Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Neutralismus und Polyzentrismus | APuZ 15/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 15/1966 Artikel 1 Was kommt nach der Eindämmung? Neutralismus und Polyzentrismus China und die kommunistische Bewegung

Neutralismus und Polyzentrismus

Peter Lyon

Polyzentrismus ist normal

Neutralismus und Polyzentrismus sind jetzt sehr geläufige Bgriffe, sowohl in deskriptivem wie in polemischem Sinne. Höchstwahrscheinlich werden sie das auch noch eine ganze Weile bleiben. Bei beiden geht der heutige Gebrauch natürlich weit hinaus über die spezifischen Zusammenhänge, in denen sie zuerst auftauchten. Als Begriffe sind sie tatsächlich neu. Deswegen muß man aber nicht meinen, daß Neutralismus und Polyzentrismus neue Züge im internationalen Leben der Gegenwart wären. Richtiger ist es, sie als alte Bekannte zu betrachten, die freilich oft in neuem Gewand und neuem Milieu auftreten. Dafür sollte man in der kurzen Periode von 1949 bis 1955 eine seltene Ausnahme sehen, nämlich eine Periode starrer globaler Bipolärität. Diese wich dann einer lockeren Bipolarität, die ihrerseits der Multipolarität oder dem Polyzentrismus Platz machen mag.

Wenn man vom Gleichgewicht der Mächte spricht, meint man in der Regel die Verteilung von Macht und Einfluß unter den Großmächten. Der Begriff Großmacht setzt eine — ziemlich grobe — Klassifizierung voraus, deren Elemente die Reputation und die geschätzte tatsächliche und potentielle Militärmacht des betreffenden Staates bilden. Kleine Staaten sind natürliche Teile des diplomatischen Systems; aber sie können — beinahe per definitionem — nicht als entscheidende Größen in den Gleichungen des weltweiten Mächtegleichgewichts figurieren. Den Charakter des gesamten diplomatischen Systems unter dem Gesichtspunkt des Mächtegleichgewichts zu betrachten, ist den Großmächten vorbehalten. Großmächte sind jene Staaten, von denen angenommen wird, daß jeder von ihnen das ganze Staaten-System beherrschen oder zumindest schwer erschüttern könnte, wenn er nicht von seinesgleichen in Schach gehalten würde. Jede Großmacht wird also für fähig gehalten, selbständig beträchtliche Gewalt auszuüben; sie ist somit eine polare Macht. Es ist stets etwas zweifelhaft gewesen, ob zwei oder mehr Großmächte gleichzeitig Mitglieder eines Bündnisses sein können. Die Anerkennung der offenkundigen Tatsache, daß Allianzen bindend oder nicht bindend, daß sie scheinbar schwach oder stark sein können, öffnet der Spekulation und Ungewißheit ein weites Feld. Wie dem auch sei: die Großmächte bilden zusammen ein System gegenseitiger Kontrolle und Hemmung, das allgemeine Gleichgewicht der Mächte kann in einem gegebenen Zeitpunkt stabil oder unstabil, einfach oder komplex, zweiseitig oder mehrseitig sein. In den letzten drei Jahrhunderten herrschte viel häufiger ein multipolares Mächtegleichgewicht als ein bipolares. So gesehen ist der normale Rahmen außenpolitischer Probleme eine polyzentrische oder multi-polare Welt; Bipolarität ist ein seltenerer Zustand, der gewöhnlich durch einen großen Krieg herbeigeführt wird. Von grundlegender Bedeutung für die Beschaffenheit des allgemeinen Mächtegleichgewichts in der Welt ist, wie viele Großmächte es gibt und wie sich diese Großmächte zueinander verhalten; ob sie danach streben, Bündnisse zu schließen, aufrechtzuerhalten oder aufzulösen, und mit welchem Erfolg. Alle diese Fragen gehören hierher, weil der Polyzentrismus vornehmlich bündnis-schließende Mächte betrifft, während der Neutralismus in erster Linie die Sache solcher Mächte ist, die eine Mitgliedschaft in den Allianzen der Großmächte zu vermeiden suchen.

Was ist Neutralismus?

Der Begriff des Neutralismus kam Ende der vierziger Jahre in Frankreich auf und erlangte bald internationale Geltung. Der Terminus war ursprünglich abschätzig gemeint; er sollte den Standpunkt derjenigen bezeichnen, die gegen die Mitgliedschaft Frankreichs in der NATO waren. Mit der Zeit erweiterte sich seine Bedeutung; er wurde nun auf alle Länder und Völker angewandt, die nicht mit den Lagern des Kalten Krieges, dem kommunistischen oder dem kapitalistischen Lager, wie man sie nannte, identifiziert werden wollten. Oder genauer gesagt: Neutralisten waren all jene, die es aus irgendeinem Grund (und es gab zahlreiche und vielfältige Gründe) ablehnten, sich den Militärbündnissen der Sowjetunion oder der Vereinigten Staaten anzuschließen. Unter Neutralismus verstand man also zunächst alle Formen des Abseitsstehens vom Kalten Krieg.

Ich für meine Person würde es vorziehen, die Begriffe Neutralismus und Bündnisfreiheit oder Blockfreiheit (non-alignment) auseinanderzuhalten. Unter Neutralismus würde ich eine Ideologie verstehen — Gefühle, Bestrebungen, Aversionen, die eine Überzeugung nähren, Argumente, die sie in ihrer artikuliertesten Form rechtfertigen —; unter Bündnis-freiheit eine außenpolitische Haltung. Aber der Sprachgebrauch geht so durcheinander, daß es wahrscheinlich wenig Sinn hat, einen Unterschied zwischen diesen ohnehin unscharfen und fließenden Kategorien zu machen. Im großen und ganzen gelten Neutralismus und Bündnisfreiheit heute als Synonyme.

Ideologischer Neutralismus findet sich — ausgesprochen oder unausgesprochen — in allen Ländern, denn dem Wunsch, abseits vom Kalten Krieg zu stehen, gewissen Militärbündnissen fernzubleiben, können vielerlei Motive, Ambitionen oder Aversionen zugrunde liegen. Einige besonders in die Augen springende Motive sind der Widerwille gegen den beherrschenden Einfluß der Großmächte auf die Weltpolitik, die Furcht vor einem Atomkrieg, der Wunsch, als Versöhner, Vermittler, Friedensstifter aufzutreten oder andere in diese Rolle zu drängen. Der Neutralismus kann auch in Provinzialismus, Isolationismus, Idealismus oder Zynismus wurzeln. Die emotionalen Ursprünge des ideologischen Neutralismus liegen also in wohlbekannten Zügen der menschlichen Natur; seine Wirkungsweise hängt jedoch so sehr von den örtlichen Bedingungen und Möglichkeiten, vom enracinement ab, daß diese Prozesse einzeln untersucht werden müssen — allerdings nicht hier.

Neutralismus und Bündnisfreiheit

Der Neutralismus, wie er Ende der vierziger Jahre in einer Reihe von Protestbewegungen gegen Militärbündisse in Erscheinung trat, blieb wirkungslos. Aber Anfang der fünfziger Jahre erschien eine neue Strömung, die sich als stärker und dauerhafter erwies. Das war der außenpolitische Neutralismus der seit kurzem unabhängigen Staaten Asiens (und später Afrikas). Der wichtigste Wegbereiter dieser Bewegung war Indien. Symbolisch für diesen Wandel war, daß jetzt der Ausdruck „Bündnisfreiheit" mehr in Gebrauch kam, besonders bei denen, die ihre Unabhängigkeit von den Rivalen des Kalten Krieges kundzutun wünschten. „Neutralismus" hatte jetzt schon einen Bei-klang von Passivität, von Gleichgültigkeit gegenüber moralischen und politischen Fragen, während „Bündnisfreiheit" zunächst nur ein einfaches Faktum ausdrückte — Abwesenheit von formellen Bündnissen —, dann aber nach Belieben mit positiverem Inhalt angereichert werden konnte. Nehru, der den Ausdruck „Neutralismus" als Kennzeichnung der indischen Außenpolitik stets ablehnte, sprach 1952 zum erstenmal von der „Bündnisfreiheit" seines Landes. Damit prägte der einen neuen Namen für eine Reihe von Ideen, die er ununterbrochen seit 1947 und zum Teil schon seit den späten zwanziger Jahren verfochten hatte.

Es war vor allem dem Einfluß der Nehruschen Ideen zuzuschreiben, daß von der Mitte der fünfziger Jahre an viele bündnisfreie Staatsmänner von eigenen Gnaden sowie einige Wissenschaftler von einer Theorie oder Doktrin der Bündnisfreiheit sprachen. Als Doktrin nahm der Neutralismus entweder die Form sehr vager, erhabener und allgemeiner oder sehr partikularistischer, zufallsbedingter Thesen an; einen Mittelweg scheint es nicht zu geben. Die partikularistischen Aussagen müssen natürlich jede für sich beurteilt werden.

Die allgemeinen Thesen lassen sich in der Regel etwa folgendermaßen zusammenfassen: 1. Der Neutralismus kann helfen, internationale Konflikte zu mildern und vielleicht ganz aus der Welt zu schaffen.

2. Der Neutralismus ist moralisch zu rechtfertigen. 3. Der Neutralismus ist eine wahrhaft unabhängige, vielleicht die einzige wahrhaft unabhängige Politik.

4. Der Neutralismus bedeutet Opposition gegen jede Form von Imperialismus, Kolonialismus und Neokolonialismus.

5. Der Neutralismus fördert die allgemeine Abrüstung und den Weltfrieden. Derartige Sätze werden von manchen als Bestandteile einer allgemeinen Theorie der Bündnisfreiheit angesehen, einer Theorie, die reich an Einsichten und universell gültig und anwendbar sein soll Ich halte das für einen sehr schädlichen und abwegigen Mythos. Meine Gründe für diese Ansicht habe ich an anderer Stelle entwickelt ich brauche sie hier nicht zu wiederholen. Es kann jedoch hinzugefügt werden, daß die Grundannahme, von der fast alles Theoretisieren über Bündnisfreiheit ausgeht, in den Tatsachen der internationalen Geschichte ebensowenig eine Stütze findet wie seinerzeit Dulles’ berüchtigte Gegenthese, daß „Neutralität" (Worunter er, wie sich aus dem Zusammenhang ergab, Bündnis-freiheit oder Neutralismus verstand) kurzsichtig und unmoralisch sei, von Ausnahmefällen abgesehen. Aus der Vergangenheit läßt sich weder Bündnisbildung noch Bündnisfreiheit als Norm internationaler Politik ableiten; beide waren in der Geschichte des modernen Staatensystems stets nebeneinander anzutreffen. Gewisse Tendenzen der Bündnisbildung und Bündnisfreiheit scheinen jedoch eine sollide Grundlage in den geschichtlichen Tatsachen zu haben. Großmächte sind gewöhnlich bündnisschließende Mächte. Weniger eindeutig läßt sich sagen, daß kleine Mächte Bündnissen aus dem Wege gehen; einige sind stets bündnisscheu, andere nicht. Von bestimmendem Einfluß sind hier die Verhältnisse, besonders geographische und militärische. In der Nachkriegszeit seit 1945 haben sich die neuen Staaten fast immer in irgendeiner Form zur Bündnisfreiheit bekannt.

Auch die Dritte Welt ist voller Konflikte

Die Bandung-Konferenz im April 1955 gab dem Empfinden, daß eine asiatisch-afrikanische Wiedergeburt im Gange sei, gewaltigen Auftrieb. Sie stärkte auch das Selbstvertrauen mehrerer Führer bündnisfreier Staaten und weitete ihren Horizont. Es entstand der Brauch, daß bestimmte Führer einander konsultierten und gemeinsam handelten, wenn dies für alle Teile zweckmäßig erschien. Ein frühes Beispiel waren die Treffen von Nehru, Nasser und Tito auf Brioni; ihnen folgten viel größere neutralistische Konferenzen, namentlich die in Belgrad im September 1961 und die in Kairo im Oktober 1964. Daß ein Land eine neutralistische Außenpolitik trieb, war in den frühen fünfziger Jahren im wesentlichen an einem negativen Kriterium erkennbar: eben daran, daß es nicht den Militärbündnissen der Großmächte angehörte. Anfang der sechziger Jahre hingegen war es das Hauptkennzeichen einer neutralistischen Außenpolitik, wenn das betreffende Land auf den Teilnehmerlisten der großen neutralistischen Konferenzen stand. In Belgrad waren fünfundzwanzig neutralistische oder bündnisfreie Staaten voll vertreten, während einige andere, namentlich lateinamerikanische Staaten, die Beobachter entsandt hatten, eine Art halbneutralistischen Status hat-ten. In Kairo waren neunundvierzig Länder voll vertreten, zehn hatten Beobachter entsandt. Zumindest Nasser hatte bereits 1955/56 begriffen (und gab die Lehre weiter): Wenn Neutralismus unmoralisch ist, wie Mr. Dulles behauptete, so kann doch der Sünde Sold für einen „aktiven und positiven" Neutralismus hoch sein.

Damals wurde auch der Begriff le tiers monde (die Dritte Welt) geprägt jedoch erst nach mehr als vier Jahren, nachdem 1960 in Afrika etwa zwanzig neue Staaten entstanden waren, wurde das englische Äguivalent the third world zum gängigen Schlagwort. „Die Dritte Welt" war und ist ein etwas unklarer Begriff. Manche Verführt er zu der Annahme, zwischen den Bündnisfreien bestehe weitgehend? Übereinstimmung, sie zögen alle einträchtig an einem Strang. Diese Vorstellung ist so weit von der Wirklichkeit entfernt — und wird es wahrscheinlich auch bleiben —, daß man sie als rein mythologisch bezeichnen muß. Die Solidarität der Bündnisfreien wird gewöhnlich sehr überschätzt. Das soll jedoch nicht heißen, daß der Begriff der Dritten Welt völlig inhalt-los wäre Er ist eine bequeme Kurzbezeichnung für einen ansehnlichen Teil der Welt und für Prozesse, die zwar nicht komplizierter, aber auch nicht weniger kompliziert sind als die, welche sich in der sogenannten westlichen Welt vollziehen. Die Dritte Welt hat genau wie die beiden anderen Welten ihre Sympa-thien und Animositäten, ihre Fehden und Freundschaften. Im allgemeinen sind schwere innere Wirren in der Dritten Welt häufiger als anderswo, und das wird sich so bald nicht ändern.

Am Anfang stand der Titoismus

Der Begriff „Polyzentrismus" erblickte gleichfalls in dem ereignisreichen Jahr 1956 das Licht der Welt. Sein Erfinder war bekanntlich der inzwischen verstorbene italienische Kommunistenführer Togliatti. In einem Interview für die italienische Zeitschrift Nuovi Argo-menti sagte Togliatti am 16. Juni 1956, die verschiedenen kommunistischen Parteien müßten verschiedene Wege gehen: „Das ganze System wird polyzentrisch, und auch in der kommunistischen Bewegung selbst können wir nicht von einem einzigen Führer sprechen, sondern vielmehr von einem Fortschritt, der dadurch erzielt wird, daß man Wegen folgt, die oft verschieden sind." Diese Ansicht, die man fortan von vielen Seiten in den verschiedensten Abwandlungen zu hören bekam, war natürlich nicht völlig neu. Im Grunde war es die gleiche Linie, die Tito im Zuge der Ereignisse formuliert hatte, die 1948 zum Ausschluß Jugoslawiens aus dem Kominform führten. Tito hatte damals Stalins Behauptung bestritten, daß die kommunistische Weltbewegung ein führendes Zentrum brauche, und ferner hatte er Stalins Prahlerei widerlegt, es bedürfe nur eines Winks von ihm und Tito sei erledigt. Daß Titos erfolgreicher Widerstand gegen Stalin nicht andere kommunistische Staaten ermunterte, ebenfalls zur Bündnisfreiheit überzugehen — denn das war die praktische Bedeutung seines Schritts —, lag an Stalins Entschlossenheit, den Titoismus in Osteuropa unbekümmert um das persönliche Schicksal Titos auszurotten. Es ist daran zu erinnern, daß Togliatti den „Titoismus" unter der neuen Bezeichnung „Polyzentrismus" verteidigte, nachdem Chruschtschows berühmte Geheim-rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU die kommunistische Welt wie ein Donnerschlag aufgeschreckt hatte. Entstalinisierung war jetzt die offizielle Losung in dem Lande, das lange Zeit beansprucht hatte, das Zentrum des Weltkommunismus zu sein, und der Prozeß der Aussöhnung mit Jugoslawien war schon im Gange. Die sowjetischen Führer hatten ihre Bußwallfahrt nach Belgrad bereits hinter sich und umwarben jetzt eifrig einige ausgewählte bündnisfreie Staaten Asiens. Beachtenswert ist der Umstand, daß Togliatti von der polyzentrischen Entwicklung nicht nur der kommunistischen Bewegung, sondern des ganzen Weltsystems sprach. Diesen letzten Punkt lernen die bündnisfreien Staaten der kommunistischen Welt wie der Dritten Welt zunehmend schätzen. Denn im Laufe der Entwicklung und Verschärfung des chinesisch-sowjetischen Konflikts haben viele bündnisfreie Staaten Asiens und Afrikas festgestellt, daß dieser Konflikt zwar im allgemeinen schädliche, manchmal aber auch — für sie — günstige Auswirkungen hat.

Russen und Chinesen haben für Bündnisfreiheit nicht viel übrig

Die Tatsache, daß China und die Sowjetunion offen als Rivalen im Werben um die Gunst der bündnisfreien Staaten auftreten, veranlaßt diese, im Verkehr mit den kommunistischen Großmächten auf der Hut sein. Jede der beiden warnt unverlangt vor der Schlechtigkeit und den Ambitionen der anderen; das kann ihr Bild in den Augen von Völkern, die sie meist gerade erst kennenlernen, nicht eben verbessern. Die plumpe Holzhammer-Diplomatie der Vertreter Chinas auf der afro-asiatischen Konferenz von Algier im Juni 1965, die das Scheitern dieser Konferenz nicht aufhalten konnte, erinnerte daran, daß leichte diplomatische Erfolge ebensowenig ein Vorrecht Chinas wie Rußlands oder anderer Groß-mächte sind. Die Niederlage der chinesischen Diplomatie (und das Ende des Geistes von Bandung) war besiegelt, als sich China von der Algier-Konferenz zurückzog und diese auf unbestimmte Zeit vertagt wurde. Wenn die Führer der bündnisfreien Staaten hinreichend interessiert sind, um die einschlägige sowjetische und chinesische Literatur zu lesen, dann können sie feststellen, daß die offiziellen Lehrmeinungen über Bündnisfreiheit gar nicht so verschieden voneinander sind und es wahrscheinlich auch niemals waren. Weder die sowjetischen noch die chinesischen Führer sind geneigt, Bündnisfreiheit als etwas besonders Verdienstliches oder etwas Bleibendes anzusehen. Zwei Beispiele müssen genügen: In dem Artikel „Die bündnisfreien Länder und die Weltpolitik" in der Zeitschrift World Marxist Review (April 1963) warnte der Autor die bündnisfreien Länder vor einer Haltung, die er „Blockfreiheits-Fetischismus" nannte, und fuhr fort:

„Bündnisfreiheit ist die Alternative zu einer pro-imperialistischen Außenpolitik, und nur mit der letzteren verglichen ist sie ein Fortschritt. Einen neuen Typ internationaler Beziehungen verkörpert das sozialistische System: Beziehungen, die sich gründen auf die Prinzipien des Friedens, der Gleichheit, der Selbstbestimmung und der Achtung vor der Unabhängigkeit aller Länder sowie auf eine Diplomatie von grundlegend neuem Typ. Unverständnis für diese Tatsachen kann nur vom allgemeinen Entwicklungsweg der gegenwärtigen internationalen Beziehungen wegführen. Das hieße die Tatsache außer acht lassen, daß die Welt in zwei entgegengesetzte gesellschaftliche Systeme geteilt ist, in das sozialistische und in das kapitalistische; es hieße den Umstand ignorieren, daß in unserem Zeitlalter das sozialistische Weltsystem ein Hauptfaktor zur Sicherung des Friedens ist und daß die Zahl der sozialistischen Länder stetig zunehmen wird, während die kapitalistische Welt weiterhin schrumpfen wird. Gewiß ist die Zahl der bündnisfreien Länder in letzter Zeit gewachsen und wird weiter wachsen. Diese Zunahme ist hauptsächlich auf das Auftreten neuer souveräner Staaten zurückzuführen."

Der in Peking gedruckte und veröffentlichte New Terminological Dictionary definiert ganz ähnlich die „neutralistische Linie":

„Das ist ein Phantasiegebilde, das nie Wirklichkeit werden kann. Auch die Theorie ist nicht richtig. In der heutigen Weltlage gibt es nur zwei Wege — entweder Unterstützung des Kapitalismus oder Unterstützung des Sozialismus —, einen dritten Weg gibt es nicht. Die Hoffnung, einen dritten Weg einschlagen zu können, ist vergeblich und zum Scheitern verurteilt."

Wenn hier auf diese weiterbestehende Ähnlichkeit der Doktrinen hingewiesen wird, so soll damit natürlich nicht geleugnet werden, daß die letzten Jahre unmißverständliche Beweise für die tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen den chinesischen und den sowjetischen Führern erbracht haben und daß diese Differenzen jetzt im Grunde nicht mehr zu überbrücken sind. Ein neuer Kalter Krieg zwischen zwei Großmächten — Moskau und Peking — ist im Gange. In diesem Boden keimt die Saat der Bündnisfreiheit in bezug auf diesen Konflikt, und wenigstens in einem bemerkenswerten Fall, nämlich in Rumänien, scheint sie schon feste Wurzeln gefaßt zu haben.

Globales und regionales Mächtegleichgewicht

Die Bezeichnungen „kommunistischer Neutralismus" und „kommunistische Bündnisfreiheit" gehören heute bereits zum Vokabular mehrerer westlicher Kommentatoren. Kommunisten dagegen zeigen, soviel ich weiß, wenig Enthusiasmus, diese Bezeichnungen auf sich selbst oder auf Genossen ihrer Bruderparteien anzuwenden. Alle, die sich als aufrechte Kommunisten fühlen, empfinden offenbar ein heftiges Widerstreben gegen den Gedanken, daß die Begriffe „Neutralismus" oder „Bündnisfreiheit" überhaupt auf sie anwendbar seien.

Bündnisfreiheit innerhalb der kommunistischen Welt ist nicht das gleiche wie in der Dritten Welt. Doch keine der beiden Seiten iördert von sich aus den Polyzentrismus, wenn auch jeder bündnisfreie Staat versuchen mag, vom Polyzentrismus zu profitieren. Mißverständnisse darüber sind möglich, weil eine neue Situation im Prozeß der Entstehung entdeckt werden kann oder erst dann, wenn sie schon da ist. Wenn von der polyzentrischen Politik kleiner oder bündnisfreier Staaten gesprochen wird, wie das einige Experten für Weltpolitik heute gern tun, so erinnert das ein wenig an die Fabel von der Heuschrecke, die auf dem Rad einer fahrenden Kutsche saß und glaubte, die Welt drehe sich um sie. Am besten läßt sich Bündnisfreiheit betrachten unter dem Gesichtspunkt von Wandlungen im Mächtegleichgewicht, sowohl im Weltmaßstab als auch auf regionaler Ebene. Alle bündnisfreien Staaten sind ungebunden in bezug auf die Allianzen der Großmächte, die Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre entstanden und eine bestimmte Machtverteilung eine Zeitlang in feste Formen brachten. Heute wird das Wesen der Bündnisfreiheit eines jeden Staates nicht so sehr von der Wirkungsweise des zentralen Mächtegleichgewichts beeinflußt als vielmehr vom Funktionieren des lokalen oder regionalen Mächtegleichgewichts. Nur Weltmächte, das heißt Mächte mit allumfassenden Interessen und allumfassendem Vermögen, können spürbar auf das allgemeine Gleichgewicht einwirken — wenn auch im Zeitalter der Atomwaffen natürlich alle Staaten mehr als nur ein symbolisches Interesse an diesem Gleichgewicht haben. Aber jeder Staat, ob Bündnismitglied oder bündnisfrei, ist äußerst interessiert am Mächtegleichgewicht seiner Region, sei es Indien gegenüber China und Pakistan, Somalia gegenüber Kenia und Äthiopien, Israel gegenüber den arabischen Staaten oder Kambodscha gegenüber seinen Nachbarn. Bündnisfreiheit ist keine außenpolitische Allzweckhaltung und ist es nie gewesen. Die Vorstellung, es gebe eine leicht erkennbare Politik und Einstellung zu Weltproblemen, geheißen Bündnisfreiheit oder Neutralismus, ist durch viele populäre Reden und Schriften fast geheiligt. In Wirklichkeit führt sie sehr in die Irre. Es gibt keine Standard-Bündnisfreiheit, und es hat sie nie gegeben. Bündnisfreiheit muß als grobe, veränderliche Kategorie aufgefaßt werden — ebenso aber Bündnismitgliedschaft.

Bündnisse verhindern Atomisierung der Staatengesellschaft

Die Welt durchläuft jetzt eine Phase, in der die Militärbündnisse allenthalben in Verwirrung sind. Niemand wäre sonderlich überrascht, wenn die SEATO völlig auseinanderbräche, und immer wieder erfährt man von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NATO, der CENTO und des Warschauer Paktes. Aber es wäre falsch, die Tage aller Allianzen für gezählt zu halten oder auch nur anzunehmen, die NATO und der Warschauer Pakt seien unvermeidlich zur Auflösung verurteilt. Die Gesellschaft der souveränen Staaten mag zeitweise fast gänzlich atomisiert erscheinen, aber dieser Zustand ist nie von Dauer, und daß er es nicht ist, dazu haben Bündnisse stets ihren Teil beigetragen.

China und Frankreich sind zur Zeit mit ihren Allianzen offensichtlich unzufrieden, aber keiner der beiden Staaten hat sich bisher von allen seinen Bündnispflichten losgesagt. Ihre Einflußmöglichkeiten entstammen vielfach noch dem stark empfundenen Recht, die mit ihnen verbündeten Supermächte zu kritisieren und Ansprüche an sie zu stellen. Frankreichs Einfluß in der Welt würde wahrscheinlich abnehmen (Chinas revolutionärer Einfluß allerdings nicht), wenn es alle Bande zu den Bündnispartnern zerschnitte und die damit verbundenen Anrechte auf Gehör und gegenseitige Konsultation verlöre. Immerhin haben die Aktionen Frankreichs, und mehr noch die Chinas, in letzter Zeit eine alte Wahrheit in Erinnerung gebracht, die man in den frühen fünfziger Jahren offenbar vergessen hatte: daß Bündnisse nicht automatisch funktionieren und daß sie die ewig fließende Verteilung von Macht und Einfluß in der Welt nicht auf lange Zeit einfrieren können.

Die frühen fünfziger Jahre sahen das Crescendo des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Wir erleben jetzt sein Diminuendo, und schon erscheint er vielen — meist oberflächlichen — Betrachtern weniger wichtig und weniger gefährlich als der chinesisch-sowjetische oder der chinesisch-amerikanische Kalte Krieg. Von der Entspannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu reden, ist schon ein Gemeinplatz geworden, wobei zum Beweis unweigerlich der „heiße Draht" und der Vertrag über das teilweise Verbot von Atombombentests angeführt werden. Aber man darf nicht vergessen, daß die speziellen Feindseligkeiten dieses Kalten Krieges noch nic. it beendet sind und daß das multipolare System noch nicht voll existiert. Die Rivalität zwischen den USA und der UdSSR ist nicht nur eine militärische Konfrontation von beispielloser Kraftentfaltung, sondern zugleich ein Aufeinander-prallen entgegengesetzter Interessen, Ideen und Ambitionen.

Nach wie vor zwei große politische Zentren

Noch immer gibt es nur zwei Weltmächte, zwei Mächte, deren technische und militärische Überlegenheit über allen sonstigen klar zutage liegt und wahrscheinlich für den Rest dieses Jahrhunderts bestehen bleiben wird. Technische Überlegenheit löst jedoch nicht die politischen Probleme eines Landes; oft vermehrt und kompliziert sie diese Probleme. Es mag ermüdend sein, aber wenn man von Polyzentrismus spricht, muß man immer fragen: Zentren in welchem Sinne?

Frankreich und China haben gezeigt, daß sie fähig und entschlossen sind, der Führung Washingtons bzw. Moskaus Trotz zu bieten; aber sie selbst können nur auf sehr wenig regelmäßige Unterstützung von dritter Seite zuverlässig rechnen. Das gleiche kann man von Jugoslawien, Rumänien, Indonesien und der Vereinigten Arabischen Republik in ihren jeweiligen Wirkungssphären sagen. Alles in allem haben die beiden größten Mächte heute den Wunsch, den territorialen Status quo der Welt zu stabilisieren; in diesem Sinne zumindest sind sie stabilisierende Zentren. Aber es gibt viel mehr als zwei politische Epizentren in der Welt, besonders in der Dritten Welt, und das größte potentielle politische Epizentrum von allen ist China.

Neutralismus und Polyzentrismus sind Bestandteile der immer gegenwärtigen, sich immer wandelnden Komplexität der Welt von heute. Es gibt keinen sicheren und einfachen Weg, ihre Bedeutung zu erkennen; dazu bedarf es der Untersuchung vieler verschiedener Formen. Soviel steht fest: in einer polyzentrischen Welt muß der Neutralismus vielgestaltig sein.

Für alle Staatsmänner (und überhaupt für alle, die sich mit Weltpolitik befassen) wird wahrscheinlich jedes der nächsten fünfunddreißig Jahre aufs neue ein Wort Trotzkis bestätigen: „Wer ein ruhiges Leben wünscht, hat nicht gut daran getan, im 20. Jahrhundert zur Welt zu kommen."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das non plus ultra dieser Denkweise wird erreicht in: John Burton, International Relations: A General Theory, 1965, besonders Teil 5.

  2. In meinem Buch: Neutralism, 1963; siehe besonders Kapitel 3.

  3. Von dem französischen Soziologen Georges Balandier; siehe: Le tiers monde, herausgegeben von G. Balandier, Paris 1956.

  4. Die These, daß er durchaus nicht inhaltlos ist, verficht auf anregende Weise Peter Worsley, The Third World, London 1964.

Weitere Inhalte

Peter Lyon, Dozent für Internationale Beziehungen an der London School of Economics. Veröffentlichungen u. a.: Neutralism, 1963; War and Peace in South-East Asia, 1966.