Unbefriedigende Ergebnisse der amerikanischenAnstrengungen
Um ihre lebenswichtigen Interessen in Lateinamerika zu sichern, müssen sich die Vereinigten Staaten um ein besseres Verständnis der revolutionären Veränderungen in diesem Kontinent bemühen. Sie müssen ihr Verhältnis zu dieser Revolution regeln und ihr Engagement klarstellen. Entsprechend müssen sie ihre Politik gegenüber Lateinamerika ändern und ihre staatlichen und privaten Hilfsprogramme überprüfen.
Es kann heute kein Zweifel darüber bestehen, daß die Interessen der Vereinigten Staaten auf dem Spiele stehen. Chaos und Gewalt herrschen in einigen Ländern Lateinamerikas und stehen in anderen vor der Tür. Die amerikanischen Anstrengungen, die wirtschaftliche Entwicklung und die politische Stabilität zu fördern, haben höchst unbefriedigende Erfolge gezeitigt, vor allem auf dem Lande. Auf der anderen Seite ist eine der hoffnungsvollsten politischen Entwicklungen in der westlichen Hemisphäre, die Christlich-Demokratische Bewegung unter Führung des chilenischen Präsidenten Eduardo Frei, gänzlich ohne amerikanisches Zutun entstanden und macht in mehreren Ländern große Fortschritte. Es scheint sogar, als liege ihre Stärke teilweise gerade darin, daß sie den Vereinigten Staaten politisch und ideologisch fern-steht und sich in zunehmendem Maße an Europa anlehnt.
Das anfängliche visionäre Element in der Allianz für den Fortschritt ist nur noch verschwommen wahrnehmbar, und ihre ideelle Botschaft ist verstümmelt worden. Wiederum wird das Bild der Vereinigten Staaten durch den Verdacht getrübt, daß sie sich auf den Status quo festgelegt haben und Veränderungen passiven Widerstand entgegensetzen. Die nachdrückliche Verbindung der Allianz mit Forderungen nach radikalen Reformen, die ihre Anfänge kennzeichnete und ihr den zündenden Funken gab, hat sich wieder aufgelöst. Die ideologische Initiative, die die USA im Jahre 1963 ergriffen hatten, ist versandet.
Wer Macht und Einfluß besaß, erhob natürlich laut seine Stimme gegen die Forderungen der Allianz nach Steuerreformen, nach gerechterer Verteilung des Grund und Bodens und anderen Maßnahmen, die in Lateinamerika als revolutionär gelten mußten. Es gab jedoch sehr viel mehr Menschen, die zum erstenmal das unbestimmte Gefühl hatten, daß der reiche und mächtige Nachbar im Norden sich aufrichtig in den Kampf um soziale Gerechtigkeit einschaltete, daß es tatsächlich eine glaubhafte Alternative zu den zynischen Dema-gogen der Linken gab, die den Fortschritt versprachen, aber um den Preis, daß die Menschen sich ihnen auslieferten — eine Alternative zugleich zu den überholten und zerfallenen Herrschaftsstrukturen der Gegenwart. Wir sind geneigt zu glauben, daß Taten mehr sind als Worte. Und doch waren die Worte Präsident Kennedys in jenen ersten Jahren der Allianz höchst bedeutungsvoll — seine Versicherung, daß die Vereinigten Staaten ein revolutionäres Land waren, daß die Amerikaner die Forderungen der Völker Lateinamerikas nach radikalen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen von ganzem Herzen unterstützen, daß es ihnen nur darauf ankam, die Revolution in konstruktive Bahnen zu lenken, damit sie den vornehmsten Interessen der Völker diene, und daß die Unabhängigkeit Lateinamerikas vor jenen geschützt werde, die sie mit imperialistischen Absichten bedrohten. Solchen Worten ist es zu verdanken, daß das Bild Kennedys in ganz Lateinamerika in abgelegenen Hütten, in Arbeitersiedlungen der Städte, in tiendas (Läden), Tankstellen und Schulstuben hing. Solche Worte hätten die amerikanische Intervention in der Dominikanischen Republik für die Lateinamerikaner verständlicher und annehmbarer gemacht. Damals haben die Amerikaner den falschen Weg gewählt. Da sie ihr Eingreifen mit der Notwendigkeit der Rettung von Menschenleben und mit unklaren antikommunistischen Parolen begründeten, sah es so aus, als seien sie gegen die Revolution. Tatsächlich stießen sie auf eine Situation, die eher chaotisch als revolutionär war, eine Situation, in der der wahren und legitimen Revolution des Volkes der Dominikanischen Republik von jenen Gefahr drohte, die sie für ihre imperialistischen Ziele ausnutzen wollten. Die Amerikaner versuchten die Unabhängigkeit der Revolution zu sichern, aber sie sagten es nicht.
Während die Taten und Hilfsprogramme der Amerikaner sich heute wenig von denen des Jahres 1963 unterscheiden — vielleicht haben sie sogar an Wirksamkeit zugenommen —, sind ihre Worte, ihre Botschaft, ihre Philosophie, ihre Ideologie unklarer geworden. Wer in Lateinamerika sich darüber klar ist, daß eine konstruktive Revolution kommen muß, weil es sonst eine destruktive geben wird, sucht verzweifelt nach Führung und ist dabei höchst empfindlich. Die Hoffnungen die-ser Menschen richten sich nicht auf Geld oder Hilfe, sondern sie fragen danach, wo die Idee einer neuen Gesellschaft am deutlichsten sichtbar wird. Einige — Unwissende, Fehlgeleitete oder Böswillige — sehen sie in Kuba, in der Sowjetunion oder in China, aber für die meisten gilt das nicht. Wenn wir jedoch den Angeboten der Kommunisten keine klare, realistische und schöpferische Alternative entgegensetzen, dürfen wir nicht überrascht sein, wenn ihre Anhängerschaft wächst. Wenn man die Anstrengungen der Amerikaner in Lateinamerika beobachtet, wird man das Gefühl nicht los, daß hier ein großes und hochherziges Volk ungeheure materielle Mittel in einem Kampf aufwendet, der seinem Wesen nach nicht materieller Natur ist und der nicht gewonnen werden kann ohne ein klares, festes und von einer Idee getragenes Programm, das auf der Einsicht in das Wesen dieser Revolution basieren muß.
Revolutionäre Veränderungen sind unvermeidlich und wünchenswert
Es ist nun zu erklären, was mit dem Wort Revolution gemeint ist. Diese Revolution unterscheidet sich scharf von der Anarchie, den Putschen und anderen unorthodoxen Methoden des Regierungswechsels, wie sie in Lateinamerika gang und gäbe sind und wie wir sie in jüngster Zeit in der Dominikanischen Republik, in Brasilien, Honduras und Guatemala erlebt haben. Mit dem Begriff Revolution meinen wir vielmehr tiefgreifende und radikale Änderungen im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gefüge einer Nation, die ständig abseits der chaotischen äußeren Zustände und der Putsche vor sich gehen und die die Arbeit und das Leben jedes einzelnen berühren. Diese Revolution ist emotionell und ideell und hat etwas mit Würde und Gerechtigkeit zu tun. Sie ist in Lateinamerika und auch anderswo unvermeidlich und überdies höchst wünschenswert. Lateinamerika ist im Begriff, die Richtung zu bestimmen, die diese Revolution nehmen soll, die Ziele festzulegen, die durch sie erreicht werden sollen, und die Prioritäten, die diesen Zielen gegeben werden sollen, schließlich das Ausmaß ihrer Unabhängigkeit von auswärtigen Mächten zu bestimmen. Mit dieser Revolution muß richt notwendig Blutvergießen und Gewalttätigkeit verbunden sein. Das war vor langen Jahren in Mexiko der Fall; aber in Chile können wir beobachten, wie die Umwälzgungen in Frieden und Ordnung vor sich gehen. Man darf hoffen, daß dasselbe in Venezuela geschieht und schließlich auch in Brasilien.
Die Bedeutung dieser Revolution zeigen die Worte des Soziologen Roger E. Wekemans, S. J., des Direktors des Zentrums für Forschung und. Soziale Aktion in Chile, engen Beraters von Präsident Frei und intellektuellen Führers der Katholischen Sozialen Aktion in Lateinamerika: „Ohne durchgreifende und rasche soziale Umwälzungen in einem wahrhaft revolutionären Ausmaß wird es nicht möglich sein, eine echte und schnelle wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika zu erreichen. Ohne eine gewaltige wirtschaftliche Expansion aber ist der revolutionären Krise in diesem Kontingent nicht beizukommen . . . Ein vom Ausland ausgeübter blinder, unmittelbarer Druck, der die Notwendigkeit sozialer Umwälzungen in Lateinamerika nicht zur Kenntnis nimmt, mag in der Lage sein, die Explosion zeitweilig aufzuschieben. Aber auch wenn sie verzögert wird, wird diese Explosion notwendig kommen, und je länger sie verzögert wird, desto heftiger wird sie sein." Welches sind nun die Probleme, die diese Revolution verursachen und die von ihr zu lösen sind?
Rapides Bevölkerungswachstum mit einem Geburtenüberschuß von 2, 8% jährlich, der die wirtschaftliche Wachstumsquote weit übersteigt; niedriger Lebensstandard, ungenügende und ungleichmäßig verteilte Kaufkraft, Einkommen und Landbesitz;
große und noch zunehmende Unterschiede in Einkommen und Lebensstandard zwischen Stadt und Land und zwischen verschiedenen Gebieten in ein und demselben Land; eine rapide Bevölkerungsverschiebung vom Land in die Stadt mit der Folge, daß Slums, Arbeitslosigkeit und Unruhe entstehen;
ungenügende Bildungsmöglichkeiten und ein starres hierarchisches Gesellschaftsgefüge, das denen die Chancen verwehrt, denen es tatsächlich gelungen ist, ein gewisses Maß an Bildung zu erwerben;
unzureichende und unbewegliche Kredit-und Marktsysteme, deren Folge Ausbeutung, hohe Preise und niedrige Erträge der Bauern sind; eine zentralisierte Industrie, die sich auf die Städte konzentriert und die Ursache ist für die ungenügenden Entwicklungs-und die geringen Verdienstmöglichkeiten auf dem flachen Lande.
Abgesehen von diesen spezifischen Faktoren mangelt es ganz allgemein an Vertrauen und Verbindungen zwischen Menschen und sozialen Schichten, wodurch weite Teile der Gesellschaft und der Wirtschaft voneinander isoliert werden. Politische Instabilität und Korruption ergeben sich daraus, daß die Gesellschaft nicht auf breiter Basis organisiert ist und daß die Macht in den Händen sehr weniger liegt. Die Reste des Feudalismus, teilweise in der Form des Paternalismus, tragen gleichfalls dazu bei, Änderungen zu verhindern und Initiative und Vertrauen zu ersticken.
Interdependenz der Probleme
Diese Liste der Probleme ist unvollständig, aber sie reicht aus, um zwei Schlußfolgerungen hinsichtlich der Entwicklung Lateinamerikas nahezulegen.
Das erste ist, daß die Probleme gewissermaßen einen Kreis bilden, daß heißt, daß sie untereinander in einer Wechselbeziehung stehen, von einander abhängig sind und nicht einzeln gelöst werden können. Dies scheint auf der Hand zu liegen, und doch sind die enttäuschenden Ergebnisse der amerikanischen Hilfsprogramme teilweise darauf zurückzuführen, daß man sich nicht danach richtet. Da die Amerikaner ein Volk von Spezialisten sind, neigen sie dazu, die Probleme zu isolieren und sie eins nach dem anderen anzugehen. Das führt z. B. dazu, daß ein Agronom den Bauern beibringt, Tomaten anzupflanzen, die den doppelten Ertrag bringen, doppelt so groß und doppelt so saftig sind wie die des Nachbarn. Nachher sind alle Beteiligten bestürzt darüber, daß diese Tomaten auf den Feldern verfaulen, weil es keinen Absatz für sie gibt oder weil der Absatz schlecht organisiert ist oder weil es keine Lastwagen gibt, um sie auf den Markt zu transportieren, oder keine Straßen, auf denen die Lastwagen fahren können. Wenn die Tomaten auf den Markt gelangen, dann wird dieser von irgendeinem Großen beherrscht, so daß der Bauer nur einen geringen Lohn aus seinen Mühen zieht. Wenn er Kredite haben will, um Düngemittel zu kaufen oder andere Verbesserungen vorzunehmen, so stellt er fest, daß überhaupt keine zu haben sind oder daß er sie nur zu enorm hohen Zinsen bekommen kann. Wenn er das Land fruchtbar gemacht hat, kann es ihm passieren, daß ihm sein Eigentum streitig gemacht wird oder daß irgendein Großgrundbesitzer, der weit entfernt in der Stadt lebt, einfach versucht, es ihm wegzunehmen. Der Abgeordnete seines Wahlkreises steckt höchstwahrscheinlich mit dem städtischen Großgrundbesitzer unter einer Decke. Der Agronom geht nach Hause zurück, verständlicherweise entmutigt; Vertrauen und Hoffnung des Bauern schwinden dahin.
Für viele Mißerfolge sind die Fachleute verantwortlich zu machen, die die Probleme durch ihre spezielle Brille als Wirtschaftswissenschaftler, als Ingenieure, Kaufleute, politische Wissenschaftler oder Soziologen oder sonst etwas sehen. Die Schwierigkeiten liegen teilweise darin, daß sie infolge ihrer spezialisierten Ausbildung und infolge des Ansehens, das sie als Experten genießen, in der Lage sind, jene zu überspielen, die das Ganze in seinem Zusammenhang zu sehen vermögen und eigentlich die Führung haben müßten. Der Fachmann ist ferner ein Geschöpf seiner Erfahrung, die er oftmals ausschließlich in den Vereinigten Staaten gewonnen hat und die daher keine Beziehung zu den Verhältnissen in Lateinamerika hat; oder wenn er „alter Lateinamerikaner" ist, wird er dazu neigen, alles nur noch zynisch und negativ zu sehen und etwa den jungen und enthusiastischen einheimischen Kräften erklären, daß genau dieser Plan vor zehn Jahren in einem anderen Land Schiffbruch erlitten hat.
Die Gesellschaft ist unzulänglich organisiert
Die aufgezählten Probleme können — und dies ist die zweite Schlußfolgerung, die gezogen werden kann — auf zwei Unzulänglich-keiten zurückgeführt werden: auf den Mangel an innerem Antrieb und das Fehlen einer differenzierten Organisation der Gesellschaft. Zum Verständnis dessen wollen wir uns die soziale Organisation in einem typischen lateinamerikanischen Land ansehen. Auf der äußersten Rechten gibt es da eine kleine, glänzend organisierte Elite — eine Koalition von Geschäfts-und Grundbesitzinteressen und dem Militär. Auf der äußersten Linken gibt es eine kleine, straff gegliederte radikale Gruppe, die die bestehende Ordnung Umstürzen will. Dazwischen existieren eine Vielzahl von Kräften, die mehr oder weniger Einfluß auf die beiden extremen Gruppen ausüben; aber die Gesellschaft ist kaum organisiert, so wie es etwa in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Dieser Mangel an Organisation bei 95 Prozent der Bevölkerung macht es schwierig, die Demokratie in Lateinamerika zu praktizieren. Man denke nur an die höchst bedeutende Rolle, die die Tausende von Vereinigungen, Klubs, Verbänden und pressure groups im Regierungssystem der Vereinigten Staaten spielen, um einzusehen, wie schwer es ist, ein ausgewogenes und verantwortungsbewußtes demokratisches System ohne sie ins Leben zu rufen.
Die Unzulänglichkeit der Organisation der Gesellschaft macht sich noch erschwerender bemerkbar, weil die traditionelle Sozialstruktur Lateinamerikas sich in einem Umbruch befindet. Das semifeudale System, das jahrhundertelang eine halbwegs akzeptable Gesellschaftsordnung darstellte, löst sich rasch auf. Das komplizierte Geflecht von Rechten und Pflichten, das den Grundbesitzer an den Bauern, den „Patron" an seine Arbeiter band und das die tienda zum Laden, Markt und Leihhaus, zur Bank und Versicherungsgesellschaft gemacht hatte, ist im Begriff zu zerreißen. Die alte Sozialstruktur erweist sich ungeeignet für die wirtschaftlichen und politischen Bedürfnisse der Völker und Regierungen. Die Schaffung eines neuen Systems aber ist außerordentlich schwierig, vor allem weil die Überreste des unbeweglichen alten Systems die Verständigung zwischen den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft fast unmöglich machen. Es gibt zum Beispiel sehr wenige Führungskräfte in Lateinamerika, sei es im öffentlichen, sei es im privaten Bereich, die mit dem campesino, dem Bauern, auf der Basis gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens reden können. Das ist bedenklich, weil eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine konstruktive Revolution darin besteht, die Bauern in die Gesellschaft zu integrieren und ihre inneren Antriebskräfte wach-zurufen. Die Folge des Verfalls der Gesellschaft ist eine weitverbreitete Atmosphäre von Unsicherheit, Verwirrung und Furcht. Das wirkt sich so aus, daß niemand mehr Initiative entwickelt oder Vertrauen in die persönliche Zukunft und die seines Landes setzt. Andere nehmen Zuflucht zu sinnlosen Gewalt-taten (wie die Banditen in weiten Teilen zerfällt auch die brüchige politische und Kolumbiens und Venezuelas). Gelegentlich soziale Ordnung und macht dem Chaos und der Anarchie Platz (zum Beispiel in der Dominikanischen Republik).
Innere Antriebe fehlen
Eine weitere bedeutsame Folge ist, daß der innere Antrieb fehlt, die Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung zu schaffen. Nehmen wir als Beispiel die Bildung — offensichtlich die grundlegende Voraussetzung für jede Entwicklung: Die Harvard Business School, die Unterrichtsmaterial für die Ausbildung von Managern in Mittelamerika entwickelt, hat ziemlich exakte und ins Detail gehende Untersuchungen darüber angestellt, was passiert, wenn radikale Änderungen in einer starren und traditionsbestimmten Gesellschaft vorgenommen werden. Diese Untersuchungen wurden in den letzten beiden Jahren zusammen mit Bischof Mark G. McGrath und seinen Leuten durchgeführt, die an einem Entwicklungsprogramm in der Provinz Veraguas im Staat Panama arbeiten — einem außerordentlich armen Gebiet und Hauptziel der kommunistischen Agitation. Der Bischof hat einen umfassenden Plan für die Errichtung von Genossenschaften und kleinen Industrieunternehmungen ausgearbeitet und die Forscher von Harvard haben sich an seiner Arbeit fast von Anfang an beteiligt.
Ein wesentliches Problem in Veraguas ist die Schulbildung. Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in dem Mangel an Schulhäusern und Lehrern als darin, den campesino davon zu überzeugen, daß seine Kinder eine Schulbildung brauchen und sie später auch verwenden können. Der Reisbauer in Veraguas kann nur schwer einsehen, weshalb sein Sohn lesen und schreiben lernen soll, wenn er sein Leben damit verbringen wird, einen Stock in den Boden zu stecken, einen Reissamen in das Loch zu setzen und dann den Reis zu ernten. Und das alles, wo die Ernte auch noch der tienda verpfändet ist und das Land ihm nicht einmal gehört. Natürlich erscheinen ihm Lesen und Schreiben überflüssig. Als jedoch 35 dieser Bauern sich zu einer ganz primitiven Art von Kreditgenossenschaft zusammen-schlossen, in die sie jeden Monat ungefähr eine DM einbrachten, und als sie dann feststellten, daß der Dorfpriester als einziger bei den Genossenschaftsversammlungen das Rechnen besorgen konnte, sahen sie sehr schnell ein, warum ihre Söhne rechnen lernen müßten. Diese 35 Bauern achteten nicht nur darauf, daß ihre Kinder pünktlich zur Schule kamen, sondern strichen auch das Schulhaus an, bauten ein zusätzliches Gebäude und suchten in der Umgebung nach dem besten Lehrer, den sie bekommen konnten. Das Wesentliche dabei ist, daß diese Bauern mit höchstem Eifer dabei waren, ihren Kindern Schulbildung zukommen zu lassen, sowie sie einmal deren Nutzen eingesehen hatten. Wenn kein Schulhaus vorhanden gewesen wäre, hätten sie den Unterricht eben im Freien stattfinden lassen.
Fehlt aber die Einsicht, so hätte die modernste Schule und der bestbezahlte Lehrer nichts erreichen können.
Dieses Vakuum an Antriebskräften und an Organisation ist der Hauptgrund für die lateinamerikanische Revolution. Eine Vielzahl von Kräften wetteifern darin, es auszufüllen: die alte Führungsschicht, die neue Klasse der Industriellen, Kaufleute und Fabrikanten; das Militär; die Kommunisten, alle möglichen Arten von Demagogen; die Kirche; verschiedene genossenschaftliche Organisationen und schließlich die Gewerkschaften. Die Richtung und das Ergebnis der Revolution wird davon abhängen, welche Kombination dieser Kräfte und in welcher Gewichtsverteilung die Ober-hand gewinnt und welche Antriebskräfte und welche Organisationsformen sie zu entwickeln und in Bewegung zu setzen vermögen.
Zunächst ein kurzer Blick auf die wichtigsten von diesen Kräften.
Die wichtigsten neuen Kräfte
Die Kirchen Praktisch gibt es nur eine Kirche in Lateinamerika, und das ist die römisch-katholische. In der Geschichte hat sich die dortige Kirche, im scharfen Gegensatz zur amerikanischen, mit den Reichen, mit der Macht, dem Groß-grundbesitz und der Aristokratie identifiziert. Als eifriger Wächter des Status quo nahm die Kirche die zentrale Stellung in der traditionellen paternalistischen Gesellschaftsstruktur ein. „In diesem paternalistischen Rahmen hatte alles seinen festen Platz", schreibt Bischof McGrath, „Gott im Himmel, der König in Spanien, der Gouverneur in seiner Provinz, der Patron auf seinem Landgut, jeder Landarbeiter in seinem Haus mit Frau und Kindern, der Priester, der die geistlichen Bedürfnisse des Volkes befriedigte." Abgesehen vom König in Spanien ist dies immer noch ein zutreffendes Bild von den Verhältnissen in vielen Gebieten Lateinamerikas. Und doch gibt es heute wohl keine militantere und wirksamere Streiterin für einen Umschwung in Lateinamerika als die Kirche.
Hier die Worte des Erzbischofs von Olinda und Recife in Brasilien, Helder Pessoa Camara: „Freiheit ist ein leerer Begriff für zwei Drittel der Menschheit, die ohne Wohnung, ohne Kleidung, ohne Ernährung, ohne ein Minimum an Bildung und vor allem ohne menschenwürdige Arbeitsbedingungen leben müssen . . Unglücklicherweise reden zwar die Reichen in Lateinamerika sehr viel über grundlegende Reformen, brandmarken dann jedoch alle als Kommunisten, die sie in die Tat umsetzen wollen."
In den letzten zehn Jahren hat die Kirche ihren traditionellen Standpunkt, daß Armut der reichste Schatz unter den Mitteln der Gnade ist, radikal geändert. In Panama, Peru, Chile, Brasilien, Venezuela und anderen Ländern macht sie energische Anstrengungen, Genossenschaften auf dem Lande zu organisieren, den Führungsschichten Verantwortungsbewußtsein beizubringen, den Verzweifelten in den Slums der Großstädte zu helfen — kurz, sie hat eine große soziale, erzieherische und religiöse Reform in Gang gesetzt, die die Enzykliken Papst Johannes XXIII. und das neue Denken im Vatikan verwirklichen soll.
An einigen Stellen hat der neue Aufbruch freilich noch nicht begonnen. In Kolumbien z. B. sah sich Pater Camilo Torres, ein junger Priester, auf der einen Seite mit einer kirchlichen Hierarchie konfrontiert, die vielleicht die am meisten traditionalistisch eingestellte in Lateinamerika ist, und auf der anderen Seite mit einer politischen und sozialen Situation, die nach Veränderung förmlich schreit. Er bat, von seinen priesterlichen Pflichten entbunden zu werden, um den revolutionären Kampf aufnehmen zu können. Es ist wichtig zu wissen, daß die hauptsächliche Unterstützung für die neuen sozialen Aktionen der Kirche in Lateinamerika aus Europa kommt, nicht aus den Vereinigten Staaten. Die deutschen Bischöfe zum Beispiel stellen alljährlich 60 Millionen DM zur Verfügung, die für die radikalsten und politisch umstrittensten Aktionen der Kirche in diesem Kontinent verwendet werden. Die Kirche in den Vereinigten Staaten dagegen neigt im allgemeinen dazu, eher in der herkömmlichen Weise Hilfe zu leisten, etwa durch die Verteilung von Lebensmitteln oder durch andere Wohlfahrtsmaßnahmen.
Die Christliche Demokratie In enger Verbindung mit der direkten Beteiligung der Kirche an der Revolution, aber klar von dieser getrennt, stand der Aufstieg der christlich-demokratischen politischen Bewegung. Sie ist am stärksten in Chile, gewinnt jedoch an Anhängerschaft in Venezuela, Panama, Guatemala, El Salvador, Peru und anderswo. Ihren Ausgang hat sie von den Universitäten genommen, hat aber jetzt Anhänger in allen Schichten der Gesellschaft, wenngleich ihre bedeutendsten Führer aus dem Mittelstand kommen.
Mit den Worten ihres Hauptsprechers Eduardo Frei, des Präsidenten von Chile, des wahrscheinlich hervorragendsten Staatsmanns im heutigen Lateinamerika: „Die Grundidee der christlichen Demokratie ist, daß wir Zeugen der Krise einer überholten Welt, des Untergangs des Paternalismus sind, Zeugen zugleich der Geburt einer Zivilisation der Arbeit und der Solidarität, in der der Mensch im Mittelpunkt steht und die an Stelle der in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden Jagd nach materiellem Gewinn treten wird. Wir lassen uns von der Überzeugung leiten, daß diese neue Ära in der Geschichte und die neue soziale Verfassung auf christlichen Werten und den Grundüberzeugungen der Christenheit gegründet sein werden."
Christliche Demokratie beinhaltet den Bruch mit der etablierten Gesellschaftsordnung. „Die Erlangung der Macht," sagt Frei, „heißt für uns nicht, wie für das Volk der Vereinigten Staaten, lediglich geringfügige Änderungen in der politischen Struktur vorzunehmen, sondern bedeutet eine Umwälzung der gesamten Gesellschaftsordnung, deren Vorbedingung eine neue Orientierung für die Familie, die Erziehung, den Staat und für die Menschen ist." Die Christliche Demokratie ist eine nicht-konfessionelle Partei: „Sie ist nicht von Katholiken für Katholiken gegründet worden."
Der Christliche Demokrat greift selten die Kommunisten an und kritisiert gelegentlich die Vereinigten Staaten, weil sie offenbar den Status quo verteidigen, und zwar mit Methoden, die ihm pragmatisch und materialistisch erscheinen. Man wirft ihm deshalb häufig vor, er sei „anti-amerikanisch".
Man sollte sich daher Präsident Freis Überlegungen zu dieser Frage genau ansehen, wobei man sich erinnern sollte, daß er ganz gewiß kein Kommunist ist, daß seine erbittersten politischen Gegner in Chile die Kommunisten sind und daß er bei vielen Gelegenheiten seiner Hochschätzung der Vereinigten Staaten Ausdruck gegeben hat. Er ist der Meinung, daß der Kommunismus in der westlichen Hemisphäre nicht eine beliebige politische Bewegung unter anderen ist. Viele sehen in ihm ein System, das ihnen in einer zusammenhängenden und verständlichen Weise die Bedingungen ihrer Existenz klar macht. Aus diesem Grunde haben die Kommunisten manchmal mehr Erfolg, so meint Frei, „bei Intellektuellen und besser gestellten Arbeitern und sogar bei Angehörigen des Mittelstandes als bei den ungebildeten Massen auf dem Lande".
Die Antwort, die in Lateinamerika gewöhnlich auf die Herausforderung des Kommunismus gegeben wird, ist nach Meinung Freis schwächlich und unwürdig. Er schreibt: „Der Antikommunismus der Furcht, der bloßen Aufrechterhaltung der . Ordnung'und der putschenden Militärs ist zum Mißerfolg verdammt. Er bedeutet der Jugend oder der Masse des Volkes überhaupt nichts. Daher das Gefühl der Aussichtslosigkeit, das jene Regimes hervorrufen, deren Ziel lediglich die Wiederherstellung von , Ruhe und Ordnung'ist. Es ist auch nahezu absurd, alle Politik auf die Konzeption des freien Unternehmertums zu stützen. Das befriedigt weder das Herz noch den Verstand der Menschen. Auch ist es sinnlos, Leuten, die weder Land noch Behausungen, weder Schulen noch anderweitige Entfaltungsmöglichkeiten haben, Freiheit und Demokratie zu predigen. Das sind leere Worte. Was not tut, ist, ihnen den Weg zu einer echten Demokratie und zu echter Freiheit zu weisen."
Diese Worte sind im Jahre 1963 geschrieben worden, bevor Eduardo Frei zum chilenischen Staatspräsidenten gewählt wurde. Seither hat er versucht, in Chile Reformen und fortschrittliche Maßnahmen durchzusetzen, wobei er auf die vorauszusehenden Schwierigkeiten gestoßen ist. Seine Überlegungen aber verdienen aufmerksame Beachtung. Die Arbeiterorganisationen Die dritte Kraft im Kampf um die Neuordnung in Lateinamerika sind die Organisationen der Arbeiter: Genossenschaften, die die Arbeiter organisieren wollen, damit sie gegen die Gefahren der Natur und des Markt-und Kredit-systems gewappnet sind, und Gewerkschaften, die sich sowohl lohnpolitische wie allgemeine politische Ziele gesetzt haben.
Die Aufgaben und Verpflichtungen der Arbeiterorganisationen in Lateinamerika gehen traditionell weit über die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder hinaus. Dies letztere ist zwar wichtig; aber darüber hinaus betätigen sie sich in einem ganz realen Sinne als Schöpfer neuer politischer, sozialer und wirtschaftlicher Organismen. Sie haben Integrationsaufgaben, wo es kaum Integration gibt, Kommunikationsaufgaben, wo es kaum Kommunikation gibt, Motivationsaufgaben, wo die Motivation fehlt, und Organisationsaufgaben, wo Verwirrung und Chaos herrschen. Sie sind in vieler Beziehung die am besten geeigneten Institutionen, um den mühsamen Übergang von der traditionellen agrarwirtschaftlich bestimmten Gesellschaft zur neuen Industriegesellschaft zu erleichtern. Es ist ihre natürliche Funktion, die ständig zunehmende Gemeinsamkeit der Interessen zwischen den verschiedenen Gruppen und Klassen der Gesellschaft ins Bewußtsein zu rufen. Am wichtigsten ist vielleicht, daß die Industriearbeiter und die Bauern dadurch, daß sie sich organisieren, sich darüber klar werden, welche Macht sie im Staate haben. Dadurch erhalten sie eine Vorstellung ihres Wertes und ihrer Würde und ein Gefühl der Hoffnung für die eigene Zukunft und die ihrer Kinder.
Im allgemeinen ist die Errichtung von ländlichen Genossenschaften in Lateinamerika nur langsam und unter Schwierigkeiten vor sich gegangen. Die Hilfe der Vereinigten Staaten auf diesem Gebiet ist an zu komplizierte Bedingungen geknüpft gewesen und hat sich zu sehr auf die Verteilung von Geld konzentriert. Kurzum, sie hat auf die materielle Seite der Angelegenheit zu viel Gewicht gelegt und die ideelle zu wenig beachtet. Sie hat ein Niveau an Energie und Organisationstalent vorausgesetzt, wie es zwar für die Vereinigten Staaten, aber nicht für das ländliche Lateinamerika gegeben ist. In vielen Land-gebieten kommt es z. B.selten vor, daß mear als vier Bauern überhaupt je gemeinsam arbeiten. Die Bauern sträuben sich auch, Düngemittel zu verwenden; sie halten es für ein zu großes Risiko. Wenn man hart am Rande des Existenzminimums lebt, so ist jede Änderung gefährlich. Bevor solche Menschen in der Lage sind, eine Genossenschaft ins Leben zu rufen, müssen sie in langsamer und mühsamer erzieherischer Arbeit darauf vorbereitet werden. Die Genossenschaft muß dann zunächst auf ganz primitiver Basis arbeiten. Ihre Funktion sollte im allgemeinen zunächst in der Erleichterung der Kreditbeschaffung bestehen. Wenn die Idee der genossenschaftlichen Zusammenarbeit erst einmal Wurzeln geschlagen hat und allgemein anerkannt ist und wenn sie sich als nützlich erwiesen hat, kann sie auch auf andere Bereiche ausgedehnt werden
Jeder ernst zu nehmende lateinamerikanische Arbeiterführer ist von der Notwendigkeit radikaler Umwälzungen überzeugt. Es gibt aber beträchtliche Unterschiede in den Methoden und Techniken der Führung.
Gegenwärtig bilden die Kommunisten eindeutig eine Minderheit in den Arbeiterbewegungen der meisten lateinamerikanischen Länder.
Außerdem sind sie dort, wo es sie gibt, in zwei Lager gespalten: in diejenigen, die der sowjetischen Linie der Politik der friedlichen Koexistenz folgen, und die Anhänger der Peking-orientierten Politik Kubas, wie sie von Guevara und Castro verkündet wird. Ungeachtet der von Moskau propagierten anderen Prioritäten rufen die letzteren zu „nationalen Befreiungskriegen" und Gewalttaten auf.
Die meisten nicht-kommunistischen Arbeiter-organisationen sind entweder der ORIT (Organizaciön Regional Interamericana de Trabajadores) oder der weit kleineren, aber wachsenden CLASC (Confederaciön Latino-Americana de Sindicalistas Cristianos) angeschlossen. Die ORIT stellt die lateinamerikanische Regional-organisation des IBFG (Internationaler Bund Freier Gewerkschaften) dar und erhält umfassende und wirksame Unterstützung von der American Federation of Labor und besonders von ihrem lateinamerikanischen Verbindungsmann Serafino Romualdi. Jahrelang hat sie beträchtliche Hilfsgelder aus dieser Quelle und neuerdings auch von AID (Agency of International Development), dem amerikanischen Amt für Entwicklungshilfe, durch Vermittlung des American Institute for Free Labor Development erhalten. Die CLASC wurde 1954 als Regionalverband der Internationalen Föderation Christlicher Gewerkschaften gegründet. Sie hat aus den USA praktisch überhaupt keine Hilfe erhalten und ist hinsichtlich der Unterstützung von außen auf westdeutsche und andere europäische Quellen angewiesen. Angesichts dieser Machtverhältnisse ist es nicht verwunderlich, daß sich zwischen den beiden Gruppen eine gewisse Rivalität herausgebildet hat und daß es manchmal zu Konflikten kommt.
Die Rivalität drückt sich in der unterschiedlichen Vorrangstellung aus, die die beiden Organisationen dem ideologischen Element einräumen. Sie wird dadurch verschärft, daß der Führer der CLASC, Emilio Maspero, ein getreuer, wenn auch etwas ungebärdiger Sohn der christlich-demokratischen Bewegung und ein mitreißender Redner, verständlicherweise darüber aufgebracht ist, daß allein die ORIT finanzielle Unterstützung aus den Vereinigten Staaten erhält. Er versucht zu beweisen, daß die CLASC revolutionärer als die ORIT ist und setzt sich darum schroff gegen die Vereinigten Staaten ab, verdammt jedoch gleichzeitig den Kommunismus, Castro und alle Diktatoren. „In Lateinamerika", schreibt er, „hat sich die Gewerkschaftsbewegung ständig mit der Macht-gier der Kommunisten, dem Materialismus der Kapitalisten und den Programmen der verschiedensten Diktatoren und politischen Parteien auseinanderzusetzen . . . Das Ziel der Arbeiterbewegung in Lateinamerika muß es sein, die Arbeitermassen als das entscheidende Instrument der sozialen Revolution zu organisieren." Es ist bezeichnend, daß Maspero seinen Erfolg und seinen Ruf in Lateinamerika in erster Linie diesem stark ideologisch getönten Appell an die jungen Menschen und der besonderen Aufmerksamkeit, die die CLASC der Organisierung der Bauern widmet, verdankt. Wenn man auch noch nicht sagen kann, daß die Rivalität der beiden Gewerkschaftsörganisationen gefährlich ist, so sollte man sich doch überlegen, wie es zu verhindern ist, daß es dazu kommt. Hier ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß die wachsende Unterstützung aus Europa jetzt auch auf die mehr ideologisch bestimmten Elemente der lateinamerikanischen Revolution ausgedehnt wird, darunter die Christlich-Demokratische Bewegung, die CLASC und die Soziale Aktion der Katholischen Kirche. Die Verbindung mit Europa entfremdet diese Gruppen bis zu einem gewissen Grade den Vereinigten Staaten. Sie sehen die Amerikaner als materialistisch orientiert an und meinen, diese verteilten nur Almosen, interessierten sich aber nicht für das von ihnen als zentral angesehene intellektuelle und ideelle Element der revolutionären Bewegung.
Die neuen Manager Eine der potentiell mächtigsten und bedeutendsten neuen Kräfte, die Lateinamerika Auftrieb geben könnte, ist die neue Elite der Manager. Sie setzt sich vornehmlich aus jungen Leuten zusammen, zum Teil aus Selfmademen, die frei von feudaler Attitüde sind. Ihr Feld ist die Industrie und der Handel. Sie sind praktisch in jedem Lande zu finden, und es besteht alle Aussicht, daß sie in den kommenden Jahren bedeutenden Einfluß ausüben werden. Sie stehen unter dem Eindruck des starken Drängens nach sozialen Veränderungen, das von der Katholischen Kirche ausgeht, sind sich über die wahre Lage klarer als ihre Väter und halten die Revolution in vielen Fällen nicht nur für unvermeidlich, sondern auch für wünschenswert. Sie fragen sich jedoch, wie die revolutionäre Entwicklung in konstruktive Bahnen gelenkt und in Übereinstimmung mit ihren Interessen und Verpflichtungen als Manager und Unternehmer gebracht werden kann.
Infolge ihres Kontaktes mit der Belegschaft ihrer Unternehmen und Fabriken erlangen diese Männer die Sachkenntnis und die Fähigkeit für praktische und wirksame Entwicklungsplanung und für die Reform des Regierungssystems. Sie können dadurch Schlüsselfiguren für die Weckung des politischen Interesses und der politischen Aktivität neuer und großer Schichten der Bevölkerung werden. Es ist durchaus denkbar, daß viele politische Führer der Zukunft aus ihren Reihen kommen werden. Sie können auch in Richtung auf eine wirtschaftliche und politische Integration des Kontinents wirksam werden, indem sie ihre Unternehmungen über die nationalen Grenzen ausdehnen und größere Märkte entstehen lassen. Das Ergebnis dessen könnte eine leistungsfähigere Produktion, eine bessere Ausnutzung der nationalen Hilfsquellen und — das wäre vielleicht am wichtigsten — die Weckung des Unternehmungsgeistes der Landwirtschaft sein. Dadurch könnte die Nahrungsmittelproduktion vergrößert und auf leistungsfähige Methoden der Verpackung, Verteilung und des Absatzes umgestellt werden.
Den neuen Managern obliegt es zu beweisen, daß der aus eigener Initiative handelnde Unternehmer, wenn er in einer aufgeschlossenen Atmosphäre wirken kann, in der Lage ist, eine neue soziale, politische und wirtschaftliche Gesellschaftsstruktur zu schaffen, die den Bedürfnissen des Kontinents entspricht. Die Frage ist, ob sie — den Willen vorausgesetzt — die Zeit und die Kraft haben werden, das innerhalb des gegenwärtigen wankenden Systems in diesem Kontinent zu schaffen. Nur ungewöhnliche Ausdauer, Fähigkeit und Phantasie kann sie davor bewahren, die Führung den Extremisten der einen oder anderen Seite überlassen zu müssen.
Rufo Lopez Fresquet, der berühmte kubanische Nationalökonom und Historiker, der mit Castro in der Sierra Maestra kämpfte, sein erster Finanzminister wurde und nur das nackte Leben rettete, als die Revolution verraten wurde, ist der Meinung, daß Castro letzten Endes deshalb die Macht in Kuba übernehmen konnte, weil die kubanische Geschäftswelt Anfang der vierziger Jahre sich aus der Führung des Landes zurückzog und der Diktatur Batistas und somit schließlich der Castros das Feld überließ.
Die neue Elite der Manager muß sich über das Wesen der fortschrittlichen Revolution, die um sie herum im Gange ist, klar werden. Sie müssen die Probleme, vor die ihre Länder gestellt sind, das bestehende Machtvakuum und die Kräfte, die es auszufüllen streben, richtig einschätzen. Sie müssen dann die Mittel ersinnen, mit denen ein neues und stabiles wirtschaftliches, soziales und politisches System geschaffen werden kann. Dabei kommt es darauf an, den Ballast der Vergangenheit abzuwerfen. Die von ihnen zu entwickelnde neue Ideologie müßte auf der Würde des Individuums, dem Wert der Initiative des einzelnen, dem verantwortungsbewußt für das All-gemeinwohl verwendeten Privateigentum und dem Nutzen der Führungsqualitäten der Managerklasse basieren. Auch müssen neue Wege gefunden werden, die neue Manager-klasse in eine engere Verbindung mit den anderen Gruppen der Gesellschaft zu bringen, so daß ein starkes soziales und wirtschaftliches Gefüge geschaffen werden kann, innerhalb dessen Gerechtigkeit und Demokratie gedeihen können.
Pragmatisch bestimmte Nordamerikaner
Ein Teil der Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika resultieren aus der unterschiedlichen Ideologie und Semantik. Beide Seiten mißverstehen die Ideen und die Worte der jeweiligen anderen.
Es ist ein Charakteristikum der Vereinigten Staaten, daß sie philosophisch auf dem Pragmatismus basieren und nichts mit Heuchelei, mit Dogmen und mit dem, was man gemeinhin Ideologie nennt, zu tun haben wollen. Man könnte behaupten, daß die Amerikaner aus dem Pragmatismus eine Ideologie gemacht hätten; aber in Wahrheit sind das sich einander ausschließende Begriffe. Die Vereinigten Staaten sind gegründet worden von Menschen, die aus Europa kamen, nicht zuletzt, weil sie die starren Dogmen und Ideologien abschütteln und eine neue Gesellschaft errichten wollten. Insofern ist ihre ganze Entwicklung eine ständige Revolution gewesen. Da die Amerikaner jedoch eine Abneigung dagegenhaben, in ideologischen Begriffen zu denken oder zu reden, haben sie sich nie als Revolutionäre angesehen. Selbst wenn sie revolutionär handeln, geben sie sich die größte Mühe, konservativ zu erscheinen.
Ihre Methode ist es gewesen, das Notwendige zu tun, um ein bestimmtes Problem in einer bestimmten Zeit zu lösen. Wenn das nicht funktioniert, wird es eben geändert oder rückgängig gemacht. Pragmatisch bestimmte Handlungen sind natürlich viel leichter rückgängig zu machen als ideologisch bestimmte. Als Präsident Truman damit drohte, die Stahlindustrie zu beschlagnahmen, oder als Präsident Kennedy dieselbe Industrie 1961 zwang, Preis-erhöhungen wieder rückgängig zu machen, taten sie das nicht, weil sie sozial eingestellt gewesen wären; sie taten, was sie — ob zu Recht oder zu Unrecht — für notwendig hielten, um eine bestimmte Schwierigkeit zu überwinden.
Gewiß sind die amerikanische Verfassung und die Unabhängigkeitserklärung in gewissem Sinne Doktrinen und haben eine ideologische Basis. Ein Teil ihrer Größe liegt aber gerade darin, daß sie mit Leichtigkeit pragmatisch nahezu jeder neuen Lage angepaßt werden können. Man muß sich daran erinnern, daß Verfassung und Unabhängigkeitserklärung philosophisch auf dem Denken von John Locke basieren, der seinerseits auf der Naturwissenschaft von Sir Isaac Newton basierte. Wenn man bedenkt, was sich seit Newton alles in unserem Wissen von der Welt und in unseren naturwissenschaftlichen Vorstellungen geändert hat, so wird offenbar, in welchem Maße unser ideologischer Unterbau für die Vorgänge um uns irrelevant ist.
Ohne Zweifel ist der Erfolg der Amerikaner weithin darauf zurückzuführen, daß sie in erster Linie praktisch vorgehen. Aber gerade das macht sie verwundbar und verwirrt in einer Welt, die weitgehend von Ideologien beherrscht wird. Die Zeichen davon sind überall zu finden. In den Vereinigten Staaten selbst sucht man zunehmend nach einem „nationalen Ziel". Die amerikanische Jugend verlangt nach irgendeinem ideologischen Konzept. Sie fühlt sich z. B. besonders daran mitschuldig, daß man das Problem der Rassendiskriminierung nicht als eine ideologische Ungeheuerlichkeit angesehen hat, die unerträglich ist, sondern als ein Problem unter anderen, dem man pragmatisch beikommen kann, sobald die Situation kritisch wird.
Die Aversion gegen Doktrinen und Ideologien hat auch dazu geführt, daß die Amerikaner ihre Erfahrungen als Nation nicht in ein Rezept fassen können. Sie vermögen nicht zu sehen, was sie wirklich sind und was sie erreicht haben, sie vermögen nicht das Revolutionäre in ihrem Wachsen und in ihrer Entwicklung zu erkennen. Das Ergebnis hat Jacques Maritain sehr gut so ausgedrückt: „Ihr schreitet im Dunkeln voran, wobei Ihr Fackeln tragt. Die Menschheit wäre glücklich, Euch folgen zu können. Ihr aber laßt es zu, daß sie hilflos im Nebel herumtastet. Ihr habt keine universale Idee mitzuteilen. Da es Euch an einer brauchbaren Ideologie mangelt, sind Eure Lichter nicht wahrnehmbar."
Mißverständliche Begriffe
Nirgendwo tritt das Dilemma deutlicher zutage, als wenn die Amerikaner ihr Wirtschaftssystem arglos mit Begriffen beschreiben, die vollkommen mißverständlich sind. Nehmen wir „Kapitalismus", den Begriff, den wir zur Charakterisierung des amerikanischen Wirtschafts-und Sozialsystems anzuwenden gestatten: Für die überwiegende Mehrheit der Lateinamerikaner bedeutet Kapitalismus Ausbeutung, Imperialismus und Mißbrauch; er bedeutet 30 Prozent Zinsen für geliehenes Kapital, Großgrundbesitzer, die weit entfernt von ihrem Besitz in der Stadt leben, er bedeutet Monopole und noch Schlimmeres. Kurz, er bedeutet ungefähr das Gegenteil von dem, was wirklich in den Vereinigten Staaten ist. „Freies Unternehmertum" ist gleichfalls ein höchst mißverständlicher Begriff, denn auch er hat in Lateinamerika eine Nebenbedeutung von Mißbrauch und Ausbeutung, die nicht typisch für die amerikanischen Verhältnisse ist. Ein nichtkommunistischer Führer der Linken in Lateinamerika schrieb kürzlich: „Nach 150 Jahren der Privatinitiative, des freien Unternehmertums und des freien Wettbewerbs gibt es in Lateinamerika mehr als 130 Millionen Unterernährte, mehr als 70 Millionen An-2) alphabeten und die niedrigste Zuwachsrate der Wirtschaft in der westlichen Welt."
Der Kernpunkt ist natürlich, daß die Amerikaner mit diesen Begriffen ihr System nicht exakt beschreiben wollen; irgendwie fällt es ihnen schwer, das zu tun. Man hört selten einen Amerikaner im Ausland die Unzahl von staatlichen Beschränkungen, Subventionen und Kontrollen erwähnen, die sicherstellen sollen, daß das „private Unternehmertum“ nicht mit dem Allgemeinwohl in Konflikt kommt. Es wäre ein seltsamer Amerikaner, der sich die Mühe machte, darauf hinzuweisen, daß die 500 größten Unternehmungen in den Vereinigten Staaten tatsächlich keineswegs privat sind. Sie sind im Besitz der Allgemeinheit, produzieren für immer größere Teile der Allgemeinheit und sind sorgfältig bestrebt, ihrer Verantwortung für die Allgemeinheit nachzukommen, denn sie wissen, daß man sie dazu zwingen würde, wenn sie es nicht täten. Sie sind, um einen von Adolph Berle geprägten Begriff zu verwenden, „nicht-staatlich", aber ganz gewiß sind sie nicht privat. Sie werden auch nicht von ihren Eigentümern betrieben, sondern von Angestellten — „nichtstaatlichen Beamten". Diese Tatsachen stehen in gewisser Weise im Widerspruch zu dem amerikanischen Mythos, und manche Leute halten es für sozusagen unamerikanisch oder geradezu für subversiv, über diesen Aspekt der amerikanischen Gesellschaft zu reden. Aber ob man dieses System für richtig oder falsch hält, jeder intelligente Amerikaner sollte es richtig beschreiben können.
Wenn man das nicht tut, so wäre das höchst gefährlich, denn wenn man den „Kapitalismus" ohne jede Modifizierung und ohne genau zu sagen, um was es sich handelt, anpreist, so lädt man die Entwicklungsländer geradezu ein, ihn zu verwerfen. Viele Länder in Lateinamerika, Asien und Afrika fühlen sich zu dem Wort „Sozialismus" hingezogen, obgleich das ein fast ebenso nutzloser Begriff geworden ist wie Kapitalismus, denn er wird auf ganz unterschiedliche Systeme angewendet, von der totalitären Sowjetunion bis zum demokratischen Indien. Was die meisten Lateinamerikaner meinen, wenn sie von Sozialismus sprechen, ist lediglich ein Regierungssystem mit sozialem Verantwortungsbewußtsein, ein System, in dem die soziale Gerechtigkeit geschützt und gefördert wird. Sie meinen in Wirklichkeit so ziemlich dasselbe System, was wir haben, aber sie können sich nicht dazu verstehen, es Kapitalismus zu nennen. Abgesehen von einer kleinen Minderheit doktrinärer Intellektueller gibt es kaum jemanden, der das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln fordert.
Auch „Kommunismus“ hat für verschiedene Leute ganz verschiedene Bedeutungen. In seiner reinsten Form bedeutet er natürlich gemeinschaftliches Zusammenleben ohne Privateigentum. Wir haben nichts dagegen, wenn wir es auch nicht übernehmen möchten. Vielleicht kommt der israelische Kibbutz dem reinen Kommunismus in der Welt am nächsten. In dieser Form hat er eine starke religiöse Grundlage. Die überwiegende Mehrheit der Lateinamerikaner hält jedoch Kommunismus einfach für das Gegenteil von Kapitalismus, nicht von Demokratie und Freiheit. Wenn wir sagen, wir seien anti-kommunistisch, glauben infolgedessen viele, wir sagten in Wirklichkeit, daß wir pro-kapitalistisch sind. Angesichts der fehlenden genauen Definition wirft das die oben erwähnten Probleme auf. Für die Amerikaner — und jetzt auch für eine wachsende Zahl von Lateinamerikanern, die das Beispiel Kubas vor Augen haben und aus ihm gelernt haben — heißt Kommunismus eine internationale imperialistische Verschwörung, die die Unabhängigkeit der Völker und die Freiheit und Würde des einzelnen vernichtet. Aber wegen der Unklarheiten in der Bedeutung des Wortes vermeiden die Christlich-Demokratische und ähnliche Bewegungen in Lateinamerika, es zu verwenden. Wir sollten es ihnen darin gleichtun und statt dessen lieber genau sagen, was wir meinen. Schließlich haben wir nicht die Absicht, große Opfer für die Rettung dessen zu bringen, was man heute in Lateinamerika unter Kapitalismus versteht. Hingegen sind wir durchaus dazu bereit, es für den Schutz der Unabhängigkeit, Freiheit und Würde der Lateinamerikaner zu tun.
Ein prominenter nicht-kommunistischer Führer der revolutionären Linken erklärt, wie das wirkliche Anliegen und die vitalen Interessen der Vereinigten Staaten heutzutage in Lateinamerika mißverstanden werden:
„In den Vereinigten Staaten sieht man den Kommunismus als eine direkte Bedrohung der überkommenen Lebensform und der Institutionen an, die der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ein beträchtliches Maß an Wohlergehen gebracht haben ... In Lateinamerika jedoch sieht man den Kommunismus als Werkzeug einer Umwälzung an, als einen denkbaren Weg, unbefriedigende Zustände zu ändern. .. Die amerikanische Außenpolitik hat für gewöhnlich einen negativen Antikommunismus, der vielfach in Verbindung gebracht wird mit dem bloßen Widerstand gegen Veränderungen, protegiert. Das hat sich oft-mals geradezu zugunsten der Kommunisten ausgewirkt.
Die Demokratie wird vielfach mit dem Kapitalismus verwechselt, so als ob die Demokratie notwendig des kapitalistischen Wirtschaftssystems bedürfe. Tatsächlich ist die Mehrheit der Regierungen auf unserem Kontinent, die fälschlicherweise als demokratische bezeichnet werden, immer in den Händen finanzieller Oligarchien gewesen, die mit Hilfe des Kapitalismus Ausbeutung praktiziert haben. Die Demokratie hat nichts mit dem heute in Lateinamerika existierenden Kapitalismus zu tun."
Es ist also außerordentlich wichtig, unsere ideologische Konzeption schärfer herauszuarbeiten und sie allgemein verständlich zu machen. Dies ist nicht zuletzt wichtig angesichts der gegenwärtigen Spaltung der kommunistischen Parteien in Lateinamerika. Auf der einen Seite stehen die Parteiführer des alten Typus, die die Sowjetunion unterstützen und von ihr unterstützt werden. Sie befürworten eine Politik der Infiltration, der Zusammenarbeit mit nicht-kommunistischen Gruppen und die „friedliche Koexistenz". Auf der anderen Seite gibt es die Anhänger Castros, die für eine alsbaldige gewaltsame Revolution sind und daher mit Peking sympathisieren
Für die Sowjetunion auf der anderen Seite rangiert der „nationale Befreiungskampf" erst in zweiter Linie nach dem wirtschaftlichen Wettstreit zwischen „sozialistischen" und „kapitalistischen" Ländern.
In vieler Beziehung wird in Lateinamerika ein Kampf zwischen Materialismus und Ideologie ausgefochten. Als Ergebnis einer merkwürdigen Serie von Mißverständnissen, von Ungenauigkeiten, der Verwendung sinnentleerter Begriffe und der ideologischen Naivität sehen sich die Amerikaner seltsamerweise identifiziert mit dem Materialismus, während Kuba, China, die Sowjetunion und ihre Anhänger mit einer idealistischen Ideologie identifiziert werden. Gleichzeitig scheinen die Amerikaner die ideologisch bestimmten Kräfte — CLASC, Teile der Christlichen Demokratie, Radikale aller Spielarten, Sozialisten, Marxisten, Kommunisten und kubanisch-chinesische Agenten — unabsichtlich dahin zu treiben, daß sie sich zusammenschließen, obwohl sie doch so wenige Gemeinsamkeiten haben.
Die Probleme als Ganzes lösen
Wir haben einige der dringendsten Probleme des heutigen Lateinamerikas untersucht, einige Kräfte, die dort am Werk sind, analysiert, und unsere eigenen Probleme, die sich bei der Auseinandersetzung mit ihnen ergeben, erörtert. Wir haben gesehen, daß die Probleme Lateinamerikas — seien sie nun sozial, politisch oder wirtschaftlich, materiell, ideell oder ideologisch — ineinandergreifende Teile eines Ganzen sind. Es liegt auf der Hand, wie schwierig es ist, auf eine so breite Skala von Fragen Antworten zu finden. Ich riskiere es nichtsdestoweniger, ein paar Gedanken dazu auszubreiten, wie sich die amerikanische Regierung, die Stiftungen, die Wirtschaft und die Gewerkschaften verhalten und was sie tun sollten.
Zunächst zur Regierung: Da die aufgeführten Entwicklungsprobleme nicht voneinander zu trennen sind, sollte sich die Regierurng Gedanken darüber machen, wie man sie als zusammenhängendes Ganzes anpacken kann. Es empfiehlt sich nicht, das Wort Forschung im Zusammenhang mit Auslandshilfsprogrammen zu bringen, denn wie verlautet, wird dadurch der Argwohn des Kongresses erregt. Trotzdem brauchen wir mehr davon, denn wir haben eine Menge Zeit, Mühe und Geld verschwendet, weil es daran gemangelt hat. Ein Beispiel der Denkweise, die wir brauchen, ist der soge-nannte „Plan für nationale Märkte", der von Dr. Walt W. Rostow, dem Vorsitzenden des Politischen Planungsstabes des US-Außenministeriums, unter Mithilfe von Irving Tragen von der AID und anderen entwickelt worden ist. Er zeigt in brillanter Weise den Kreis der Probleme auf, die gleichzeitig angepackt werden müssen, um größere und bessere Binnenmärkte in den einzelnen Staaten Lateinamerikas zu schaffen.
Wir sollten Teams von Entwicklungshelfern unter der Führung von Leuten schaffen, die die speziellen Probleme eines Projektes als Ganzes zu sehen vermögen, anstatt wahllos ad hoc-Experten zu entsenden, die für gewöhnlich nicht imstande sind, ihre verschiedenen Tätigkeiten wirksam zu koordinieren. Diese Entwicklungs-Teams sollten sich vornehmlich aus jungen Leuten zusammensetzen, vielleicht besonders ausgebildeten Hochschulabsolventen des Friedenskorps, deren Energie und Phantasie den Mangel an langjähriger Erfahrung mehr als wettmachen würde. Ihnen sollten junge Menschen aus dem betreffenden Land zur Seite gestellt werden, die das von den Nordamerikanern begonnene Werk fortsetzen können.
Würden etwa die Probleme unseres Tomaten anbauenden Freundes durch solch ein Team angegangen werden, so würde nicht nur ein dafür zuständiger Experte ihm die nötigen landwirtschaftlichen Fachkenntnisse vermitteln; es müßte auch dafür gesorgt werden, daß der Bauer und seine Nachbarn sich zu einer Genossenschaft zusammenschließen. Es müßten Kredite zu niedrigen Zinssätzen bereitgestellt werden. Die Lagerung, Veredelung und Verteilung der Produkte müßte sichergestellt werden. Auf der politischen Ebene müßten die Besitzansprüche auf sein und seiner Nachbarn Land geregelt werden. Es müßten ihm Hilfe bei der allgemeinen und beruflichen Weiterbildung geleistet und Ratschläge hinsichtlich der nach Marktlage und anderen Faktoren empfehlenswerten Wahl seiner Anbauprodukte gegeben werden. Die Notwendigkeit einer solchen Koordination der einzelnen Hilfsmaßnahmen kommt sehr gut in dem Artikel von Hilgard O'Reilly Sternberg über die Landreform in Brasilien zum Ausdruck: „Was Brasilien braucht, ist gewiß weder eine bloße Umverteilung des Grund und Bodens noch ein Freibrief für eine wahllose Wegnahme von Eigentum. Eine Land-reform, die eine größtmögliche Anzahl von Menschen in den Stand setzen soll, ihr eigenes Stück Land zu bewirtschaften, muß gleichzeitig sicherstellen, daß der Bauer einen klaren Rechtstitel auf sein Land hat, daß er Wasser-rechte erhält, Kredite und technische Hilfe bekommt, daß Genossenschaften gebildet und Industrien zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse geschaffen werden — und noch einiges andere mehr."
Ideologisches Engagement
Zweitens sollte die amerikanische Diplomatie die Notwendigkeit eines überlegten und genau durchdachten ideologischen Engagements einsehen. In Lateinamerika ist ein revolutionärer Prozeß im Gange, von dem die Vereinigten Staaten wegen ihrer dortigen Interessen direkt betroffen sind. Sie können sich weder dagegen stellen noch neutral bleiben.
Die Kommunisten, die uns in vieler Beziehung taktisch weit überlegen sind, tun sehr wenig, um die akute Not zu lindern. Sie ziehen die ideelle und intellektuelle Beeinflussung vor. Vor allem zielen sie auf die Universitäten ab, die traditionellen Zentren der politischen Auseinandersetzung und Fühlung in Lateinamerika. Es wäre traurig um uns bestellt, wenn wir mit unserem reichen ideellen und religiösen Erbe auf diesem Felde hinter ihnen zurüdestehen würden. Wir sollten daher unsere Beziehungen zur Kirche und zur Christlich-demokratischen Bewegung in Lateinamerika verbessern. Wir sollten nicht so töricht und überempfindlich sein, uns durch die nicht sehr tiefgehende Anti-Yankee-Stimmung einiger Christlich-demokratischer Führer in eine sinnlose Allianz mit dem Status quo, mit den antirevolutionären Kräften, der Korruption, der Unfähigkeit treiben lassen.
Mit den Worten von Bischof McGrath: „Wenn wir uns ausschließlich mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse befassen, ohne der ideellen Komponente, die ein Bestandteil unserer Konzeption sein muß, die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken und zugleich entsprechend handeln durch Förderung des Gemeinschaftsgeistes, des Genossenschaftswesens und der beruflichen Fortbildung, dann rufen wir lediglich den Wunsch nach materiellen Verbesserungen wach, den wir in diesem Ausmaß in unserer Generation doch nicht erfüllen können. Damit würden die Menschen nur dem Kommunismus in die Arme getrieben." Bischof McGrath schließt mit einem Gedanken, der sehr ernst genommen werden muß: „Das Schauspiel der fortschreitenden Säkularisation der westlichen Zivilisation, die ihren Höhepunkt in der methodischen und absoluten Säkularisation des Kommunismus erreicht hat, ist ein Musterbeispiel dafür, wie es einer christlichen Gesellschaft ergehen muß, deren Theologie und Glaube sich nicht mehr im Einklang mit dem wirklichen Leben befindet.“ Ich wiederhole, daß das Tempo der Veränderungen so groß ist, daß viele der Worte, die wir zur Kennzeichnung der verschiedenen Systeme verwenden — Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus —, ungenau und in vieler Beziehung obsolet geworden sind. Wenn wir von unseren Idealen sprechen, sollten wir nicht befangen oder zu bescheiden sein. Wir sollten jenen Grundsatz aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten nicht vergessen, daß „alle Menschen von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind und daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen eingesetzt werden!“ und daß, „wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen . . Wir sollten, mit einem Wort, nicht vergessen, daß wir ein revolutionäres Volk sind, daß wir das Wort revolutionär zu einem ehrenvollen Begriff gemacht haben und daß wir viel eher das Recht haben, ihn zu verwenden, als jene, die sich Kommunisten nennen.
Drittens sollte es sich die amerikanische Regierung angelegen sein lassen, Organisationsformen zu fördern, die den Bedürfnissen der Völker Lateinamerikas angemessen sind. Entsprechenden Organisationen sollte von Seiten der AID beträchtlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hier muß jedoch der Unterschied beachtet werden, der zwischen den Problemen und Erfordernissen von Genossenschaften in den Vereinigten Staaten und in Lateinamerika besteht. Wir neigen dazu, ein Ausmaß an inneren Antriebskräften vorauszusetzen, das in Lateinamerika oftmals nicht gegeben ist. Es genügt nicht, die materiellen Voraussetzungen zu schaffen. Bevor ein genossenschaftlicher Zusammenschluß erfolgversprechend sein kann, müssen die psychologischen Barrieren überwunden sein.
Viertens sollten wir bei der Bildung und Ausbildung der neuen Elite der Manager behilflich sein, um diese in den Stand zu setzen, ihre Aufgaben in einer sich schnell wandelnden Umwelt zu erfüllen. Diese Ausbildung darf sich nicht auf die in den Vereinigten Staaten herkömmlichen Erfahrungen, Methoden und Techniken stützen, sondern muß sich an den Problemen orientieren, vor die die Fabriken und Büros in Lateinamerika ihre Manager stellen werden. Die Bereitstellung des Lehrmaterials erfordert spezielle Begabung und kostet Zeit und Geld. Aber diese Investition lohnt sich, wenn dadurch die neue Elite von morgen in Staat und Wirtschaft einen besseren Über-blicküber ihre Probleme und Möglichkeiten und ein besseres Verständnis des im Gange befindlichen revolutionären Prozesses gewinnt. Es ist zum Beispiel bezeichnend, daß relativ wenige Manager in Lateinamerika sich mit der Verarbeitung, der Konservierung, der Verpackung, der Verteilung und dem Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten befassen. Zu oft wird das ausländischen Gesellschaften überlassen oder in der traditionellen unrationellen und kostspieligen Weise gehandhabt. Und doch dürfte von allen Entwicklungsmöglichkeiten Lateinamerikas kein Industriezweig mehr Aufmerksamkeit verdienen als die Nahrungsmittelverarbeitung und alles, was damit zusammenhängt. Der Grund, weshalb sich so wenige Lateinamerikaner dafür interessieren, ist, daß es sich um einen relativ komplexen Industriezweig handelt, mit vielen verschiedenen Tätigkeiten, verhältnismäßig hohem Risiko und geringem Profit. Vor allem aber hat man es hier mit der Landbevölkerung zu tun, die erst aus ihrer Erstarrung gelöst werden muß. Wenige der in den Städten lebenden Manager verstehen etwas vom Lande und vermögen mit dessen Bevölkerung Kontakt zu bekommen und sie zu führen. Es handelt sich um einen hochwichtigen Industriezweig; aber ehe er florieren kann, bedarf es ausgedehnter Erziehungsarbeit.
Im Moment wissen wir nur sehr wenig von seinen Problemen. Das heißt nicht, daß die AID und die Stiftungen oder auch andere Institutionen auf diesem Gebiet nicht schon allerlei getan hätten, aber sie sollten ihm noch mehr Aufmerksamkeit schenken.
Es ist interessant, über die Rolle nachzudenken, die eine gut ausgebildete und organisierte Managerelite bei regionalen interstaatlichen Zusammenschlüssen in Lateinamerika spielen könnte. Der außerordentlich erfolgreiche Mittelamerikanische Gemeinsame Markt verdankt seine Existenz der Tatsache, daß eine verhältnismäßig kleine Anzahl einflußreicher Wirtschaftsführer den Nutzen der Zusammenlegung von fünf Märkten zu einem eingesehen hat. Das Central American Institute of Business Administration, das von der Geschäftswelt der sechs Staaten des mittelamerikanischen Isthmus gegründet worden ist, ist ein Ergebnis des gegenseitigen Verständnisses und Interesses. Ähnliche Einrichtungen in anderen Regionen Lateinamerikas könnten gegenwärtige und künftige Führungskräfte der Wirtschaft zur sachlichen Erörterung ihrer gemeinsamen wie auch ihrer widerstreitenden Interessen zusammenführen.
Die Rolle der Wirtschaft
Nun zur Rolle der amerikanischen Wirtschaft. Die amerikanischen Unternehmungen in Lateinamerika sind lange Zeit die Zielscheibe antiamerikanischer Gefühle und heftiger nationalistischer Ressentiments gewesen. Gelegentlich war die Kritik verdient, aber zumeist war sie unfair und unbegründet. Nichtsdestoweniger sind Nationalismus und „Anti-Yankeeismus" eine Realität und werden es wahrscheinlich auch noch für geraume Zeit sein. Das sollte uns weder überraschen noch erschrecken. Die amerikanische Wirtschaft muß mit diesen Gefühlen leben und ihr Verhalten darauf einstellen. Sie muß die ihr gemäße Rolle in den revolutionären Veränderungen sorgfältig durchdenken und sich fragen, ob sie sich aus ihnen heraushalten kann, wie sie das vielleicht möchte, oder nicht. Sie muß sich klar machen, was zu tun nötig ist, damit sie unter den veränderten Umständen erfolgreich weiterarbeiten kann.
Zum Beispiel sollte sie gründlich überlegen, ob in Lateinamerika — wie anders die Situation in den USA auch sein mag — starke, verantwortungsbewußte Gewerkschaften nicht ein wesentlicher Faktor der sozialen Sicherung sind, ein Puffer gegen radikale Umwälzungen und ein nützliches Instrument für die Aufnahme geregelter Beziehungen zur Gesellschaft insgesamt. Sie sollte sich auch gründlich überlegen, welches die Alternativen zu solch einem positiven Kurs wären.
Ferner sollten die amerikanischen Unternehmungen sich darüber Gedanken machen, welches Verhältnis sie zu den Erfordernissen und Plänen der Entwicklung ihrer Gastländer einnehmen wollen, welche Möglichkeiten sie im Vergleich zu den einheimischen Firmen haben, diese Pläne zu unterstützen. Danach müssen sie sich dann verhalten. Wenn ein ausländisches Unternehmen in einem Lande, das sich in einer revolutionären Umwälzung befindet und in dem es starke nationalistische Strömungen gibt, erfolgreich weiterarbeiten will, so muß es einzigartige und unentbehrliche Leistungen erbringen. Andernfalls bietet es jenen Angriffsflächen, die da sagen: »Wir können das selbst ebenso gut oder noch besser machen." Dies spricht dafür, daß amerikanische Unternehmen aller Art sorgfältig untersuchen sollten, welche neuen technischen Methoden und Produkte eingeführt, wie der Markt ausgeweitet und welche neuen Bedürfnisse von ihr befriedigt werden könnten.
Schließlich müssen wir, worauf schon Jacques Barzun hinwies
Was die amerikanische Arbeiterbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Aufbau von starken, wirksamen und verantwortungsbewußten Arbeiterorganisationen beigetragen hat, ist ungeheuer gewesen. Ein hohes Maß von Anerkennung für diese weitblickende und schöpferische Leistung gebührt Serafino Romualdi und neuerdings auch Andrew Mc Clellan und William Doherty, Jr. Die Gründung des American Institute for Free Labor Development (AIFLD) durch die amerikanische Gewerkschaftsbewegung und die amerikanischen Unternehmerverbände (Präsident ist der Gewerkschaftsführer George Meany, Vizepräsident der Unternehmervertreter Peter Grace) zeigt den wahren Charakter unseres Wirtschaftssystems, in dem Gewerkschaften und Unternehmer Zusammenarbeiten, um die Probleme zu lösen, anstatt sich in endlosen Streitigkeiten zu erschöpfen. Hier bietet sich auch eine Möglichkeit, Gelder der Unternehmer, der Gewerkschaften und der Regierung für soziale Aufgaben der lateinamerikanischen Arbeiter-organisationen bereitzustellen. Am meisten Notwendigkeit besteht hierfür auf dem Lande, wo die Organisation der Landarbeiter und die Einrichtung von Genossenschaften und andere Projekte von höchster Dringlichkeit sind. Das AIFLD ist dort bereits tätig, muß aber noch mehr als bisher tun, wobei es die ideologischen Faktoren stärker berücksichtigen sollte.