Der Verdruß über die Verbände ist in der Bundesrepublik weit verbreitet. Er äußert sich in einer fast unerschöpflichen Zahl von politisch-moralischen Verdikten, Anklagen und Vorwürfen, die in einer sich so betont sachlich gebenden Zeit durch ihre Bildhaftigkeit geradezu überraschen
Das gewandelte Erscheinungsbild des heutigen Staates
Theodor Eschenburg und Werner Weber messen anscheinend die Tätigkeit der Verbände an einem Staatsmodell, das dem Erscheinungsbild des heutigen Gemeinwesens nicht mehr gerecht wird. Beide halten im Grunde den Staat für eine von wirtschaftlichen und sozialen Interessen unabhängige, eigenständige politische Einrichtung; sie glauben, daß ausschließlich den Staatsorganen die politische Willensbildung vorbehalten bleiben müsse. Aus dieser Sicht erscheint die politische Einflußnahme der Verbände notwendig als „Demontage" oder „Kolonisation des Staates", wenn nicht gar als „Herrschaft der Verbände". Diese Anschauung entsprach schon in der Zeit des Kaiserreiches von 1871 nicht mehr der Wirklichkeit. Der Soziologe Peter von Oertzen hat die Wandlung des staatlichen Lebens im 19. Jahrhundert in seiner Dissertation über „Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus" geschildert
„Die nach 1870 sich mit wachsender Geschwindigkeit durchsetzenden sozialen und wirtschaftlichen Tendenzen stellen den Staat (der bisher die wirtschaftlich-gesellschaftliche Lebenssphäre der freien Betätigung den einzelnen überließ) vor gänzlich neue Aufgaben und verändern das Wesen seiner Tätigkeit. Die Industrialisierung und damit zusammenhän-Nach einem am 4. Mai 1965 im Hessischen Rundfunk und am 8. November 1965 im Südwestfunk gesendeten Vortrag. Die Anmerkungen beschränken sich auf die unentbehrlichen Nachweise. gend die technisch-verkehrsmäßige, wirtschaftliche und geistige Vereinheitlichung der Gesellschaft, die Entstehung großer, in sich geschlossener, untereinander gegensätzlicher ökonomischer Gruppen, macht in wachsendem Maße den aktiven Eingriff des Staates notwendig. Der staatliche Apparat, die Exekutive, . .. beginnt an Bedeutung außerordentlich zu-zunehmen. Zugleich ändert sich das Wesen der politischen Auseinandersetzung. Bisher trugen die sozialen Gruppen ihre Gegensätze unter-und außerhalb des festen Rahmens der . .. staatlichen Ordnung aus... Nun, wo die ökonomisch-sozialen Gegensätze an Ausdehnung und Stärke zunehmen, richten die Klassen ihr Streben unmittelbar auf die politische Macht und auf den Ort ihrer Ausübung, den regierenden und verwaltenden Staat..."
Und damit wandelt sich die Struktur des Staates selbst: er wird zu einem Gutteil zum Produkt der gesellschaftlichen Kräfte, zur Selbst-organisation der modernen Industriegesellschaft
Solange das staatliche Leben auf die geistig-politische Sphäre beschränkt blieb und der ökonomisch-soziale Bereich ein Betätigungsfeld gesellschaftlichen Beliebens war, mochte es legitim sein, das Handeln der wirtschaftlich-sozialen Vereinigungen in den Bereich des privaten Vereinswesens zu verweisen und ihnen jede Berechtigung abzusprechen, an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Im Zeitalter der Industrialisierung muß diese Sicht fragwürdig werden. In dem Maße, wie die wirtschaftlichen und sozialen Fragen in das staatlich-politische Leben einbezogen werden, nehmen die jetzt entstehenden Interessenverbände auf die staatliche Willensbildung Einfluß.
Die freiheitliche demokratische Ordnung des Grundgesetzes nimmt diese Wirklichkeit des gewandelten staatlichen Lebens in sich auf; sie bietet keinen Raum mehr für die obrigkeitliche Staatsanschauung. Sie öffnet sich den vielfältigen, einander oft entgegengesetzten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Meinungen und Interessen im Volke und gewährleistet, namentlich durch die Grundrechte, daß die Einheit des Staates und die Zielrichtung des politischen Willens aus der gegenseitigen Verständigung und Auseinandersetzung der im Gemeinwesen wirksamen politischen Kräfte ständig neu hervorgeht
Zu diesen, von unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung vorausgesetzten und durch die Vereinigungsfreiheit besonders geschützten Zwischengliedern zählen die Interessenverbände. Ihre Teilhabe an der politischen Willensbildung ist kein notgedrungenes Zugeständnis der demokratischen Verfassung an eine unabänderliche Entwicklung des Industriezeitalters. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes bewertet vielmehr die politische, soziale und wirtschaftliche Tätigkeit der Verbände von vornherein positiv und setzt ihr Wirken als Faktor im Prozeß der politischen Willensbildung von Verfassungs wegen voraus. Deshalb geht jede prinzipiell negative Beurteilung der heutigen politischen Wirksamkeit der Verbände an der Verfassungsordnung der freiheitlichen Demokratie vorbei.
Das demokratische Mißverständnis
Der Widerhall, den die Vorwürfe Eschenburgs und Webers gegen die Verbände in der Bundesrepublik finden, läßt erkennen, daß vielen Mitbürgern die Gegebenheiten und Gesetzlichkeiten der modernen Demokratie nicht hinreichend vertraut sind. Darüber hinaus verbirgt sich hinter dieser Resonanz nicht selten ein mangelndes Verständnis für die demokratische Staats-und Lebensform. Die Ursachen liegen in der eigenartigen demokratischen Entwicklung in Deutschland; sie stand unter zwei schwerwiegenden Belastungen, deren Folgen noch heute zu spüren sind: Deutschland ist ungleich später als England, Frankreich und die Vereinigten Staaten zur demokratischen Staatsform übergegangen. Der Historiker Rudolf Stadelmann hat in seinem Buch „Deutschland und Westeuropa" beschrieben, wie sich diese Verspätung ausgewirkt hat
Und mehr noch: Die Niederlage der demokratischen Bewegung im 19. Jahrhundert ist zu einem Trauma des deutschen Bürgers geworden. Sein politisches Verhalten ist seltsam zwiespältig. Es schwankt zwischen tiefer Unbeteiligtheit am politischen Leben und blinder Staatsergebenheit. Nirgends haben die radikalen Ideen einen aufnahmebereiteren Boden gefunden als in Deutschland. Das politische Denken der Deutschen hat der Theologe und Geschichtsphilosoph Ernst Troeltsch scharf charakterisiert
(Es ist) „einerseits erfüllt von den Resten der Romantik und von sublimer Geistigkeit, andererseits realistisch bis zum Zynismus und zur vollen Gleichgültigkeit gegen allen Geist und alle Moral, vor allem aber geneigt, beides merkwürdig zu mischen, die Romantik zu brutalisieren und den Zynismus zu romantisieren“.
Die Katastrophe von 1945 hat uns ernüchtert. Aber der deutsche Bürger besitzt noch nicht das demokratische Selbstbewußtsein des Angelsachsen oder das demokratische Pathos des Franzosen. Er muß den Zugang zur Demokratie erst finden.
Die zweite Belastung ist der auf Rousseau zurückgehende demokratische Doktrinarismus. Er ist die Ursache für viele Mißverständnisse, nicht zuletzt auch für die prinzipiell negative Beurteilung der politischen Tätigkeit der Interessenverbände. Rousseaus starre Begriffe erschweren die Verwirklichung des Grund-gedankens der Demokratie: die größtmögliche reale Beteiligung aller Bürger am Staatsleben.
Für Rousseau bedeutet Demokratie die Herrschaft des als Einheit verstandenen, mit einem einheitlichen Willen begabten Volkes über sich selbst
Für eine Demokratie im Sinne Rousseaus sind die Verbände als Vermittler zwischen Staat und einzelnem überflüssig. Der vorgegebene einheitliche Volkswille kann das Gemeinwohl unmittelbar viel besser verwirklichen. Die Verbände erscheinen geradezu als gefährlich, da sie das Gemeinwohl zugunsten von Partikularinteressen verfälschen. Deshalb fordert der Doktrinarismus, die Einflußnahme der Verbände, der „corps intermediaires", auf die politische Willensbildung völlig zu unterbinden
Die mißachteten Partikularinteressen
Die doktrinäre Demokratie-Auffassung hat sich in Deutschland um so mehr durchsetzen können, als die Partikularinteressen breiten Bevölkerungsschichten suspekt sind. Ganz anders in den angelsächsischen Ländern. Hier ist die Vertretung der einander entgegen-gesetzen Interessens-und Vorstellungsrichtun1) gen seit jeher legitim. Der Grund, weshalb bei uns die Einzelinteressen keine rechte Heim-statt im politischen Denken gefunden haben, liegt nicht zuletzt in der eigenartigen Entwicklung der deutschen politischen Theorie im beginnenden 19. Jahrhundert, die sich gegen zwei einflußreiche politische Strömungen zu behaupten hatte: gegen das absolutistische und gegen das aus Frankreich stammende revolutionäre Denken. Beiden Richtungen ist trotz aller Unterschiede eines gemeinsam: sie führen den Staat auf den konkreten partikulären Willen zurück, die eine auf den Willen des Monarchen, die andere auf den des Dritten Standes. Demgegenüber gründet die in Deutschland vorherrschende Lehre unter der Führung Hegels den Staat auf den „allgemeinen", dem einzelnen als geistigem Wesen einsichtigen Willen, den wesenhaften, sittlichen, vernünftigen Willen
Während des ganzen 19. Jahrhunderts sind die früheren Repräsentanten der Wissenschaft und politischen Praxis Hegels Auffassung gefolgt. Sie haben dem Partikularinteresse für das Staatsleben kein Gewicht beigemessen. Dieses Versäumnis mochte sich noch nicht voll auswirken, solange die stabilen Verhältnisse der vorindustriellen Gesellschaft bestanden. Um so stärker mußte es sich bemerkbar machen, als die vielfältigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze aufbrachen, die sich aus der fortschreitenden Industrialisierung ergaben. Die Einzelinteressen drangen sozusagen mit ungebrochener Kraft in das politische Leben ein. Zwangsläufig wurde das Allgemein-Sittliche und -Vernünftige, das Gemeinwohl, in Mitleidenschaft gezogen. Es verlor seine verbindliche Kraft, weil es von den einzelnen Interessengruppen in die alltägliche politische Auseinandersetzung gezogen wurde: Jede von ihnen war bestrebt, ihre eigenen Auffassungen und Vorstellungen zum Gemeinwohl zu erheben und alle ihnen entgegengesetzten als partikulär abzuwerten.
Die Problematik des heutigen Verbandseinflusses
Die tatsächliche Problematik der politischen Einflußnahme der Verbände liegt heute nicht in der Gefahr einer „Herrschaft der Verbände" oder einer „Demontage des Staatlichen". Ganz im Gegenteil. Der Hamburger Politologe 'Wilhelm beurteilt das politische HandelnHennis der Verbände viel realistischer
„Daß sich die großen Gruppeninteressen mit einer Organisation ais Verband begnügen und den politisch entscheidenden Schritt zur Parteibildung unterlassen, . . . (ist) eher ein Kompliment an die Adresse des Staates . . . Ein hoch entwickeltes Verbandsleben unter der Voraussetzung eines klar gegliederten Parteiensystems ist Ausdruck grundsätzlicher Beiahung der gegebenen politischen Ordnung, Zeugnis für ein hohes Maß an politischem Consensus. Auf einen Staat . Druck'ausüben, etwas von ihm fordern, ist eine Form der Bindung an ihn; tief verbitterte Gruppen werden sich nicht damit aufhalten, mit einem verhaßten System zu verhandeln."
Dennoch beruht das Unbehagen an den Verbänden auf einer ernst zu nehmenden Besorgnis. Besteht nicht die Gefahr, daß ihre Einflußnahme auf das staatlich-politische Leben Grundsätze unserer Verfassungsordnung be-droht? Die Frage läßt sich nicht in Bausch und Bogen, sondern nur differenziert nach einzelnen typischen Wirkweisen der Interessengruppen beantworten.
Das Grundgesetz hat Aufgabe und Tätigkeit der Verbände nicht ausdrücklich geregelt, wohl aber ihnen über die Vereinigungsfreiheit und das Recht der freien Meinungsäußerung einen legitimen Wirkungskreis gewährleistet. Diesen Bereich hat der Bonner Staatsrechtslehrer Ulrich Scheuner als den „Raum der Vorformung des politischen Willens" bezeichnet.
„Dieser Zwischenbereich" — so führt er näher aus
Hier steht den Verbänden ein weites Feld offen, das eine Vielfalt von politischen Ein-wirkungsmöglichkeiten bietet und lediglich durch die Strafgesetze begrenzt ist.
Die besondere Problematik beginnt indessen erst jenseits dieses Bereiches, nämlich dort, wo die Verbände nicht über das Medium der öffentlichen Meinung, sondern unmittelbar die Entscheidungen der leitenden staatlichen Ämter zu beeinflussen suchen. Das geschieht heute vor allem in drei Richtungen: Zum einen durch die Einwirkung auf die Personalpolitik im öffentlichen Dienst; zum anderen durch die Mitarbeit in Ausschüssen, Fachkreisen und Bei-räten, die bei den meisten oberen Bundesbehörden errichtet worden sind; und drittens durch die Einflußnahme auf die Gesetzesvorbereitung im Wege der direkten Absprache mit dem Bundeskanzler, den Ressortministern und den höheren Ministerialbeamten.
Einflußnahmen auf Stellenbesetzungen im öffentlichen Dienst
Die erste Form der unmittelbaren Beeinflussung ist unter dem Stichwort „Ämterpatronage" bekannt geworden. Sie hüllt sich in ein kaum aufzuhellendes Dunkel. Personalangelegenheiten werden überall diskret und fernab vom Rampenlicht der Öffentlichkeit entschieden. Um so weniger lassen sich die meist noch diskreter lancierten Einflußnahmen auf Stellenbesetzungen aufspüren. Immerhin sind wenige Einzelfälle in die Öffentlichkeit gedrungen, was vor allem den Publikationen Theodor Eschenburgs zu verdanken ist:
In seiner Schrift „Herrschaft der Verbände" berichtet er, wie im Frühjahr 1955 der Geschäftsführer des niedersächsischen Bauern-verbandes, Deetjen, zum Staatssekretär im niedersächsischen Ministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten ernannt wurde
Die Einflußnahme der Verbände auf Stellen-besetzungen im öffentlichen Dienst kommt nicht von ungefähr. In ihr spiegelt sich die gesteigerte Bedeutung von Verwaltung und Ministerialbürokratie wider. Im Unterschied zu Regierung und Parlament sind sie weit weniger von der öffentlichen Meinung abhängig, weil ihre Stelleninhaber in der Regel auf Lebenszeit berufene Beamte sind. Um auf Verwaltungs-und Ministerialentscheidungen unmittelbar einwirken zu können, müssen die Verbände versuchen, ihnen nahestehende oder angehörende Beamte in Schlüsselstellungen zu lancieren. Sicherlich erwarten sie von den patronierten öffentlichen Bediensteten keine rechtswidrigen Amtshandlungen, wohl aber eine gewisse Zugänglichkeit für ihre Interessen, eine gewisse Geneigtheit zu verbands-freundlichen Entscheidungen. Daneben mögen sie auch aus anderen Motiven Einfluß auf die Personalpolitik ausüben, etwa um verdienten Verbandsfunktionären eine beamtenrechtliche Versorgung zu verschaffen. Indessen dürfte dieser Gesichtspunkt in der Regel nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Regierung und Ministerialbürokratie haben diese Einwirkungsmöglichkeit der Verbände zunehmend begünstigt. Vertreter der großen Verbände werden zu den bei den oberen Bundesbehörden gebildeten Beiräten, Fachkreisen und Ausschüssen regelmäßig hinzugezogen
Die Gefahren, die sich aus dieser Einflußnahme für den öffentlichen Dienst ergeben, dürfen nicht unterschätzt werden. Zwar mag es bis zu einem gewissen Grade für die Verwaltung oder ein Ministerium vorteilhaft sein, Verbandsfunktionäre als Beamte einzustellen, namentlich wenn es sich um Fachleute handelt, die in einer Spezialmaterie besonders sachkundig sind. (Diese Erwägung hat vielleicht auch bei der erwähnten Ernennung des Geschäftsführers des niedersächsischen Bauernverbandes zum Staatssekretär im niedersächsischen Ernährungsministeriums eine Rolle gespielt.) Aber auf lange Sicht ist diese Praxis bedenklich: Werden in allzu großer Zahl Verbandsvertreter in das Beamtenverhältnis übernommen, entsteht unvermeidlich die Gefahr, daß die für den öffentlichen Dienst unentbehrlichen Beamtenqualitäten der strengen Rechts-gebundenheit, der Unparteilichkeit und der Sachgerechtigkeit in Mitleidenschaft gezogen werden. Diese Befürchtung läßt sich nur bedingt mit dem Hinweis entkräften, daß der in den öffentlichen Dienst eingestellte Verbands-funktionär anders handeln werde, als wenn er in seiner früheren Stellung geblieben wäre. Ein im politischen Leben erfahrener Funktionär gerät immer wieder in Versuchung, nicht nur zu erprobten Mitteln und Wegen des politischen Kampfes zu greifen, sondern die politischen Auseinandersetzungen auch in die Verwaltung und das Ministerium zu tragen. Schon vor fast fünfzig Jahren hat Max Weber auf die kategorischen Forderungen des öffentlichen Dienstes hingewiesen
Es ist nicht Sache des Beamten, „nach seinen eigenen Überzeugungen mitkämpfend in den politischen Streit einzutreten. (Vielmehr hat er) ...seine eigenen Neigungen und Meinungen (zu) überwinden ..., um gewissenhaft und sinnvoll durchzuführen, was allgemeine Vorschrift oder besondere Anweisung von ihm verlangen, auch und gerade dann, wenn sie seinen eigenen politischen Auffassungen nicht entsprechen."
Hier ist ein Angelpunkt unserer heutigen Verfassungsordnung angesprochen, die auf der Scheidung von rechtsstaatlichem Bereich der Verwaltung und des Ministeriums einerseits und politischem Bereich demokratischer Willensbildung andererseits beruht. Die freie politische Auseinandersetzung ist nach dem Grundgesetz auf den „Raum der Vorformung des politischen Willens" und den Bereich der institutionalisierten Willensbildung in Regierung und Parlament beschränkt. Sie ist beendet, wenn das Parlament den Vorschlag der Mehrheit zum Gesetz erhoben hat. Ministerium und Verwaltung haben lediglich die Aufgabe, die Ausführung der Gesetze zu regeln und unparteiisch und sachgerecht die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen zu treffen. Sie dürfen den politischen Kampf nicht fortsetzen, weil sonst die politische Willensbildung ad absurdum geführt würde und die ordnungsgemäße Durchführung der Gesetze nicht gewährleistet wäre.
Die Gefahren, die aus einer allzu interessen-betonten Personalpolitik entstehen, lassen sich nur bedingt durch neue gesetzliche Vorschriften oder zusätzliche Kontrollen abwenden. Wirksam kann ihnen nur begegnet werden, wenn nicht nur Behördenleiter und Personalreferenten, sondern auch Regierung, Parteien und Verbände sich der Folgen einer fortdauernden Einflußnahme der Interessengruppen bewußt werden und daraus Konsequenzen ziehen. Wenn die Einwirkung der Verbände zu einer „selbstverständlichen Regel politischen Verhaltens" geworden ist, wie es in dem erwähnten Telegramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes heißt, ist es zu spät, die geschilderten Gefahren zu bannen.
Die Mitwirkung in staatlichen Beiräten und Ausschüssen
Weniger bekannt ist demgegenüber der zweite von den Interessenverbänden beschrittene Weg, unmittelbar auf die Entscheidungen der leitenden staatlichen Ämter einzuwirken: der Weg über die Beiräte und Ausschüsse bei den oberen Bundesbehörden. Er ist den Verbänden ausschließlich von der staatlichen Bürokratie und dem Parlament eröffnet worden. Nahezu alle Bundesministerien haben sich mit einem Kranz von beratenden Beiräten, Ausschüssen, Kommissionen und Arbeitskreisen umgeben, zu denen sie durchweg Verbandsvertreter hinzuziehen. Ein Bonner Ministerialbeamter hat vor einigen Jahren nicht weniger als 57 sol-eher Gremien gezählt
Zu diesen Beiräten tritt eine Reihe von Verwaltungsräten bei den Bundesanstalten und bei anderen Bundeseinrichtungen hinzu; auch hier wirken in der Regel Verbandsvertreter mit. Sind die Beiräte den Ministerien lediglich attachiert, so sind diese Gremien Organe der Bundesanstalten und -einrichtungen selbst. Sie haben gegenüber den Beiräten nicht nur rein beratende, sondern meistens auch beschließende Funktionen. Wie weit diese Aufgaben reichen, beweist das Beispiel des Verwaltungsrates der Deutschen Bundesbahn. Er beschließt über den „Wirtschafts-und Stellenplan, den Jahresabschluß, die Aufnahme von größeren Krediten und Anleihen, über die Vorschläge für die Ernennung und die Abberufung von Vorstandsmitgliedern, die Vorschläge zur Besetzung der leitenden Dienstposten der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn sowie der Dienstposten der Präsidenten der Eisenbahndirektionen und der zentralen Ämter sowie über grundsätzliche Fragen des Personalwesens und über die wesentlichen Eisenbahn-und sonstigen Tarife", um nur die hervorstechendsten Aufgaben zu erwähnen
So vielfältig das Spektrum der Beiträge und beschließenden Ausschüsse ist, so unterschiedlich sind die Einflußmöglichkeiten der Verbände. Sie hängen zu einem Gutteil von den Aufgaben dieser Gremien ab. Vielfach ist auch die Frage der Auswahl der Verbands-vertreter mitentscheidend: Die Einflußchancen sind größer, wenn den Verbänden ein Vorschlagsrecht für die einzelnen Mitglieder zugestanden wird, wie etwa bei der Auswahl der Vertreter für den Verwaltungsrat der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr oder die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften
Auf den ersten Blick mag es erstaunen, daß der Staat den Verbänden ein so wirksames Instrument zur Verfügung stellt. Aber der naheliegende Eindruck staatlicher Großmütigkeit oder Ohnmacht vor übermäßig andrängen-den Verbandsinteressen täuscht. Auch für die Bundesverwaltung bietet dieser Weg unbestreitbare Vorteile: Erstens ermöglicht er den Behörden, sich den Sachverstand der Verbandsfunktionäre zunutze zu machen. Die zunehmende Technisierung und Spezialisierung der Lebensverhältnisse zwingt die staatliche Bürokratie, sich fortlaufend mit den gewandelten Sachverhalten vertraut zu machen, was ohne die Mithilfe der Verbände ungleich schwerer wäre. Hier leisten die verschiedenen Fachausschüsse den Ministerial-und Verwaltungsbeamten wertvolle Dienste. Zweitens läßt sich der Kreis der Einfluß nehmenden Verbände über diese Gremien auf die großen Spitzenorganisationen beschränken
Für die Interessenorganisationen sind die Beiräte und Ausschüsse vorgeschobene Posten, über die Verbandsinteressen unmittelbar bei den zuständigen Bundesbehörden geltend gemacht werden können. Sie schaffen darüber hinaus den Funktionären eine Plattform, auch außerhalb der Sachaufgaben dieser Gremien die Verwaltung zu beeinflussen.
Bedeutsamer sind indessen die sachlichen Auswirkungen auf das Verbandsleben selbst. Zum einen wird durch das Instrument der Beiräte der Zug zur Konzentration der Verbandsmacht erheblich verstärkt, denn nur Spitzenorganisationen sind mitwirkungsberechtigt. Wie weit diese Entwicklung schon vorangeschritten ist, beweist das Beispiel der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der neben den Landesverbandsorganisationen 41 Fachspitzenverbände mit mindestens 383 Mitgliedsverbänden angehören
Das ungelöste Problem der Verantwortlichkeit
So vorteilhaft dem Staat die Mitarbeit der Verbände erscheinen mag, so ungelöst ist das Problem der Verantwortlichkeit der Verbands-vertreter. Unsere Verfassungsordnung geht von dem Grundsatz der realisierbaren Verantwortlichkeit aller öffentlichen Tätigkeit aus
Ihre persönliche Unabhängigkeit, von der diese Regelungen ausgehen, ist in praxi nicht gewährleistet. Die Verbandsvertreter sind nicht nur durch ihre Mitgliedschaft der Interessenorganisation verpflichtet und deshalb mehr oder weniger von ihr abhängig, sondern vielfach ist gerade ihre fortdauernde Zugehörigkeit zum Verband die Bedingung, daß sie ihr Ehrenamt behalten
Am sinnvollsten ließe sich das Dilemma dadurch lösen, daß die persönliche Unabhängigkeit des Verbandsvertreters effektiv gesichert würde. Aber damit würde er sich in einen unabhängigen Experten verwandeln, der für seinen Verband keinen Einfluß mehr ausübt. Zwar wäre seine Verantwortlichkeit hinreichend gewährleistet, jedoch der besondere staatliche Zweck der Beiräte und Ausschüsse vereitelt, nämlich den Verbandseinfluß zu kanalisieren. Diese Möglichkeit scheidet daher aus.
Dann bleibt lediglich der Ausweg, die Verantwortung für die Tätigkeit des Ausschußmitgliedes den Verbänden aufzubürden. Der Vorschlag würde allerdings voraussetzen, daß die Interessenorganisationen nicht nur für die Handlungsweise ihrer „Vertreter", sondern letztlich auch für ihr eigenes politisches Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Das hieße aber, die freie, vom Staat unabhängige Stellung der Verbände untergraben und die freiheitliche demokratische Ordnung verletzen.
Somit bleibt das Problem der Verantwortlichkeit des Verbandsvertreters ungelöst. Und solange dieser Zustand andauert, ist der Grundsatz realisierbarer Verantwortlichkeit jeder öffentlichen Tätigkeit nicht voll verwirklicht.
Einwirkungen auf die Gesetzgebung
Die dritte Form der Beeinflussung ist der Versuch der Verbände, unmittelbar auf die Vorbereitung der Gesetzentwürfe einzuwirken, indem sie Absprachen mit den höheren Ministerialbeamten, den Ressortministern oder dem Bundeskanzler treffen.
Es ist bekannt, daß die Verbandsfunktionäre als Lobbyisten in den Wandelhallen des Parlaments auf die Abgeordneten einreden, damit sie für oder gegen ein Gesetz stimmen, Abänderungsanträge stellen oder neue Gesetzesanträge einbringen. Dieser Weg der Einflußnahme auf die Gesetzgebung ist nur einer von mehreren — und nicht einmal der bedeutsamste. Aus guten Gründen bevorzugen die Verbände heute den Zugang zu den Ministerialbeamten, zum Ressortminister und sogar zum Bundeskanzler. Denn in der modernen parlamentarischen Demokratie gehen die Gesetzesinitiativen nur noch zu einem geringen Teil vom Parlament aus; in den letzten Jahren waren es in der Bundesrepublik selten mehr als ein Viertel. Die meisten Gesetzesvorlagen werden von der Bundesregierung eingebracht und von der Ministerialbürokratie Vorbereitet. Jeder wirksame Versuch, die Formulierung eines Gesetzes zu beeinflussen, wird in der Regel bei der Regierung und dem federführenden Fachministerium ansetzen müssen. Beide bieten sich auch aus einem weiteren Grund als Adressaten des Verbandseinflusses an: Sie haben die erforderlichen Ausführungs-, Ergänzungs-und Ausnahmeverordnungen zu den einzelnen Gesetzen zu erlassen. Gelingt es einem Verbände nicht, seine Vorstellungen in einem Gesetz durchzusetzen, so muß ihm viel daran gelegen sein, daß wenigstens ein Teil seiner Vorschläge durch eine Verordnung sanktioniert wird.
Es überrascht daher nicht, daß die Verbände den Bundestag und seine Abgeordneten im Blick auf die Vorbereitung der Gesetze als quantite negligeable betrachten. Den besten Beweis liefert die geringe Anzahl der förm-liehen Eingaben, die an das Parlament und seine Mitglieder gerichtet werden: Der Bundesverband der Deutschen Industrie reichte beispielsweise im Jahre 1962 von insgesamt 100 als „wichtig" bezeichneten Eingaben nur 4 beim Bundestag ein, dagegen 96 bei den zuständigen Bundesministerien
Die Einflußnahme der Verbände beginnt bei den Abteilungen des zuständigen Ministeriums, die den sogenannten Referentenentwurf abfassen. Der Zugang zur Ministerialbürokratie ist den Verbänden auch hier durch staatliche Regelung eröffnet. Nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien wird den Spitzenorganisationen in einem förmlichen Anhörungsverfahren Gelegenheit geboten, ihre Ansichten und Vorschläge zu einem geplanten Gesetz vorzutragen
Nach dem förmlichen Anhörungsverfahren steht den Verbänden gleichsam noch eine Be-rufungsinstanz offen: Verbandsabordnungen können von dem zuständigen Ressortminister empfangen werden, um nicht durchgesetzte Forderungen erneut anzumelden
In der Praxis wird von diesen Einwirkungsmöglichkeiten lebhaft Gebrauch gemacht. Die Art, in der die Verbände die Klaviatur dieses Instruments beherrschen, ist bewundernswürdig. Sie wird nur deshalb zum allgemeinen Ärgernis, weil die Interessengruppen ihre Kunstfertigkeit hinter verschlossenen Türen beweisen. Keiner, der an der Vorbereitung der Gesetzesvorlagen oder an der Gesetzgebung von Amts wegen beteiligt ist, übersieht vollständig, inwieweit die Verbände ihren Einfluß ausüben werden oder schon ausgeübt haben: Die Referenten des Ministeriums wissen nicht, ob der fertige Gesetzentwurf durch die Rücksprache einer Verbandsabordnung beim Minister hinfällig wird; der Minister weiß nicht, ob seine vom Kabinett gebilligte Gesetzesvorlage nach einem Gespräch mit dem Bundeskanzler zurückgezogen oder wesentlich verändert wird. Und wenn schließlich ein Entwurf dem Bundestag vorliegt, wissen die Fraktionen und Abgeordneten häufig nicht, an welchen Stellen Verbandsvorschläge eingearbeitet wurden.
Noch mehr verdrießt jedoch eine Spielart der „Kanzlerdemokratie 1', die sich in den letzten Jahren der Kanzlerschaft Adenauers entwickelt hat: Die Verbände versuchen, wichtige Entscheidungen im Stadium der Gesetzesvorbereitung durch unmittelbare Absprachen mit dem Bundeskanzler herbeizuführen, um die zuständigen Minister und Ministerialbeamten vor vollendete Tatsachen zu stellen. Der Bundestagsabgeordnete August Dresbach hat diese Praxis ironisch glossiert
Die Frage der Öffentlichkeit demokratischer Willensbildung
Der heimliche Zugang zur Staatsführung gefährdet den Verfassungsgrundsatz der Öffentlichkeit demokratischer Willensbildung. Nicht nur der Akt der Gesetzgebung, sondern auch die ihm vorausgehenden Vorgänge sind ein wichtiger Teil politischer Willensbildung: das Anhörungsverfahren der Spitzenverbände ebenso wie die Vorsprachen von Verbandsdeputationen bei den Ressortministern oder dem Bundeskanzler. Auch sie müssen öffentlich, das heißt allgemein zugänglich, an die Adresse der Allgemeinheit gerichtet sein, der „nichtorganisierten letzten Instanz in der Demokratie", wie sie der Staatsrechtslehrer Rudolf Smend genannt hat
Im Widerspruch zu diesem Grundsatz spielt sich die Einflußnahme der Verbände im Verborgenen ab; nur wenige Vorgänge dringen an das Licht der Öffentlichkeit. Wie läßt sich dieser Mißstand beseitigen? Es liegt nahe, die 39
Verbände rechtlich zu verpflichten, alle Einwirkungen auf die Gesetzesvorbereitung künftig bekanntzumachen. Jedoch hilft dieser Vorschlag nicht weiter. Er würde zwar dem Offentlichkeitsprinzip genügen, aber gegen einen anderen Verfassungssatz verstoßen. Jede öffentliche Rechenschaftspflicht, deren Beachtung womöglich noch durch staatliche Zwangsbefugnisse gesichert wäre, müßte die verfassungsrechtliche Stellung der Verbände als freie unabhängige Vereinigungen aufheben. Der demokratische Willensbildungsprozeß würde von einer anderen Seite her gefährdet.
Ein überzeugender Ausweg ist bis heute nicht gefunden. Und es wird noch vieler Anstrengungen und Überlegungen bedürfen, ehe die Einflußnahme der Interessengruppen zufriedenstellend in die Verantwortungszusammenhänge der demokratischen Verfassung einbezogen wird. Immerhin gibt es fruchtbare Ansätze, welche die Richtung einer künftigen Lösung vorzeichnen könnten.
Der Hamburger Politologe Wilhelm Hennis hat vorgeschlagen, nicht die Verbände selbst, sondern die Adressaten des Verbandseinflusses einer verstärkten Rechenschaftspflicht zu unterwerfen
Damit wäre in der Tat schon viel gewonnen. Das Parlament würde in der Lage sein, Art und Umfang des Verbandseinflusses zu überprüfen
Auf gleicher Linie liegt der Vorschlag, Ergebnisse und Inhalt ihrer Aussprachen mit einem Minister oder dem Bundeskanzler durch die Pressestellen der Regierung zu veröffentlichen. Zwar könnte sich der Brauch entwickeln, über die Gespräche ebenso inhaltsleer zu berichten wie gelegentlich Schlußkommuniques über das Resultat diplomatischer Konferenzen; aber ein umsichtiger Kanzler oder Minister wird eine so große Heimlichkeit vermeiden, weil sie Mißtrauen im Volk hervorruft. Der Publizist Rüdiger Altmann hat in seinem Buch „Das Erbe Adenauers"
Der Kanzler und die Minister hätten es leichter, wenn die Voraussetzungen für den Empfang von Abordnungen ausführlicher und präziser geregelt würden. Zum einen könnten sie Gesprächen hinter verschlossenen Türen eher ausweichen. Sie würden nicht so oft in Verlegenheit kommen, aus Rücksicht auf ihre Verhandlungspartner Absprachen geheimhalten zu müssen. Zum anderen würde die Einflußnahme der Verbände überschaubarer und berechenbarer. Ministerialbeamte und Ressort-minister, Minister und Bundeskanzler könnten weniger leicht gegeneinander ausgespielt werden. überblickt man die drei Richtungen, in denen heute die Verbände unmittelbar auf die Entscheidungen der leitenden staatlichen Ämter Einfluß zu gewinnen suchen, so läßt sich zusammenfassend sagen, daß die Interessengruppen nirgends die Staatsführung an sich reißen oder es auch nur beabsichtigen. Sie wollen nicht herrschen — im Gegenteil: sie beschränken sich ausdrücklich darauf, ihre Gruppeninteressen auf legalen Wegen bei den staatlichen Institutionen durchzusetzen.
Aber alle drei Wirkweisen bergen Gefahren für den Bestand unserer Verfassungsordnung in sich. Sie abwenden zu helfen, ist auch Aufgabe der Wissenschaft, insbesondere der Disziplin des öffentlichen Rechts und der politischen Wissenschaft. Ihr Beitrag kann freilich nur darin liegen, Wege zu zeigen, wie die Formen des Verbandseinflusses den Grundsätzen unserer Verfassung angepaßt werden können. Davon wird gewiß nicht wenig abhängen.
In erster Linie ist es Sache der politischen Kräfte unseres Gemeinwesens, insbesondere der Inhaber der staatlichen Führungsämter sowie der Parteileitungen, aber auch der Verbands-führungen, diesen Gefahren zu begegnen. Sie werden diese Aufgabe nur lösen können, wenn bei ihnen — wie der Staatsrechtslehrer Konrad Hesse