Bestimmte traditionelle Begriffe sind durch den Mißbrauch, dem sie in der Vergangenheit ausgesetzt waren, so sehr in Mißkredit gekommen, daß man sich heute scheut, sie überhaupt noch zu verwenden. Haben sie und die hinter ihnen stehenden Werte aber tatsächlich jede Gültigkeit verloren? In einer der letzten Nummern (B 50/65) stellten Friedrich Minssen und Walther Hofer „Die Frage nach dem Vaterland". In dieser Ausgabe untersucht Walter Fürnrohr den Begriff „Reich", der es sicher nicht verdient hat, von der nationalsozialistischen Diktatur usurpiert zu werden. Nicht alle dort vertretenen Auffassungen decken sich jedoch mit der Meinung des Herausgebers. Das gilt auch für den zweiten Beitrag dieser Ausgabe, in dem John L. Snell das Versäumnis einer Demokratisierung des Reiches in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg untersucht.
Obgleich jede der großen Fragen in der deutschen Politik von heute ihren Wurzelboden hat in dem Geschehen der Jahre von 1933 bis 1945, ist es doch seltsam still geworden in der deutschen Öffentlichkeit um unsere „unbewältigte Vergangenheit", die noch vor wenigen Jahren allenthalben die Gemüter erregte. Dieser Begriff ist nicht mehr in Mode; die Tatsache aber, daß es mit unserem historischen Selbstverständnis nach wie vor im argen liegt, läßt sich kaum bestreiten.
Ohne Zweifel droht hier eine Gefahr. Ein klar umrissenes Geschichtsbild gibt einem Volke ein tragendes Traditionsbewußtsein und damit eine gewisse Stabilität im aktuellen politischen Verhalten, auch und gerade in Krisenzeiten. Wenn solch ein allgemein anerkanntes Bild von der eigenen politischen und kulturellen Vergangenheit fehlt, so bietet die Geschichte lediglich Material für mehr oder weniger gewagte Deutungen. Sie wird zum Kampf-mittel der Parteien, und je mehr man sie zu diesem Zweck entstellt, um so gefährlicher erweist sie sich als Waffe in der Hand bedenkenloser politischer Akteure. Unter dem Zeichen des Totalitarismus verflüchtigt sich gar die wirkliche Geschichte zum bloßen Helden-mythos des eigenen Regimes, seiner Weltanschauung und ihrer Vorläufer vor dem Gegenbild einer schwarz in schwarz gezeichneten Umwelt.
Dieses Schicksal hat die deutsche Geschichtsbetrachtung an sich selbst erfahren, und es ist ein dornenvoller Weg, die Irrtümer und be-wußten Fälschungen in dem geistigen Gestrüpp aufzufinden und zu widerlegen und dieses berichtigte Geschichtsbild den Lehrenden, den Lernenden und allen geistig aufgeschlossenen Menschen des In-und Auslandes nahe-zubringen; dornenvoll schon deshalb, weil auch unser Sprachgebrach in Irrtum und Schuld mitverstrickt wurde, so daß uns manches Wort mit seinem überkommenen Bedeutungsgehalt den Weg zum rechten Verständnis unserer Geschichte versperrt.
Das „Dritte Reich" war kein Reich!
Es ist — auch unter Historikern — ziemlich allgemein üblich geworden, das Deutschland der Hitlerzeit im Stil jener Jahre kurz das „Dritte Reich" zu nennen. Anfangs wurden dabei meist Anführungszeichen gesetzt, wohl weil man sich mit dieser Bezeichnung nicht ganz identifizieren wollte; der häufige mündliche Gebrauch dieser Worte ließ aber das Bewußtsein, daß es sich dabei um ein nicht ganz ernst zu nehmendes Zitat aus dem Wortschatz der Nationalsozialisten handle, dahinschwinden. Heute stehen wir vor der Tatsache, daß die gedankenlos übernommene Ausdrucksweise von einst das Geschichtsbewußtsein unseres Volkes vergiftet. Hitler hat die wirkungsvolle Wortprägung „Drittes Reich" nicht selbst geschaffen. Er verdankt sie ebenso wie neben ihm weite Kreise der politischen Rechten in der Weimarer Zeit dem revolutionär-konser3 valiven Erfolgsautor Moeller van den Bruck
Das alte Reich sicherte ohne Zweifel eine Friedensordnung, die bei der gegebenen und sich weiterentfaltenden Vielheit im europäischen und gerade im mitteleuropäischen Raum eine gewisse Gemeinsamkeit beibehielt
Wenn aber neben dem historischen Erscheinungsbild des Ersten und des Zweiten deutschen Reiches das sogenannte Dritte Reich Adolf Hitlers gänzlich andere Wesenszüge zeigt, so haben wir redlicherweise die Folgerung zu ziehen, daß im historischen und im politischen Sprachgebrauch das Wort Reich hierfür nicht verwendet werden darf
Das alte Reich
„Reich bezeichnet allgemein das mit einem Herrscher in Zusammenhang Stehende, von ihm Abhängige, und damit 1. Herrschaft, Gewalt, Regierung ... in Verbindungen, welche die Würde oder die Macht betonen ... 2. das Gebiet, das der Herrschaft unterworfen ist . . ." So beginnt der einschlägige Artikel in Grimms Deutschem Wörterbuch
Neuere Forschungen haben diesen Ursprung in Frage gestellt und dafür hingewiesen auf die unpolitische Raumbezeichnung, die in den Wörtern reichen und Bereich steckt. Es ist aber doch recht fraglich, ob das Wort Reich in seinem freiesten Sinne, wenn wir vom Reich der Gedanken oder der Natur sprechen, hiervon abgeleitet ist, ob nicht vielmehr das politische Reich Pate gestanden hat. Oder sollte es ein Zufall sein, daß Otfried und Notker im 9. und 10. Jahrhundert bei Bibelübersetzungen und anderen sakralen Texten vorzugsweise das Wort Reich verwenden, und zwar gleichermaßen für mächtige Staaten in alttestamentarischer Zeit und für daz gotes riche (regnum Christi)
Gewiß, Gewaltsamkeit hat es immer und überall gegeben. Es wäre falsch, das alte Reich als ein paradiesisches Reich des Friedens zu verherrlichen. Gerade an seinem Ursprung, bei Karl dem Großen, begegnen uns Rechtsbeugung und Grausamkeit als Zutaten bei der Verwirklichung einer an sich großartigen politisch-historisch-religiösen Konzeption. Das Reich aber, das hier entstand, war — jedenfalls auf dem Kontinent — Schutz und Schirm des christlichen Abendlandes und seiner Lebensformen gegen mohammedanische Araber und Mauren im Süden und Südwesten, gegen heidnische Normannen im Norden, gegen Slawen und Awaren im Osten und auch gegen fremdartige byzantinische Machtansprüche aus dem Südostraum. Der Zerfall dieses fränkischen Reiches brachte über seine Bewohner besonders an den Grenzen viel Unheil, so daß aus dem Zwang zur Selbsthilfe neue lokale Gewalten entstanden, in Deutschland vor allem angesichts der Bedrohung durch die neu aufgetauchten Ungarn die „Stammesherzogtümer jüngerer Ordnung", in denen die Stammeseigentümlichkeiten politischen Rückhalt gewannen.
Als sich im 10. Jahrhundert ein sächsisches Königtum auf deutschem Boden konsolidierte, blieben diese Stammesgewalten bestehen. Otto der Große trat noch zu Lebzeiten der schwachen westfränkischen Karolinger in die Fußstapfen des großen Karl, indem er sich vom Papst in Rom zum Kaiser krönen ließ. Er übernahm Schutz und Schirm des Papstes und der ganzen abendländischen Christenheit. Obgleich er nur einen Teil des Abendlandes politisch beherrschte, gab er seinem Imperium so sakralen und universalen Charakter.
Von einer „Unterwerfung" der Italiener oder romanischen Lothringer und später der Burgunder kann in keinem Falle die Rede sein. Gerade das wird freilich dem alten deutschen Reich bei seiner Ostpolitik zum Vorwurf gemacht. Es ist bezeichnend, daß Hitler immer die Ostkolonisaton Heinrichs des Löwen und des Deutschen Ritterordens wiederaufnehmen wollte, dessen Tradition die SS nicht nur auf ihren „Ordensburgen" fortzusetzen vorgab. Unterschied sich doch die deutsche Ostkolonisation in diesen Bereichen erheblich von den früheren Formen östlicher Kolonisation. Die bayerische Ostkolonisation des
Nicht auf Wunsch der Eibslawen erfolgte die Christianisierung, Kolonisierung und Germanisierung Norddeutschlands ostwärts der Elbe. Es muß aber festgestellt werden, daß diese Stämme auch von Osten her unter Druck standen, so daß sie sich zeitweise (unter Heinrich II.) gemeinsam mit dem deutschen Heerbann gegen die Polen stellten, wie umgekehrt polnische Ritter am „Wendenkreuzzug" (1147) neben den Deutschen teilnehmen
Dem Reich, das durch den Investiturstreit faktisch auf den Stand eines Nationalstaats zurückgeworfen war, gelang es nicht mehr, in seinem Innern eine straffe Ordnung zu errichten. Die Sorge um den Landfrieden ging größtenteils auf lokale Gewalten über. Der historische Prozeß hatte die einstigen Stammesherzogtümer zerrieben. Zahllose Territorien waren entstanden, deren größte eigenstaatlichen Ehrgeiz entfalteten. Die Fürstenversammlungen, sogenannte Reichstage, die es schon seit den frühesten Zeiten des Reiches gab, nahmen seit dem 14. Jahrhundert allmählich parlamentarische Formen an
Aber erst nach mehr als einem Jahrhundert leidvoller Erfahrungen war es klar, daß sich in Deutschland nicht eine Konfession gegen die beiden andern mit Gewalt durchsetzen ließ: Der Westfälische Friede ließ die drei christlichen Bekenntnisse im Reiche friedlich nebeneinander bestehen. Lag die freie Entscheidung zwischen den Bekenntnissen auch noch bei den Fürsten, so wurden doch religiöse Minderheiten unter bestimmten Bedingungen geduldet. Diese „Koexistenz" der Glaubensrichtungen begünstigte auf weite Sicht innerhalb des Reiches den Gedanken der Toleranz, während in England die Testakte von 1673 die Katholiken (bis ins 19. Jahrhundert hinein) von Staatsämtern ausschloß und in Frankreich der Sonnenkönig das Toleranzedikt von Nantes aufhob (1685) und die Hugenotten aufs neue offen verfolgte. In religionspolitischer Hinsicht war die zu Münster und Osnabrück 1648 beschlossene Ordnung also durchaus nicht rückständig; im Vergleich mit der anderer europäischer Staaten war sie wohl weniger klar und nachweisbar politisch unbequem, ja gefährlich, sicherlich aber menschenwürdiger.
Der Westfälische Friede galt fortan als das wichtigste Reichsgrundgesetz neben den älteren leges fundamentales: der Goldenen Bulle (1356), dem Ewigen Landfrieden (1495) und der Reichsexekutionsordnung (1555). Nun wird auch die europäische Funktion des Reiches und seines Reichstages unverkennbar: Der Friede hatte eine Art kollektives Sicherheitssystem geschaffen, für dessen Aufrechterhaltung Kaiser und Reich einerseits, die Garantiemächte Frankreich und Schweden andererseits verantwortlich gemacht wurden. Mit Hilfe des Reichstags, der seit 1663 „immerwährend" in Regensburg tagte, bewahrte das alte Reich noch 150 Jahre lang im wesentlichen die bestehende Ordnung in Mitteleuropa. Dabei verstanden die Vertreter der Reichsstände ihre Aufgabe stets so, daß der Reichstag als Wahrer des Friedens nach einem Ausgleich der Interessen suchte. Zur kriegerischen Gewaltanwendung entschloß er sich nur im äußersten Falle, wenn einzelne Reichsstände oder gar das ganze Reich durch feindlichen Angriff in ihrer Existenz bedroht waren. für jene überstaatliche Organisation, die es nach ihrer Meinung zu schaffen galt, um den ewigen Frieden auf dieser Welt zu garantieren — ein Projekt, mit dem sich später auch Immanuel Kant in seiner geistvollen Studie „Zum ewigen Frieden" auseinandersetzte.
Mußte das alte Reich schon seiner Struktur nach friedliebend sein, so war es doch nicht wehrlos, wie uns die deutsche Geschichtsschreibung der letzten 100 Jahre glauben machen will. Zwar konnte der französische Macht-staat im Westen durch Eroberung und „Reunionen" Gebiete an sich bringen, Ludwigs XIV. weitergehende Pläne aber, die auf Erwerb der Kaiserkrone
So hat sich das vielgelästerte alte Reich, das Pufendorf mit dem Witz des Rationalisten ein Monstrum genannt hatte, von 1648 bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts doch als einzigartiger Stabilisierungsfaktor in der europäischen Politik bewährt. Es konnte erst dann den Schlägen von außen zum Opfer fallen, als es durch den Machtkampf seiner beiden größten Glieder Preußen und Österreich, von denen sich keines dem andern unterordnen wollte, innerlich zerrüttet war.
Das Wilhelminische Reich
So gesehen liegt der Deutsche Bund der Jahre 1815 bis 1866 weitgehend in der Tradition des alten Reiches, wenigstens als innerdeutsches System der kollektiven Sicherheit. Im Zeitalter nationaler und liberaler Ideen konnte die geistige Elite des deutschen Volkes damit freilich nicht zufrieden sein. Ihrer Revolution im Jahre 1848 hätte es jedoch nur dann gelingen können, den erhofften einigen Staat für alle Deutschen zu schaffen, wenn sie rigoros genug gewesen wäre, die deutschen Fürsten — mindestens bis auf einen (vgl. Italien!) — zu vertreiben. Gerade das war aber bei den Märzunruhen nicht geschehen, und die ehrenhaften Männer der Frankfurter Paulskirche waren solchem Radikalismus erst recht nicht geneigt. So kann es nicht wundernehmen, daß die Fürstenmacht, auf Heer und Beamtenschaft gestützt, wiedererstarkte und die Revolution vollends abwürgte.
Bismarcks preußisch-deutsches Reich war das Werk eines einzelnen, der es — wie man gesag hat — „im Feuer dreier Kriege geschmiedet" hat. War das so entstandene II. Deutsche Reich darum von vornherein vor aller Welt mit dem Fluch der Gewaltpolitik belastet? Wer diese Frage beantworten will, darf nicht nur auf die deutsche Geschichte schauen.
Das Frankreich jenes politischen Abenteurers, der sich Napoleon II. nannte, verhielt sich nicht friedfertiger als das Preußen des jungen Bismarck. Die Forderung des Jahrhunderts: Jedem Volke seinen Nationalstaat! war in Frankreich längst erfüllt, als Louis Napoleon Präsident wurde, um sich als „Neffe des Onkels“ wenig später selbst zum Kaiser zu erheben. Dieser Kaiser scheute von Mexiko bis zur russischen Halbinsel Krim nicht zurück vor waghalsigen politischen Unternehmungen. Sein unprovozierter Angriff auf Österreich im Jahre 1859 zeigt, daß es ihm nicht um die Wahrnehmung vitaler Lebensinteressen der französischen Nation ging, sondern um gloire und allenfalls um die Führung der „lateinischen Rasse", ja um die Vormacht auf dem europäischen Kontinent. llaliens Einiger Camillo Cavour schickte seine Piemontesen auf die ferne Krim, um sich Frankreich zur Hilfeleistung zu verpflichten. Er schürte den Konflikt zwischen Frankreich und Österreich und bediente sich unverzüglich der revolutionären Elemente (zu deren „legi-timen" Waffen der politische Mord gehörte) zur Weiterführung der italienischen Einigung, als Frankreich den Krieg mit Österreich ohne Rücksicht auf die Wünsche seiner italienischen Verbündeten beendete. Italien nutzte die Auseinandersetzung Preußens mit Österreich zum Gewinn Veneziens und die Auseinandersetzung Preußens mit Frankreich zum Gewinn des Kirchenstaats. Seine politischen Handlungen waren nicht weniger von der Staatsräson diktiert als die Preußens und Deutschlands unter Bismarck.
Kaum grundsätzlich anders ist die damalige Politik Englands und Rußlands zu beurteilen, nur wiederum mit der Einschränkung, daß diese beiden Staaten nicht mehr um ihre nationale Einigung zu kämpfen hatten; sie suchten ihre imperiale Stellung in der Welt auszubauen. Das bedeutete für England Krieg in Indien und später militärisches Eingreifen in Ägypten, im Sudan und in Südafrika, ja zuletzt die Ermunterung Japans zum Antriff auf die russische Stellung in Fernost; für Rußland aber (teilweise kriegerische) Expansion in Asien, Förderung der allslawischen Bewegung und Schürung von Balkankonflikten, um Österreich dort zurückzudrängen und die türkischen Meerengen in russische Hand zu bringen. Auch Österreich bewahrte nicht nur die politische Ordnung im Donauraum; es verfolgte seinerseits hegemoniale Pläne zunächst im Deutschen Bund und später im Balkanraum etwa durch die Besetzung (1878) und Annexion (1908) von Bosnien und der Herzegowina.
Aus dieser Rundschau erhellt, daß Bismarcks Kriege in den Jahren 1864 bis 1871 nicht zur Diskriminierung seiner Person und seiner Reichsgründung berechtigen, zumal sich nachweisen läßt, daß Bismarck mit europäischem Verantwortungsbewußtsein gehandelt hat, als er z. B. in Nikolsburg seinen König zwang, Österreich gegenüber einzulenken und den Vorteil der militärischen Situation nicht bis zur Siegesparade in Wien auszuschlachten, und als er nach dem Siege über Frankreich Deutschland für saturiert erklärte und von da an allen weiteren Kriegsgelüsten, insbesondere aber den Präventivkriegsbestrebungen mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit entgegentrat.
Bismarck hatte das „II. Reich" in die schein-föderalistische Form eines „Ewigen Bundes der deutschen Fürsten und der freien Städte" gebracht. Die Hegemonie Preußens war eindeutig festgelegt, indes die Bundesfürsten bei der Regierung des Reiches so gut wie nichts mitzureden hatten. Zu sagen hatte in diesem Reiche aber auch das Volk nicht viel, dessen gewählte Vertreter im Reichstag nur an der Gesetzgebung und an der Kontrolle des Reichs-haushalts mitwirkten, nicht aber den Kanzler bestimmen konnten, der allein vom Vertrauen des Monarchen getragen war. Gegen einen Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise sträubte sich Kaiser Wilhelm II. noch bis in die letzten Tage des Ersten Weltkriegs hinein!
Bismarck hatte kein inneres Verhältnis zum Parlamentarismus und zum Parteienstaat. In Gegnern seiner politischen Überzeugung sah er Reichsfeinde, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt. Ob er sich gegen die Katholiken wandte oder gegen die internationalistisch und revolutionär eingestellte Sozialdemokratie — gleichermaßen griff er auf die überlebten Polizeipraktiken des Obrigkeitsstaates zurück. Keineswegs aber war dieses Reich schlechthin ein Unrechtsstaat: Es gab eine vereinheitlichte, unabhängige Rechtsprechung in Zivil-und Strafsachen, und in den meisten Einzelstaaten galten die Grundrechte in dieser oder jener Form ohnehin. Auch mühte sich der Kanzler in den achtziger Jahren mit beispielhaftem Erfolg, den arbeitenden Menschen von Reichs wegen mehr soziale Gerechtigkeit zukommen zu lassen
So können wir auch dem Wilhelminischen Zweiten Deutschen Reich zubilligen, daß es jahrzehntelang nach innen und außen als Ordnungsmacht im Dienste der Friedenssicherung wirkte: Auch als es in der Marokkokrise 1905 deutlich wurde, daß außenpolitisches Ungeschick der Nachfolger Bismarcks Deutschland in die Vereinsamung geführt hatte, benutzte das Reich nicht den günstigen Augenblick zum Präventivkrieg gegen Frankreich, der sich damals bot, weil Rußland nach seiner Niederlage gegen Japan in Europa als Macht-faktor praktisch ausschied.
Nach dem Mord von Sarajewo hat das Reich nun zwar Osterreich-Ungarn nicht gebremst, sondern — solange man in Berlin an einen lokalen Konflikt im Südosten glaubte — eher zu energischem Vorgehen angehalten, jedoch nicht aus Kriegslüsternheit, sondern aus tiefer Sorge um den letzten Bundesgenossen und damit um den eigenen Fortbestand
Aller militärischer Aufwand, die Begeisterung der ersten Wochen und die Opferbereitschaft während der langen Jahre des harten Ringens führten über drei Jahre hinweg zu keiner Entscheidung. Der Kaiser, seine Generale und die Politiker seines Vertrauens schlugen gegen den Willen der Parlamentsmehrheit die von Wilson dargebotene Möglichkeit, einen tragbaren Frieden zu schließen, aus, solange sie noch über eigene Machtmittel verfügten, um erst angesichts der offenbaren Niederlage auf dieses Friedensangebot zurückzukommen, und zwar in der naiven Hoffnung, man könne jetzt immer noch einen ebenso glimpflichen Frieden schließen. Natürlich kam jetzt kein Friede der Verständigung mehr zustande, sondern ein Diktatfriede, und im Innern brach nicht minder folgerichtig die republikanische Revolution aus, die mehrfach in eine kommunistische umzuschlagen drohte.
Die Weimarer Republik und der Mythos vom „Dritten Reich"
Mit den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung war die Entscheidung gegen eine Institutionalisierung der revolutionären Arbeiter-, Bauern-und Soldatenräte und damit für den demokratischen Rechtsstaat gefallen. Die „Weimarer Koalition" der Mitte stand aber unter gefährlichem Flügeldruck, weil auf der Rechten wie auf der Linken starke politische Kräfte den bestehenden Staat ablehnten und bekämpften, überdies traten — vom reinen Verhältniswahlrecht begünstigt — zahlreiche Splitterparteien ins Leben, denen oft ihre abseitigen Sonderinteressen wichtiger waren als das allgemeine Wohl.
Ein derart instabiles politisches Gebilde ist naturgemäß außerordentlich krisenanfällig. Wohl hatte die Weimarer Verfassung für. Notfälle Vorsorge getroffen. Ihr Artikel 48 war aber erst recht problematisch, weil er eine Präsidialdiktatur mit Hilfe von Notverordnungen ermöglichte. In Weimar hatte man offenbar mit einem demokratischen Vollblutpolitiker vom Schlage Friedrich Eberts auf dem Stuhle des Reichspräsidenten gerechnet, nicht mit einem Greis, der sich nie mit Politik befaßt hat und der deshalb ein nahezu willenloses Werkzeug in den Händen seiner Umgebung (z. B.des „von der Verfassung nicht vorgesehenen Sohnes") sein mußte.
Daneben erwies es sich als Belastung, daß man in Weimar der deutschen Republik zentralistischere Formen gegeben hatte als dem vorangegangenen Kaiserreich. Selbstbewußte Länder wie Bayern wurden dadurch zum Widerspruch aufgereizt, der dann unlauteren Elementen, etwa den Kapp-Putschisten, dem General Ludendorff und Adolf Hitler, zugute kam.
Angesichts der Strukturmängel der Weimarer Republik kann man es nur als erstaunlich bezeichnen, wie sie sich durch ihre schweren Anfangsjahre hindurchrettete. Moralische Diskriminierung durch den Kriegsschuldartikel, Abtretung wertvoller deutschbesiedelter Grenzgebiete an Nachbarstaaten, separatistische Umtriebe in besetzten Grenzländern und gewaltige Reparationsverpflichtungen drückten von außen auf die wehrlose junge Republik. Inflation, rechts-und linksradikale Putschversuche sowie Ratlosigkeit der in sich uneinigen republikanischen Parteien kennzeichneten die scheinbar hoffnungslose Lage im Innern.
Im Herbst 1923 überwand Stresemann den Höhepunkt der Reichskrise. Als Außenminister gehörte er nun allen Reichskabinetten an. In dieser „Ära Stresemann" gelang Zug um Zug Deutschlands Rehabilitierung bis hin zur Aufnahme der Weimarer Republik in den Kreis der Großmächte im Völkerbundsrat. Ja, Briand und Stresemann legten den Völkern in Genf einen Plan für den Zusammenschluß Europas vor. Deutschland hatte auf der ganzen Welt Sympathien zurückgewonnen, als Stresemann im Herbst 1929 kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise plötzlich verstarb.
Eine längere Zeit der Wirtschaftsblüte
Gewiß, das deutsche Bürgertum hatte in der Inflation sein Vermögen eingebüßt und wurde nun durch die Weltwirtschaftskrise in eine Existenzangst getrieben, die viele zum politisch kurzschlüssigen Paktieren mit rechtsextremistischen Anhängern einer Diktatur bereit machte, weil man den bestehenden Staat, die demokratisch-parlamentarische Republik, für die Stagnation des Wirtschaftslebens und das damit verbundene soziale Elend verantwortlich machte. Begünstigt wurde dieses weit um sich greifende Abgleiten in den Rechtsradikalismus dadurch, daß der Weimarer Staat gerade in rechtsgerichteten konservativen Kreisen niemals hinreichend Resonanz gefunden hatte, weil sie im Grunde immer noch der Monarchie anhingen. Die politische Gegenwart erschien vielen Konservativen seit der Niederlage als so schmachvoll, daß sie gierig jene politische Metaphysik
Die Anklänge sind frappierend
Der „Führer" und sein Chefpropagandist Joseph Goebbels
Hatte der Weimarer Staat trotz hoffnungsvoller Ansätze nicht zu einer nach innen und außen wirkenden stabilen Ordnungsmacht im Dienste der Friedenssicherung werden können, so daß wir ihm zu Recht auch die Bezeichnung „Deutsches Reich" vor der Geschichte nicht zubilligen, so erscheint es als der größte und unbegreiflichste Propagandaerfolg von Hitler und Goebbels, daß ihre Tyrannis noch zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch dieser Politik in Deutschland und anderwärts das „Dritte Reich" genannt wird. Mit gutem Grund hat man freilich bei Errichtung der Bundesrepublik Deutschland auf das alte Wort Reich verzichtet. Professor Carlo Schmid hat im Parlamentarischen Rat auf Deutschlands Nachbarvölker hingewiesen, in deren Augen dieses Wort einen aggressiven Akzent trage: „Das Wort . Reich'wird von diesen gelesen als ein Anspruch auf Beherrschung. So ehrwürdig auch die Tradition des Namens . Deutsches Reich'ist — die Erinnerung an die Untaten, die während der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft in diesem Namen begangen worden sind, ist noch zu frisch und die Gefahr, daß der alte Name den Blick auf die neue Wirklichkeit mit Stimmungen und romantischen Ansprüchen, die nicht mehr unseres Jahrhunderts sind, lenken könnten, noch zu groß." Die Bundesrepublik hat sich seither im Innern als Garant einer — relativ — gerechten und menschenwürdigen Ordnung bewährt; ihr Staatsgebiet umfaßt jedoch nur einen Bruchteil des alten deutschen Reiches und weniger als die Hälfte des Bismarckreiches; und ihre Bedeutung für die internationale Politik ist so bescheiden, daß der Name „Reich" — wenn er eine Ordnungsmacht im Dienste der Friedenssicherung bezeichnet — ungerechtfertigt er-schiene.
Eine „Bewältigung" bzw. „Aufarbeitung" unserer Vergangenheit — und das ist ein wesentlicher Teil der Bewältigung unserer Gegenwart und Zukunft — wird uns nicht gelingen, wenn wir stets wie gebannt auf jene zwölf Jahre starren. Wir müssen diese Zeit im großen historischen Zusammenhang sehen und vor allem einmal die Dinge beim richtigen Namen nennen. Dann fügt sich wie von selbst in unserem Geschichtsbild das Anerkennenswerte zusammen und auch das Abzulehnende, und es öffnet sich der Blick für die bedeutenden Elemente einer guten Tradition in der deutschen Geschichte, die sich über mehr als ein Jahrtausend mit dem Reichsbegriff verbinden. Oder war es wirklich nur absurd, wenn ein namhafter Staatsrechtler im Jahre 1954 am Ende eines Vortrags über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation