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Das Ende der Nachkriegszeit | APuZ 9/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 9/1966 Das Ende der Nachkriegszeit über den Polyzentrismus Amerikas globales Engagement

Das Ende der Nachkriegszeit

Leopold Labedz

Die Londoner Vierteljahreszeitschrift „Survey“ hat ihr Januarheft dem Thema „Außenpolitik in einer polyzentrisdien Welt“ gewidmet. Sie hofft damit einen Beitrag zu leisten zu einer Bestandsaufnahme und zu der Diskussion innerhalb des Westens über eine neue Orientierung, die angesichts einer sich ändernden Welt notwendig wird. In zwei Dutzend Artikeln äußern sich erstrangige Autoren zu den drei großen Fragenkreisen „Die heraufziehende neue Wirklichkeit", „Die Einigung Europas" und „Der Kalte Krieg im Rückblick". Mit der freundlichen Genehmigung der Herausgeber drucken wir in dieser Ausgabe den einleitenden Artikel von Leopold Labedz sowie zwei Beiträge aus dem ersten Teil ab. In einer der nächsten Ausgaben folgen drei weitere Artikel.

Der zwanzigste Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkrieges wurde in Europa mit melancholischen Gefühlen begangen. Es war kurz nach dem Münchner Abkommen. Im Grunde ihres Herzens glaubten wenige Menschen an „Frieden in unserer Zeit". Die Hoffnung der Kriegsgeneration — „The war to end all wars“ — und die Hoffnung der Nachkriegsgeneration — „Nie wieder Krieg" — waren längst zerstoben und nur noch groteske Erinnerungen, während die Drohung des Hitlerkrieges immer dunkler heraufzog. Im historischen Stakkato der Schlagzeilen — Rheinlandbesetzung, Anschluß, Sudetenland — wuchs die Angst. Im Osten hatte das 19. Jahrhundert mit dem Krieg, der russischen Revolution und dem Untergang dreier Kaiserreiche geendet. Im Westen war es ebenfalls zu Ende gegangen, aber Heimweh und geistige Trägheit nährten Illusionen und hinderten die Menschen, die Gefahren zu erkennen, die der neuen Wirklichkeit innewohnten. Mehr als üblich täuschten Politiker sich selbst und die Öffentlichkeit, bereiteten Generäle den vorigen Krieg vor und pfuschten Intellektuelle verständnislos in der Politik herum. Amerika war entdeckt, noch nicht aber die Dritte Welt.

Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sieht die Lage ganz anders aus als zwanzig Jahre nach dem des Ersten. Die Politik ist nicht mehr „eurozentrisch"; das 19. Jahrhundert ist weiter in die Vergangenheit gerückt; um die Stabilität der Weltordnung steht es nicht zum besten, da sie von der Selbstbeschränkung der Nationalstaaten abhängt, aber die Nachkriegsbefürchtungen wegen eines Atomkrieges sind nicht größer geworden; in der Dritten Welt schwinden die in Bandung erweckten Illusionen; und was entdeckt wird, ist Europa. Diesmal bereiten sich die Generäle nicht auf den vorigen Krieg vor, sondern auf den übernächsten (weil der nächste nicht stattfinden darf), und Politiker und Intellektuelle sind etwas nüchterner — die Öffentlichkeit ebenfalls.

In einer Hinsicht ist der Unterschied zwischen den beiden Daten besonders groß: Die eigentliche Nachkriegszeit, das heißt die Periode, in der die gesamte politische Situation von den unmittelbaren Folgen des Krieges bestimmt wurde, war nach 1918 kurz, nach 1945 bedeutend länger. Erst jetzt kann man in der allgemeinen politischen Lage wie auch im Zeitgeist Elemente entdecken, die anzeigen, daß wir die Nachkriegssituation hinter uns lassen (ohne aber in eine Vorkriegssituation einzutreten). Zwanzig Jahre oder fast zwanzig Jahre lang sahen die Realitäten des Kalten Krieges im Grunde genau so aus wie in dem Augenblick, wo sie einer Welt zum Bewußtsein kamen, die einträchtige Zusammenarbeit der Alliierten nach dem Kriege erwartet hatte und statt dessen sowjetische Expansion, Kriegs-drohungen und Friedensoffensiven bekam.

Politik der Eindämmung erhielt globales Gleichgewicht

INHALT Leopold Labedz:

Das Ende der Nachkriegszeit ........... S. 3 Raymond Aron:

Uber den Polyzentrismus ..................... S. 9 Zbigniew K. Brzezinski:

Amerikas globales Engagement .... S. 16

Jetzt treten neue Faktoren hervor und werden weithin als solche anerkannt (Polyzentrismus, multilaterales Gleichgewicht der Macht usw.), aber über ihre Bedeutung ist man sich nicht einig und Interpretationen werden — wie zu erwarten — im Überfluß angeboten. Die „Tauben" meinen, alte Mythen verhinderten das Erkennen neuer Realitäten; die „Falken" sagen, neue Mythen erzeugten neue Illusionen über fortbestehende alte Probleme. Nationale Eigenwilligkeiten spielen eine größere Rolle als bisher. Ohne eine größere gemeinsame Perspektive, wie falsch sie auch sein möge, ist eine Politik auf lange Sicht nicht möglich, aber im Westen besteht keine Einigkeit mehr darüber, was diese Perspektive ist oder sein sollte. Nach dem Krieg ergab sich eine solche Perspektive; sie wurde mit dem Wort „Eindämmung" bezeichnet. Es geht hier nicht darum, ob es eine richtige oder falsche Perspektive war. Tatsache ist, daß sie der westlichen Politik Einheit und Zusammenhalt gab, mochten auch die NATO-Partner bei der Einschätzung bestimmter Ereignisse und bei der Anwendung der allgemeinen Perspektive auf konkrete Fälle hin und wieder verschiedener Meinung sein.

Der Begriff „Eindämmung" kam auf, als die im Krieg gehegten Illusionen nicht mehr aufrechtzuerhalten waren. Auf populärer Ebene gründeten diese Illusionen in der Hoffnung auf eine „schöne neue Welt", in der die Großen Drei zum Wohl der Menschheit Zusammenarbeiten würden. Auf höherer, intellektueller Ebene wurzelten sie in der Idee vom Konzert der Großmächte, von der Aufteilung der Welt in Einflußsphären. In den damaligen Diskussionen wurde oft der Wiener Kongreß als Vorbild für die Einrichtung einer friedlichen Welt angeführt und viele erhofften sich eine stabile neue Heilige Allianz. In Teheran, Jalta und Potsdam nahm die Nachkriegswelt Gestalt an, aber die Hoffnungen auf politische Stabilität erfüllten sich nicht.

Erstaunlich war, wie wenige Menschen die Situation und die Nachkriegsperspektiven klar erfaßten, obwohl sie für jeden zutage lagen, der eine elementare Kenntnis der schon lange wirkenden bestimmenden Faktoren besaß. Mr. Kennans „Eindämmung" erschien auf dem Plan, als es keine amerikanische Außenpolitik gab, die diesen Namen verdiente. Sie lieferte die nötige Perspektive und damit die Voraussetzung für eine gewisse politische Konsequenz, einen Bezugsrahmen für die laufenden politischen Entscheidungen.

Die Annahme, daß die Außenpolitik immer der militärischen Stärke entspreche, ist ein Mißverständnis. Nach Kriegsende, als die Vereinigten Staaten im Vergleich mit der UdSSR militärisch am stärksten waren, hatten sie keine Außenpolitik und rüsteten einseitig ab. Danach gingen sie zur „Eindämmung" über, und nachdem sie ihr Atommonopol verloren hatten, bekannten sie sich eine Zeitlang zur Parole von der „Befreiung". Wenn diese Abfolge unsinnig erscheint, so sollte man sich doch erinnern, daß die „Eindämmung" in den zwei Nachkriegsjahrzehnten wirklich funktioniert hat. Zu einer Zeit, da die amerikanische Politik nach globalem Gleichgewicht streben mußte, lieferte sie im Weltmaßstab das Äquivalent des britischen Prinzips vom europäischen Gleichgewicht der Mächte. Diese Politik war ihrem Wesen nach defensiv und nur deshalb erfolgreich, weil infolge des atomaren Patts die Positionen im Mächtegleichgewicht zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Seite erstarrt waren. Dank dieser Lage war die in Jalta vereinbarte Nachkriegsordnung Europas stabiler als die vom Versailler Vertrag festgelegte nach dem Ersten Weltkrieg. Die Wahrheit des französischen Sprichworts Rien ne dure que le provisoire (Nichts ist dauerhafter als das Provisorium) hatte sich erneut erwiesen. Aber die Stabilität war nicht politischer Natur; sie gründete sich auf ein militärisches Gleichgewicht der Abschrek-kungsmittel (das „Gleichgewicht der Nicht-gleichgewichte" war noch nicht erfunden).

Auf der Suche nach einer neuen gemeinsamen Perspektive

Inzwischen untergruben die Kräfte des Wandels nach und nach den Boden, auf dem sich der Kalte Krieg abspielte. Die Entkolonisie-rung, die Gesundung Westeuropas und Japans, die „Entsatellitisierung" Osteuropas und der Aufstieg Chinas waren wesentliche Elemente, die der neuen Nachkriegssituation das Gesicht gaben. Die Bezeichnung dieses Zustandes als „Polyzentrismus“ ist jetzt allgemein akzeptiert. Aber wie stets, wenn ein Begriff zum Klischee geworden ist, wird er durch seine bloße ständige Wiederholung nicht verständlicher. Man muß schon etwas tiefer graben und untersuchen, welches die möglichen und wahrscheinlichen Folgen für für die innere Entwicklung der kommunistischen Länder und für die internationalen Beziehungen allgemein sein werden. Das Verständnis dieser Prozesse ist natürlich entscheidend für jede politische Planung auf längere Sicht. Aber während das Phänomen selbst geistig erfaßt worden ist, sind die damit zusammenhängenden spezifischen Probleme bisher nicht genügend erörtert worden, außer in dem engen Rahmen neo-traditioneller nationaler Politik. Der Polyzentrismus im Westen hat die NATO-Bindungen gelockert, als sich das Gefühl der Bedrohung durch den Sowjetblock minderte, und hat das nationale Element in der Außenpolitik der Bündnismitglieder in unterschiedlichem Maße verstärkt. Trotzdem machen diese Länder zusammen immer noch das aus, was man ungenau, aberzweckdienlich „den Westen" nennt. Ebensowenig haben der Polyzentrismus im Osten und der chinesisch-sowjetische Konflikt den kommunistischen Charaker der betreffenden Staaten geändert, mögen sie auch bedeutende innere Veränderungen durchgemacht haben. Immerhin, eine neue Situation ist da, und damit erheben sich einige Fragen, die nicht nur für einzelne Länder, sondern für den Westen überhaupt bedeutsam sind, insbesondere aber für die amerikanische Politik, die für absehbare Zeit noch immer der Eckpfeiler jeder vorstellbaren westlichen Politik ist. Auf die alten wie auf die neuen Fragen werden mehr und mehr auseinandergehende Antworten gegeben. Es besteht nicht mehr grundsätzliche Übereinstimmung über die ZukunftsPerspektiven, geschweige denn Einstimmigkeit. Ist die Politik der Eindämmung vereinbar mit der Notwendigkeit, die strategischen Prioritäten dem chinesisch-sowjetischen Konflikt anzupassen? Steuern wir vielleicht nicht bloß auf eine Lockerung der Bündnisse zu, sondern auf ihre Umkehrung? Werden wir erleben, daß sich verschiedene raisons d'etat über ideologische Barrieren hinwegsetzen — wie sie es mehrfach taten, als das mittelalterliche und nachmittelalterliche Europa von den „Ungläubigen" bedroht war? Wird die Außenpolitik anderer Staaten nur im Weltmaßstab wiederholen, was allgemein außenpolitische Praxis war, als in und um Europa das Prinzip des multilateralen Gleichgewichts der Mächte herrschte? Wie werden nicht nur der Aufstieg Chinas und andere Manifestationen des Polyzentrismus, sondern auch die Weiterverbreitung von Atomwaffen das bilaterale Gleichgewicht zwischen den beiden Protagonisten des Kalten Krieges beeinflussen? Wie können die Großmächte sowohl mit der Renaissance des Nationalismus als auch mit der Zunahme des Globalismus im Zeitalter der Weltraumfahrt fertig werden? Läßt ihr gegenseitiger Antagonismus (und der Kalte Krieg) wirklich nach, tritt an seine Stelle die Notwendigkeit, „auf China aufzupassen"? Oder veraltet vielleicht der ganze Begriff des Westens? Wenn nicht, kann man dem Westen eine neue Perspektive geben, die unter den neuen Verhältnissen die Außenpolitik der ihm angehörenden Staaten integrieren könnte, so wie es der Begriff der „Eindämmung" in den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg tat? Oder kann das Konzept der „Eindämmung" beibehalten und in unterschiedlicher Weise auf Rußland und China angewandt werden?

Dialog innerhalb des Westens ist notwendig

Diesen Fragen ließen sich noch viele ähnliche hinzufügen. Sie zu beantworten, kann nicht allein eine Sache der Regierungen oder der internen außenpolitischen Diskussion in einzelnen westlichen Ländern sein. Eine große Diskussion auf internationaler Ebene ist notwendig, um diese Fragen auszusprechen, zu erörtern und die Antworten in ihrer konkreten Anwendung zu erläutern. Viel ist über die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Ost und West gesagt worden. Es scheint, daß ein Dialog innerhalb des Westens dringend erforderlich ist, damit dieser nicht auseinander-treibt — nicht nur im Hinblick auf die Politik der einzelnen Länder, sondern auch auf ihre in historischer und kultureller Verwandtschaft wurzelnden Gemeinsamkeiten.

Das bedeutet nicht, daß hier in der gleichen Weise nach der Einheit des Westens gerufen wird, wie gute Kommunisten nach der Einheit des „sozialistischen Lagers" rufen. Der Genius des Westens wußte Vielfalt stets zu tolerieren und erreichte meist nur in Zeiten der Gefahr ein gewisses Maß von Einheit. Es ist müßig, eine Einheit zurückzuwünschen, die der Vergangenheit angehört und in dieser Form nicht wiederherstellbar ist. Wenn man Bilanz zieht, dann wiegen die polyzentrischen Auflösungserscheinungen im Osten weit schwerer als die entsprechenden Auflösungserscheinungen im Westen.

Immerhin sollte der Westen, der im Gegensatz zum Osten niemals monolithisch war und der mit der Mannifaltigkeit umzugehen weiß, Kräfte fördern, die den zentrifugalen Tendenzen entgegenwirken, und er sollte seine grundlegenden Perspektiven koordinieren. Gewiß ist er dazu in einer besseren Ausgangsposition als die kommunistischen Staaten. Im Augenblick, da über de Gaulles Frankreich der Geist Jacques Bainvilles schwebt und in Westdeutschland Bismarck zu neuem Leben erwacht, mag das als ungerechtfertigter Optimismus erscheinen. Aber jeder, der die Vor-und Nachkriegstendenzen in diesen beiden (und anderen westeuropäischen) Ländern etwas genauer kennt, weiß, daß in Westeuropa von einem Ansteigen des Nationalismus (nicht zu verwechseln mit Nationalgefühl) keine Rede sein kann und daß die Nachkriegs-generation dafür in besonders geringem Maße anfällig ist, wie alle Umfragen und Gespräche beweisen.

Den Sowjets fällt Anpassung an die Lage noch schwerer

Trotz der Bedeutung, die man der „Personalisierung der Politik" beimißt, wird die Zukunft auf lange Sicht nicht von kleineren oder größeren Persönlichkeiten und dem mit ihnen getriebenen Kult geprägt, sondern in erster Linie von den sozialen Prozessen. Das gilt nicht nur für den Westen, sondern auch für den Osten. Paradoxerweise kann man beobachten, daß sich mit dem Zerfall des Marxismus in der nachutopischen Ara gleichzeitig eine Akzentverschiebung in der politischen Analyse vollzieht. Die Rolle der Persönlichkeit tritt zurück gegenüber den unpersönlichen Prozessen — eine Akzentsetzung, die doch traditionell der marxistischen Analyse eigen ist.

Das trifft jedoch nicht zu auf die internationalen Beziehungen — gesehen als sozialer Prozeß. Als Werkzeug zum Begreifen der Realitäten der internationalen Nachkriegsentwicklung versagt die traditionelle marxistische Methode vollkommen. Das macht es den kommunistischen Staaten schwerer als den westlichen, sich der neuen Situation anzupassen. Man muß hier unterscheiden zwischen politischer Anpassung und ihrer tieferen ideologischen Rechtfertigung. Der Begriff des Polyzentrismus, der widerstrebend als unausweichliche Tatsache der internationalen Politik akzeptiert wird, untergräbt die traditionelle sowjetische Perspektive und führt zu einem allmählichen Abbröckeln der traditionellen sowjetischen Auffassung der Außenpolitik. Noch ist es zu früh, zu sagen, die Sowjetunion habe sich schon mit dem Gedanken abgefunden, daß sie einfach ein Staat unter anderen Staaten ist, ein Teil des internationalen Systems (zu dessen Umsturz ihre Ideologie sie noch immer verpflichtet). Aber obwohl sie das hefneue tig in Abrede stellt, hat sie doch schon ein außenpolitisches Verhalten an den Tag gelegt, das mehr zu einem traditionellen als zu einem revolutionären Staat paßt. Nichts zeigt die verlegene Weigerung, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, besser als ein Artikel von Sanakojew über „Die Hauptetappen in der Entwicklung des sozialistischen Weltsystems" (Nowaja i Nowejschaja Istorija, Nr. 4, 1965). Der Verfasser behandelt ausführlich Probleme wie „die 1965). Der Verfasser behandelt ausführlich Probleme wie „die Bildung der Sowjetrepubliken 3) — der Ukraine, Belorußlands, Armeniens, Aserbeidschans, Georgiens, Bucharas, Chiwas und der Fernöstlichen Republiken, . . . [die] die Formen und Methoden des Verkehrs zwischen souveränen Nationen in der Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen auf der Grundlage der Prinzipien des proletarischen Internationalismus auszuarbeiten begannen". Er geht sogar auf Nebensächlichkeiten wie „die brüderlichen Beziehungen zwischen Sowjetrußland und den revolutionären Republiken Ungarn und Bayern" 4) ein, erwähnt aber mit keinem Wort das Problem der Beziehungen zu China, das doch gewiß ein Bestandteil des heutigen „sozialistischen Weltsystems" ist.

Das Aufkommen des Polyzentrismus stellt die Sowjetunion nicht nur vor die Aufgabe, sich dem diffuseren System des internationalen Mächtegleichgewichts anzupassen; es zwingt sie auch, ihre universalistischen ideologischen Ansprüche herabzuschrauben. Es ist somit ein Aspekt der Notwendigkeit, ungeachtet der utopischen Elemente in ihrem ideologischen Rüstzeug sich außen-wie innenpolitisch mit den Realitäten zu arrangieren.

Universalistische Bestrebungen sterben langsam, das wissen wir aus der Geschichte. Als Byzanz am Ende des 14. Jahrhunderts vor dem politischen und militärischen Zusammenbruch stand und Verbündete dringender denn je brauchte, sandte der Patriarch von Konstantinopel dem moskowitischen Fürsten Wassili I. einen Brief, in dem er ihn wegen seiner Widersetzlichkeit gegen die universelle Autorität der byzantinischen Kirche und die Oiku-mene des oströmischen Reichs zurechtwies. Ein halbes Jahrhundert später war Konstantinopel gefallen. Es kam die Theorie vom Dritten Rom auf, welche die Aneignung der byzantinischen Oikumene durch Moskau ideologisch rechtfertigte.

Ironischerweise ist es heute Moskau, das den ideologischen Universalismus der kommunistischen Oikumene gegen die Revolte des Ostens zu verteidigen sucht. Natürlich ist die Situation ganz anders; aber das Problem — das Unvermögen, universalistische doktrinäre Ansprüche aufrechtzuerhalten — ist so alt wie die universalistischen Ideologien selbst.

Ausdehnung des Atomklubs ?

Das historisch Neue an dem heutigen Gegensatz Universalismus—Polyzentrismus ist die Notwendigkeit nuklearer Koexistenz. Und erst recht ist diese der bestimmende Faktor in den gegenwärtigen internationalen Beziehungen — kein sehr origineller Gedanke, der aber den Analytikern zu schaffen macht, wenn sie ihn auf die polyzentrische Situation anwenden. Es ist möglich, daß das nukleare Patt, das die Positionen im bilateralen Mächte-gleichgewicht nach dem Krieg erstarren ließ, sie auch in dem jetzt sich herausbildenden multilateralen Gleichgewicht erstarren läßt. Wie weit die nukleare Streuung gehen wird, ist schwer vorauszusagen. Souveräne Staaten können aber nicht daran gehindert werden, Atomwaffen zu produzieren, wenn sie die technischen Möglichkeiten und die finanziellen Mittel dazu haben. Ob die Weiterverbreitung von Kernwaffen aufzuhalten ist, wird daher auf lange Sicht weniger von den dahin gehenden Bemühungen der jetzigen Mitglie-der des Atomklubs abhängen als vielmehr davon, ob sie bereit sind, Sicherheitsvorkehrungen für die Staaten zu treffen, die welche brauchen. Wenn China dereinst vollgültiges Mitglied des Klubs sein wird, so werden sich dadurch seine Beziehungen zu den anderen Nuklearmächten in dem begrenzten Maße stabilisieren, in dem die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen durch den gleichen Faktor nach dem Krieg stabilisiert wurden. Die Aussichten auf politische Stabilität sind dann jedoch noch trüber als früher. Sie hängen nämlich nicht von der Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung ab, sondern von Chinas freiwilligem oder unfreiwilligem Verzicht auf seine militante Taktik und auf den Gebrauch nationaler „Befreiungs" -Bewegungen und Guerillakriege als „Geheimwaffen", mit denen es an der Substanz seiner Gegner nagt. Der Prozeß der Befreiung Chinas von den Fesseln der ideologischen Buchstabengläubigkeit kann lange dauern.

Zusammenhalt Westens muß gewahrt bleiben

Eine Diskussion über die spezifischen Probleme der internationalen Situation, die die siebziger und vielleicht die achtziger Jahre beherrschen werden, kann in dem allgemeinen und etwas abstrakten Rahmen folgender Gegensatzpaare geführt werden: universalistische Aspirationen — polyzentrische Interessen; Nationalismus redivivus •— schrumpfende Welt; umfassende militärische Stabilisierung — politische Unstabilität. Wenn man aber voraussetzt, daß die wichtigste Frage für die Menschheit im 21. Jahrhundert sein wird, die internationalen Beziehungen so zu institutionalisieren, daß sie auf friedlicher Grundlage funktionieren (und ferner voraussetzt, daß Ermahnungen oder verschrobene Pläne politischer Idealisten dabei nicht weiterheldes fen), dann kommt man zu dem unausweichlichen Schluß, daß nur Institutionen und Traditionen, wie sie sich im Westen herausgebildet haben, dazu tauglich sind, einigermaßen friedliche politische Beziehungen zwischen Staaten zu sichern. Nur sie können das notwendige Gleichgewicht, die notwendige Stabilität in der neuen nuklearen, polyzentrischen Welt gewährleisten. Universelle Despotismen und Imperien sind nicht nur nutzlos für diesen Zweck, sondern utopisch. Dafür hat die Nachkriegsentwicklung schlüssige Beweise geliefert.

So gesehen, kann die Zukunft der Menschheit davon abhängen, daß der politisch-kulturelle Zusammenhalt des Westens erhalten bleibt. Deshalb ist eine spezifische historische Per-spektive das mindeste, was die Staaten des Westens brauchen, um ihre Politik in gewissem Grade gleichzurichten und ihre Ambitionen und Interessen aufeinander abzustimmen. Nach dem Krieg erinnerte man oft an die Uneinigkeit der griechischen Stadtstaaten gegenüber ihren gemeinsamen Feinden, um davor zu warnen, daß den vom Kommunismus bedrohten Westen ein ähnliches Schicksal ereilen könnte. Diese Parallele hat sich als unzulänglich erwiesen. Nicht genügend erkannt wurde, daß politische Institutionen, die in den westlichen Ländern einen friedlichen sozialen Wandel sicherten, auch für die Entwicklung friedlicher internationaler Beziehungen bedeutsam waren. Stalin, der in seiner letzten Schrift einen Krieg zwischen westlichen Staaten für wahrscheinlich erklärte, begriff nicht, daß solch ein Krieg praktisch nicht in Betracht kam. Er selbst hatte den nötigen äußeren Anstoß zur Einigung des Westens gegeben. Hätte er eine andere Politik gegenüber dem Westen gewählt oder wählen können, so würde er ihn nicht geeinigt und nicht den Anstoß zu seiner wirtschaftlichen Entwicklung gegeben haben.

Aber im polyzentrischen Zeitalter kann der historische Zusammenhalt des Westens nur von ihm selbst gewahrt werden, nicht durch äußere Gefahr. Gegen Bedrohung von außen geben nukleare Abschreckung und technischer Fortschritt hinlängliche Sicherheit, sofern lebenswichtige Interessen auf dem Spiele stehen. Bietet die „Eindämmung" Rußlands und Chinas, auch ungewollt, eine ausreichende Perspektive, die diesen Zusammenhalt garantiert? Eine Perspektive, die damit auch die Herausbildung von Institutionen ermöglicht, die einigermaßen friedliche Beziehungen zwischen Staaten in einem polyzentrischen Macht-system sichern?

Es wäre vermessen, diese Frage mit einem Reißbrettentwurf für eine neue Politik zu beantworten. Solche Prozesse werden nicht geplant, sie entfalten sich. Doch ohne ein Ziel vor Augen ist eine Politik auf lange Sicht unmöglich. Wenn wir auch mißtrauisch gegen utopische Pläne und politische Reißbrettentwürfe sind, so gilt doch immer noch, daß ein Politiker, sofern er nicht zu den kurzsichtigsten Empirikern gehört, eine Idee braucht, die ihm eine Perspektive gibt, eine Idee, die realistisch, aber nicht engstirnig ist. Heute können wir nur die Probleme diskutieren und hoffen, daß solch eine Idee schließlich zum Vorschein kommt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In Amerika gebräuchliche vereinfachende Formeln für die Anhänger einer zurückhaltenden und eher verständigungsbereiten („Tauben“) und die einer entschlossenen, „härteren" („Falken") Politik (Anm. d. Red.)

  2. Französischer Historiker und Politiker (1879 bis 1936), einer der intellektuellen Führer der nationalistischen Action Francaise (Anm. d. Red,)

  3. Ungarn war vom März bis zum Herbst 1919, Bayern im April 1919 Räterepublik (Anm. d. Red.)

Weitere Inhalte

Leopold Labedz, Mitherausgeber der Londoner Vierteljahreszeitschrift „Survey". Veröffentlichung u. a.: The Revisionism — Essays on the History of Marxism, London 1962 (deutsch: Der Revisionismus, Köln 1965).