Was mit Gesellschait gemeint ist, geht im Deutschen jeweils nur aus dem Zusammenhang hervor, in dem man das Wort antrifft. Die Bedeutung kann eine weltumspannende, sie kann auch eine recht spezielle sein. Man sagt, jemand befinde sich in guter oder schlechter Gesellschaft; man spricht von der Soziologie als der Gesellschaftswissenschaft und versteht dabei unter „Gesellschaft" die ganze Fülle der von Menschen gebildeten Gruppen oder der zwischenmenschlichen Beziehungen. Um einen weit engeren Sinn herauszugreifen: es gab — oder gibt noch — den Fall, daß ein bestimmter Kreis, eine bestimmte Schicht, sich selbst als „die Gesellschaft" ansieht und bezeichnet, der anzugehören einen Vorrang bedeute, wobei diese Zugehörigkeit indessen einen gewissen Status — hinsichtlich etwa der Abkunft, der beruflichen Tätigkeit, der Vermögenslage — voraussetzt. Wieder je ein ganz anderer Akzent ist gegeben bei Ferdinand Tönnies, der „Gesellschaft“ von „Gemeinschaft" unterschied, und bei Arnold J. Toynbee, dessen „Society" eine singuläre historische Erscheinung, in Raum und Zeit abzugrenzen, und der potentielle Träger einer Zivilisation oder Kultur ist. Und damit ist der Katalog der Bedeutungen noch keineswegs erschöpft.
Ist in deutscher Staatslehre oder Politischer Wissenschaft oder Soziologie die Rede von Gesellschaft und Staat, oder umgekehrt von Staat und Gesellschaft, so wird man zunächst an den Begriff der Gesellschaft denken, der auf Hegel und Lorenz v. Stein zurückgeht. Danach ist Gesellschaft die Summe der spontan entstandenen Gruppen, die je in sich eine Ordnung aufweisen mögen, aber nicht auf eine überwölbende Einheit hin angelegt sind. Jede solche Gruppe vertritt ein begrenztes Interesse, das nicht unbedingt ökonomischer Natur sein muß. Da die Interessen divergieren, teilweise sogar ganz verschiedene Sachgebiete betreffen, ergibt sich insgesamt ein Bild bunter Vielfalt, nicht aber ein geschlossenes Ganzes, das einem Körper vergleichbar und damit handlungsfähig wäre. Was diesem unsystematischen Nebeneinander, allenfalls Miteinander, oft aber Gegeneinander, abgeht an Einheit und Ganzheit, das muß der Staat hinzubringen.
Das ist, grob skizziert, die Lehre, an die — nach hierzulande eingebürgertem Sprachgebrauch — die Konfrontation von Gesellschaft und Staat denken läßt. Es gibt keinen Zweifel, daß sie dem Staate den höheren Rang zuerkennt. In dieser Sicht ist die Gesellschaft geradezu darauf angewiesen, daß der Staat von oben oder außen zu ihr hinzutritt, sich gewissermaßen über sie schichtet.
Gesellschaft und Staat bei Hegel
Nun zuerst Hegel. Er konnte gewiß selbst in seiner Spätzeit, den Berliner Jahren, das heutige Aussehen der Gesellschaft des zuletzt bezeichneten Wortsinnes, also die massierten, organisierten, teilweise höchst anspruchsvollen Verbände
Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat bilden bei Hegel eine Dreiheit nach dem Muster seines Dialektik-Schemas, der Abfolge von These, Antithese und Synthese (§ 157 der „Grundlinien der Philosophie des Rechts"). Der Familie ist dabei der „unmittelbare oder natürliche sittliche Geist" zugeordnet (§ 157); sie hat „die Liebe ... zu ihrer Bestimmung" (§ 158). Die bürgerliche Gesellschaft ist „die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt" (Zusatz zu § 182). Sie ist zunächst ein „System der Bedürfnisse" (§ 188, im einzelnen § 189 ff.) und entsteht durch die Bürger als „Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben" (§ 187). Es kann nämlich die „konkrete Person" als „ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür" nicht isoliert leben und wirken; sie muß „in Beziehung auf andere" handeln (§ 182). „Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung . . . begründet ein System allseitiger Abhängigkeit" (§ 183). Dies aber ist allenfalls der „äußerliche Staat", der noch nicht den Ansprüchen des „substantiellen Allgemeinen" gerecht wird (§ 157). Deshalb muß der eigentliche Staat hinzutreten als „die Wirklichkeit des substantiellen Willens" (§ 258) und „die Wirklichkeit der sittlichen Idee" (§ 257). „Sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft" (Zusatz zu § 258). Damit steht er auf höherer Stufe als die aus dem „Interesse der Einzelnen" (§ 258) hervorgegangene bürgerliche Gesellschaft.
Der Zusammenhang des Begriffsnetzes mit Hegels Philosophie des Geistes darf hier unberücksichtigt bleiben. Wenigstens gestreift aber sei die Frage, ob die skizzierte Dreiheit im Wege der „Dialektik" zustande kam. Dazu betont Hegel selbst, daß in der historischen Abfolge die bürgerliche Gesellschaft nicht etwa dem Staate vorausgeht, vielmehr „die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt" ist; „die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört der modernen Welt an" (Zusatz zu § 182). Hier nimmt also — im formal beibehaltenen Schema von These, Antithese und Synthese — die Antithese in historisch-genetischer Hinsicht nicht den zweiten Platz ein; sie ist durch eine Art von Interpolation hereingekommen. Noch aus einem anderen Grunde ist die immer einmal wieder anzutreffende Aussage, daß Gesellschaft und Staat bei Hegel — oder gar überhaupt — in einem „dialektischen Verhältnis" zueinander stünden, mindestens ungenau. Die Ausdrucksweise — die, legt man den engeren und eigentlichen Dialektik-Begriff zugrunde, auf eine fortschreitende Bewegung schließen läßt — träfe ohne weiteres zu, wenn Hegel, die beiden
Potenzen als These und Antithese einführend, ihnen die Synthese hätte folgen lassen. Tatsächlich aber hat er ihnen doch die Plätze der Antithese und der Synthese angewiesen, und über den Staat hinaus führt allenfalls der Geschichtsprozeß, in dem Staat wider Staat steht. Gibt es also das dialektische Verhältnis von Gesellschaft und Staat kaum bei Hegel, so wird darüber, ob oder in welcher Form man es in der Wirklichkeit antrifft, noch einiges zu sagen sein.
Hegel teilte der Gesellschaft die in seinem Dreier-Schema nicht eben glanzvolle Rolle der Antithese zu, aber man kann ihm nicht ihre generelle Geringschätzung vorwerfen. Er geht nämlich in dem ihr gewidmeten Abschnitt der „Grundlinien" nicht nur auf die Bildung von „Korporationen", sondern auch auf Funktionen der „Rechtspflege" und der „Polizei" ein. Diese originelle Grenzziehung — nach den heutigen Begriffen eine ganz seltsame Verschränkung von Gesellschaft und Staat
Lorenz von Stein und Robert von Mohl
Das Kapitel „Hegel und die Folgen" in seiner ganzen Breite auch nur anzudeuten, ist hier nicht der Raum. Gewiß gehört ihm der andere schon genannte Autor an, der bedeutende Soziologe und Nationalökonom Lorenz v. Stein (1815— 1890). „Kein Mensch außer den Fach-gelehrten kennt heute den Namen Lorenz v. Stein. Aber seine Vorstellungen haben auf dem Wege über die Katheder und Schriften der Professoren und über die von ihnen erzogenen Beamten in den Behörden die Haltung weiter Kreise in Deutschland bis heute bestimmt"
Was aber ist hier Gesellschaft und was ist Staat? „Die Gesellschaft ist derjenige Organismus unter den Menschen, der durch das Interesse erzeugt wird." Sie bietet den Anblick der „zu selbständigen Körpern ausgebildeten Sonder-und Klasseninteressen"; was sie also in sich trägt, ist der „Gegensatz der Interessen".
Immerhin hat L. v. Stein die Gesellschaft nicht nur mit dem negativen Vorzeichen versehen. Sie ist für ihn nämlich auch der „Organismus, dessen sittliche Aufgabe und Idee die höchste geistige Entwicklung des Individuums ist". Es wäre also falsch, bei den Interessen, von denen bei ihm die Rede ist, nur an die materiellen Interessen zu denken. Jedwedem Interesse aber schreibt er das Bestreben zu, sich auf Kosten der Allgemeinheit durchzusetzen. Wenn er recht hat, „geht in dem Prinzip der Gesellschaft die Gemeinschaft notwendig unter". Man wird geradezu an das düstere Menschenbild von Thomas Hobbes erinnert, wenn man bei v. Stein liest, daß „das individuelle Interesse jede Gestalt der Gemeinschaft als Mittel für den Einzelnen, nicht aber für das Ganze braucht".
Mehr noch als Hegel, der seine mit bemerkenswerten Kompetenzen ausgestattete „bürgerliche Gesellschaft" immerhin schon als den „äußeren Staat, Not-und Verstandesstaat" bezeichnet hatte (§ 183 der „Grundlinien der Philosophie des Rechts"), bedarf L. v. Stein des Staates. Daß die gesellschaftlichen Kräfte „auf dem Wege einer freiwilligen Vereinbarung" eine Einheit zustande brächten, hält er für ausgeschlossen. So ruft er nach einem „Organismus, der seiner eigensten Natur nach kein Sonderinteresse haben kann" und „dasjenige als seine Aufgabe und sein höchstes sittliches Ziel setzt, was allen zugleich förderlich ist“. Das aber ist für ihn der Staat, den er mit der „Macht, jedes Sonderinteresse den wahrhaft allgemeinen Zwecken zu unterwerfen", ausgestattet sehen will. Den demokratischen Anspruch lehnt er einmal im Vorbeigehen ab: der Staat soll „als selbständige Persönlichkeit von dem Willen . . .der Einzelnen unabhängig" sein. Was er bei alledem nicht verkennt, ist, daß Gesellschaft und Staat, was den personellen Bestand betrifft, identisch sind. Es ist für ihn „einleuchtend, daß, da der Staat . . . eine Vielheit von Menschen umfaßt, die ihrerseits Interessen und Bedürfnis der Gegenseitigkeit haben, dieselbe Einheit von Menschen, welche die allgemeine Persönlichkeit des Staates bildet, auch zugleich, auf der Grundlage ihrer Individualität, eine Gesellschaftsordnung bilden werden"
Zu beachten sind der sozial-und ideen-geschichtliche Hintergrund, vor dem v. Stein geschrieben, und die Absichten, die er verfolgt hat. Er hat im Frankreich der frühen vierziger Jahre den Sozialismus und Kommunismus in den Anfangsstadien und damit den beginnenden Klassenkampf kennengelernt und wünschte die Aufgabe der Sozialreform dem Staate zuzuweisen; hier sah er „eine völlig einmalige Pflicht und Möglichkeit des Staates"
Ein dritter deutscher Autor, Robert v. Mohl (1799— 1875), der Verfasser des Monumental-werkes „Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften", hat Wert auf eine saubere Scheidung von Staats-und Gesellschaftswissenschaften gelegt. Was ibn dazu bestimmte, war nicht etwa eine Geringschätzung der Gesellschaft, sondern im Gegenteil eine Einsicht in die Breite und Vielfalt der ihr angehörenden Erscheinungen. Etwas bissig ist seine Kritik an Hegel, der nach seiner Meinung die bürgerliche Gesellschaft nur eingeschoben hat, „um mittelst des in dieser Schule einmal angenommenen Verfahrens durch Satz und Gegensatz zu einer Ausgleichung zu kommen. Nicht der Staat wird hier nötig, weil die Gesellschaft in bestimmter Weise ist; sondern umgekehrt, um zu dem voraus für gut befundenen Begriffe des Staates, nämlich . Wirklichkeit der sittlichen Idee', in dialektischem Wege zu kommen, muß für die Einzelnheit oder Familie erst ein Gegensatz gefunden werden"
Dabei liegen jedoch Mohls eigene Begriffe von denen Hegels wie auch v. Steins nicht weit ab. Auch für ihn sind „gesellschaftliche Lebenskreise . . . die einzelnen, je aus einem bestimmten Interesse sich entwickelnden natürlichen Genossenschaften, gleichgültig, ob förmlich geordnet oder nicht; gesellschaftliche Zustände sind die Folgen, welche ein solches mächtiges Interesse zunächst für die Teilnehmer, dann aber auch mittelbar für die Nicht-genossen hat; die Gesellschaft endlich ist der Inbegriff aller in einem bestimmten Umkreise . .. tatsächlich bestehenden gesellschaftlichen Gestaltungen"
Demgegenüber ist der Staat „die Verwirklichung des Einheitsgedankens im Volke". „Ausschließend diese Grundlage und Berechtigung“ haben, nach der „Staatsgewalt im Ganzen“, ihre „über das gesamte Volksleben sich erstreckenden Anstalten". Die danach knapp angedeutete Grenzziehung zwischen Gesellschaft und Staat läßt die Absicht Mohls erkennen, beiden Seiten gerecht zu werden. Der Staat soll intervenieren dürfen, falls „Organisationen . . . mit den Einheitszwecken oder mit der Gleichberechtigung koexistierender Privater unvereinbar" sind; er kann aber andererseits eine Genossenschaft „tauglich zur Unterstützung seiner eigenen Zwecke finden und sie, soweit hierzu nötig, in Anspruch nehmen und ordnen", womit aber nicht deren „eigenes Leben" ende. Ein gesundes liberales Mißtrauen verrät der Satz, daß der Staat wohl allemal soweit gehe, wie er „glaubt seine Wirksamkeit und seinen Organismus ausdehnen zu können und zu sollen"
Vor und nach Hegel
Soviel über Hegel, Lorenz v. Stein und Robert v. Mohl. Manche andere Station der Begriffs-geschichte kann hier unberücksichtigt bleiben. Als deutsche Hegel-Vorläufer wären allenfalls zu nennen Fichte sowie August Ludwig v. Schlözer (1735— 1809), dessen „Metapolitik*
Hegels Terminus „bürgerliche Gesellschaft" findet man erstmals bei dem Schotten Adam Ferguson (1723— 1816), dem Verfasser eines „Essay on the History of Civil Society" (1767). Der seitherige Society-Begriff der angelsächsischen Welt stimmt jedoch in inhaltlicher Hinsicht mit der „Gesellschaft" Hegels und der Hegel-Nachfolger dadurch nicht überein, daß er „Politisches und Unpolitisches miteinander verbindet und die spezifisch politischen Gebilde wie Volk, Nation und Staat ebenso der Gesellschaft einzuordnen sucht wie die ihrem Wesen nach unpolitischen Lebensbereiche"
Auch in amerikanischen Kompendien der Staatslehre, wie den Werken von Carl J. Friedrich
Von der Staatsphilosophie zur Staatssoziologie
Auslassungen von der Art der Thesen zum Thema „Gesellschaft und Staat" sind im Regelfälle situationsbezogen und haben es dabei nicht nur mit dem Sein, sondern auch dem Sollen, einem jeweiligen Postulat, zu tun. Der Berliner Professor Hegel hat den seinerzeitigen preußischen Staat vor Augen gehabt und in ihn hineingesprochen: einen auch nach dem verhängnisvollen Jahre 1819, dem Abbruch der inneren Reform mit dem Ausscheiden von Boyen und Wilhelm v. Humboldt, im großen und ganzen sauberen Beamtenstaat (gegen dessen noch oder wieder anzutreffende hymnische Verklärung man wohl einwenden darf, daß das Wahlbeamtentum besonders des Schweizer Musters der Versuchung zur Korruption mit wahrscheinlich ziemlich dem glei1) chen Erfolge widerstanden hat). Im Preußen Friedrich Wilhelms III. mochte man noch einmal, sah man nicht allzu genau zu, Gesellschaft und Staat durch einen Trennungsstrich geschieden wähnen, und ihn nicht aufzugeben, konnte man für ratsam halten. Im übrigen paßte dann das Bild der Dualität oder Polarität der beiden Größen für einen gewissen Zeitraum gleich in mehrere Konzepte hinein. Die aufstrebende Soziologie sah ihr Arbeitsfeld, die breite und reichbesetzte Zone gesellschaftlicher Bildungen diesseits des Staatsapparates, bestätigt und anerkannt; ein Liberalismus, der sich dem direkten demokratischen Anliegen verschloß, nämlich nur möglichst enge „Gren-zen der Wirksamkeit des Staates" (W. v. Humboldt) zu ziehen bestrebt war, durfte auf die effektiven Fähigkeiten und das eigenständige Recht der gesellschaftlichen Kräfte verweisen; schließlich kam durch ein Schema, das dem Staate den Rang der letztlich alles überragenden Potenz ausdrücklich beließ, auch eine hohe Obrigkeit, die in ihrer noch zu jeder Zeit bewährten Bescheidenheit in sich und in nichts anderem den Staat sah, auf ihre Rechnung. Den Treffpunkt so unterschiedlicher Interessen und Tendenzen einnehmend, mußte die Lehre dann freilich florieren. Daß es sich um eine „Ideologie" — in dem für die soziologische Ideologiekritik maßgeblichen engeren Wortsinne — handelt, hat Theodor Geiger nachdrücklich hervorgehoben
Tatsächlich hat sie in der Staatsphilosophie ihren Platz und wird durch eine Staatssoziologie, die eine je konkrete, in Raum und Zeit gegebene Verfassungswirklichkeit mitsamt deren Verflechtungen ermittelt, nicht bestätigt. Die Grenzlinie zwischen Gesellschaft und Staat, die es gestatten würde, von zwei getrennten Faktoren und einem polaren Spannungsverhältnis zu sprechen, ist kaum innerhalb einer früheren Ordnung zu erblicken, und heute gibt es sie weniger denn je. Gesellschaft und Staat sind miteinander verschränkt, gehen ineinander über,, wobei einmal der Grad dieser Verflochtenheit von Fall zu Fall variiert, zum andern die historische Priorität strittig sein mag.
Die chemisch reine Staatlichkeit hervorzubringen, die den gesellschaftlichen Kräften den Eintritt auf der ganzen Linie verwehrt hätte, ist auch in Preußen nicht gelungen. Was das Osteibien der Hohenzollernzeit angeht, so bereitet es offenbar einige Schwierigkeiten, den königlichen Landrat entweder der Gesellschaft oder dem Staate zuzuweisen; auch ist dort die Politik der nicht gerade einflußlosen Altkonservativen weit weniger auf „Thron und Altar", die das Aushängeschild zierten, als auf die recht massiven Interessen der Agrarier ausgerichtet gewesen. Wer immer den Obrigkeitsstaat als solchen in Frage zu stellen bereit war, hat in diesen Dingen klar gesehen; es ist da nicht unbedingt die sozialistische Gesellschaftskritik mit ihrer These vom Klassenstaat heranzuziehen. Hugo Preuß hat noch im Kai-serreich betont, daß „die Obrigkeitsregierung ebensowenig in einem sozial luftleeren Raume" schwebe, „wie sie politisch wirklich , über den Parteien stehen'kann"
Hat es die exakte Scheidung der beiden Bereiche schon im Obrigkeitsstaat nicht gegeben, so ist sie, als ohnehin unrealisierbar, im Konzept des Parteienstaates von vornherein nicht vorgesehen. Er macht die Parteien zum Bindeglied zwischen Gesellschaft und Staat, und sie genügen dieser Funktion in solcher Weise, daß es unmöglich ist, sie einseitig entweder der Gesellschaft oder dem Staate hinzuzurechnen. Zweifellos sind die Parteien der „Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte"
Was das ökonomische Interesse betrifft, so kann seine völlige Aufopferung in der marktwirtschaftlichen Ordnung, die das private Erfolgsstreben bewußt als Triebkraft einsetzt, offenbar nicht gefordert werden, übrigens fallen im ökonomischen Sektor Aufgaben an, deren optimale Lösung nicht von einem in der speziellen Hinsicht etwas hypothetischen Gemeinwohl aus zu ermitteln ist, vielmehr als einfache Resultante aus legitimen Interessen und errechenbaren Möglichkeiten sich ergibt. Unter solcher Voraussetzung kommt es wohl nur darauf an, alle Interessen ins Spiel zu bringen
Insgesamt hat man es zwischen den Interessen oder gesellschaftlichen Strebungen hier, der gesamtpolitischen Entscheidung dort, mit einem Transmissions-oder Transformationsprozeß zu tun, der an die Gewissenhaftigkeit und moralische Integrität der Beteiligten einige Anforderungen stellt. Seiner Problematik ist auf keine Weise auszuweichen, gibt es ihn doch in jedem politischen System, nicht etwa nur dem demokratischen oder parlamentarischen. Wahrscheinlich empfiehlt es sich, ihn, soweit irgend möglich, in der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen-, deren Ausschluß aber, der im autoritären System die Regel ist, ist in der Demokratie nicht mit Sicherheit durchzuführen.
Gesellschaft und Staat im Urteil der Gegenwart
Wer die Verfassungswirklichkeit im Parteien-staat bedenkt, versteht die Entschiedenheit, mit der die begriffliche Trennung von Gesellschaft und Staat, die Vorstellung ihrer Dualität oder Polarität, in der neueren deutschen Literatur abgelehnt worden ist und noch fortwährend abgelehnt wird. Dazu nun einige Beispiele. Daß die Gesellschaft den Staat „aus sich heraus
Theodor Eschenburg sieht im Staat „eine für die Gesellschaft unentbehrliche Einrichtung der Gesellschaft. Auch er ist ein gesellschaftliches Gebilde, aber dank seiner besonderen Merkmale einzig in seiner Art"
Auch für Otto Stammer ist „die dualistische Auffassung: Staat versus Gesellschaft, . . . nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die in der Gesellschaft sich herausbildenden organisierten Kräfte, handele es sich nun um Parteien oder Verbände, sind neben den ausgesprochen staatlichen Gewalten für den Prozeß der politischen Willensbildung von entscheidender Bedeutung. Die politische Ordnung einer organisierten Massendemokratie reicht weit über die staatliche Ordnung im engeren Sinne hinaus"
Den Staat nicht einfach als „die große objektive Käseglocke über dem Gewimmel subjektiver Interessen" einzuschätzen — um ein treffendes Spottwort von Otto Heinrich v. d. Gablentz
Der Staat sind wir
Der Gesellschaft als einem zwar komplexen, unübersichtlichen, aber sicherlich konkreten Aggregat von zumeist quicklebendigen Gebilden kann man den Staat nicht als einen blassen Schemen gegenüberstellen. Mit anderen Worten; Huldigt man wirklich der Vorstellung der Konfrontation, des polaren Spannungsverhältnisses, so ist man eine soziologische Orts-bestimmung des Staates schuldig, nämlich eine Antwort auf die Frage, wer oder was oder wo in einem gegebenen oder zu erstrebenden Verfassungszustand der Staat ist oder sein soll. Nun gibt es offenbar in jedem Staate ein politisches Personal als einen Menschenkreis, dessen Mitglieder den öffentlichen Angelegenheiten in einem solchen Grade zugewandt sind, daß sie deren Gestaltung maßgeblich bestimmen oder beeinflussen. Natürlich kann man diese Gruppe — die nur von Fall zu Fall und unter Verzicht auf Randschärfe abzugrenzen ist — exklusiv als den Staat bezeichnen, und man wird ihr dieses Prädikat um so eher zubilligen, je deutlicher sie sich von den Außenstehenden, der großen Masse der Staatsbürgerschaft, abhebt, je weniger sie also in jenem Ganzen wirklich wurzelt und mit ihm in Kommunikation bleibt.
Noch im deutschen Kaiserreich hat ein Beobachter, der einen besonderen Maßstab mit-brachte, der bedeutende schweizerische Staatsrechtslehrer Fritz Fleiner, die deutsche Redensart, „der Staat, das sind die Beamten", festgehalten
Auf ein politisches Personal ist — wenigstens in unserer und der kommenden Zeit — auch in der Demokratie nicht zu verzichten. Wenn man aber in ihm den Staat sieht, ihm allein den Titel „Staat" zuerkennt, oder wenn es sich so aufführt, als ob es allein der Staat sei, kann von verwirklichter Demokratie kaum die Rede sein. Es gibt einen kurzen Satz, der den demokratischen Anspruch — vielleicht besser: den republikanischen Anspruch; hier ist nicht an die Republik als die Nicht-Monarchie, sondern an die res publica zu denken — in wohl unübertrefflicher Klarheit festhält. Gemeint ist nicht die in Verfassungstexte aufgenommene Formel, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgehe; diese Floskel gibt nicht viel her, jedenfalls keinen allgemeinen Impuls. Gemeint ist vielmehr der Satz: „Der Staat sind wir“. Dieser Satz ist nicht von einem wie auch immer abgegrenzten politischen Personal, sondern vom Ganzen der Staatsbürgerschaft auszusprechen. Und er muß von den Staatsangehörigen nicht nur ausgesprochen oder empfunden, sondern dargelebt werden. Es kommt auf seinen existentiellen Vollzug an: einen Vollzug, den die Normen und Formen, auch die effektiven Praktiken, begünstigen, ja herausfordern sollten.
„Der Staat sind wir": der knappe Satz, äußerlich eine rein positive Aussage, enthält mehrere Verneinungen. Sein Gewicht liegt auf dem letzten Worte; eben durch diese Betonung schiebt er jeden anderen Staatsbegriff beiseite. Sind „wir", ist also das Ganze der Staatsbürgerschaft der Staat, so kommt dieses Prädikat nicht — wenigstens nicht exklusiv — einem engeren Personenkreise zu; auch ist es nicht länger möglich, einzelnen Instanzen oder Potenzen als eine vermeintliche Auszeichnung den Rang der „Staatlichkeit" — immer ein verdächtiger Terminus — zuzuerkennen. Ist damit der Verwaltungsapparat — bei all seiner Bedeutung und Unentbehrlichkeit — nicht schon der Staat, so ist dies nicht einmal das institutioneile Gefüge als ein Ganzes. Schließlich wird man sich hier, wenn man schon unbedingt eine „Elite" — wo und wie auch immer — am Werke sieht oder zukünftig sehen möchte, hüten müssen, diese Gruppe mit dem Staate, in dem und für den sie sich einsetzt, zu identifizieren. Verworfen ist durch jenen Satz der gegenständliche Staat, der sich von oben auf die Staatsbürgerschaft herabsenkt oder von außen an sie herantritt; verneint ist die Polarität von Volk und Staat, von Untertanenschaft und Obrigkeit, die auch der Liberalismus noch hinnahm, solange er nur Rechte vom Staate forderte und das Verlangen, den Staat „in das Volk zurückzuverlegen" (Otto v. Gierke
Vom Staat zum Gemeinwesen
Mit dem Worte Staat — nun einmal nur dem Worte — haben wir Deutsche es in einer ganz besonderen Weise zu tun. In den „altfreien Volksstaaten"
Das Wort „Staat" ist erst nach Beginn der Neuzeit in die deutsche Sprache eingedrungen. Noch Luther hat es nicht gekannt; sein Terminus „Obrigkeit" ist deutlicher, man darf sagen ehrlicher, weil er die soziologische Orts-bestimmung mit sich führt, die dem Worte Staat inzwischen abgeht. Ausdrücklich vom Staate ist anscheinend erstmals in den italienischen Signorien des ausgehenden Mittelalters gesprochen worden, in denen „die Herrschenden und ihr Anhang" zusammen „lo stato" hießen
Man mag da beinahe auf den seltsamen Wunsch verfallen, das Wort einmal für hundert Jahre aus der deutschen Sprache zu verbannen. Aber wichtiger als die Terminologie ist jedenfalls die Wirklichkeit, und in dieser Wirklichkeit sollte aus dem „Staate" das „Gemeinwesen" werden. Die Unterscheidung des Gemeinwesens vom Staate, die wir hier aufgreifen, findet sich in unserer Zeit bei Adoli Gasser
Und diese Vorstellung oder dieses Zielbild ist — als „Verfassungserbgut" — unausdrücklich in das Grundgesetz der Bundesrepublik eingegangen, zu dessen tieferem Verständnis zweifellos die „Uridee der Genossenschaft" heranzuziehen ist. So wenig damit aus dem Grundgesetz eine Konfrontation von Volk und Staat herausgelesen werden kann, so wenig billigt es dem Staate, den es konstituiert, auf irgendeine andere Weise ein Ansichsein zu. Es stellt ein Instrumentarium bereit, schreibt Verfahrensweisen vor. Sein Staat ist kein Gegenstand, kein Objekt, sondern allenfalls ein „Prozeß" (Dolf Sternberger
Identität von Gesellschaft und Staatsvolk
Mit dem demokratischen Anspruch, geschweige denn der demokratischen Wirklichkeit, entfällt die Möglichkeit, Gesellschaft und Staat grundsätzlich auseinanderzuhalten. Sind „wir", ist also das Ganze der Staatsbürgerschaft der Staat, so ist eine Polarität von Gesellschaft und Staat von vornherein nicht gegeben, und zwar schon dadurch nicht, daß „wir" ganz offenbar nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft sind. „Die gleichen Menschen, welche die Gesellschaft bilden, bilden auch den Staat"
Das alles heißt nicht, daß sich Hegel und Lorenz v. Stein von Grund auf geirrt hätten. Gewiß aber verbietet es die Identität im personellen Bestände, Gesellschaft und Staat in der Weise von Körpern voneinander getrennt zu sehen. „Will man nun gleichwohl Staat und Gesellschaft in einen Gegensatz zueinander bringen, so kann dieser nur in der Entgegen-setzung zweier Einstellungen, Verhaltungsweisen, Ordnungsprinzipien bestehen" (Werner Sombart
Es kann jene Verbindung oder Hereinnahme erreicht werden im Denken, im Urteil, in der Willensbildung des Individuums; sie kann herbeigeführt werden in einer Gruppe, und zwar durchaus auch in dem vorab dem speziellen Interesse eines Wirtschaftszweiges zugewandten Verbände; sie ist schließlich ganz fraglos aufgegeben der politischen Partei des parlamentarischen Systems, die die gesellschaftlichen Kräfte von vornherein nur zu dem Zwecke und in der Absicht in sich einmünden lassen darf, die in ihnen verkörperten Gruppenegoismen kritisch zu sichten, zu filtern, einem Ausgleich entgegenzuführen, vor allem aber ihrem Nebeneinander, teilweise auch Gegeneinander, die eventuell fehlende Rücksicht auf das Gemeinwohl hinzuzufügen.
Alle Aspekte des Gemeinwohls durchzugehen — Johannes Meßner schreibt ihm zehn verschiedene „Dimensionen" zu
Freistaat in der verantwortlichen Gesellschaft
Man kann kaum sagen, daß in der Zone einer wechselseitigen Verschränkung, auf die die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft jedenfalls hindeutet, im bundesrepublikanischen Jetzt und Hier alles in bester Ordnung sei. Die „Herrschaft der Verbände", die Theodor Eschenburg vor Jahren trotz der beunruhigenden Feststellungen, die er zu treffen hatte, immerhin noch mit einem Fragezeichen versah
Fragwürdig wäre die Rechnung einer Parteiführung, die angesichts einer massiven Forderung im Hinblick auf einen gefürchteten Verlust an Wählerstimmen in die Kniee ginge; traurig ist es, daß sich die ursprüngliche Funktion des Parlaments, die zu Lasten der Bürgerschaft gehenden finanziellen Aufwendungen des Souveräns und seines Apparates zu beschneiden, durch einen manchmal geradezu grotesken Bewilligungseifer ins Gegenteil verkehrte. Der wahrscheinlich ernsteste Übelstand ist bei alledem, daß Gemeinschaftsaufgaben von kaum zu überschätzender Bedeutung, für die sich keine pressure group einsetzt, weil sie gewissermaßen zwischen die organisierten Interessen fallen, weitgehend vernachlässigt werden.
So wird also wohl an Beschränkung der partikularen Ansprüche, an Rücksichtnahme auf die andere Gruppe oder den anderen Verband, schließlich an Ausrichtung auf das Ganze zur Zeit nicht das wirklich Erforderliche geleistet. Doch ist die „staatsideologische Unterbilanz", die in der Nachfolge von Carl Schmitt beklagt wird