß die fühlbare Erhöhung der Steuersätze, die immer häufiger werdende Anwendung von Zwangsmaßnahmen bei der Rekrutierung von Truppen und die offensichtliche Unfähigkeit der Vietcong, ihre in früheren Jahren gegebenen politischen Versprechen einzulösen, ihre ländliche Basis zu unterminieren beginnen. Im letzten Jahr flohen fast 800 000 Menschen aus dem Hinterland in die Nachbarschaft der von der Regierung beherrschten Städte. Einige von ihnen flohen vor Naturkatastrophen, einige einfach vor den Fährnissen des Krieges (wenn auch bezeichnend ist, welche Richtung diese Flucht-bewegung nahm), aber viele versuchten offensichtlich der Herrschaft der Vietcong zu entkommen. Ferner sollte bei der Würdigung der kommunistischen Herrschaftsansprüche beachtet werden, daß sich über die Hälfte der Land-bevölkerungan den Provinzialwahlen vom Mai 1965 beteiligten, trotz des Befehls der Vietcong, sie zu boykottieren.
In den Städten ist die Vietcong augenscheinlich in der Lage, Terroranschläge auszuführen, politisch ist sie jedoch sehr schwach — eine Tatsache, über die sie sich im klaren ist und die ihr, nach erbeuteten Dokumenten zu urteilen, außerordentlich unangenehm ist. Sie ist nicht imstande gewesen, die politische Gärung der vergangenen drei Jahre in den Städten in direkte Vorteile für sich umzumünzen. Keiner der Teilnehmer an der echten sozialen Revolution, die heute in den Städten Süd-Vietnams vor sich geht, hat die Unterstützung der Vietcong gesucht oder ist auf ihre Bündnis-angebote eingegangen. Obgleich die Vietcong zweifellos Gruppen wie die Buddhisten und die Studenten unterwandert hat, hat sie keine sichtbaren Fortschritte darin gemacht, sie auf ihre Seite zu ziehen oder sie in die Nationale Befreiungsfront einzugliedern. Wie schwach die Vietcong in den Städten ist, wurde im vergangenen Jahr zweimal demonstriert (am 15. Oktober und am 19. Dezember 1965), als zwei Aufrufe der Vietcong zum Generalstreik völlig unbeachtet blieben und keinerlei sichtbare Veränderungen im Leben der Städte hervorriefen.
Unendlich kompliziertes Phänomen
Trotz der offensichtlichen organisatorischen Talente und der revolutionären Fähigkeiten ihrer Führer ist die Vietcong mit einer Reihe fundamentaler Schwächen behaftet. Sie hat keine allgemein attraktive Losung, die in irgendeiner Weise dem Eintreten der Vietminh für den antifranzösischen Nationalismus vergleichbar wäre. Ständige Propagandaanstrengungen, die Amerikaner als Nachfolger der französischen Imperialisten darzustellen, haben keinen Erfolg gehabt. Das Konzept der Wiedervereinigung übt verhältnismäßig wenig Anziehungskraft auf Bauern aus, die jemanden aus der benachbarten Provinz als Ausländer betrachten. Die Idee der Wiedervereinigung findet Anklang bei politisch denkenden städtischen Elementen, besonders bei Flüchtlingen aus dem Norden, aber in diesen Kreisen ist man kaum geneigt, die Identifizierung der „Wiedervereinigung" mit politischer Herrschaft des gegenwärtigen Regimes in Hanoi zu akzeptieren, wie sie die Vietcong vornimmt. Nachdem sie die Abfolge der hier skizzierten historischen Ereignisse selbst erlebt haben, sind politisch bewußte Vietnamesen nicht so leicht durch die Versicherungen der Nationalen Befreiungsfront zu täuschen, sie strebe die Unabhängigkeit und Freiheit von der Herrschaft des Nordens an, vor allem da sich an den militärischen Operationen des Vietcong-Aufstandes eine immer noch zunehmende Zahl nord-vietnamesischer Truppen beteiligt. Das gegenwärtige Ringen in Vietnam ist ein historisch begründetes, politisches Phänomen von unendlicher Kompliziertheit, vor allem da in ihm ein von außen dirigiertes kommunistisches Machtstreben verquickt ist mit einer echten, aus dem Lande selbst kommenden sozialen Revolution. Wenn man solch ein Phänomen analysiert, ist „Wahrheit" oft eine Funktion des Standpunktes des Betrachters, und Mythen sind nicht immer leicht von der Realität zu unterscheiden. Obgleich es viele Aspekte der gegenwärtigen Situation in Vietnam gibt, die eindeutig erklären zu wollen, lediglich von Ignoranz oder unlauterer Absicht zeugte, gibt es doch bestimmte Aspekte des Aufstandes und der ihn tragenden Vietcong, die anzuzweifeln intellektuell unredlich wäre. Es gibt unbestreitbar viele Nicht-Kommunisten, die sich in den verschiedensten Komponenten der Nationalen Befreiungsfront heroisch einsetzen, aus dem Wunsch heraus, echte Mißstände zu beheben, oder in dem aufrichtigen Glauben, dadurch mitzuhelfen, die politischen Verhältnisse in ihrem Heimatland zu bessern. Als Organisation jedoch ist die Front ein künstlich geschaffener politischer Apparat ohne Wurzeln im Lande und letztlich der Kontrolle der Lao Dong-Partei in Hanoi unterworfen.
Was die Süd-Vietnamesen zu erwarten hätten
Das Verhältnis zwischen der Vietcong und der „Demokratischen Republik Vietnam" ist nicht das von politisch gleichgesinnten Verbündeten. Statt dessen ist es dem Wesen nach das Verhältnis zwischen einem Feldgefechtsstand und seinem Oberkommando. Ein solches Verhältnis ist nie frei von Elementen der Spannung und der Uneinigkeit. Innerhalb der Vietcong und sogar innerhalb der sie beherrschenden Hierarchie gibt es unbestreitbar unterschiedliche Auffassungen (zumindest privat gehegte) über die Weisheit der gegenwärtigen und der künftig zu verfolgenden Taktik. (Es gibt offensichtlich Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Ringens in Vietnam sogar innerhalb des Politibüros der Lao Dong.) Nichtsdestoweniger sind das ganze organisatorische Gefüge und die Befehlskette der Vietcong sorgfältig darauf zugeschnitten, das Risiko der Unbotmäßigkeit auf ein Minimum zu reduzieren. Zwar werden aus taktischen Gründen in den Propaganda-Verlautbarungen oder von Sprechern der Nationalen Befreiungsfront gelegentlich Auffassungen vertreten, die zumindest in der Akzentuierung von den aus Hanoi kommenden abweichen, aber die Möglichkeiten der Vietcong, eine wirklich unabhängige politische Linie zu verfolgen, im Widerspruch zu den durch den Lao Dong-Apparat aus Nord-Vietnam empfangenen Befehlen, sind überaus gering.
Endlich, obgleich die Vietcong-Organisation unbestreitbar ein bedeutender Faktor in der politischen Szenerie Süd-Vietnams ist, kann der Apparat der Nationalen Befreiungsfront, der sie kontrolliert, nicht ernsthaft beanspruchen, „die einzige legitime Stimme des südvietnamesischen Volkes zu sein", wie Hanoi beteuert. Sollte sie jemals als solche anerkannt werden, zeigt der Rückblick auf die Ereignisse in Nord-Vietnam seit 1951 überdeutlich, was die mehr als 16 Millionen Vietnamesen, die südlich des 17. Breitengrades leben, zu erwarten haben, vor allem jene, die von Anfang an den Vietcong-Aufstand entschlossen bekämpft haben.