Typen politischer Herrschaft
In seinen Schriften zur Herrschaftssoziologie hat Max Weber drei reine Typen politischer Herrschaft unterschieden. Sie können als Ausgangspunkt für diese Abhandlung genommen werden. Dabei ist selbstverständlich davon auszugehen, daß es sich bei den „reinen“ Herrschaftstypen um Idealtypen handelt und daß eine jede empirische Herrschaft eine Mischform darstellt.
Es soll im nachfolgenden von der Form sowjetischer Herrschaft die Rede sein, nicht von deren materiellen Inhalt. Es kann darauf verzichtet werden, auf die Politik der Sowjets einzugehen, und es kann auch davon abgesehen werden, die ideologischen Grundlagen des Bolschewismus bzw. Kommunismus bzw. Leninismus zu behandeln. Damit soll die Bedeutung der Ideologie für die Praxis, auch für die Herrschaftsausübung der Sowjetmachthaber, weder geleugnet noch gemindert werden. Die Ideologie und die — bei den einzelnen Herrscherpersönlichkeiten nicht überprüfbare —• Überzeugung von deren Richtigkeit bleibt natürlich die innere Rechtfertigung zunächst für die Eroberung und dann für die Ausübung der Macht durch die Sowjetherrscher, wobei in der Machtausübung der Akzent je nachdem mehr auf Herrschaft (potestas) oder mehr auf Führung (auctoritas) gelegt sein kann.
Bei den erwähnten reinen Herrschaftstypen Max Webers handelt es sich, auf eine ganz kurze Formel gebracht, um folgende: 1. Legale Herrschaft, in der „beliebiges Recht durch formal korrekt gewillkürte Satzung geschaffen und abgeändert werden kann. . . . Gehorcht wird nicht der Person kraft deren Eigen-recht, sondern der gesatzten Regel." 2. Traditionelle Herrschaft „kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen. . . . Gehorcht wird der Person kraft ihres durch Herkommen geheiligten Eigenrechtes". 3. Charismatische Herrschaft „kraft affektuel-ler Hingabe ah eine Person und ihre Gnaden-gaben (Charisma) ... Gehorcht wird der Person um ihrer persönlichen unwerktäglichen Quali-B täten willen". In diesem Fall würden wir von Führung sprechen, die weitgehend auf Zustimmung der Geführten (Gefolgschaft) angewiesen ist
Analysiert man das sowjetische Herrschaftsund Führungssystem nach diesen Gesichtspunkten, so wird man zunächst feststellen können, daß bei einem wesentlich unverändert gebliebenen Herrschaftssystem die Form der Herrschaftsausübung einem wiederholten Wandel ausgesetzt gewesen ist. Aufs Ganze gesehen bietet sich unserem Blick ein mit wechselndem Erfolg geführtes Ringen der nach Herrschaft bzw. Führung strebenden oder sie bereits ausübenden Einzelpersonen mit dem sich auf den Grundsatz der kollektiven Leitung berufenden Gremium von Spitzenfunktionären. In den seit dem bolschewistischen Umsturz vergangenen 48 Jahren haben die weitaus längste Zeit — rund 40 Jahre — Einzelpersonen eine qualitativ und quantitativ verschiedene, in ihrer Ausnahmestellung aber gleiche Einherrschaft ausgeübt. Der bedeutendste und historisch wichtigste von ihnen, Lenin, hat dabei die kürzeste Zeit geherrscht. Lenins Ein-herrschaft währte vom bolschewistischen Umsturz (November 1917) bis zu seinem Tode (Januar 1924). Faktisch regiert hat er aber — wie Cäsar, seit er den Rubikon überschritt — nur vier Jahre. Ende 1921 erkrankte er bereits schwer, im Sommer 1922 wurde er durch einen Schlaganfall gelähmt und im März 1923 verlor er durch einen weiteren Schlaganfall die Sprache. Stalin hat 26 Jahre (1927— 1953) eine Alleinherrschaft ausgeübt und Chruschtschow, allerdings in gemilderter Form, rund acht Jahre (1956— 1964). Gleichwohl wird bei dieser Analyse der Nachdruck auf Lenin als den Schöpfer des Systems zu legen sein, ohne dessen sachliche Vorleistung und ohne dessen persönliches Vorbild die beiden anderen schlechterdings undenkbar wären.
Das Element traditioneller Herrschaft
Bei einer Analyse der Machtausübung Lenins wird das Element traditioneller Herrschaft von vornherein auszuschalten sein. Lenin hat bewußt und in radikalster Weise mit allen Herrschaftstraditionen gebrochen und sie systematisch ausgemerzt, sowohl die alten zarischkaiserlichen wie die jungen konstitutionellen Traditionen Rußlands wie auch die, in Umfang und Bedeutung oft unterschätzten, Selbstverwaltungstraditionen des Semstwos. Um der völligen Austilgung auch der letzten Reste dieser traditionellen Faktoren willen — natürlich auch anderer traditioneller Integrationskräfte wie Kirche und Familienbande — hat Lenin noch nach der Machtübernahme sein Land zunächst als „gründlicher Ruinierer" bewußt in ein Chaos getrieben und die Ausbreitung anarchistischer Zustände gefördert. Nicht nur seine Gegner, auch manche seiner ältesten Revolutionsgenossen, wie z. B. Gorkij, waren darüber erschreckt und entsetzt. Ein ehemaliger Bolschewik, der sich wegen dieses Kurses von Lenin abwandte, Goldenberg, hat damals ausgerufen: „Ein neuer Lenin ist erstanden, Lenin der Anarchist!"
Die gelegentlich vertretene Ansicht, daß die monokratische Herrschaftsausübung Lenins als eine Art Fortsetzung der autokratischen Herrschaft der russischen Zaren und Kaiser anzusehen sei, entspringt einer allzu oberflächlichen Sicht. Zumal das irreführende Schlagwort vom „roten Zaren" verfälscht das sowjetische Herrschaftssystem. Die Monarchie der russischen Zaren und Kaiser entsprach dem Typus der traditionellen Herrschaft. Gehorcht wurde der Person des Monarchen kraft ihrer durch Herkommen geheiligten Eigenrechte. Auch wenn man meint, von der völlig verschiedenen ideologischen Grundlegung der beiden Systeme und damit von deren innerer Rechtfertigung absehen zu können, bleibt das sowjetische Herrschaftssystem sowohl in seiner institutioneilen wie in seiner personellen (an die Parteimitgliedschaft gebundenen) Struktur vom za-risch-kaiserlichen vollständig verschieden.
Unter den Nachfolgern Lenins trat das traditionelle Element wieder stärker hervor, allerdings nicht in Anknüpfung an die zarisch-kaiserliche Autokratie, das heißt nicht als „Glaube an die Heiligkeit der seit jeher vorhandenen Ordnungen", wohl aber in bewußter und betonter Anknüpfung an die mit Lenin begonnene sowjetische Tradition, im Glauben an die Heiligkeit der von Lenin geschaffenen Ordnung, sowohl im Sinne des Herrschaftssystems wie auch im Sinne der eigenen Ausnahmestellung in diesem System.
Die Legalität der Herrschaft
Es ist eine bekannte geschichtliche Tatsache, daß zur Macht gelangte Revolutionäre sich gerne darum bemühen, ihre Herrschaft durch „gesatzte Regel" zu legalisieren. Das trifft auch auf den Revolutionär Lenin zu. Mit dem Tage des Umsturzes setzte neben einer praktischen Machtausübung gleichzeitig auch eine sehr umfangreiche gesetzgeberische Tätigkeit ein, mit dem Ziel, der neu errichteten Herrschaft eine legale Grundlage zu geben.
Die Gesetzgebung der ersten Monate nach der Machtübernahme ist sehr aufschlußreich für unsere Fragestellung. In bezug auf das Herrschaftssystem im Staate wurde der vorläufige Schlußstein durch die Verfassung vom 10. Juli 1918 gelegt, die sich zunächst nur auf Sowjetrußland bezog (RSFSR). In dieser Verfassung (und später auch in der ersten Unionsverfassung von 1923) wurden aber nicht die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse, nämlich die Monokratie Lenins, legalisiert. Beide Verfassungen waren im Gegenteil darauf angelegt, eine Monokratie zu verhindern, und zwar eine jede Monokratie, nicht etwa nur eine Monarchie in der traditionellen Form.
Das durch Revolution begründete, durch gesatzte Regel legalisierte Sowjetsystem war und ist bis heute durchsetzt von Sicherungen gegenüber einer zu großen Machtkonzentration in den Händen einer Person oder auch nur einer staatlichen Institution, wie z. B.der Regierung (Rat der Volkskommissare, seit 1946 Ministerrat). Das gilt auch für die heute noch geltende sogenannte Stalinverfassung aus dem Jahre 1936, obgleich in anderen wichtigen Punkten Änderungen eingetreten sind.
Lenin hat im neu errichteten Staat bekanntlich das Amt des Regierungschefs (Vorsitzender des Rates der Volkskommissare) bekleidet, das aber in seiner Rechtsstellung mit dem eines westlichen Regierungschef nicht vergleichbar ist. Das von Lenin bekleidete Staatsamt war in der Verfassung von 1918 überhaupt nicht vorgesehen — es taucht erst in der Unionsverfassung von 1923 auf — und war infolgedessen auch nicht mit irgendwelchen Rechts-oder Machtbefugnissen ausgestattet
Die gesatzte Regel wurde aber in diesem Punkte geändert. Seit den dreißiger Jahren, das heißt also unter Stalin, wurde die Version aufrechterhalten, daß es in der Sowjetunion keine Klassen mehr gibt. In der Stalinverfassung ist auch keine Rede mehr von einem Übergangszustand. In dem nunmehr als endgültig angenommenen Zustand gehörte die Herrschaft „den Werktätigen in Stadt und Land", wobei unter den Begriff Werktätige auch die sogenannte sowjetische Intelligenz fiel. Somit war die Einherrschaft Stalins im Staate institutionell ebensowenig legalisiert wie die Lenins. Sie war es zunächst insofern noch weniger, als Stalin in den ersten 14 Jahren seiner Alleinherrschaft (1927— 1941) überhaupt kein Staatsamt bekleidete, obwohl in seiner Verfassung das Amt eines Regierungschefs vorgesehen war (Art. 70). Gleichwohl entbehrte die Sonderstellung Stalins nicht jeder Legalität: sie war nicht auf Staatsebene, sondern auf Parteiebene, durch das Parteiamt, das er bekleidete, jedenfalls bis zu einem gewissen Grade, legalisiert, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Während des Krieges (am 5. Mai 1941) hat Stalin sich aus politisch-taktischen Gründen veranlaßt gesehen, auch ein Staatsamt — wie Lenin das des Regierungschefs — zu übernehmen und damit zwar nicht seine Einherrschaft, wohl aber seine politischen Funktionen im Staat zu legalisieren. Er hatte das nötig, um seinen Bündnispartnern (zunächst noch Deutschland, vorwiegend aber den Alliierten) als legaler Exponent des Staates und nicht nur als legaler Parteifunktionär gegenübertreten zu können. Für seine vorher wie nachher gleichermaßen monokratisch ausgeübte Herrschaft war das völlig ohne Belang. Auch Stalins Einherrschaft lag auf einer anderen Ebene als auf der einer formalen Ämterverbindung, desgleichen, mit einigen Einschränkungen, die Herrschaft Chruschtschows.
Die Legitimität der Herrschaft
Eine jede Herrschaft ist daran interessiert, um ihrer Stabilität willen durch Legitimitätsgründe innerlich gefestigt zu werden. Legitimität im Sinne einer legitimen Nachfolge fiel bei Lenin als einem durch Revolution zur Macht Gelangten natürlich fort. Seine Herrschaft mußte anders legitimiert sein.
Logischerweise müßte zur Teilhaberschaft an der Diktatur einer Klasse in erster Linie jener legitimiert sein, der durch Herkunft zu dieser Klasse gehört. Das entsprach der Ansicht und, soweit es durchführbar war, auch der Praxis in der Sowjetunion. Lenin hatte auch diese Legitimation bekanntlich nicht. Auch Trotzkij und viele andere Bolschewisten aus der soge-nannten alten Garde hatten sie nicht. Ihre Herkunft, zumal dann, wenn sie nicht proleta-risch und nicht russisch (vor allem jüdisch) war, wurde in der Regel, allerdings nicht immer (im Falle des Aristokraten Tschitscherin z. B. nicht), durch selbstgewählte falsche Namen verschleiert, ohne Zweifel nicht nur mit dem Blick auf die Polizei, die meistens sehr bald im Bilde war, sondern mit Rücksicht auf die Massen. Das gilt bekanntlich auch für Lenin. Und es ist sehr bezeichnend, daß bis auf den heutigen Tag in der sowjetischen Literatur, zumal wenn sie sich an breite Kreise der Bevölkerung wendet, die Herkunft Lenins nach Möglichkeit im dunkeln gelassen wird. So wird in der Regel, z. B. in der großen Sowjetenzyklopädie, verschwiegen, daß Lenins Vater Ilja Uljanow dank seinem hohen Rang in kaiserlichen Diensten und folglich auch dessen Sohn erblicher Edelmann war. Völlig im dunkeln gelassen wird Lenins deutsche Herkunft über seine Mutter Maria Blank, die eindeutig in ein echt bourgeoises Milieu zuerst nach Peters-burg und weiter nach Lübeck führt
Fehlten Lenin somit die Legitimitätsgründe durch Nachfolge und Herkunft, so war er andererseits überzeugend legitimiert durch seine freiwillig und glaubwürdig vollzogene, von den Massen mit Recht als aufrichtig empfundene Einordnung in das Proletariat, keineswegs nur in seinem äußeren Habitus, und natürlich durch seine politische Betätigung und seine Stellung in der Partei. Vorwegnehmend kann gesagt werden: Lenins Herrschaft im Staat war legitimiert durch seine Führerschaft in der Partei.
Ähnlich lagen auch die Dinge bei Stalin und Chruschtschow. Allerdings sind im einzelnen hier Unterschiede unverkennbar. Da Stalin und Chruschtschow nicht über eine Revolution zur Herrschaft gelangt waren, sondern im Rahmen des bereits bestehenden Herrschaftssy-
Sterns eine Nachfolge antraten, war bei ihnen die Möglichkeit einer legitimen Nachfolge gegeben. Eine legale Nachfolge als Einherrscher entfiel, da die Einherrschaft institutionell nicht legalisiert war. So hätte die Nachfolge nur durch Designation legitimiert werden können. Bekanntlich war das nicht der Fall. Kein einziger Sowjetherrscher ist durch Designation zu seiner Machtstellung gelangt, obwohl wiederholt eine Nachfolgeernennung in Erwägung gezogen bzw. geplant worden ist. Noch im Jahre 1959 hat Chruschtschow erklärt, er würde den Fehler seiner Vorgänger nicht wiederholen und seinerseits einen Nachfolger de-signieren. Dazu ist er aber nicht mehr gekommen. Auch Stalin hat keinen Nachfolger ernannt. Lenin hat ein sogenanntes Testament hinterlassen, das weiter unten noch behandelt wird.
Durch ihre Herkunft waren sowohl Stalin und Chruschtschow wie auch Breschnew und Kossygin für eine Machtstellung in einem proletarischen Staat besser legitimiert als Lenin. Stalin und Kossygin stammen aus Arbeiterfamilien (Stalins Vater, zunächst ein selbständiger, jedenfalls untüchtiger Handwerker, war zum Fabrikarbeiter geworden). Chruschtschow und Breschnew entstammen der bäuerlichen Sphäre. Für sie war das aber belanglos. Je länger der Sowjetstaat bestand, eine um so geringere Rolle spielte die soziale Herkunft des einzelnen. Breschnew und Kossygin gehören ihrer Laufbahn nach zur sogenannten technischen Intelligenz. Im Einklang mit der These, daß es in der Sowjetunion keine Klassen mehr gibt, ist in der Stalinverfassung die Gleichberechtigung der Staatsbürger garantiert (Art. 123). Die Zuerkennung des Wahlrechtes, auch des passiven, und damit des Rechtes, auch führende Positionen einzunehmen, wird ausdrücklich für unabhängig von der sozialen Herkunft erklärt (Art. 133). Die Legitimation für ihre Herrschaft lag auch bei Stalin und Chruschtschow in ihrer Stellung in der Partei.
Partei und Staat
Die bolschewistische Partei ist eine sehr persönliche Schöpfung Lenins. Zunächst als eine Fraktion, und zwar entgegen ihrem Namen als eine Minderheitsgruppe, innerhalb der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei entstanden (1903), trat sie seit 1912 als selbständige Partei auf. Ihre Umbenennung in Kommunistische Partei erfolgte erst nach dem Umsturz (im März 1918).
Diese Partei gilt zu Recht als eine Partei besonderen Typus. Diesen besonderen Charak6 ter — als Kaderpartei mit Berufsrevolutionären an der Spitze — hat Lenin ihr gegeben, weil er sie zunächst als Kampforganisation gegen das kaiserliche Regime brauchte und meinte, dank dieser Organisationsform den Polizeimaßnahmen besser begegnen zu können. In seiner vielzitierten Schrift „Was tun?" (1902) hat er das eingehend begründet. Schon damals hatte ein so scharfer Beobachter wie Trotzkij erkannt, daß bei einer konsequenten Verwirklichung dieses Systems das Ergebnis nicht eine Diktatur des Proletariats, sondern eine Diktatur über das Proletariat sein werde. Gleichwohl waren viele alte Kampfgenossen Lenins überrascht, daß dieser nach der Eroberung der Macht die für den Kampf um die Macht bestimmte Struktur der Partei nicht nur beibehielt, sondern sie auch auf das neu errichtete Sowjetsystem und den Herrschaftsapparat des Staates übertrug.
Das geschah bekanntlich durch eine weitgehende Verschmelzung von Partei und Staat u. a. auf dem Wege der Personalunion in den Ämtern. Der „Kommandobestand" der Partei deckte sich so gut wie vollständig mit dem im Staate. Zur Durchdringung des Staatsapparates mit der Parteiorganisation einmal entschlossen, hat Lenin diese Verschmelzung — gegen starke innerparteiliche Widerstände, zumal von Gewerkschaftsseite — systematisch durchgeführt. Dabei entstand nicht etwa ein Gleichgewicht zwischen Partei and Staat, sondern eindeutig ein Übergewicht der Partei über den Staat. Dies ist eines der bis heute unverändert gebliebenen Kernstücke des sowjetischen Herrschaftssystems.
Der später von Hitler für seinen Staat formulierte Grundsatz „die Partei diktiert dem Staat" ist nach Kenntnis des Verfassers von keinem Sowjetführer so ausgesprochen, aber von allen so verwirklicht worden. Auf dem VIII. Parteikongreß (1919) wurde ausdrücklich festgelegt: „Die Partei erstrebt die vollständige Herrschaft (polnogo gospodstwa) über die derzeitigen staatlichen Organisationen. . . Die Partei soll ihre Beschlüsse über die Sowjets im Rahmen der Staatsverfassung zur Durchführung bringen."
So bestand nach der Staatsverfassung von 1918 der Staat noch getrennt von der Partei. In dieser Verfassung war die Partei mit keinem Wort erwähnt. In der Parteiverfassung aber, dem Parteistatut, war der Staat keineswegs von der Partei getrennt. Das Parteistatut verpflichtete die Parteiglieder, alle staatlichen Institutionen zu durchsetzen, sie auf diese Weise in die Parteidisziplin einzubeziehen und den Willen der Partei über die sogenannten „Transmissionsriemen" auf alle Bevölkerungsteile zu übertragen, nicht nur in den Spitzen-behörden, sondern auf allen Stufen und in allen Bereichen. Der Staat hatte der Partei zu gehorchen.
Infolgedessen gab bei den Machtkämpfen der Spitzenfunktionäre in der Sowjetunion auch immer die Stellung des einzelnen in der Partei den Ausschlag und nie seine Stellung im Staate. Allerdings hat es in der Gewichtsverteilung von Partei und Staat auch Schwankungen gegeben. Zumal der Umstand, daß Stalin seine Terrorherrschaft über die Partei und innerhalb der Partei mit einem außerhalb der Partei stehenden Machtwerkzeug, der Staatspolizei, vollzog und sich dabei auf zwei weitere außer-parteiliche — allerdings von ihm „gesäuberte" — Machtfaktoren, die Wehrmacht und die Wirtschaftsfunktionäre, stützte, hat die faktische Machtstellung der Partei vorübergehend gemindert. Nach Stalins Tod (1953), vor allem nach der sogenannten Entstalinisierung in zwei Etappen (1956 und 1962), hat Chruschtschow die Stellung der Partei wieder systematisch gestärkt, so daß man von einem Par-teiabsolutismus gesprochen hat, der heute noch besteht
Führung in der Partei
Für die Regelung der Führung in der Partei ist nicht das Parteiprogramm maßgebend, sondern die bereits erwähnte Parteiverfassung, das Parteistatut (partustäw). Während die Staatsverfassung, die „StalinVerfassung" von 1936, die allerdings wiederholt ergänzt und verändert wurde, als solche doch bis heute in Kraft geblieben ist, wurde die Parteisatzung nach dem Umsturz noch siebenmal (1919, 1922, 1925, 1934, 1939, 1952 und 1961) völlig neu gefaßt. Trotz mancher zum Teil recht schwerwiegender Änderungen ist aber die in unserem Zusammenhang interessierende Frage der Regelung der Parteiführung unverändert geblieben.
Nach der Parteisatzung gab es von Anfang an und gibt es bis heute keinen Parteiführer und keinen Parteivorsitzenden. Bis 1922 gab es auch keinen Generalsekretär (bzw. Ersten Sekretär) der Partei — das Amt, über das Stalin bekanntlich seine Herrschaft errichtet und stabilisiert hat. Lenin hat dieses Amt nie bekleidet. Nach dem Parteistatut stand das vom Parteikongreß gewählte und ihm verantwortliche Zentralkomitee (ZK) als „Leiter der gesamten Parteiarbeit" an der Spitze der Partei, dem Lenin als ein mit den anderen gleichberechtigtes Glied angehörte. Das fand seinen äußeren Niederschlag auch in den Sitzungen des ZK und der Parteikongresse, bei denen der Vorsitz wechselte. Zunächst war die Parteiführung eine „freie Gemeinschaft unabhängiger, kritisch denkender, mutiger Revolutionäre"
Das ZK leitete die Partei nach dem von Lenin aufgestellten und heute noch geltenden, im Parteistatut verankerten Grundsatz des „demokratischen Zentralismus". Das heißt, alle Parteigremien einschließlich des ZK wurden nach dem Prinzip der „innerparteilichen Demokratie" von unten nach oben gewählt. Sie waren aber gleichzeitig von oben nach unten zu unbedingtem Gehorsam, das heißt zur verbindlichen Ausführung der Beschlüsse (treffender der Befehle) des ZK verpflichtet. „Die Methode der Parteiarbeit neigt zum System militärischer Befehle", wurde bereits auf dem X. Parteitag (1921) erklärt.
Zu Lebzeiten Lenins wurde über die auf der Tagesordnung stehenden Fragen im ZK und auf dem Parteikongreß debattiert, über sie abgestimmt und entsprechende Resolutionen gefaßt. Lenin ist wiederholt überstimmt worden, so z. B. beim erbitterten Streit um den Brest-Litowsker Vertrag, als es fast zu einer Parteispaltung gekommen wäre. Nur weil es Lenin gelang, die einfachen Funktionäre, die auf dem Parteikongreß in der Mehrheit waren, „in pausenloser Bearbeitung für sich zu gewinnen", wurde der Ratifizierungsbeschluß schließlich angenommen
Auch in der III. Internationale (Komintern), also beim Weltkommunismus, lag nach der gesalzten Regel die legale Macht nicht in den Händen Lenins. Im Unterschied zur Partei hatte die Komintern wohl einen Vorsitzenden, aber Lenin hat auch dieses Amt nie bekleidet. Zu seinen Lebzeiten und noch Jahre darüber hinaus war Sinowjew Vorsitzender der Komintern (1919— 1927). Nachher war es zwei Jahre lang Bucharin. Gleichwohl ist Lenin ohne jeden Zweifel der unumstrittene Führer seiner Partei wie auch des Weltkommunismus gewesen. Selbst hat er sich aber nicht als Führer (woshdj) bezeichnet. Seine Parteigenossen haben ihn auch nicht so genannt. Erst nachdem Stalin sich diesen Titel zugelegt hatte, wurde auch Lenin rückblickend, vorwiegend in der Stalinzeit, aber auch noch unter Chruschtschow, als Führer der Partei bezeichnet. Für Lenin war die Partei „der Führer". Er selbst wurde zu seinen Lebzeiten schlicht Towarischtsch Lenin genannt, wobei darauf hinzuweisen ist, daß das russische Wort Towarischtsch einen wärmeren Ton hat als das deutsche Wort Genosse; korrekt übersetzt heißt Towarischtsch Kamerad. Im privaten Verkehr — und weitgehend im Volksmund — wurde Lenin vertraulich nur nach seinem Vatersnamen Iljitsch genannt.
Lenins charismatische Führung
Die Ausnahmestellung Lenins im ZK, in der Partei und im Staate war charismatisch bestimmt. Sie beruhte auf auctoritas, auf seinem von keinem anderen Sowjetführer je in diesem Ausmaße erreichten Prestige. Hier lag Führung vor, „kraft affektueller Hingabe an die Person und ihre Gnadengaben". Wenn Max Weber in seiner Staatssoziologie an einer Stelle sagt, „die charismatische Autorität ist in ihrer ganz reinen Form durchaus autoritären, herrschaftlichen Charakters"
Es gehört nicht in den Rahmen dieses Aufsatzes zu prüfen, welchen Gnadengaben im besonderen Lenin seine auctoritas zu verdanken hat. „Keiner, der Lenin folgte, konnte seinem persönlichen Magnetentum widerstehen" (Daniels). Ein alter Revolutionsgenosse, aber erbitterter parteipolitischen Gegner von ihm, der Führer der Sozialrevolutionäre Tschernow, hat einmal gesagt: „Lenin konnte gar nicht anders, als den anderen seinen Willen aufzwingen, so wie die Sonne die Planeten zwingt, um sie zu kreisen“.
Lenin selbst hat sich durchaus nicht darauf verlassen, daß sein Führertum gleichsam auf einem Naturgesetz beruhte. Sowohl innerhalb der Partei wie auch gegenüber der Masse der Staatsbevölkerung hat er sich fortgesetzt bemüht, die Bewährung seiner charismatischen Führung neu zu erweisen und sie damit wirksam zu erhalten. Das ist ihm bis zu seinem Tode in vollem Maße gelungen und ermöglichte es ihm, seine Führerstellung innerhalb der Partei zu erhalten, ohne gegenüber Partei-genossen zu Gewalt-oder Terrormaßnahmen zu greifen. Lenins Autorität war schließlich so gefestigt, daß sie nach seiner Erkrankung der erneuten Erweise nicht bedurfte und im Kern, allerdings mit geminderter Kraft, erhalten blieb, auch als er gelähmt und schließlich ein menschliches Wrack ohne Sprache war.
Beim Aufbau seiner Partei hat sich Lenin von dem — auch vor ihm bei der russischen Intelligenzia (z. B. Tkatschow) feststellbaren — Glauben an die Kraft und Wirksamkeit einer Elite leiten lassen. Es ist dieses ein recht wesentliches Element seines charismatischen Füh-rertums. Sich stets auf eine „zielsichere Minderheit" von Aktivisten stützend und nie auf eine Mehrheit von Mitläufern vertrauend, hat Lenin seine Partei zu einer Eliteorganisation der Arbeiterklasse machen wollen und auch innerhalb der Partei den Elitegedanken realisiert. Die Struktur der Partei entsprach trotz des Grundsatzes der innerparteilichen Demokratie in Wirklichkeit nicht dem demokratischen, sondern — man möchte sagen — dem aristokratischen Prinzip, wenn man unter aristokratischem Prinzip ein solches versteht, nach dem die Herrschaft bei einer homogenen, in sich geschlossenen Minderheit (der Elite) liegt, deren Angehörige sich selbstverständlich für die Besten — und vielleicht auch für die Schönsten — halten.
Zum Funktionieren einer solchen Herrschaft ist ein auf gegenseitiges Vertrauen gegründetes Solidaritätsbewußtsein und eine praktisch geübte Solidarität innerhalb der Elite von entscheidender Bedeutung. Bei einem so strukturierten System wird die Bereitschaft, einer Autorität zu folgen, größer sein als das Einverständnis, sich einer Macht zu fügen. Lenin hat nicht nur selbst ein lebendiges Solidaritätsbewußtsein gehabt, sondern es auch bei den anderen Angehörigen seiner Partei-elite erwartet und verlangt. Als im allerkritischsten Augenblick, unmittelbar vor dem Umsturz, zahlreiche führende Glieder des ZK (Sinowjew, Kamenew, Rykow, Nogin, Krassin u. a.) sich gegen ihn stellten und Sinowjew und Kamenew sogar öffentlich (in der Presse) in Opposition zu ihm traten und damit das Gelingen des Umsturzes aufs höchste gefährdeten, hat Lenin nicht etwa Zwangsmaßnahmen gegen sie getroffen, wozu er fraglos imstande gewesen wäre, sondern sich darauf beschränkt, sie verächtlich zu machen. Er bezeichnete sie mit dem deutschen Wort „Streikbrecher". Der Streikbrecher ist doch der ver-ächtliche Mann, der die Solidarität der im Arbeitskampf Stehenden durchbricht. Nachdem die Renitenten sich wieder der Autorität des charismatischen Führers gebeugt hatten und ihm wieder Gefolgschaft leisteten, hat Lenin keine Konsequenzen daraus gezogen, sondern die „Streikbrecher" in ihren Ämtern belassen bzw. in neue eingesetzt und ihnen erneut Beweise seines Vertrauens gegeben. In einem anderen Fall, als anläßlich des innerparteilichen Konflikts wegen des Brest-Litowsker Vertrages mehrere Mitglieder des ZK aus Protest gegen ihn zurückgetreten waren, hat Lenin sie gegen ihren Willen wieder ins ZK hineinwählen lassen, um den Bestand der Parteielite zu erhalten.
Stalins pseudolegale Herrschaft
Stalins faktische Macht in der Partei und im Staate war nicht geringer als die Lenins. Die Machtausübung beider war aber wesentlich verschieden. Stalin verkörperte einen anderen Herrschaftstypus als Lenin. Die von ihm angewandten Terrormethoden sind nur ein Symptom unter anderen dafür.
Das Leninsche Charisma fehlte Stalin; er war sich ohne Zweifel dessen bewußt. So sah er sich, um sich an der Macht zu halten, veranlaßt, an die Stelle von auctoritas potestas zu setzen. Stalins Machtausübung war nicht eine Führung im hier gebrauchten Verstände des Wortes. Bei ihm lag Herrschaft vor, eine echte Diktatur. Sie war bei Stalin nicht auf Vertrauen, sondern auf Mißtrauen gegründet, auf ein am Ende seines Lebens zum Verfolgungswahn gesteigertes Mißtrauen gegen alle in der Partei und im Staat und gegen jeden einzelnen in seiner unmittelbaren Umgebung. Von einem Solidaritätsbewußtsein innerhalb der Partei-spitze unter Einschluß seiner selbst war bei Stalin auch nicht ein Hauch mehr zu spüren. Er hat die „aristokratische" Struktur der Partei beseitigt, die Parteielite bürokratisiert und sie bekanntlich in einem seiner alleinigen Befehlsgewalt unterworfenen Apparat umgewandelt. Stalin erwartete nicht Gefolgschaft kraft auctoritas, sondern verlangte Gehorsam kraft potestas. Daß ihm oft nur aus Angst um das eigene Leben gehorcht wurde, haben seine Mitarbeiter, denen es zu überleben gelang, gerne als Entschuldigung für sich in Anspruch genommen. Darauf hat Chruschtschow in seiner berühmten Geheimrede auf dem XX. Par10 teitag (1956) mit Betonung verwiesen. Beruhte Lenins Führerschaft, um mit Max Weber zu sprechen, auf seinen „unwerktäglichen Qualitäten", so mutet die Herrschaft Stalins durchaus werktäglich an.
Abgesehen und unabhängig von seinen Terrormaßnahmen hat Stalin sich bemüht, seine Herrschaft auch institutionell zu sichern und im Rahmen der Partei zu legalisieren. Noch Lenin hat ihn zum Generalsekretär der Partei ernannt (1922). Mit diesem Amt waren wichtige Verwaltungsfunktionen — zunächst nur die technische Ausführung der Politbürobeschlüsse — verknüpft, aber keineswegs eine Führerschaft in der Partei und auch keine Anwartschaft darauf. Zu den Aufgaben des Generalsekretärs gehörte auch nicht die Rechenschaftsberichterstattung auf dem Parteikongreß. Solange es seine Gesundheit erlaubte, hat Lenin immer selbst diesen Bericht erstattet. Später ist die Betrauung mit dieser Aufgabe als Kriterium dafür gewertet worden, wer faktisch der einflußreichste und damit mächtigste Mann in der Partei ist. Lenin hat aber, als er erkrankt war, nicht den Genralsekretär Stalin mit der Berichterstattung beauftragt, sondern Sinowjew, den „Streikbrecher"
Später ist Stalin über das Amt des General-sekretärs der Partei zur Alleinherrschaft gelangt und hat dieses Amt so eindeutig zu dem eines faktischen Parteichefs umgewandelt, daß es in der außerkommunistischen Welt üblich wurde und heute noch üblich ist, den General-Sekretär (seit Stalins Tod Erster Sekretär) kurzerhand als Parteichef zu bezeichnen. Selbstverständlich hat Stalin, nachdem er zur Macht gelangt war, den Rechenschaftsbericht des ZK auf dem Parteikongreß — wie Lenin vor ihm — immer selbst erstattet.
So schien Stalins Herrschaft durch sein Parteiamt legalisiert. Eine legale Herrschaft setzt aber voraus, daß die Kompetenzen des Herrschers auf gesetzter Regel beruhen. Im sowjetischen Herrschaftssystem war und ist das nicht der Fall. In der Parteisatzung waren damals und sind bis heute die Kompetenzen des als Parteichef erscheinenden Generalsekretärs (Ersten Sekretärs) überhaupt nicht fixiert. Stalins Herrschaft war nicht legalisiert; sie kann als pseudolegal bezeichnet werden.
Bekanntlich hat Stalin sich (seit 1933/34) öffentlich und amtlich Führer nennen lassen. Er hat sich auch selbst so genannt; nicht Parteiführer und nicht Staatsführer, sondern „Führer" (woshdj) schlechthin. Wie erwähnt, entsprach das nicht seiner faktischen Stellung als Herrscher, auch nicht im Sinne eines plebiszitären Führertums. Die zuerst zur Gewohnheit, dann zur Regel und schließlich zur Lebensnotwendigkeit gewordene pausenlose öffentliche Lobpreisung Stalins trug keinen plebiszitären Charakter. Sie war nur ein übriger Ausdruck seiner faktischen Macht. Er selbst hat seine beherrschende Stellung — zumal innerhalb der Partei — im Unterschied zu Lenin sehr betont erkennbar werden lassen.
In den höchsten Parteigremien hat Stalin stets den Vorsitz selbst geführt. Unter seiner Leitung wurde im ZK und auf dem Parteikongreß (seit 1934) nicht diskutiert, ja es wurde abgelehnt, zu seinem Rechenschaftsbericht auch nur Fragen zu stellen. Resolutionen zu fassen, erübrigte sich, weil „alle Forderungen und Schlußfolgerungen des Genossen Stalin als Parteigesetz angenommen" wurden
Ging es Lenin darum, bei Meinungsverschiedenheiten in der Partei den Gegner zu überzeugen und zu gewinnen, so dachte Stalin in solchen Fällen nur daran, seine Gegner auszuschalten. Wer nicht gehorchte, wer widersprach oder — wie es sehr bezeichnend hieß, auch nur abwich — wurde bekanntlich zumindest politisch, in der Regel auch physisch liquidiert
Bei alledem darf allerdings nicht übersehen werden, daß eine Verlagerung des Schwergewichts von Führung auf Herrschaft schon unter Lenin eingesetzt hatte. Lenin selbst hatte die Ansätze dazu gelegt durch die Flexibilität des Herrschaftssystems, das eine solche Entwicklung nicht hinderte, sondern eher begünstigte. Seit der Erkrankung Lenins, also in den letzten zwei Jahren seines Lebens, nahm seine Führung in wachsendem Maße herrschaftlichen Charakter an. Beim Grundsatz des demokratischen Zentralismus verlagerte sich der Akzent auf die zweite Komponente, ohne daß das System an sich dadurch eine Änderung erfuhr. Parteidisziplin und Gehorsam wurden immer stärker betont, so daß die Verfechter der innerparteilichen Demokratie bereits im Jahre 1923 auf die Jahre 1917 und 1918 „wie auf das goldene Zeitalter zurückblickten" (Daniels). Die Wahlen in der Partei wurden zur leeren Form, weil die Disziplin es verlangte, daß die gewünschten Personen gewählt werden. Seit 1922 wurde es üblich, die örtlichen Parteifunktionäre de facto zu ernennen. Auf dem X. Parteitag (1921), an dem Lenin noch teilnahm, wurde jede Fraktionsbildung innerhalb der Partei, also jede Opposition, verboten und in einem Geheimerlaß das ZK zur Verhängung strengster Strafen ermächtigt
Chruschtschows pseudocharismatische Führung
Chruschtschow hat sich bekanntlich in seiner Herrschaftsausübung schroff von Stalin abgewandt und sehr betont auf Lenin berufen. Das wirkte sich auch auf seine Stellung als faktischer Machthaber aus. Zur Alleinherrschaft gelangt, war er unverkennbar bestrebt, nach dem Beispiel Lenins Gefolgschaft zu gewinnen und seine Herrschaft als Führung primär auf auctoritas zu gründen. Gewisse Erfolge hat er zweifellos dabei erzielt, offenbar mehr bei den Massen als bei den Parteifunktionären, wie sein Sturz lehrte.
Sein Führertum blieb aber pseudocharismatisch. Seine Autorität reichte für eine echte charismatische Führung nicht aus. Die Gnaden-gaben seines Vorbildes waren ihm nicht gegeben, und sie ließen sich auch nicht durch einen betont zur Schau getragenen — ganz unleninistischen — persönlichen Stil ersetzen. Chruschtschows biedermännische Jovialität, „sein Wortgeklingel und seine Prahlerei" (so lautet wörtlich der später öffentlich erhobene Vorwurf), seine oft täppische Effekthascherei und nicht zuletzt seine, wie sich nachträglich herausstellte, bereits damals im Kreml als peinlich und „mit der Würde eines sozialistischen Führers unvereinbar" empfundenen Eskapaden auf internationalem Parkett (der Schuh auf der UN-Vollversammlung) waren kein Ersatz für das fehlende Charisma.
Verständlicherweise war er bestrebt, seine Ausnahmestellung zusätzlich mit anderen Mitteln zu sichern, wobei er sich allerdings, trotz theoretischer und weitgehend auch praktischer Ablehnung der Gewaltmaßnahmen Stalins, gleichwohl unverkennbar stalinistischer Methoden bediente. Chruschtschow hat die Partei-spitze nicht etwa im Sinne Lenins wieder zu einer durch Solidarität innerlich gefestigten Gefolgschaft, zur Parteielite umgeformt und sich offenbar auch nicht darum bemüht, sondern er hat im Sinne Stalins, als dessen langjähriger, wahrscheinlich treuer, jedenfalls enger Mitarbeiter und gelehriger Schüler, den Parteiapparat als das übernommen und weiter ausgebaut, wozu sein Vorgänger ihn gemacht hatte. Chruschtschow ging allerdings noch weiter. Er führte eine Parteireform durch (1962) mit dem Ziel, an die Stelle der alten, „blind der jeweiligen Parteilinie folgenden Partei-mandarine" (Meissner) junge, politisch wendige, fortschrittliche Elemente in die Parteiführung aufsteigen zu lassen, auf die er sich hätte stützen können. Er hat dieses Ziel nur bedingt erreicht. Einerseits war es ihm, jedenfalls vorübergehend, gelungen, das ZK zu einer „großen SchauVeranstaltung" (Grottian) und das Präsidium zu einem Beratungsgremium herabzuwürdigen. Er blieb aber auf diese Beratung, das heißt auf die Zustimmung des Präsidiums angewiesen, die er, zumal in der letzten Zeit seiner Herrschaft, keineswegs immer erhielt. Er besaß weder genügend potestas, um sich wie Stalin über die Parteigremien hinwegsetzen zu können, noch genügend auctoritas, um in diesen Gremien wie Lenin die unbestrittene Führung zu behalten.
Ein anderes Mittel, seine Herrschaft zu sichern, war die Übernahme zahlreicher, auch staatlicher Ämter. In der Vereinigung seiner Stellung als faktischer Parteichef mit dem Amt eines Regierungschefs war er viel eiliger als Stalin. Gleich nach der geglückten Ausbootung Bulganins (1958) übernahm er dieses Amt. Chruschtschow hat auch eine neue Staatsverfassung, ohne Zweifel zur Festigung seiner eigenen Stellung, geplant und zu diesem Zweck 1962 eine Kommission mit der Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragt. Zur Realisierung dieses Planes unter seiner Leitung kam er nicht mehr. Auch hat die Bekleidung bestimmter Staatsämter sich im sowjetischen Herrschaftssystem nie als ausschlaggebend erwiesen.
Nach außen hat Chruschtschow seine Herrschaftsposition charismatischer erscheinen lassen, als sie wirklich war. In Worten hat er bekanntlich gegen den (auf Stalin bezogenen) Personenkult heftig gewettert und hat die Verherrlichung des Monokraten verdammt. Im Parteistatut von 1961 wird der Führerkult für „in der Partei nicht duldbar und unvereinbar mit dem Leninschen Prinzip des Parteilebens'erklärt (Art. 28). Gleichzeitig hat er aber sich selbst seit 1958 mit unverkennbarem Genuß und mit dem Anspruch, so populär zu erscheinen, wie Lenin es einst war, zum Gegenstand eines — im Vergleich zu Stalin allerdings temperierten — Personenkults machen lassen. Unmittelbar nach seinem Sturz, noch im Oktober 1964, rügte ihn die Zeitschrift des ZK, allerdings ohne seinen Namen zu nennen: „Man darf nicht zulassen, daß selbst ein Mensch mit großer Autorität.. . sich einbildet, daß er alles weiß und alles kann und daß er das Wissen und die Erfahrung seiner Genossen nicht benötige." Chruschtschows überraschend schnell, leicht und geräuschlos vollzogener Sturz ist ein Zeichen für die Lebenskraft des von Lenin als integrierender Bestandteil des sowjetischen Herrschaftssystems postulierten Prinzips der kollektiven Leitung, das auch die Perioden verschieden graduierter Einherrschaft zu überdauern vermochte.
Legale Herrschaft des Führerkollektivs
Die sowjetischen Autoren legen dem Grundsatz der kollektiven Leitung als der „größten politischen Errungenschaft der Partei" (Pra-wda) sehr große Bedeutung bei. Sie sind in diesem Punkt äußerst empfindlich, weil sie in der Wahrung dieses Grundsatzes einen wesentlichen Unterschied zwischen ihrem und dem — auf dem Grundsatz des Führerprinzips beruhenden — „faschistischen Herrschaftssystem" sehen
Der russische Ausdruck für dieses Prinzip — kollektiwnoje rukowodstwo — wird in der Regel mit „kollektive Führung" übersetzt. Der Übersetzung „kollektive Leitung" ist der Vorzug zu geben. Gewiß beinhaltet diese Formulierung einen Anspruch des Kollektivs auf Führung (auctoritas) und auch auf Herrschaft (potestas). Andererseits hat aber die Erfahrung gelehrt, daß der Grundsatz der kollektiven Leitung mit einer individuellen Führung und auch mit einer individuellen Herrschaft vereinbar ist.
Legaler Träger der kollektiven Leitung ist, wie bereits erwähnt, das ZK der Partei. Dieses sich praktisch durch Kooptation ergänzende Führerkollektiv war zunächst nur ein kleines Gremium. 1918 bestand es aus 15 Mitgliedern und sieben Kandidaten; noch zu Lenins Lebzeiten wurde es auf 30 Mitglieder und 15 Kandidaten erweitert und wuchs in der Folgezeit immer mehr an; heute zählt das ZK 175 Voll-mitglieder und 155 nicht stimmberechtigte Kandidaten.
Es leuchtet ein, daß die faktische Leitung der Partei nicht bei einem so großen Gremium liegen kann. Infolgedessen ging das Schwergewicht schon bald auf das bereits 1919 gegründete Politbüro des ZK (1952 in Präsidium umbenannt) über. Die Zahl der Mitglieder dieses Kollektivs wechselte, blieb aber immer auf unter 20 beschränkt. Heute zählt das Präsidium elf Mitglieder und sechs Kandidaten.
Lenin hat, wie wir sahen, dem Grundsatz der kollektiven Leitung insofern Rechnung getra-gen, als er im Führerkollektiv diskutieren und abstimmen, gelegentlich auch sich selbst überstimmen ließ. Gleichwohl behielt er unbestritten die Führung. Seine grundsätzliche Einstellung zum Prinzip der kollektiven Leitung, unabhängig von seiner persönlichen, natürlich zeitlich begrenzten Stellung, geht neben zahlreichen gelegentlichen Äußerungen recht eindrucksvoll aus der Regelung seiner Nachfolge hervor.
Etwa ein Jahr vor seinem Tode, drei Monate bevor er die Sprache verlor, diktierte er (am 25. Dezember 1922) sein sogenanntes Testament in der Form eines an den Sowjetkongreß gerichteten Memorandums (dem er am 4. Januar 1923 noch eine Nachschrift folgen ließ)
Lenin hat in seinem „Testament" darauf verzichtet, einen persönlichen Nachfolger in der Führung zu designieren oder auch nur zu empfehlen. Er hat im Gegenteil sich auf Warnungen beschränkt. In der umfangreichen Literatur darüber ist seine „unscharfe Ausdrucksweise" als enttäuschend bezeichnet worden. Dieser Einwand erscheint ungerechtfertigt, da Lenin sich offenbar der Unübertragbarkeit einer charismatischen Führung bewußt war. Potestas hätte sich ohne Zweifel in scharfer Formulierung übertragen lassen, auctoritas nicht. Da aber niemand in der Partei auch nur annähernd über das gleiche Ausmaß an Autorität verfügte wie er selbst, war die Voraussetzung für eine persönliche Nachfolge nicht gegeben. Eine Führung kraft ungewöhnlicher Gaben kann naturgemäß nur eine Ausnahme sein. Für den Normalfall muß die gesatzte Regel gelten. So griff Lenin bei der Regelung seiner Nachfolge auf den Grundsatz der kollektiven Leitung zurück. Er hoffte und wünschte, daß die Autorität und eine auf sie gegründete Macht nach seinem Tode auf das Führerkollektiv übergeht. Das ist der eindeutige Sinn seiner unscharfen Äußerung. Er hat das noch dadurch unterstrichen, daß er gleichzeitig davor warnte, einem einzelnen eine zu große Machtfülle — zu viel potestas ohne ausreichende auctoritas — in die Hände zu geben. Bekanntlich bezog sich diese Warnung ausdrücklich auf Stalin; sie bezog sich aber ebenso ausdrücklich auf Trotzkij.
Auch Stalin hat, trotz seiner extrem monokratischen Herrschaft, die kollektive Leitung als Grundsatz nicht abgeschafft und nicht etwa durch ein Führerprinzip ersetzt. Sowohl in den verschiedenen Neufassungen des Parteistatuts wie in der neuen Staatsverfassung (1936) blieb der Grundsatz der kollektiven Leitung ausdrücklich gewahrt.
Stalin selbst hat dem Ausland gegenüber gelegentlich versucht, die Fiktion eines weiteren Funktionierens des Kollektivs aufrechtzuerhalten. Das hat in bezug auf die Staatsführung seinen Niederschlag u. a. in dem kurzen Briefwechsel zwischen Hitler und Stalin gefunden. In seinem einzigen an Stalin persönlich gerichteten Schreiben (vom 20. August 1939) hat Hitler, wie üblich sich mit dem Reich identifizierend, nur von seinen Entschlüssen und seinem Außenminister gesprochen und die gleiche Einstellung auch bei Stalin vorausgesetzt, indem er diesen nach seinen Entschlüssen fragte und Molotow als seinen (Stalins) Außenminister bezeichnete. Stalin hat darauf (am 21. August) betont „im Auftrage der Sowjetregierung" geantwortet, es vermieden, von seinem Außenminister zu sprechen und den Außenminister Hitlers einfach Herr von Ribbentrop genannt.
Es kann als ein wesentliches Kennzeichen des sowjetischen Herrschaftssystems angesehen werden, daß während der ganzen Zeit seiner Dauer nicht allein der Grundsatz der kollektiven Leitung theoretisch, sondern das Institut des Kollektivs selbst auch praktisch bestehen blieb. Infolgedessen konnten bei einem — aus welchem Grunde auch immer — gegebenen Ausfall eines Einzelherrschers Führung und Herrschaft legal in die Hände des Kollektivs übergehen, ohne damit einen Bruch im bestehenden Herrschaftssystem herbeizuführen. Gelegentlich hat das Führerkollektiv auch selbst die Initiative ergriffen, um einer Einzel-14 herrschaft ein Ende zu setzen, wie z. B. beim Sturz Malenkows und Chruschtschows.
In beiden Fällen handelt es sich nicht, wie man gelegentlich gemeint hat, um eine „Palastrevolution“, und zwar insofern nicht, als in beiden Fällen der Sturz nicht mit revolutionären Mitteln, sondern legal herbeigeführt wurde. Malenkow hatte nach Stalins Tod (3. 3. 1953) dessen Erbe zunächst sowohl in der Partei (als Erster Sekretär) wie im Staate (als Regierungschef) angetreten. Aber bereits elf Tage darauf (am 14. 3.) wählt das ZK legal einen anderen Ersten Sekretär (nämlich Chruschtschow) zusammen mit drei weiteren Sekre-rären. Dadurch veranlaßte das ZK die Trennung des — Malenkow verbliebenen — Staatsamtes vom Parteiamt und unterstellte den Nachfolger Stalins der kollektiven Parteiführung. Damit war Malenkow faktisch bereits legal gestürzt; seine Beseitigung aus dem Staatsamt war nur noch eine Frage der Zeit und der sich bietenden Gelegenheit.
Chruschtschow, der die beiden Spitzenämter wieder in seinen Händen vereinigt und seine Einherrschaft errichtet hatte, wurde im Herbst 1964 aus dem Urlaub heraus — legal — zuerst vor das Präsidium und dann vor das Plenum des ZK zitiert (am 14. Oktober 1964) und trotz heftiger Gegenwehr vom Führerkollektiv durch Mehrheitsbeschluß zum Rücktritt vom Parteiamt veranlaßt. Damit war auch er legal gestürzt. Seine Beseitigung aus dem Staats-amt erfolgte, viel schneller als im Falle Malenkow, bereits zwei Tage darauf.
Nachträglich wurde Chruschtschows Sturz von seinen Nachfolgern ausdrücklich mit der Wiederherstellung des „wichtigsten Leninschen Prinzips der kollektiven Leitung" begründet und gerechtfertigt
Die seit dem Sturz Chruschtschows in der Sowjetunion bestehenden Machtverhältnisse scheinen einer legalen Herrschaft des Führer-kollektivs zum mindesten sehr nahe zu kommen. Der letzte, völlig legal und ganz undramatisch vollzogene, selbstverständlich vom ZK verfügte, wenn auch primär auf den staatlichen Bereich bezogene Ämterwechsel innerhalb des Führerkollektivs (9. Dezember 1965) kann als Bestätigung dafür gelten. Eine ständige personelle Erneuerung des Kollektivs — im Falle des ZK um ein Viertel bei jeder ordentlichen Wahl — ist im Parteistatut ohnehin vorgesehen (Art. 25).
Ob der heutige Zustand bestehen bleiben oder ob es einem einzelnen wieder gelingen wird, genügend auctoritas zu gewinnen, um eine Führung anzutreten oder genügend potestas an sich zu reißen, um darauf seine Herrschaft zu stabilisieren, wird die Zukunft lehren. Das sowjetische Herrschaftssystem gibt, nach der Erfahrung zu urteilen, allen diesen Möglichkeiten Raum.
Sowjetisches Herrschaftssystem und Terror
Eingangs war gesagt worden, daß nur von der Form der Herrschaft die Rede sein werde und nicht von deren materiellem Inhalt. Es gibt dabei aber Grenzfälle. Dazu gehört der Terror als Mittel der Herrschaftsausübung. Wenn abschließend noch einiges dazu bemerkt wird, so kann dabei sowohl vom Ausmaß wie von den Methoden des Terrors abgesehen werden. Es geht hier um das Grundsätzliche.
Das extreme Terrorregime der dreißiger Jahre hat gelegentlich den Eindruck entstehen lassen, als hätte Lenin, verglichen mit Stalin, seine Herrschaft gnädig vollzogen. Das ist aber nur sehr bedingt richtig.
Lenin hat den Terror nicht nur ausgiebig angewendet, sondern ihn auch theoretisch gerechtfertigt. Dabei ist seine terroristische Praxis von der Stalins grundsätzlich — nicht nur quantitativ — zu unterscheiden. Der Terror Lenins war, zum mindesten in der ersten Zeit seiner Machtausübung, eine Maßnahme zur Erreichung seines revolutionären Zieles, das heißt der Verwirklichung einer neuen Gesellschaftsordnung. Er war ein öffentlich angewandtes, durch Dekret (vom 5. Sept. 1918) eingeführtes und damit legalisiertes Mittel des Klassenkampfes mit dem eingestandenen — und auch in der Staatsverfassung verankerten — Ziel der Beseitigung der Klasse der Kapitalisten. Dieser Charakter des Leninschen Terrors als Klassenterror wird in einer Instruktion der damaligen Terrororganisation Tscheka deutlich gemacht. Es heißt da: „Wir wollen die Bourgeoisie als Klasse ausrotten ... Sucht nicht Beweise dafür, daß der Angeklagte mit Tat oder Wort sich gegen die Sowjetmacht vergangen hat. Das wesentliche ist, welcher Klasse er angehört, welcher Abstammung er ist . . . Das entscheidet sein Schicksal.“
Stalin hat den Terror zur Festigung seiner persönlichen Herrschaft angewendet. Sein Terror war ein im Gebrauch getarntes bzw. verheimlichtes oder abgestrittenes, nicht legalisiertes Mittel zur Beseitigung seiner Rivalen bzw.seiner politischen oder persönlichen Feinde. Insofern war der Terror Stalins ein Bestandteil seiner pseudolegalen Herrschaft.
Daher fielen unter Stalin auch andere Personen oder Personengruppen dem Terror zum Opfer als unter Lenin. Die Opfer des Leninschen Klassenterrors waren primär Klassen-feinde bzw. als Klassenfeinde angesehene oder dazu erklärte Personen. Die Opfer des Stalin-sehen Terrors waren primär Klassengenossen (Bauern und Arbeiter) und Parteigenossen.
Allerdings finden sich auch unter Lenin Ansätze zu einem politischen Terror gegen Klassengenossen — nicht gegen Parteigenossen —, wenn er die Revolution gefährdet glaubte. Ist Lenin in seiner Herrschaftsausübung gegenüber der Parteielite auch gnädig gewesen, gegenüber den tatsächlichen oder vermeintlichen Feinden der Revolution war er gnadenlos und auch in der Anwendung terroristischer Maßnahmen von unerbittlicher Konsequenz. Thomas Mann hat einmal, nicht aus der Rückschau, sondern unter dem unmittelbaren Eindruck von Lenins Herrscher-gestalt (am Anfang der zwanziger Jahre) gemeint, Lenin habe nach den Worten des großen Papstes Gregor getan: Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zurückhält vom Blute! Gregor VH. zeigte sich dabei desgleichen unerbittlich konsequent. Darauf bezug-nehmend hat kürzlich Arno Borst in einem Vortrag gesagt: „Die absolute Konsequenz mag göttlich sein, menschlich ist sie nicht."
Nur wenige Monate nach dem bolschewistischen Umsturz hat sich — nicht in der Öffentlichkeit, sondern zwischen den Wänden von Lenins Arbeitszimmer — ein äußerst eindrucksvoller Vorgang abgespielt. Bei dem neuen Herrn im Kreml, dem vorzüglich gebildeten Sohn einer kaiserlich-russischen Exzellenz, der nunmehr im Namen der untersten und ärmsten Schichten des Volkes seine harte Herrschaft angetreten hatte, erschienen zwei wirklich aus den untersten und ärmsten Schichten des Volkes, aus den tiefsten Tiefen heraus nur dank ihrem eigenen Genie zu höchstem Weltruhm emporgestiegene Autodidakten, Maxim Gorkij und Fjodor Schaljapin, und flehten ihren Gesinnungsgenossen und Freund Lenin an, bei der Verwirklichung seiner ja ganz und gar auf den Menschen und sein Glück bezogenen kommunistisch-humanen Ziele doch menschlicher zu sein. Lenin hat sich diesen Bitten verschlossen. Später hat er zu Gorkij gesagt: „Ich möchte liebenswürdige Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln... Heute darf man aber den Menschen nicht die Köpfe streicheln, sie würden einem die Hand abbeißen. Heute muß man ihnen die Schädel zerschlagen, erbarmungslos zerschlagen, obgleich wir unserem Ideal nach gegen jede Gewaltanwendung gegenüber Menschen sind. Das ist eine höllisch schwere Aufgabe."
Stalin ist diese Aufgabe leichter gefallen. Aber ausgeführt hat sie auch Lenin.
Die Nachfolger Stalins und die heutigen Machthaber im Kreml haben den Terror bekanntlich nicht mehr, jedenfalls nicht in der bisherigen Weise, praktiziert, weder den politischen Terror noch einen Klassenterror, dem ohnehin der Boden entzogen war, nachdem in der Sowjetunion die klassenlose Gesellschaft amtlich bereits als verwirklicht gilt: Ohne Zweifel ist der Terror nicht, wie es zu Stalins Zeiten geschienen haben mochte, ein integrierender Bestandteil des sowjetischen Herrschaftssystems; aber er schließt ihn auch nicht aus, praktisch nicht und auch nicht theoretisch. Wenn sich das sowjetische Herrschaftssystem eines Tages in seiner Existenz von innen heraus bedroht fühlen sollte, dann könnte der Terror nicht nur auf dem Wege einer „Restali-nisierung", sondern auch unter Berufung auf Lenin wieder ausgenommen und gerechtfertigt werden.