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Totalitärer, marxistischer oder demokratischer Sozialismus? | APuZ 3/1966 | bpb.de

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APuZ 3/1966 Totalitärer, marxistischer oder demokratischer Sozialismus?

Totalitärer, marxistischer oder demokratischer Sozialismus?

Günter Bartsch

Wir haben im ersten Teil unseres Versuches gesagt, daß entgegen dem, was zur Zeit noch üblich ist, zwischen Frühsozialismus und Früh-kommunismus unterschieden werden müsse — weil sie aus dem Boden verschiedener Epochen wuchsen, unterschiedliche Antriebe hatten und gegensätzlichen Zielen folgten.

Gleichzeitig ist festgestellt worden, daß auch Berührungspunkte zwischen Frühkommunisten und Frühsozialisten bestanden, die unter dem Einfluß des Marxismus trotz ursprünglicher Distanzierung zur Aktionsgemeinschaft in der I. Internationale führten.

Im zweiten Teil werden wir uns mit den Schismen befassen, die sich ebenfalls in der I. Internationale angebahnt haben. Der Trennung von Sozialisten und Kommunisten eilte ein anderes Schisma voraus, das wenigstens insoweit angeschnitten werden muß, als es auf die späteren Schismen eingewirkt hat.

4. Das kommunistisch-anarchistische Schisma

Abbildung 1

a) Der geistesgeschichtliche Ursprung Das erste Schisma ist das zwischen Kommunisten und Anarchisten gewesen, zwischen den Anhängern von Marx — soweit sie dessen kommunistische Grundüberzeugung teilter — und denen Bakunins.

Kommunismus und Anarchismus waren ursprünglich eins. Wir hatten erwähnt, daß der geistige Kern des Frühkommunismus aus der Verschmelzung zweier Ideen entstand: Abschaffung der Ausbeutung und Beseitigung jeglicher Herrschaft. Es genügt, daran zu erinnern, daß der Frühkommunismus — das heißt der Kommunismus vor Marx — im Grunde ein Anarcho-Kommunismus war, weil er gleichzeitig mit der Abschaffung des Privateigentums auch die Abschaffung des Staates erstrebte. Diese beiden Ziele widersprachen sich aber sowohl in den Ansatzpunkten als auch in den Endvisionen.

Die Idee der allgemeinen Gütergemeinschaft ging von der Gesellschaft, die Idee der staatenlosen Gemeinschaft ging vom Individuum aus. Während das Individuum unter dem gütergemeinschaftlichen Blickpunkt nur ein Glied der Gesellschaft war, das keinerlei Selbstbestimmung genoß, wurde es unter dem Gesichtspunkt der Zerstörung aller Autoritäten als völlig autonom betrachtet. Das Ziel der allgemeinen Gütergemeinschaft tendierte zu einem lückenlosen Kollektivismus, das Ziel der Vernichtung des Staates besaß hingegen ausgesprochen individualistischen Charakter. Wenn die Gütergemeinschaft als ein Reglement gedacht war, das jedem Menschen einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zuweisen würde, auf dem er seine gesellschaftliche Nützlichkeit zu beweisen hätte, war im Ziel der Abschaffung des Staates die Idee der absoluten, also schrankenlosen individuellen Freiheit verborgen, deren Zeit mit der Zerstörung der staatlichen Autorität anbrechen sollte.

Es war vorauszusehen, daß sich diese beiden Ideen, die der Frühkommunismus integriert hatte, auf die Dauer nicht vertragen konnten. Früher oder später mußten sie sich aneinander zu reiben beginnen. b) Der theoretische und politische Konflikt Bakunin, der den radikalen Anarchismus verfocht, war der I. Internationale 1868 beigetreten. Es dauerte kein Jahr, bis er mit Marx zusammenprallte. Hinter den verschiedenen Organisationskonzeptionen und personellen Rivalitäten stießen hierbei Ideen aufeinander, die nur an der Oberfläche verwandt, ihrer Natur nach aber entgegengesetzt waren.

Marx hatte die Ressentiments gegen das Privateigentum und gegen den Staat aus dem Unterbewußtsein der Kommunisten gehoben und bis zu einem gewissen Grade rationalisiert, wobei gleichzeitig ihr Widerspruch freigelegt wurde. Aber Bakunin scheint ihn klarer als Marx gesehen zu haben. Jedenfalls wandte er sich auf dem Baseler Kongreß der Internationale vom September 1869 gegen den kommunistischen Kollektivismus, wobei er scharfsinnigerweise die Ansicht vertrat, daß der Marxismus zum „Staatskommunismus" führe oder führen könne. Bakunin sagte: „Ich bin kein Kommunist, weil Kommunismus alle Macht in der Gesellschaft im Staat konzentriert und notwendigerweise zur Zentralisation des Eigentums in den Händen des Staates führt. Ich wünsche jedoch die Abschaffung des Staates — die radikale Ausrottung jenes Prinzips der Autorität des Staates, das bisher die Menschen versklavt, unterdrückt, ausgebeutet und erniedrigt hat."

Marx hatte zunächst gegen Bakunins Staats-feindschaft gar nichts einzuwenden. Es ging ihm nur darum, mit welchem Mittel der Staat aus den Angeln gehoben werden könne. Zumindest schien es ihm nur darum zu gehen.

Während Bakunin das Fundament des Staates im Erbrecht sah, war Marx der Ansicht, daß der Staat auf dem Privateigentum beruhe. Der eine schlug also die Abschaffung des Erbrechts, der andere die Beseitigung des Privateigentums als entscheidende Maßnahme vor, um die bestehenden Staaten zum Einsturz zu bringen.

Marx war durchaus nicht gegen die Abschaffung des Erbrechts — wie Bankunin nicht gegen die Aufhebung des Privateigentums. Aber er meinte, das Erbrecht sei nur Folge statt Ursache des Privateigentums, weshalb es mit diesem fallen würde, worauf auch der Staat verschwände.

Im Laufe der Diskussion, die um die nebensächliche Frage des Erbrechts kreiste, zeichnete sich also das Grundproblem ab, ob die Einführung der Gütergemeinschaft oder die Abschaffung des Staates das vorrangige Ziel sein müsse, wobei sich die Personen und die Ideen zu scheiden begannen. Mit dem Auseinander-treten der Ideen begann sich nicht nur die I. Internationale, sondern auch der geistige Kern des Kommunismus zu spalten, und dies war der entscheidende Punkt. Nichts ist für eine politische Bewegung so schwerwiegend wie die Zellteilung ihrer geistigen Substanz. c) Die Bedeutung des Konflikts Der Vorteil des Frühkommunismus und die Quelle seiner Kraft hatten darin bestanden, daß er die kommunistische und die anarchistische Idee so fest miteinander verflocht, daß sie allmählich verschmolzen. Sie traten wie eine Idee auf, und die Folge war, daß auch die politischen Erscheinungsformen des Kommunismus und des Anarchismus ungesondert blieben.

Am deutlichsten drückte sich die gewaltige Dynamik dieser Verschmolzenheit bei den Wiedertäufern zu Münster aus.

Der Marxismus hatte die geistige Substanz des Frühkommunismus übernommen, aber er sollte sich außerstande erweisen, ihre Zellteilung, die Entflechtung und das Auseinander-treten ihrer widerstrebenden Elemente zu verhindern. Daher leitete er nicht nur den Höhepunkt, sondern auch den Niedergang des Kommunismus ein, den er modernisierte. Dieser Niedergang nahm die Form von Abfallbewegungenund Spaltungen an.

Die politische Sonderung von Kommunisten und Anarchisten, wie sie sich in der I. Internationale vollzog, war von der beginnenden Distanzierung der vom Frühkommunismus verschmolzenen Ideen begleitet. Das geschah durch eine Art von Explosion, die eine Ket-tenreaktion auslösen sollte, welche sich bis in unsere Tage erstreckt und noch in die Zukunft bohrt, ja sogar eine Parallelerscheinung hervorgebracht hat. Die Explosion wurde durch den Zusammenprall von Marx und Bakunin gezündet und sprengte die I. Internationale auseinander. Der sichtbare Konflikt zwischen marxistischen Kommunisten und bakuninschen Anarchisten, an dem sie zugrunde ging, war aber nur die Kehrseite — und Oberfläche — des unsichtbaren Ringens der antagonistischen Ideen im Kommunismus selbst.

Die Absonderung der Anarchisten ist die erste Abfallbewegung gewesen, die der moderne Kommunismus erlitt. Erstmals stieß die Idee der absoluten Freiheit so schmerzhaft wie eine Nadel ins kommunistische Fleisch. Bakunins Erben, die kommunistischen Intellektuellen, haben dafür gesorgt, daß sie immer wieder in dieses Fleisch hineingestoßen wurde und wird. Allerdings pflegt derjenige, der vom Kriterium der absoluten Freiheit ausgeht, die partielle Freiheit in der Regel zu verachten, und die Demokratie ist eine Form der partiellen Freiheit. So kann es paradoxerweise dahin kommen, daß der Kommunismus gerade unter dem Gesichtspunkt der Freiheit faszinierender als die Demokratie wirkt, weil er letzten Endes mehr Freiheit als alle Demokratien verspricht, vorausgesetzt, daß man sich ihm hingeben würde. Das besagte Paradox fußt also auf dem Glauben, daß sich die kommunistische Diktatur schließlich in eine Reininkarnation der Freiheit auflöst oder auflösen könne. Aber der Kommunismus selbst sorgt dafür, daß dieser Glaube in periodischen Abständen einer schweren Erschütterung ausgesetzt wird.

Bei aller Verachtung der partiellen Freiheit, deren sie zumindest fähig sind, bleiben daher Bakunins Erben innerhalb der kommunistischen Parteien ein Stachel im kommunistischen Fleisch, der nur um den Preis einer noch tieferen Verwundung — der intellektuellen Entblößung des Kommunismus — entfernt werden könnte. Wenngleich sich die Freiheitsidee in jenen kommunistischen Intellektuellen überschlägt, die insgeheim noch immer Anarchisten sind — und obwohl sie eben deshalb so leicht in ihr Gegenteil mündet —, ist die Vision der Anarchie vom Geist der Freiheit durchtränkt.

Der innere Grundwiderspruch des Kommunismus besteht im Nebeneinanderliegen seiner staatskollektivistischen Zwangs-und seiner staatsnegierenden Freiheitsidee. Das anarchistisch-kommunistische Schisma leitete unwiderruflich die Entfaltung dieser Antinomie ein.

Bakunins Nachfolger in diesem historischen Prozeß war zunächst kein kommunistischer, sondern ein sozialistischer Intellektueller: Eduard Bernstein — ein Mann, der sich keineswegs herablassend zur partiellen Freiheit verhielt, sondern sie liebte oder zumindest zu schätzen begann.

5. Das sozialistisch-kommunistische Schisma

a) Der Schnittpunkt des Staates Nicht nur im Verhältnis der kommunistischen und der anarchistischen Idee sollte sich zeigen, daß eine oberflächliche Verwandschaft von einem inneren Gegensatz begleitet war. Während jedoch die Aktionseinheit von Kommunisten und Anarchisten den Belastungen, denen sie von beiden Seiten ausgesetzt wurde, nur wenige Jahre standhielt, dauerte die Arbeitsgemeinschaft zwischen Sozialisten und Kommunisten wesentlich länger — sowohl innerhalb der internationalen Organisationen als auch in der Gestalt gemeinsamer Parteien. Doch weitläufig gesehen sind das erste und das zweite Schisma ineinander übergegangen. Der Schnittpunkt war die Frage des Staates.

Die Sozialisten, in der Ansicht, daß es für oder wider den Marxismus ginge, stellten sich während des Aufeinanderprallens von Marx und Bakunin in ihrer großen Mehrheit auf die Seite von Marx, das heißt auf die kommunistische Seite — ohne daß sie sich dessen bewußt gewesen wären.

Bernstein war damals noch zu jung, um eine Rolle zu spielen. Er wurde erst im gleichen Jahre Sozialist — und Mitglied der Eisenacher Partei von Bebel und Liebknecht — als die I. Internationale schon zusammenfiel, nämlich 1872. Gleichwohl haben sich die marxistischen Angriffe gegen den bakuninschen Anarchismus in ihm fortgepflanzt und auf den Anarchismus schlechthin übertragen. Außer dem radikalen Anarchismus um den Russen Bakunin gab es ja den gemäßigten um den Franzosen Proudhon, dem Marx — nach anfänglicher Bewunderung —• schon im Jahre 1847 seine Streitschrift „Das Elend der Philosophie" entgegengeschleudert hatte.

Bernsteins Polemik gegen den Anarchismus war in eine fast allgemeine antimarxistische Polemik der Sozialisten eingebettet, die dazu führte, daß die Anarchisten 1896 aus der II. oder Sozialistischen Internationale ausgeschlossen wurden. Dem war 1880 der Ausschluß des Anarchisten Most aus der deutschen Sozialdemokratie vorausgegangen, die 1887 auf ihrem Parteitag in St. Gallen die anarchistische Gesellschaftstheorie für antisozialistisch erklärte, soweit sie die absolute Autonomie des Individuums erstrebe. Außerdem wandte sich der Parteitag nicht nur gegen den individuellen Terror der Anarchisten, sondern auch gegen ihre Gewaltstheorie schlechthin, da die Gewalt in der Geschichte häufiger ein reaktionärer als ein progressiver Faktor gewesen sei. Wenn von den romanischen Ländern abgesehen wird, ist man versucht, von einer fast instinktiven Ablehnung des Anarchismus durch die meisten Sozialisten zu sprechen. Diese Ablehnung wurde in Deutschland dadurch bestärkt, daß wenigstens eines der beiden Attentate auf den Kaiser, die zur Begründung des Sozialistengesetzes dienten, von einem Manne verübt worden war, der zumindest vorübergehend zu den Anhängern des Anarchismus gehörte. Wir meinen den Klempnergesellen Hodel. Auch der zweite Attentäter, Dr. Nobiling, wird von Gay und anderen Autoren als Anarchist bezeichnet, doch scheint das nicht bewiesen zu sein.

Auf der anderen Seite war es seltsam genug, daß gleichzeitig mit der Distanzierung von den Anarchisten zunehmend anarchistische Ideen über den Marxismus in die sozialistischen Parteien drangen. Susanne Miller erwähnt mit Recht, daß sich allmählich unter dem Einfluß des Marxismus „in Schriften führender Sozialdemokraten eine mit dem Anarchismus identische Zielvorstellung über die staatsfreie Gesellschaft durchgesetzt" habe, und ergänzte diesen Satz insofern treffend, als sie darauf hinwies, daß die marxistische Staatstheorie von der des Anarchismus nicht zu trennen sei. Das gilt aber nicht nur für die These vom Absterben des Staates, sondern auch für die Theorie, daß der Staat lediglich eine besondere Zwangsgewalt zum Zwecke der Unterdrückung und Ausbeutung sei.

Außerdem faßte auch die Gewalts-und Revolutionstheorie über den Marxismus bei den Sozialisten Fuß. Die deutsche Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts ist weder eine bloße Reform-noch eine bloße Revolutionspartei gewesen, sondern schwankte fast ständig zwischen diesen beiden Tendenzen. Aber ursprünglich — unter dem Einfluß Lassalles — neigte sie mehr zur Reform als zur Revolution. Die Verbotsperiode unter dem Sozialistengesetz und der Marxismus trugen gleichermaßen zu ihrer Radikalisierung bei. Auf dem Erfurter Parteitag und im Erfurter Programm von 1891 hielten sich dann die reformerische und die revolutionäre Tendenz etwa die Waage.

Dies war in kurzen Zügen die Situation, in der sich Bernstein als sozialistischer Theoretiker zu betätigen begann. Bezeichnenderweise hat er sich schon 1891 und 1892 gegen die Theorie vom Absterben des Staates gewandt. Aber erst in der Artikelreihe „Probleme des Sozialismus", die zwischen 1896 und 1898 erschien, setzte eine systematische Polemik gegen die anarchistischen Tendenzen ein. In einem gedankenreichen politischen Essay über „Die sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl" unterschied Bernstein „zwei Haupt-strömungen im sozialistischen Lager". Die eine Strömung suche „den gegebenen Staat nach bestimmten Grundsätzen umzugestalten, um ihn so zum Hebel der Gesellschaftsreform zu machen", während die andere „den Staat gänzlich aufheben, ihn in eine Reihe völlig unabhängiger Gemeinden oder freier Gruppen zu zerschlagen" plane. Nur die erste Strömung galt ihm als echt sozialistisch. Auf die andere schoß er drei Argumente ab:

1. Die anarchistische Aufspaltung der Gesellschaft könne nur ein Sondereigentum schaffen, das sehr viel schlechter als das Privateigentum wäre und die bittersten Interessenkämpfe zwischen den Gemeinden oder Gruppen auslösen würde;

2.selbst die umfassendste Dezentralisierung der Verwaltung würde Aufgaben wie die des Transportwesens übrig lassen, die nur ein Staat bewältigen könne;

3. lediglich der Staat sei mit Hilfe der Gesetze stark genug, um einen gewissen Ausgleich der auseinanderstrebenden individuellen und gesellschaftlichen Interessen durchzusetzen. Kurz: nicht die Beseitigung, sondern die Umwandlung des Staates sei das Gebot. Obwohl es selbstverständlich wäre, daß die Zwangs-maßnahmen des Staates so weit wie möglich eingeschränkt werden müßten, seien der Staat und seine Hilfsmittel für die Gesellschaft unentbehrlich. Das war die Grundposition Bernsteins, die im Laufe der Artikelreihe immer mehr vertieft werden sollte, aber nicht nur gegen die anarchistische, sondern auch gegen die staatskommunistische Tendenz, die er ebenfalls mit drei Argumenten bedrängte:

1. Der Mensch dürfe nicht zum Almosenempfänger des Staates werden. Es sei sogar unsozial, am Prinzip der wirtschaftlichen Selbstverantwortung des Individuums zu rütteln, dessen Sozial ethik nicht geschwächt, sondern gehoben werden müsse.

Der Sozialismus könne lediglich die Erfüllung der wirtschaftlichen Selbstverantwortung erleichtern, statt sie dem Individuum abzunehmen und aus der Welt zu schaffen.

„Und mehr ist auch gar nicht wünschbar.

Selbstverantwortung ist bekanntlich nur die eine Seite des Prinzips, dessen andere persönliche Freiheit heißt. Die eine ist ohne die andere nicht denkbar". Die Alternativen zur Selbstverantwortung hießen „entweder vollendete Tyrannei oder Auflösung jeder Gesellschaftsordnung" 2.der einzelne dürfe dem modernen Groß-staat nicht unvermittelt und ohne Stützen gegenüberstehen. Sonst wäre die Demokratie nur ein leeres Wort, woran auch das beste Wahlrecht nichts zu ändern vermöchte.

„Daher die Wichtigkeit und faktische Unumgänglichkeit von Zwischenorganen"

wie denen der kommunalen Selbstverwaltung;

3, nur bestimmte Produktionszweige wären für die Verstaatlichung geeignet, während „die Masse der Industrien und Geschäfte . . .dem Betrieb entweder durch private Unternehmer oder durch Genossenschaften überlassen" bleiben müßte.

Insgesamt formulierte Bernstein seine sozialistische Auffassung so, „für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet Sind, die Arbeiterklasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten"

Auf diese Weise hat Bernstein begonnen, den Sozialismus gleicherweise gegen den Anarchismus und den Staatskommunismus abzugrenzen, die er als zwei extreme Haltungen ansah. Dies geschah, bevor er sein Buch über die „Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" schrieb, in dem die Abgrenzung fortgesetzt und auf alle Gebiete ausgedehnt wurde. Bernstein erkannte durchaus, daß die äußere Distanzierung vom Anarchismus die anarchistischen Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung nicht ausgelöscht, sondern in gewissem Sinne sogar aktiviert hatte. Beispielsweise war in seinem schon zitierten Essay über die Bedeutung von Zahl und Raum zu lesen, daß die deutsche Sozialdemokratie zwar zu jener politischen Strömung gehöre, die den Staat umzuformen statt abzuschaffen versuche, doch sei seit Engels „Anfidühring" eine wesentliche Veränderung in ihrem Verhältnis zum Staat eingetreten, da sie ihn nicht mehr nur als Träger bestimmter ausbeuterischer Interessen bekämpfe, sondern schlechthin ablehne.

Daher wandte sich Bernstein gegen alle drei anarchistischen Tendenzen: gegen die Ansicht, daß der Staat ein Schmarotzer und daher überflüssig sei; gegen den Kult der Gewalt, die zur Zerstörung der bestehenden Institutionen dienen sollte; gegen die einseitige Beurteilung des Staates als eines bloßen Unterdrückungsinstruments.

Hierbei war von größter Bedeutung, daß er diese Tendenzen nicht nur im Anarchismus, sondern auch im Marxismus feststellen mußte. Deshalb mündete seine Polemik gegen den Anarchismus in eine Kritik am Marxismus ein. Erstens wies er dessen These vom „Absterben" des Staates als illusorisch zurück. Zweitens zeigte er den inneren Widerspruch des Marxismus auf, „daß dieselbe Lehre, die von dem maßgebenden Einfluß der Ökonomie über die Gewalt ausgeht, in einen wahren Wunderglauben an die schöpferische Kraft der Gewalt ausläuft" Drittens schrieb er in einem Brief an Kautsky, daß Engels Definition des Staates als einer reinen Institution der Unterdrückung „vollkommen unangebracht" sei und sich bestenfalls auf niedrige Formen des Staates anwenden lasse.

Es gibt noch viele andere Belege; doch mögen diese genügen, um nachzuweisen, daß Bernsteins Kritik am Marxismus seinen Ausgang von der Polemik gegen den Anarchismus nahm und deren Fortsetzung war. Die Kritik am Anarchismus schlug in den Revisionismus um, als Bernstein entdeckte, daß der Marxismus selbst eine anarchistische Komponente enthielt. Als Grundlegung des Revisionismus kann der Essay über die „Sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl" angesehen werden. Der Marxismus war jedoch für Bernstein keineswegs mit dem Staatskommunismus identisch, den er gleichzeitig mit dem Anarchismus bekämpfte. Sein Denken entfaltete sich nicht durch Reibung am Marxismus, sondern in der Spannung zwischen Anarchismus und Staats-kommunismus. Daß diese Spannung auch im Marxismus enthalten war, übersah er zunächst.

Bisher wurde der Bernsteinsche Revisionismus vornehmlich als Kritik am Marxismus betrachtet. Indes war diese Kritik nur einer seiner Aspekte, ja ein Nebenaspekt. Bernsteins Revisionismus richtete sich primär gegen den Anarchismus auf der einen und den Staatskommunismus auf der anderen Seite, das heißt gegen die Alternative der „Auflösung jeder Gesellschaftsordnung" oder „vollendeter Tyrannei". Er versuchte, das Schiff des Sozialismus zwischen diesen beiden Extremen hindurchzusteuern, wobei er auf die Klippen des Marxismus stieß.

Dessen Dualismus, der ihm bewußt geworden war, führte Bernstein zunächt nur auf die Hegeische Dialektik zurück. Später stieß er noch auf eine andere Wurzel der marxistischen Zweideutigkeit: „Man kann in der modernen sozialistischen Bewegung zwei große Strömungen unterscheiden. .. Die eine knüpft an die von sozialistischen Denkern ausgearbeiteten Reformvorschläge an und ist im wesentlichen auf das Aufbauen gerichtet, die andere schöpft ihre Inspiration aus revolutionären Volkserhebungen und zielt im wesentlichen auf das Niederreißen an. . . Die Marxsche Theorie suchte den Kern beider Strömungen zusammenzufassen. Von den Revolutionären übernahm sie die Auffassung des Emanzipationskampfes der Arbeiter als eines politischen Klassenkampfes, von den Sozialisten das Eindringen in die ökonomischen und sozialen Vorbedingungen der Arbeiteremanzipation, aber die Zusammenfassung war noch keine Aufhebung des Gegensatzes, sondern mehr ein Kompromiß. . . Und welche Fortentwicklung die Marxsche Theorie später auch erfahren hat, im letzten Grunde behielt sie stets den Charakter dieses Kompromisses. . ."

Damit war Bernstein gleichsam nur noch einen Millimeter vom Geheimnis des Marxismus entfernt, aber er glitt an seinem Kern vorbei. Statt die beiden Strömungen als sozialistisch und kommunistisch zu erkennen, stellte er den Sozialisten die „Revolutionäre" gegenüber — wie das seltsamerweise noch heute in der Praxis üblich ist. Er übersah, daß der Marxismus die theoretische Vereinigung der beiden Extreme von Anarchismus und Staatskommunismus war, die er bekämpfte, und daß sein tiefster Konflikt in der Antinomie dieser beiden Tendenzen bestand. Unbewußt blieb ihm auch, daß der Marxismus vor allem die moderne Form des Kommunismus war. Doch ungeachtet dessen ist das Verhältnis zum Staat jener Schnittpunkt gewesen, an dem sich Sozialisten und Kommunisten zu scheiden begannen. b) Klassendiktatur oder Demokratie?

Aus der Prämisse, daß der Staat nicht abzuschaffen, sondern entsprechend den sozialistischen Grundsätzen im demokratischen Sinne umzugestalten sei, ergaben sich bereits die Bekenntnisse zur Reform, zur Demokratie und zu einem demokratischen Sozialismus. Diese Bekenntnisse waren bei Bernstein miteinander verknüpft. Sie sind nicht voneinander zu trennen, weshalb wir sie in einem Zug erörtern.

Bernstein hat das Recht auf Revolution als politisches Notwehrrecht des Volkes gegen eine unerträgliche Staatsform oder Gesellschaftsordnung betrachtet. Insofern stand dieses Recht für ihn außer Frage. Er war kein prinzipieller Reformist, wie ihm oft genug unterstellt worden ist. Deshalb wäre es falsch oder oberflächlich, das durch Bernstein eingeleitete sozialistisch-kommunistische Schisma als Konflikt zwischen Reformisten und Revolutionären abzutun. Der Reformismus war eine besondere Strömung innerhalb der sozialistischen Parteien, die zeitweilig mit dem Revisionismus verschmolz, ohne je mit ihm identisch zu sein. Bernstein stand oft genug auf dem linken Flügel des Sozialismus, während die prinzipiellen Reformisten stets auf dem rechten standen. Aber der linke Flügel war nicht mit den extremistischen Tendenzen zu verwechseln, die vielmehr am Rande des Sozialismus agierten, von dem sie Bernstein abzugrenzen versuchte. Marx hatte die kommunistische Haltung innerhalb der Arbeiterbewegung glänzend umrissen, als er im „Kommunistischen Manifest" den Leitsatz formulierte, daß die Kommunisten „der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder" sein müßten. Aber die Kommunisten trieben die Arbeiterparteien sowohl in die Richtung der Anarchie als auch in die Richtung des Staatskommunismus — und in beide zugleich, wenngleich einmal diese, einmal jene der extremen Tendenzen stärker hervortrat. So zog über den Arbeiterparteien das Gewitter der Gefahr auf, zwischen den beiden Extremismen hin-und hergerissen und schließlich zerrieben zu werden. Nachdem sich die sozialistischen Parteien vom Anarchismus distanziert hatten, schob sich die staatskommunistische Tendenz in ihr Blickfeld.

Bernstein war Reformer, aber kein Reformist, und seine diesbezügliche Haltung stützte sich auf die Erkenntnis, daß die Demokratie Revolutionen überflüssig mache oder machen könne. Die Demokratisierung — etwa in England, wo 1867 das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde — habe sich „als ein machtvoller Hebel des sozialen Fortschritts erwiesen" Tendenziell schreite die Demokratie auf die Aufhebung der Klassenherrschaft hin, indem sie die Privilegien breche, die ausbeuterischen Interessen zügele und alle Wahlberechtigten zu virtuellen Teilhabern am Gemeinwesen mache. Das allgemeine Wahlrecht sei zur Alternative der Revolution geworden. Es habe die Möglichkeit geschaffen, den Sozialismus friedlich durchzusetzen. Im gleichen Maße, wie sich eine Staats-und Gesellschaftsordnung demokratisiere, werde der Klassenkampf humanisiert. „Wir setzen heute durch Stimmzettel, Demonstration und ähnliche Pressionsmittel Reformen durch, für die es vor hundert Jahren blutiger Revolutionen bedurft hätte." Je mehr demokratische und soziale Einrichtungen geschaffen würden — nicht zuletzt unter dem Druck der Arbeiterbewegung —, desto deutlicher trete hervor, daß die Aufrichtung einer neuen Klassenherrschaft sozialer Rückschritt wäre. „Die Klassendiktatur gehört einer tieferen Kultur an" — nämlich einer vordemokratischen Epoche, während die Demokratie negativ als „Abwesenheit von Klassenherrschaft" definiert werden könne, als ein Gesellschaftszustand, „wo keiner Klasse ein politisches Privilegium gegenüber der Gesamtheit zusteht"

Das gelte auch für die Arbeiterschaft, die sich nicht über die Gesellschaft stellen dürfe, sondern bestrebt sein müsse, in ihr aufzugehen. Gewiß sei die Beteiligung der Arbeiterschaft an der politischen Macht unerläßlich, aber ihr politisches Machtmonopol wäre wie jedes Monopol verderblich. „Demokratie heißt jedesmal soviel Herrschaft der Arbeiterklasse, als diese nach ihrer intellektuellen Reife und dem Höhe-grad der wirtschaftlichen Entwicklung überhaupt auszuüben fähig ist."

Da „das Privilegium der kapitalistischen Bourgeoisie in allen fortgeschrittenen Ländern Schritt für Schritt demokratischen Einrichtungen" weiche und die Demokratisierung die Gefahr gesellschaftlicher Explosionen vermindert habe, dürften die Sozialisten nicht länger auf die Katastrophe — den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung — setzen. Ihre Hauptaufgaben bestünden vielmehr darin, die Arbeiterschaft „politisch zu organisieren und zur Demokratie auszubilden" um sie zur Mitherrschaft fähig zu machen, die Katastrophe endgültig auszuschließen — weil sie alle Gesellschaftsgruppen ins Elend stoßen würde — und in allen Ländern den Schritt von der halben zur vollen Demokratie durchzusetzen, das heißt zur Demokratie für alle und nicht nur für das Bürgertum.

Die Arbeiterschaft dürfe sich aber nicht der Illusion verschreiben, das unter den Verhältnissen des modernen Großstaates eine direkte Demokratie — etwa als Wählbarkeit aller Beamten — möglidi sei. Bernstein trat für die repräsentative Demokratie ein.

Reformen und Demokratisierung fielen in seiner Konzeption also zusammen. Aber auch Sozialismus und Demokratie waren für Bernstein im Prinzip ein und dasselbe, und dieses Zusammenfließen der sozialistischen und der demokratischen Idee ist es vor allem gewesen, was seinen originalen Beitrag zum Sozialismus und dessen Modernisierung ausgemacht hat. Ansätze in dieser Richtung waren zwar schon bei Blanc und anderen Frühsozialisten gegeben, doch zu ihrer Zeit erschien die Demokratie . — etwa in Gestalt des allgemeinen Wahlrechts — im Grunde nur als ein Mittel, um den Sozialismus — etwa in Form von Produktivgenossenschaften, die sich über das ganze Land erstrecken sollten — möglich zu machen. Die Demokratie war vor allem als Mittel zum Zweck des Sozialismus gedacht.

Bernstein hingegen begann sie als eigenständigen Wert zu betrachten. Eben dies war die Wendung, die er dem Sozialismus gab, eine historische Wendung, wie sich erweisen sollte, weil sie den Lauf der Geschichte beeinflußt und wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grade auch verändert hat.

Auch Marx trat für die demokratische Republik ein, aber nicht, weil er ein überzeugter Demokrat gewesen wäre, sondern deshalb, weil er sie als die breiteste Arena des Klassenkampfes und als eine offene Tribüne zur Propagierung revolutionärer Ideen ansah. Das allgemeine Wahlrecht — als elementare Voraussetzung dessen, was die Sozialisten unter einem Volksstaat verstanden — ist ihm nur ein Gradmesser der Volksmeinung und ihres Verhältnisses zu den Kräften des Umsturzes gewesen, während Engels in dieser Hinsicht gegen Ende seines Lebens schwankend zu werden begann, wie etwa aus seinem Vorwort zu den „Klassenkämpfen in Frankreich" und aus verschiedenen Briefen zu ersehen ist.

Für Bernstein war das allgemeine Wahlrecht die Grundlage der Demokratie und nach seiner Meinung ihr äußerlich sichtbarstes Merkmal. Es hielt die Gesellschaft für Reformen und den Staat für unblutige Regierungswechsel offen, vorausgesetzt, daß die Kräfte der Reform die Unterstützung des Volkes oder zumindest erheblicher Teile desselben gewannen, wozu Umsturzversuche das schlechteste aller Mittel waren, mußten sie doch vollendete Tatsachen zu schaffen versuchen.

Marx strebte das Machtmonopol der Arbeiter in Gestalt der „revolutionären Diktatur des Proletariats" an, die er als eine Diktatur der Mehrheit über eine Minderheit verstand. Bernstein wandte sich gegen die Definition der Demokratie als einer Volksherrschaft, „weil das Wort Volksherrschaft dem Gedanken der Unterdrückung des Individuums durch die Mehrheit Raum gibt, der dem modernen Bewußtsein unbedingt widerstrebt. Wir finden heute die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit undemokratisch, obwohl sie ursprünglich mit der Volksherrschaft durchaus vereinbar gehalten wurde“ 19a). Hier deckte Bernstein im Vorübergehen auf, daß Marx'Bewußtsein keineswegs modern war, sondern „ursprünglichen" und bereits veralteten Vorstellungsweisen entsprach, die das moralische Bewußtsein jener Zeit bereits hinter sich zurückgelassen hatte. Aber wichtiger war, daß Bernstein mit diesen Sätzen seine demokratische Reife bewies, da die Tolerierung der Minderheit als Prüfstein demokratischer Gesinnung zu bewerten ist. Es genügt eben nicht, für das allgemeine Wahlrecht zu sein, wenn man nicht gleichzeitig für das Recht auf Opposition und den Rechtsschutz der Minderheit eintritt. Erst die Verbindung dieser drei Elemente machte schon zu Bernsteins Zeiten den Demokraten aus. Marx war zwar für das allgemeine Wahlrecht, aber er dachte nicht daran, die Minderheit zu respektieren, wenn seine Partei an die Macht gelangen würde.

Marx sah in der Demokratie die Herrschaftsform des Bürgertums, weshalb er sie auch mit dem Begriff des Kapitalismus verknüpfte: Die Demokratie war für ihn ein politischer und institutioneller überbau der kapitalistischen Basis, der sich mit dieser umwälzen würde.

Für Bernstein war die Demokratie zwar an historische Formen ihres Auftritts und ihrer Verwirklichung gebunden, aber nicht an eine bestimmte Gesellschaftsgruppe wie die des Bürgertums. Er sah ihre zeitbedingten Formen als Entwicklungsstufen an, die zu fortschreitender Freiheit der Gesellschaft und des Individuums führen. Der geschichtliche Prozeß und die Entfaltung der Demokratie liefen für Bernstein parallel. Insofern diente, wer für die Demokratie eintrat, zugleich dem geschichtlichen Fortschritt.

Bernstein schien es wie Marx, daß sich die Menschheit auf den Sozialismus zubewege, wenngleich er im Unterschied zu Marx die Ansicht vertrat, daß der Sozialismus keine ökonomische Notwendigkeit, sondern nur ein wünschenswertes politisches Ziel sei, das sich allerdings auf bestimmte Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung stützen könne. Und er war fest davon überzeugt, daß die Demokratie nicht nur das Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus, sondern auch die ihm entsprechende Form seiner Verwirklichung war. Daher gebe es keinen Sozialismus ohne Demokratie, wie der Sozialismus die Demokratie vollenden statt abschaffen müsse. Daß die Vorstellungen der Demokratie und des Sozialismus in Bernstein verschmolzen, ließe sich durch eine ganze Reihe von Zitaten belegen. Wir wollen hier nur erwähnen, daß er in der Ausbreitung der Volksschule einen bedeutenden „Fortschritt in der Richtung zum Sozialismus, wenn nicht im Sozialismus" gesehen hat, ebenso wie ihm die „Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz" gleichzeitig als eine sozialistische Maßregel erschienen ist.

Damit sind jedoch die Unterschiede, wie sie zwischen Marx und Bernstein im Verhältnis zur Demokratie bestanden oder sich jedenfalls nach dem Tode von Marx herausgestellt haben, noch nicht erschöpft. Während in der Konzeption von Marx die unbehinderte Entwicklung des Menschen nur in einer staatsfreien Gesellschaft, das heißt in einer Anarchie möglich ist, weil die Freiheit jenseits des Staates beginne, faßte Bernstein die soziale Demokratie, die er erstrebte, als die zur Entfaltung der menschlichen Person geeignetste Institution auf. Die Freiheit beginne nicht jenseits des Staates, aus dem man ohnehin nicht herausspringen könne, sondern innerhalb der demokratischen Staatsform. Sie werde um so unbehinderter wachsen können, je mehr die Demokratie die Form des Sozialismus sei und alle Lebensbereiche durchdringe. „Die Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit ist der Zweck aller sozialistischen Maßregeln. . ." Der Sozialismus — die soziale Demokratie — sollte also kein Selbstzweck, sondern der Boden zur freien Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit sein.

Bernsteins Sozialismus war im Gegensatz zum Marxismus auf das Individuum orientiert. Marx hatte den Sozialismus mit dem Kommunismus verbunden, Bernstein verband ihn mit dem Liberalismus, das heißt mit den liberalen Freiheitsideen. Dem Revisionismus lag eine Synthese von sozialistischen und liberalen Gedanken zugrunde. Die Demokratie sei „nur die politische Form des Liberalismus" dessen Erbe der Sozialismus angetreten habe und „dessen Vollendung er sein wird" Der Sozialismus war für Bernstein die soziale Form des Liberalismus, was ihn prinzipiell vom Marxismus unterschied und bereits alle Folgen des Revisionismus in sich barg.

Alle Bekenntnisse Bernsteins mündeten in das Bekenntnis zur Freiheit des Individuums im Rahmen einer demokratischen Staatsform ein. Wenn die antidemokratische Tendenz ein Berührungspunkt von Frühsozialismus und Früh-kommunismus gewesen war, den die autoritäre Haltung des Marxismus noch gefestigt hatte, so wurde sie nun durch den Revisionismus zurückgedrängt. Das trug entscheidend dazu bei, den Ehering des Marxismus abzu streifen. c) Die Kriegskredite und ihr Hintergrund Wie Bernsteins Kritik am Marxismus bisher überbewertet worden ist — obwohl sie im wesentlichen die negative Seite eines positiven Kampfes gegen die anarchistische Tendenz auf der einen und die staatskommunistische Gefahr auf der anderen Seite war —, so wurde und wird auch die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialistischen Parlamentarier in ihrer Bedeutung für das sozialistisch-kommunistische Schisma überschätzt. Man hat sie vielfach sogar für entscheidend gehalten, und noch immer herrscht die Ansicht vor, daß, hätten sich die sozialistischen Parlamentsabgeordneten anders verhalten, die Spaltung wohl vermieden worden wäre. Das scheint uns ein Irrtum zu sein, den wir zunächst an einem Vergleich beleuchten wollen

Niemand würde heute noch behaupten, daß der Doppelmord von Sarajewo die Ursache für den Ersten Weltkrieg war, der ja übrigens viele Ursachen hatte. Denn jedermann weiß daß dieser Mord nur die Rolle eines Funkens spielte, der in das aufgehäufte Pulver fiel Wenn nicht dieser, so wäre es ein anderer Funke gewesen, der die Welt in Brand gesteckt hätte.

Ebenso wie das Attentat von Sarajewo den Ersten Weltkrieg nicht verursacht, sondern nur ausgelöst hat, ebensowenig ist die Bewilligung der Kriegskredite die Ursache oder Wurzel des sozialistisch-kommunistischen Schismas gewesen. Wie das Pulver des Ersten Weltkrieges in Jahrzehnten aufgehäuft wurde, so hat sich auch die Vorbereitung des zweiten Schismas über viele Jahre erstreckt — sogar über mehr, als normalerweise auch denen vertraut ist, die um die Rolle Bernsteins bei dem Schisma wissen.

Natürlich ist im allgemeinen bekannt, daß es ohne Bernsteins Revisionismus schwerlich zum Schisma gekommen wäre, obwohl die eigentlich schismatischen Elemente dieses Revisio-nismus bisher in der Regel übersehen oder kaum beachtet wurden. Aber weniger bekannt dürfte sein, daß die Schneide der Spaltung schon 1891/92 angesetzt worden ist, und zwar nicht nur von Bernstein.

Das geschah einerseits durch die Veröffentlichung der „Kritik des Gothaer Programms“ von Marx in der „Neuen Zeit" — sechszehn Jahre nach ihrer Niederschrift — und andererseits durch zwei Artikel von Bernstein.

In seiner schon im ersten Teil unserer Arbeit erwähnten „Kritik", die erstmals im marxistischen Schrifttum eine offene, ja scharfe Unterscheidung zwischen Sozialismus und Kommunismus enthielt, hatte sich Marx gegen den „freien Staat" oder „Volkstaat" gewandt, den die deutschen Sozialisten erstrebten, wobei es zu einem seltsamen Widerspruch kam. Zum einen drückte Marx seine prinzipielle Staats-feindschaft aus, zum anderen verhieß er den Sozialisten für eine völlig unbestimmte „Übergangsperiode" einen Staat der „revolutionären Diktatur". Sein Fluch gegen den „Untertanenglauben der Lassalleanischen Sekte an den Staat", der das Gothaer Programm „verpestet" habe, wurde sogar durch den Fluch des gleichsam ewigen Staates ergänzt, denn nach dem Hinweis auf die unerläßliche Diktatur stand folgender Satz: „Das Programm nun hat es weder mit letzterer zu tun noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft." Das Gothaer Programm sollte sich also weder mit der revolutionären Diktatur noch mit dem ihr folgenden kommunistischen Staat befassen, der keine Diktatur mehr darstellen würde.

Dieser Satz ist bisher nirgends interpretiert oder kommentiert worden. Selbst Lenin, der sich sehr ausführlich mit der „Kritik des Gothaer Programms" befaßte, hat ihn überschlagen, als stünde er gar nicht in dem Schriftsatz von Marx. Engels aber, der seine eigene Kritik am Gothaer Programm zwei Monate vor der von Marx formulierte, schrieb an Bebel: „Der . Volksstaat'ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift von Marx gegen Proudhon und nachher das . Kommunistische Manifest'direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich von selber auflöst und verschwindet. Da nun der , Staat'doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampfe, in der Revolution, bedient, um seinen Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, vom .freien'Volks-staat zu sprechen: Solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Nieder-haltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen"

Sowohl in der „Kritik" von Marx als auch in dem Brief von Engels traten die anarchistische und die staatskommunistische Tendenz gleichzeitig hervor. Während aber bei Marx schon die staatskommunistische Tendenz überwog, ist es bei Engels eher noch die anarchistische Tendenz gewesen, die ironischerweise mit einer Absage an den Anarchismus verknüpft war.

Wir halten es für keinen Zufall, daß sich Bernstein schon kurz darauf mit dem Anarchismus auseinanderzusetzen begann, sondern glauben, daß ein enger Zusammenhang mit dem Zitierten bestand. Die gleiche Zeitschrift, die Marx'„Kritik" abgedruckt hatte, veröffentlichte 1892 einen Beitrag von Bernstein, in dem darauf hingewiesen wurde, daß „das Solidaritätsbewußtsein nur unter einem gewissen Druck stark genug (sei), um zum freiwilligen Verzicht auf Einzelinteressen zu veranlassen" und daß wohl nur der Staat imstande sei, einen solchen Druck auszuüben, weshalb man nicht mit seinem Verschwinden rechnen solle.

Das war noch sehr zaghaft, aber bereits das zweite kritische Bedenken von Bernstein; das erste scheint dem Erfurter Programm entsprungen zu sein, dessen theoretischer Teil weitgehend marxistisch geprägt war.

Das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie von 1891 wurde durch Kautsky und Bernstein gemeinsam entworfen, aber Bernstein scheinen Bedenken gekommen zu sein, insbesondere gegen die einleitenden Formulierungen des Programms, daß „die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes" führe, daß die Wirtschaftskrisen immer verheerender, das Elend immer größer und der Klassenkampf immer schroffer werden würden. So schrieb er denn schon 1891 einen kritischen Artikel mit folgendem Kernsatz nieder: „Es ist klar, daß, wo die Gesetzgebung, die planmäßige und bewußte Aktion der Gesellschaft entsprechend eingreift, das Walten der Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung durchkreuzt, unter Umständen sogar aufgehoben werden kann." Marx und Engels hätten das zwar auch stets betont, doch sei aus dem „Kapital" von Marx auch umgekehrt zu schließen, daß nur unbedeutende Modifikationen jener gesetzmäßigen Entwicklung herbeigeführt werden könnten, die auf die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet wären, so daß schließlich doch deren katastrophenmäßige Umwälzung in Form eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs oder einer politischen Revolution nötig sei.

Bernstein hat also schon 1891 begriffen oder zu ahnen begonnen, daß im Marxismus eine Dualität enthalten war. Er begriff aber damals noch nicht, daß Marx die Katastrophe ausdrücklich wünschte und wollte, weil nur sie imstande sei, den Boden für den Kommunismus und die ihm entsprechende Umwandlung des Menschen vorzubereiten. Engels hat am Grabe von Marx gesagt, daß er vor allem „am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen" habe mitwirken wollen, mit anderen Worten: nicht an der Reform der Gesellschaft und des Staates, sondern an ihrer Zerstörung. Das Niederreißen der alten Gesellschaft war für Marx die Voraussetzung der neuen, und seine Gewaltstheorie ist das Korrelat seiner Zusammenbruchstheorie gewesen: Wenn der kapitalistische Staat und die kapitalistische Gesellschaft nicht durch Wirtschaftskrisen zugrunde gingen, dann mußte eben mit Gewalt nachgeholfen werden, um das angebliche Gesetz ihres angeblich unvermeidlichen Untergangs zu erfüllen. So sind die Zusammenbruchs-und die Gewaltstheorie bei Marx zwei Seiten einer Sache gewesen. Marx hat die Rolle der Gewalt nicht zufällig so dick unterstrichen, und wir haben schon erwähnt, daß sie auch von Bakunin verherrlicht wurde. Marx hat kaum weniger an die schöpferische Kraft der Zerstörung als Bakunin geglaubt. Aber auch die Zusammenbruchstheorie enthielt einen anarchistischen Zug, da sie nicht nur auf die Ablösung einer bestimmten Regierung oder Staatsform, sondern vor allem auf die Vernichtung des Staates und der bestehenden Ge-sellschaftsordnung spekulierte. Bernstein hat demgegenüber schon damals angedeutet, daß an die Stelle der spontanen Aktion gesellschaftlicher Kräfte gegen den Staat die planmäßige Aktion der Gesellschaft mit Hilfe des Staates auf legal-gesetzlicher Basis treten sollte, um alle jene Maßnahmen durchzuführen, die nötig seien, um wirtschaftliche und politische Katastrophen abzuwenden. Wenngleich Bernstein mit dieser noch keimhaften Ansicht zu einem demokratischen Bewußtsein erst erwachte, waren die beiden Standpunkte, die Marx und er vertraten, letzten Endes unversöhnbar. Auf diese Art und Weise ist schon 1891/92 fast gleichzeitig — wie von zwei Seiten her — durch Marx und Bernstein an die Arbeiterbewegung das Messer der Spaltung angesetzt worden. Der eine verlangte von den Sozialisten, Kommunisten zu werden, der andere führte sie zu den Traditionen des Frühsozialismus zurück, wobei er zugleich mit der Verflechtung sozialistischer und liberaler Ideen begann. Es fällt schwer abzuschätzen, wer von beiden den größeren Anteil am Schisma hatte. Da bisher immer nur Bernsteins Anteil hervorgehoben worden ist, war es geboten, nun auch den Beitrag von Marx anzudeuten, denn zwischen dem sozialistisch-kommunistischen Schisma und dem Ersten Weltkrieg besteht auch insofern eine Parallele, als zur Vorbereitung des einen wie des anderen beide Seiten beigetragen haben. Wenn der jeweilige Zusammenhang zwischen den Schriften von Marx und denen Bernsteins berücksichtigt wird, statt sie getrennt zu betrachten, und wenn man weiß, daß sich die direkte Vorbereitung des sozialistisch-kommunistischen Schismas zumindest über zwei Jahrzehnte erstreckte, so ergibt sich, daß Marx und Bernstein für das Schisma mehr oder weniger gleichermaßen bedeutsam waren.

Aber weder Marx noch Bernstein wollten die Spaltung. Wenn sie sich trotzdem durchgesetzt hat, müssen Gegensätze wirksam gewesen sein, für die Begriffe wie Marxismus und Revisionismus wie Decknamen wirken, weil sie nur ungenügende Auskünfte geben und vieles verschweigen.

Dem Schisma lag zugrunde, daß die Arbeiterparteien in zwei verschiedene und entgegengesetzte Richtungen gehen sollten, obwohl sie nur einen Weg gehen konnten oder sich aufteilen mußten. Angesichts dieser Alternative haben sie sich am Ende geteilt. Ungleichen Ehepartnern, die nicht mehr Zusammenleben können, steht nur noch die Möglichkeit der spontanen Trennung oder der Scheidung offen. Die Kriegskredite sind in einigen Ländern zum Anlaß der spontanen Trennung geworden, aber in anderen haben sie die innere oder äußere Scheidung nur noch besiegelt — was ein weiterer Grund ist, die Bedeutung der Kriegskredite für das Schisma mit Vorsicht abzuwägen.

Man könnte zum Beispiel auf Bulgarien verweisen, wo die Sozialistische Partei schon im Jahre 1903 fraktionell in „engherzige" Kommunisten und „weitherzige" Sozialisten zerfiel. Ähnlich standen sich in Frankreich schon lange vor dem Ersten Weltkrieg die streng marxistischen „Guesdisten" und die eine „Politik des Möglichen" betreibenden „Possibilisten" gegenüber, wobei die letzteren genau wie Bernstein für einen friedlichen Übergang zum Sozialismus plädierten. So gab es noch zahlreiche andere Fälle, von denen wir nur den deutschen und den russischen näher betrachten brauchen, weil sie in ihrem Verhältnis zueinander die exemplarischen Beispiele sind oder waren.

In Deutschland tauchte unmittelbar nach Ablauf des „Sozialistengesetzes" im Jahre 1890 die innerparteiliche Opposition der „Jungen" auf, die sich besonders in den großen Städten und auf die Industriearbeiter konzentrierte. Sie wandte sich gegen die Verweichlichung der Sozialdemokratie, gegen die einseitige Bevorzugung der parlamentarischen Tätigkeit und gegen die Verbürgerlichung der Partei. Ihre Berliner Gruppe rief zum Generalstreik am 1. Mai auf, womit sie allerdings nur in Hamburg ein gewisses Echo fand. Sowohl Bernstein als auch Mehring (der sich später dem Spartakusbund und der KPD anschloß) haben die teils kommunistischen, teils anarchistischen Tendenzen der „Jungen" vermerkt. Während Bernstein schrieb, die „Jungen" hätten das extremistische Rundschreiben des Kommunistenbundes vom März 1850 — das von Marx und Engels verfaßt worden war — „als Trumpf gegen die Parteileitung" verwendet, hat Mehring erwähnt, das „Kommunistische Manifest" sei von einigen Köpfen der „Jungen" in „zu einseitig-formalistischer Weise" betrachtet worden; man hat es sozusagen wörtlich genommen und wollte es buchstabengetreu ausgeführt wissen, was die politischen Richtlinien und die programmatischen Forderungen betraf. Auf dem Erfurter Parteitag erklärten fünf Delegierte der „Jungen" ihren Austritt. Mehring schrieb: „Die Opposition versuchte sich nunmehr als eine Partei der Unabhängigen zu organisieren, doch verlief der Versuch im Sande. Eine Minderheit splitterte sich zu einem anarchistischen Fraktiönchen ab. . Obwohl der Versuch einer eigenen Parteigründng fehlschlug, ist er doch bemerkenswert gewesen, weil er die Spalt-keime sichtbar machte, die in der deutschen Sozialdemokratie bereits wirksam waren. Ebenso interessant war es auch, daß die abgespaltene Gruppe — deren Mitglieder später zum erheblichen Teil wieder in die Sozialdemokratie zurückgekehrt und in einigen Fällen sogar zu den Revisionisten gestoßen sind — unverzüglich selber in eine tendenziell kommunistische und eine anarchistische Fraktion zerfiel, soweit es sich nicht um eine rein gefühlsmäßige Opposition gegen die Parteileitung gehandelt hatte. Das war ein Vorgang, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in zahlreichen Ländern in weit größerem Maßstab wiederholen sollte und der unterstrich, welche Verwandtschaft, aber auch welche Feindschaft zwischen Kommunisten und Anarchisten, also auch zwischen den ihnen zugrunde liegenden Ideen bestand. Schon damals — 1890/91, zu einer Zeit, als Bernstein noch als orthodoxer Marxist galt und von Revisionismus noch keine Rede war — trat gleichnishaft hervor, daß Anarchismus und Kommunismus die sich berührenden äußersten Pole der Arbeiterbewegung waren. Aber noch war sich niemand bewußt, daß die Vereinigung dieser Pole die innere Spannung des Marxismus erzeugte, die sich in die Arbeiterparteien entlud.

Daß es diese Spannung gab, mußte Bernstein am eigenen Leibe erfahren, als er 1902 für den Reichstag kandidierte. Er hatte sich nämlich nicht nur mit den Kandidaten der anderen Parteien, sondern auch mit einem anonymen Flugblatt auseinanderzusetzen, das von einer oppositionellen Gruppe seiner eigenen Genossen verteilt worden war. In diesem Flugblatt, das Bernstein vorwarf, Monarchist statt Sozialist zu sein, hieß es unter anderem wörtlich: „Verdient Bernstein es, die SPD im Reichstag zu vertreten? Genossen, urteilt selbst! Laßt euch nicht von reformistischen Phrasen einfangen. Bernstein sucht Einfluß, Geld und Macht, alles andere ist ihm gleich. England hat ihn korrupt gemacht." Wer kommunistische Flugblätter aus der Nachkriegszeit kennt, der wird wissen, daß es sich um den gleichen Sprachstil handelt. „Reformistische Phrasen!" — dieses Schlagwort ist noch heute bei den Kommunisten lebendig, und es wird noch immer gegen Sozialdemokraten geschleudert.

Wenn die Opposition der „Jungen" als erster organisierter Keim des Kommunismus in der deutschen Sozialdemokratie betrachtet werden kann — obwohl sich viele Verirrte bei ihr befanden, deren politische Überzeugung verschwommen blieb —, so hat das anonyme Flugblatt gegen Bernstein gezeigt, daß dieser Keim mit dem Verschwinden der „Jungen" durchaus nicht abgestorben war.

Das konnte insofern nicht verwundern, als der Marxismus dafür'sorgte, den Kommunismus als eine durchaus legitime Sache der Sozialisten darzustellen. Beispielsweise hieß es im sozialdemokratischen Organ „Zukunft" (Heft 15, Jahrgang 1877/78), daß „nur im Kommunismus größtmögliche Freiheit" bestünde. Mag der Verfasser unter Kommunismus auch etwas anderes verstanden haben als Marx; der Begriff „Gemeineigentum", mit dem er in der Regel übersetzt wurde, war überaus weit und die Verbindung mit dem Freiheitsbegriff nahm ihm die Schärfe. Wenn ein Mann wie Wilhelm Liebknecht von sich sagte: „Ich selbst bin Kommunist . . ." aber sich im gleichen Augenblick von dem Beschluß distanzierte, das Privateigentum an Grund und Boden abzuschaffen, so mußte das ebenfalls verwirrend wirken. Während die überzeugten Kommunisten sehr wohl wußten, was sie taten, war den Angriffen gegen sie durch den Marxismus eine Schranke gesetzt, die — wie Bernstein erfuhr — nur unter fast allgemeinem Mißfallen durchbrochen werden konnte. Der Marxismus wurde zum Schutzwall der kommunistischen Tendenzen in den sozialistischen Parteien und der Revisionismus hat die Kristallisation dieser Kräfte zunächst auf seine Weise gefördert — indem er nämlich alle jene auf den Plan rief und gegen sich vereinte, die dem Kommunisten Marx näher als dem Sozialisten Marx standen. Die scharfsinnigste Kritikerin Bernsteins in der deutschen und polnischen Sozialdemokratie war Rosa Luxemburg; mit ihr wuchs dem kommunistischen Extrem in der SPD ein erster Kopf, der zum Kristallisationskern des 1916 gegründeten Spartakusbundes und der späteren KPD wurde. Rosa Luxemburgs Schrift über „Sozialreform oder Revolution?" war die literarische Grundlegung der KPD. Es ist interessant, daß sie im gleichen Jahre wie Bernsteins „Voraussetzungen" veröffentlicht wurde, nämlich schon 1899. Die Polarisierung der Kräfte vollzog sich also außerordentlich schnell, wenngleich die organisatorische Absonderung auf sich warten ließ. Der kommunistische Kern bildete sich schon um die Jahrhundertwende in der SPD (und anderen sozialistischen Parteien) heraus, wobei bemerkt werden muß, daß der Luxemburg-Kreis in der Tradition der „Jungen" stand, da er ebenso wie diese gegen die Verbürgerlichung der Sozialdemokratie und für außerparlamentarische Massenaktionen eintrat. Zwischen 1905 und 1912 gingen die teils überzeugten, teils tendenziellen Kommunisten dieses Kreises zur offenen Rebellion gegen den sozialdemokratischen Parteivorstand über, so daß die Bildung einer eigenen Organisation — wie sie dann im Spartakusbund Gestalt annahm — fast nur noch eine Formsache war. Es ist vor allem die Furcht vor der politischen Isolierung gewesen, der den Luxemburg-Kreis bewog, den mehrfachen Empfehlungen Lenins zur Schaffung einer separaten Organisation bis 1916 zu widerstehen. Das wird Rosa Luxemburg noch jetzt von den heutigen Kommunisten vorgeworfen. Beispielsweise heißt es In einem „Grundriß" der SED zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung:

„Die fehlerhaften Auffassungen Rosa Luxemburgs . . . hinderten die Linken lange am Verständnis der Notwendigkeit, ideologisch und organisatorisch mit allen Spielarten des Op portunismus völlig zu brechen und eine Partei neuen Typus zu schaffen. Da sie sich nicht rechtzeitig von den Opportunisten trennten, verfügten sie bei Kriegsausbruch über keine eigene Organisation, die die Massen zum Kampf gegen den imperialistischen Krieg führen konnte. Erst im Verlauf des ersten Weltkrieges und unter dem Einfluß und mit Hilfe W. I. Lenins und der Bolschewiki begannen sich die Linken schrittweise zu einer Gruppe zu formieren, sich von den Zentristen abzugrenzen und sich dem Leninismus anzunähern."

Lenin hatte nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges systematisch auf die Spaltung der sozialistischen Parteien hingearbeitet, aber zunächst im internationalen Maßstab nur wenige Anhänger eines sofortigen Bruches mit diesen gefunden. Erst der Umstand, daß innerhalb der sozialistischen Parteien die Opposition gegen die Fortführung des Krieges und die Bewilligung weiterer Kredite ständig wuchs, näherte viele Sozialisten den Bolschewiki, so daß die kommunistische Tendenz in den sozialistischen Parteien einen sprunghaften Aufschwung nahm. Den Ausschlag gab dann die bolschewistische Machtergreifung in Rußland, die wie der Sieg einer sozialistischen Bewegung aussah.

Für die Bildung der meisten Kommunistischen Parteien ist nicht die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialistischen Parlamentarier — obwohl sie zweifellos eine gewisse Rolle gespielt hat —, sondern der elementare Eindruck ausschlaggebend gewesen, den die russische Oktoberrevolution des Jahres 1917 innerhalb der Arbeiterbewegung hervorrief. Dieser Eindruck war mit dem Einfluß zu vergleichen, den der Ausbruch der Französischen Revolution im Jahre 1789 auf das europäische Denken ausgeübt hatte. Endlich schien eine sozialistische Partei das Tor zum Sozialismus aufzustoßen.

Dabei war die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands schon im Jahre 1903 in feindliche Fraktionen zerfallen, die sich eigene Führungsorgane und Zeitungen schufen. Die erste russische Revolution von 1905 führte zwar zur formalen Versöhnung der Bolschewiki und Menschewiki auf dem IV. Parteitag 1906 in Stockholm, sie konnte aber die Risse im russischen Sozialismus nur oberflächlich kitten. Im Januar 1912 gründeten die Bolschewiki auf einer Konferenz in Prag ihre eigene Partei, was nur dadurch verschleiert wurde, daß sie den alten Parteinamen — „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" — beibehielten. Die Kommunistische Partei Rußlands ist jedenfalls nicht erst im März 1918 — als sie offiziell diesen Namen annahm —sondern im Januar 1912 gebildet worden. Im Schicksalsjahr 1917 standen sich nicht mehr nur Zarismus und Sozialismus, sondern — nach dem Sturz des Zaren — auch Sozialismus und Kommunismus in Rußland gegenüber.

Wenn man von Holland absieht, wo sich die zum Kommunismus neigenden „Tribunisten" nach ihrem Ausschluß aus der Sozialistischen Partei schon 1909 zu einer eigenen Partei formierten, aus der 1918 die KPH hervorging, so ist Rußland nicht nur das erste Land gewesen, in dem der kommunistische Kern lange vor 1914 stärker als in allen andern sozialistischen Parteien war, ja zeitweilig sogar das Übergewicht im Sozialismus erlangte, sondern auch jenes Land, in dem es am frühesten zur organisatorischen Absonderung der Kommunisten kam. Hier spielten sowohl die russischen Verhältnisse als auch die ungewöhnlichen Fähigkeiten Lenins eine Rolle. Ein wichtiger Unterschied zwischen den holländischen „Tribunisten" und den russischen Bolschewiki hat darin bestanden, daß die ersteren vor 1917 im allgemeinen nur zum Kommunismus tendierten, während die letzteren in ihrer Mehrheit schon vor der Oktoberrevolution überzeugte Kommunisten waren. Tendenz auf Menschen bezogen heißt ja nicht bereits etwas sein, sondern etwas werden, sich auf etwas hinbewegen. Der tendenzielle Kommunismus ist erst auf dem Wege zu diesem, er ist noch eine Art von Halbkommunismus.

Lenin gebührt der Anspruch, nach dem Kommunistenbund von Marx als erster eine Kommunistische Partei begründet zu haben. Das innerrussische Schisma zwischen Sozialisten und Kommunisten ging dem internationalen Schisma voraus. Dieser bedeutsame Umstand hat es Lenin erlaubt, seinerseits auf das internationale Schisma einzuwirken und ebenfalls — als dritter im Bunde neben Marx und Bernstein — einen gewissen Beitrag zu ihm zu leisten, der erstens in dem offenen Appell an alle Kommunisten und zum Kommunismus tendierenden Sozialisten bestand, mit ihren traditionellen Parteien zu brechen, und zweitens in Lenins großem Anteil zum Gelingen der russischen Oktoberrevolution.

Wir können nun zusammenfassen: Insgesamt gesehen war das sozialistisch-kommunistische Schisma schon um 1910 reif, insbesondere in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Holland, Bulgarien und Rußland. Es haben sich recht verschiedene Faktoren zum Knoten des Schismas geschürzt. Marx, Bernstein und Lenin waren jeder auf seine Weise an ihm beteiligt. Neben den Personen und den hinter ihnen stehenden ideellen oder organisatorischen Mächten wirkten die Tatsachen mit, darunter der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis in den sozialistischen Parteien, der eine der wichtigsten Quellen ihrer inneren Spannungen war und überhaupt erst zum Revisionismus-streit führte. Von hoher Bedeutung war die Tatsache der russischen Oktoberrevolution. Wenn die Bewilligung der Kriegskredite dafür sorgte, daß die schon reife Frucht des Schismas platzte, so stellte die Oktoberrevolution eine neue Organisationsform bereit, die nicht nur den Kommunisten, sondern auch den zum Kommunismus tendierenden Sozialisten einen Zufluchtsort bot, ja zugleich die bis zur Glaubensgewißheit gesteigerte eschatologische Hoffnung, daß sich der Marxismus nun im Stadium seiner Verwirklichung befinde.

Was den Revisionismus betrifft, so war der Marxismus nur das Schlachtfeld, auf dem der Kampf zwischen Sozialismus und Kommunismus innerhalb der Arbeiterbewegung ausgetragen wurde. Deshalb wäre es falsch, die Marx-Kritik als entscheidend für das Schisma zu halten. Die schismatische Wirkung ist nicht von der Kritik am Fallstrick der Dialektik, an der Verwechslung von Gesetz und Tendenz, an der Idealisierung des Proletariats usf. ausgegangen. Die eigentlich schismatischen Elemente waren die Kritiken des Anarchismus und des Staatskommunismus als der beiden politischen Haupttendenzen bei Marx, die aber in den marxistischen Theorien nur angedeutet wurden. Marx ist der innere Widerspruch seines Lehrgebäudes selber verborgen geblieben, und außer für scharfsinnige Intellektuelle wie Bernstein konnte dieser Widerspruch erst dann für alle sichtbar werden, als der Marxismus tatsächlich die Gelegenheit seiner Realisierung enthielt. Sie wurde ihm durch Lenin in Rußland geboten. Nach der Oktoberrevolution war die Probe aufs Exempel möglich.

Bei Bernstein trat der freiheitliche Geist, den auch Bakunin bewiesen hatte, als er gegen den Staatskommunismus opponierte, bereits als demokratischer Geist hervor, das heißt als ein Geist, der gleicherweise gegen den Staats-kommunismus und gegen den Anarchismus gerichtet war. Gegen welche Verwirrung die demokratische Idee innerhalb der sozialistischen Parteien anzukämpfen hatte, nachdem diese in die Bahn des Marxismus geraten waren, mag am besten aus einem Zitat von Karl Kautsky zu ersehen sein, dem mächtigsten Widersacher Bernsteins innerhalb der deutschen Sozialdemokratie während des Re-B Visionismusstreits. Kautsky schrieb damals: „Kommunismus in der materiellen Produktion, Anarchismus in der geistigen: das ist der Typus einer sozialistischen Produktionsweise.“ So drängten die inneren Widersprüche des Marxismus im Kopfe eines führenden sozialistischen Theoretikers zu einer Synthese. Kautsky wurde letzten Endes erst durch das sowjetische Exempel belehrt. Kurz vor seinem Tode im Jahre 1938 schrieb er in der Emigration über das Verhältnis von Kommunismus und Sozialismus: „Es gab eine Zeit, da hatten beide eine gemeinsame theoretische Grundlage"; auch eine praktische Grundlage — die Emanzipation der Arbeiter als „gerne, n sames Ziel" — sei gegeben gewesen. „Später entstand eine Kluft zwischen ihnen, die weder auf ein Mißverständnis noch auf eine bloße Meinungsverschiedenheit zurückzuführen" sei.

So hat auch Kautsky schließlich mehr oder weniger vage erkannt, daß Sozialismus und Kommunismus im Grunde unvereinbar sind, wenngleich er selbst dann nicht bis zur Antinomie des Marxismus vordringen konnte.

Bernstein ist Nachfolger Bakunins in der Ablehnung des Staatskommunismus und zugleich sein Überwinder als Anarchist gewesen. Er war es stellvertretend für Hunderttausende von Sozialisten, die ihm nur zögernd und allmählich folgten. Wie die Kommunisten den Sozialismus, so hatten die Sozialisten bis dahin die Demokratie als die Vorstufe ihres Endziels angesehen. Das änderte sich unter dem Einfluß von Bernstein, dem eine Symbiose von Demokratie und Sozialismus als Grundlage der modernen Gesellschaft vorgeschwebt hat.

Bernstein hat die theoretischen Grundlagen des demokratischen Sozialismus gelegt. Was es vor ihm an Elementen hierzu gab, ist, von Ansätzen abgesehen, pragmatischen Charakters gewesen. Nun erhob sich dieser Sozialismus über das amöbenhafte Stadium in den Rang einer eigenständigen und abgegrenzten Konzeption. Aber auch in diesem Falle mußte zur Theorie die Praxis treten, damit sie auf die Probe gestellt werden konnte.

6. Das stalinistisch-trotzkistische Schisma

a) War es wirklich ein Schisma?

Unter einem politischen Schisma verstehen wir die geistige Spaltung einer historisch wirksamen Kraft, die früher oder später zur organisatorischen Trennung im nationalen oder internationalen Maßstab dergestalt führt, daß zwei Teile einer bisher oder zeitweilig einheitlichen Bewegung zu selbständigen Bewegungen werden, die sich als Antipoden gegenübertreten. Das Schisma tritt am Kulminationspunkt des Auseinandertretens feindlicher Tendenzen innerhalb einer politischen Massenbewegung auf.

Im Konflikt zwischen Stalinisten und Trotz-kisten hat kein einziges dieser Merkmale gefehlt. Wenn er trotzdem bisher nicht als Schisma beurteilt worden ist, so hat es an den Formen und Zahlenverhältnissen der Spaltung gelegen. Indes sind beide sekundär. In mehr oder weniger demokratischen Bewegungen wird die freiwillige Form des Auseinandergehens, in mehr oder weniger totalitären Bewegungen wird die gewaltmäßige Form triumphieren. Daß im Falle der Trotzkisten die Methoden der Gewalt überwogen, hat spezielle Ursachen gehabt, die den Charakter der Spaltung als eines Schismas ebensowenig wie der Umstand beeinflussen konnten, daß die Trotzkisten formell eine kleine Minderheit waren, als sie aus den Kommunistischen Parteien ausgestoßen wurden. Potenzen und Zahlen stehen oft in einem Mißverhältnis, wenn dieses Verhältnis nicht ohnehin solchen Faktoren wie Diffamierung und Terror entspringt, so daß Zahlen die Wahrheit nur säumen, statt sie auszudrücken. Um das unter der Oberfläche verborgene Verhältnis von Potenzen und Zahlen aufzudecken, ist es . notwendig, der Vorgeschichte des betreffenden Schismas nachzugehen.

Wir müssen zwischen einem sozialistischen und einem anarchistischen Vorspiel unterscheiden. Sie wurden beide durch den Charakter des Bolschewismus bestimmt. b) Der Bolschewismus und seine Gefahren Der Marxismus hatte in der Spannung zwischen Anarchie und Staatskommunismus gestanden. Der Bolschewismus sollte sich in der gleichen Spannung entfalten. Er hatte sie geerbt. Für den Marxismus, oder besser für den marxistischen Kommunismus, waren Anarchie und Staatskommunismus seine innersten Tendenzen und gleichzeitig seine äußeren Flügel gewesen. Für den Sozialismus, seitdem er marxistisch geworden war — und im weiteren Sinne für die gesamte Arbeiterbewegung —, hatten sie die Extreme und Gefahren dargestellt, die Symbole der Selbstentfremdung und Selbstvernichtung. Der Sozialismus konnte weder anarchistisch noch staatskommunistisch werden, ohne sich selbst aufzuheben. Die Kommunisten hingegen konnten, wenn sie ihr Wesen in die Tat umsetzen wollten, nichts anderes tun, als eine dieser beiden Tendenzen zu realisieren, was nur auf Kosen der anderen möglich war. Früher oder später mußten sie sich für eine der Tendenzen entscheiden. Wenn sie sich aber für den Staatskommunismus entschieden, hatten sie die sozialistische Kritik ebenso wie die anarchistische zu fürchten -und beide berührten sich darin, daß sie die Vergesellschaftung statt der Verstaatlichung der Produktionsmittel verlangten.

Der Marxismus hatte den Sozialismus bis zu einem gewissen und in den einzelnen Ländern unterschiedlichen Grade sowohl kommunisiert als auch anarchisiert •— also seine eigenen Tendenzen in ihn eingepflanzt, was auf wach senden Widerstand stieß. Indem der Marxismus zum Ehering wurde, trug er aber gleichzeitig sozialistische Ideen in den Kommunismus hinein, der in einem gewissen Maße sozialisiert wurde Es sind vor allem die Ideen der Genossenschaft, der Arbeiterselbstverwaltung, der gesellschaftlichen Selbstverwaltung der Gewinnbeteiligung ünd des Wohlfahrtsstaates gewesen, die Marx in den Kommunismus säte. Statt weiterhin die Sozialisten uni ihre Ziele geringschätzig zu betrachten, begannen die Kommunisten unter dem Einfluß von Marx, den Sozialismus als eine unüberspringbare Stufe zum Kommunismus ins Auge zu fassen. Mehr noch: Marx hatte zwar von der sozialistischen Phase nur gesprochen, um einerseits die Zusammenarbeit von Sozialisten und Kommunisten zu erleichtern und anderer seits die Schroffheit des Übergangs zum Kommunismus zu mindern, aber die in den Kommunismus eingeführten sozialistischen Ideen lösten sich von diesen Motiven, um unabhängig von ihnen in den kommunistischen Köpfen zu keimen. Wenn der Sozialismus als Gesellschaftstypus für Marx kaum mehr als eine Pufferzone war, so wurde er für viele seiner Anhänger zu einem eigenständigen Wert — wie die Demokratie für Bernstein zu einem eigenen und an sich erstrebenswerten Ziel geworden war. Das machte sich schon bei Rosa Luxemburg bemerkbar, bei der sich Sozialismus und Kommunismus ähnlich verschränkten wie bei Karl Kautsky Kommunismus und Anarchie und — um ihn noch einmal zu nennen — bei Bernstein Sozialismus und Liberalismus.

Indem also der Kommunismus wieder zu einer eigenständigen Bewegung wurde und diesmal sogar in einem Lande zur Macht kam, wurde er seinerseits von zwei Extremen bedroht, die Anarchie und Sozialismus hießen. Die Anarchie war bis dahin nur einer seiner geistigen und politischen Flügel gewesen. Aber im gleichen Moment, da sich der Kommunismus selbst als Staat etablierte, wurde sie zu einer tödlichen Gefahr für ihn.

Das zweite Extrem war erst durch den Marxismus an seiner Peripherie aufgetaucht. Hier liegt m. E. einer der Gründe, weshalb das Verhältnis der Kommunisten zum Marxismus zwiespältig wurde. Wenn die Kommunisten geistige Unabhängigkeit gegenüber dem Marxismus gewinnen würden, folgte sicher der Versuch, alle sozialistischen Elemente aus ihm zu entfernen — es sei denn, sie schlügen den umgekehrten Weg ein, von Lenin zu Karl Marx zurückzukehren.

Der Kommunismus ist kein Flügel, sondern ein zeitweiliger Partner des Sozialismus gewesen. Sie waren einander durch Marx zugeführt worden, aber Marx hatte keinen Zwitter, sondern eine Ehe arrangiert, und eines Tages gingen die Partner wieder auseinander. Gleichermaßen — wie zwei Pferde — vor den Wagen des Marxismus gespannt, schlugen sie verschiedene Wege und Richtungen ein.

Der Kommunismus war aber Partner und Extrem des Sozialismus zugleich — nicht nur ein zeitweiliger Bundesgenosse, sondern auch eine fremde Kraft, die sich an seinen Saum geheftet hatte, ein Faktor der Desorientierung, der sich auf mehr oder weniger äußere Gemeinsamkeiten berief und gleichzeitig einen Gegensatz vertrat.

Von Flügeln kann immer nur dort gesprochen werden, wo eine bestimmte Konzeption zugespitzt formuliert und verfochten wird, aber in Übereinstimmung mit dem Ideenkern der Bewegung steht. Sozialismus wie Kommunismus hatten auch in der Verklammerung durch den von Marx geschmiedeten Ehering ihre eigenen Flügel behalten. Flügel repräsentieren die Spannweite einer Idee und Bewegung, während sich in Extremen die Gefahr konzentriert, daß eine politische Bewegung auf ein fremdes Gleis gerät oder gar in ihr Gegenteil umschlägt.

Die Unterscheidung zwischen Flügeln und Partnern sowie von Flügeln und Extremen ist für das Verständnis dessen, was sich während des zweiten Schismas und in seinem Gefolge zwischen Sozialisten und Kommunisten abgespielt hat, ebenso wichtig wie alle anderen Abgrenzungen grundsätzlicher Natur, die wir bisher vorgenommen haben — also ähnlich bedeutsam wie die Unterscheidungen zwischen Frühkommunismus und Frühsozialismus, zwischen anarchistischer und staatskommunistischer Tendenz im Marxismus oder zwischen überzeugten und tendenziellen Kommunisten. Erst die Gesamtheit dieser Differenzierungen kehrt das Wesen der Schismen hervor.

Nun ist auch der Sozialismus für den Kommunismus eine Ursache teilweiser Entfremdung gewesen. Die Berührung mit ihm verschaffte dem Kommunismus zwar den Kontakt zur modernen Welt und vor allem mit den Massen der Arbeiterschaft, relativierte aber auch seine vorher absolute Revolutionsbereitschaft. Das schlug sich in der taktischen Prämisse nieder, man müsse zwischen den unmittelbaren Forderungen des Proletariats und seinen grundlegenden Interessen unterscheiden; wer die Arbeiter für die kommunistische Revolution und das kommunistische Endziel gewinnen wolle, sei zunächst einmal gezwungen, für die Befriedigung ihrer aktuellen Bedürfnisse einzutreten. So verknüpften sich im Kommunismus die Ideen der Reform und der Revolution, wodurch ein neuer Widerspruch in die kommunistische Politik trat, weil die Befriedigung unmittelbarer Interessen auf dem Wege von Reformen die Revolution eher hinausschiebt als daß sie sie näherbringt.

Doch vorerst ist nur die Feststellung wichtig, daß die organisatorische Trennung von Sozialisten und Kommunisten die Tiefe ihrer Gegensätze überhaupt erst enthüllte. Solange sie einheitlichen Parteien angehörten, wurde vieles verschwiegen und vertuscht, um wenigstens nach außen geschlossen zu erscheinen, was für Wahlkämpfe und politische Aktionen nicht unerheblich gewesen war. Nun entfielen diese Rücksichtnahmen, zumal man um dieselben Wähler konkurrierte. Die kommunistischen Parteien konnten im allgemeinen nur auf Kosten der sozialistischen wachsen. Das Schisma lief daher in offenen Kampf aus. Es bedeutete die Intensivierung aller Gegensätze und leitete die allmähliche Zerstörung aller Gemeinsamkeiten ein, die zwischen Sozialisten und Kommunisten noch bestanden.

Unter diesen Umständen schwoll die sozialistische Gefahr für die kommunistischen Führer nach dem Schisma noch an. Sie mußten dreierlei beachten: daß aus dem Verbündeten ein Feind geworden war, der sich anscheinend mit dem Bürgertum gegen den Kommunismus verband; daß die sozialistischen Parteien unzählige Arbeiter auffingen, die ohne ihr Bestehen in die Kömmunistischen eingeströmt wären, und daß viele ihrer Anhänger im Sozialismus mehr eine Sache der Zukunft als der Vergangenheit sahen, sei es, daß er für sie eine eigenständige Etappe der kommunistischen Entwicklung nach der Machtergreifung war, oder sei es, daß sie sozialistische Forderungen inmitten des kommunistischen Staate? erfüllt wissen wollten. Für die kommunistischen Parteien war es unmöglich voranzukommen, wenn sie nicht einen doppelseitigen Kampf gegen die sozialistischen Organisationen und gegen die sozialistische Gefahr in ihren eigenen Reihen führten. Trat man aber offen gegen den Sozialismus als solchen auf, dann drohte der Kommunismus wieder zu einer Sekte zu werden. Das erste Gebot der marxistischen Periode, um jeden Preis mit den Sozialisten zusammenzugehen, wurde daher fallengelassen und in ein Verbot verwandelt, aber die Kommunisten stellten sich auch als die rechtmäßigen Erben des Sozialismus hin, der nur noch von ihnen verwirklicht werden könne.

Es war nicht leicht, diese zwiespältige Politik durchzuhalten. Aber die Geschichte schien nach dem Ersten Weltkrieg tatsächlich den Kommunismus zu begünstigen. Die Sowjet-bewegung breitete sich über halb Europa aus, und angesichts des unmittelbaren Kommunismus der russischen Praxis — wie Naturalsteuer und Kommunen — dünkte eine sozialistische Phase gar nicht mehr nötig. Infolgedessen legte Lenin, obwohl er nachdenklich blieb, das Schwergewicht auf die Brüskierung der Sozialisten. In seiner Radikalismus-Broschüre nannte er Sowjetmacht und Diktatur des Proletariats die beiden „grundlegenden Prinzipien des Kommunismus" — genauer: des Bolchewismus —, deren weltweite Anerkennung durchgesetzt werden müsse. Die Komintern forderte den unverzüglichen Brudi mit den rechten wie mit den linken Sozialisten: „Die Verschmelzung der ungarischen Kommunisten mit den sogenannten . linken'Sozialdemokraten ist dem ungarischen Proletariat teuer zu stehen gekommen." Der Kommunismus strebte die Vernichtung der des Verrats bezichtigten sozialistischen Parteien an, denen er meist noch vor kurzem selber angehört hatte. Beispielsweise schrieb Thalheimer, ein führender deutscher Kommunist, am 17. 12. 1923 in der „Internationalen Pressekorrespondenz": „Die zentrale Aufgabe der Kommunistischen Partei ist demgemäß die vollständige politische, organisatorische Liquidierung der Sozialdemokratie ..." Die kommunistischen Parteien sollten nicht neben, sondern an die Stelle der sozialistischen treten wie die kommunistische Internationale die sozialistische abzulösen versuchte. In den 21 Aufnahmebedingungen der Komintern wurde bereits von der „hoffnungslosen Lage" der II. Internationale ausgegangen, die schon „endgültig zerschlagen" sei.

Der Bolschewismus entstand als zweite Form des modernen Kommunismus, die sich vom marxistischen Kommunismus zunächst durch ihre Trennung von den Sozialisten und durch die Gründung eigenständiger Parteien unterschied. Für Lenin ist der Sozialismus eine historisch überholte Stufe der Arbeiterbewegung gewesen, obwohl er gleichzeitig entsprechend der Gothaer Kritik von Marx in „Staat und Revolution" erklärte, daß er die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft sei.

Die Aktualität der sozialistischen Gefahr nahm für den Bolschewismus im gleichen Maße zu, als er begann, sein Programm in die Praxis umzusetzen. Der „Menschewismus", wie diese Gefahr von Lenin genannt worden ist, schien nun einer der beiden Riffe zu sein, durch die das kommunistische Schiff gelotst werden mußte. Er war das rechte Extrem, dem ein linkes gegenüberstand, und an beiden konnte man scheitern: „Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt jetzt, daß es ihr in allen Ländern bevorsteht (und sie bereits begonnen hat), den Kampf des entstehenden, erstarkenden, zum Sieg schreitenden Kommunismus vor allem und hauptsächlich gegen den eigenen . Menschewismus'. . . und zweitens — sozusagen als Ergänzung — den Kampf gegen den . linken Kommunismus durchzumachen." So Lenin im April 1920. Damit waren die Fronten durchaus richtig abgesteckt. c) Das sozialistische Vorspiel Das sozialistische Vorspiel zum stalinistischtrotzkistischen Schisma wurde von den verkehrten Fronten während des Ersten Weltkrieges und von den falschen Voraussetzungen genährt, auf denen sich der Übertritt vieler Sozialisten und ganzer sozialistischer Parteien zum Kommunismus vollzog.

Während des Ersten Weltkriegs kamen die verkehrten Fronten dadurch zustande, daß die pazifistischen Sozialisten für die Kriegskredite und die militanten Kommunisten gegen sie stimmten. Pazifismus auf der einen und Militantismus auf der anderen Seite — das war ein zusätzlicher Differenzpunkt schon zwischen Frühsozialismus und Frühkommunismus gewesen, der aber erst im August 1914 manifest werden sollte.

In der marxistischen Phase war er weitgehend latent geblieben. Gewiß hatten Marx und Engels mehrmals zu verstehen gegeben, daß sie keine Pazifisten seien. Sie vermieden es aber, sich in dieser Hinsicht auf einen Streit einzulassen, der die Arbeitsgemeinschaft von Sozialisten und Kommunisten ernstlich gefährden konnte. Indes war Lenins spätere Haltung schon im Rundschreiben von Marx und Engels an die Mitglieder ihres Kommunistenbundes vom März 1850 vorgezeichnet. Dieses Rundschreiben forderte nicht die allgemeine Volks-bewaffnung — wie die späteren sozialistischen Programme, die sich vor allem am Vorbild der Schweiz orientierten —, sondern die alleinige Bewaffnung der Arbeiterschaft. „Die Bewaffnung des ganzen Proletariats mit Flinten, Büchsen, Geschützen und Munition muß sofort durchgesetzt, der Wiederbelebung der alten, gegen die Arbeiter gerichteten Bürgerwehr muß entgegengetreten werden. Wo dies letztere aber nicht durchzusetzen ist, müssen die Arbeiter versuchen, sich selbständig als proletarische Garde, mit selbstgewählten Chefs und eigenem selbstgewähltem Generalstabe zu organisieren und unter den Befehl, nicht der Staatsgewalt, sondern der von den Arbeitern durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte zu treten." Wie man sieht, ging es Marx und Engels keineswegs darum, ein Volksheer an die Stelle des stehenden Heeres zu setzen, wie das die Sozialisten erstrebten. Es ging ihnen vielmehr um die Schaffung einer roten Armee, die zum militärischen Instrument der permanenten Revolution werden sollte. Die „proletarische Garde" (wie sie dann 1917 in Rußland entstand) sollte ja nicht nur mit Gewehren ausgerüstet werden, sondern auch mit Geschützen. Sie sollte nicht der allgemeinen Armee eingegliedert sein, sondern einen eigenen Generalstab besitzen. Sie sollte nicht dem Staat unterstehen, sondern nur die Direktiven bereits kommunistischer Stadt-und Gemeinderäte vollziehen.

Die sozialistischen Parteien, ganz besonders die deutsche, hielten den von Marx und Engels geführten „Bund der Kommunisten" — der die erste auf marxistischen Grundsätzen fußende kommunistische Partei der Welt überhaupt war — für eine längst überholte Episode, an die sie nicht gern erinnert werden wollten. Beispielsweise wurde es von vielen von ihnen höchst ärgerlich registriert, als Engels im Jahre 1885 das besagte Rundschreiben als Anhang zur Neuauflage der „Enthüllungen über den Kommunistenprozeß" von Marx drucken ließ. Es schien ihnen unverständlich, was Engels damit bezweckte, da sie in der Veröffentlichung des Rundschreibens eine Kompromittierung des Sozialismus sahen. Hatte niemand bemerkt, daß Engels — der vertraulich „General" genannt wurde, weil er sich viel mit militärischen Studien befaßte — zu einem Spezialisten des Bürgerkriegs geworden war? Während die Sozialisten aus seinen und den Schriften von Marx ihren eigenen Pazifismus herauslesen wollten, versuchte Engels immer wieder, sie mit dem Gedanken des Bürgerkriegs — und der Taktik, die dann anzuwenden wäre — vertraut zu machen. Am Ende seines Lebens erkannte er zwar, daß sich die Verhältnisse seit 1848 gründlich gewandelt hatten, doch schien er selbst dann noch mehr um eine geschmeidigere Taktik im Bürgerkrieg als um dessen Vermeidung besorgt zu sein.

Bei Marx war schon 1868 klar geworden, was er vom Pazifismus hielt, als er sich scharf gegen die Aufnahme der „Internationalen Liga für Frieden und Freiheit" in die I. Internationale wandte, weil sie vom Klassenkampf ablenken würde. In seiner „Kritik des Gothaer Programms" kam er auf diese Liga noch einmal zurück, als er gegen den Passus der „internationalen Völkerverbrüderung" polemisierte: „Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewußtsein, daß das Ergebnis ihres Strebens , die internationale Völkerverbrüderung sein wird'— eine dem bürgerlichen Freiheits-und Friedensbund entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen."

Nicht die Verbrüderung der Völker, sondern die Vereinigung des Proletariats aller Länder hatte Marx also im Sinn. Erstere schien der letzteren sogar im Wege zu stehen, weil Nationalbewußtsein und Klassenbewußtsein miteinander konkurrierten.

Dieses militante Erbe übernahm nun Lenin, doch nicht, ohne es auf eine spezifische Art zu vemehren, die recht bezeichnend für den Bolschewismus war. Marx und Engels sind zwar keine Pazifisten gewesen, aber sie setzten nicht auf den Krieg, um an die Macht zu gelangen. Zwar hielten sie eine Krise für unerläßliche Vorbedingung, damit eine revolutionäre Situation entstehen könne, doch sind es immer Wirtschaftskrisen gewesen, von denen sie als Voraussetzungen neuer Revolutionsperioden sprachen. Anders Lenin. Bei ihm verschob sich die Grundbedingung einer Revolution von der Wirtschaftskrise auf den Krieg, der seinerseits wirtschaftliche und politische Krisen erzeuge. Zweifelsohne ging er hierbei von der Erfahrung aus, daß der russisch-japanische Krieg von 1904/05 zur russischen Revolution von 1905 geführt oder sie zumindest begünstigt hatte. Diese Abkehr vom ökonomischen Primat des historischen Materialismus, die zu einer den Bolschewismus charakterisierenden Eigenart wurde, zog sich seit 1905 durch alle Schriften Lenins, die sich mit der Revolution oder dem Aufstand befaßten. Wir wählen als Beispiel den ersten „Brief aus der Ferne" vom 7. März 1917, wo es hieß, daß der Sturz des Zaren nur die erste Etappe einer Revolution sei, die bei geschickter Politik mit der bolschewistischen Machtergreifung enden würde. Lenin schrieb: „Damit die erste, die große Revolution von 1905 . . . zwölf Jahre später zu der .. . Revolution von 1917 führen könnte .. ., so war dazu ein mächtiger, großer und allgemeiner Regisseur'notwendig, der imstande war, einerseits den Gang der Weltgeschichte ungeheuer zu beschleunigen und andererseits weltumspannende Krisen, wirtschaftliche, politische, nationale und internationale Krisen von ungeahnter Intensivität hervorzurufen. . . Dieser allgewaltige . Regisseur', dieser mächtige Beschleuniger war der imperialistische Weltkrieg." übrigens forderte Lenin in diesem Brief, genau wie Marx und Engels im März 1850, die „Bewaffnung des Proletariats (als) einzige Garantie für die Freiheit" Zwischen April und September 1917 schien er vorübergehend seine Ansicht geändert zu haben, doch seine Formel von der Ersetzung der Polizei durch die Volks-miliz schloß das Bürgertum aus; unter „Volk" wurden nur die Arbeiter und Bauern verstanden. Aber am konzentriertesten hat er seine diesbezüglichen Ansichten in dem langen Artikel über das „Militärprogramm der proletarischen Revolution" formuliert, der im September 1916 geschrieben worden ist. „Die Sozialisten können nicht gegen jeden Krieg sein, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein. Erstens waren die Sozialisten niemals und können niemals Gegner revolutionärer Kriege sein. Zweitens, Bürgerkriege sind auch Kriege." Lenin zog sogar „Kriege für den Sozialismus, für die Befreiung anderer (!) Völker von der Bourgeoisie" in Betracht. Zu seinen Schlußfolgerungen hat die folgende gehört:

„Eine unterdrückte Klasse, die nicht danach strebt, Waffenkenntnis zu gewinnen, in Waffen geübt zu werden, Waffen zu besitzen, eine solche unterdrückte Klasse ist nur wert, unterdrückt, mißhandelt und als Sklave behandelt zu werden."

Lenin scheute sich nicht einmal, die von den Sozialisten vertretenen Ideen der Abrüstung und Schiedsgerichte als „reaktionär" zu bezeichnen. Das war das genaue Gegenteil von Pazifismus. Aber nach dem, was wir bisher feststellen konnten, wissen wir längst, daß Lenin in die-sein Artikel nicht für die Sozialisten sprach, auf die er sich berief, sondern für die Kommunisten. Er knüpfte noch unmittelbarer als Marx an die frühkommunistischen Traditionen der bewaffneten und irregulären Aufstände an, die wie Steppenbrände über verschiedene Länder oder Landstriche gerast und ebenso schnell wieder erloschen waren, und er fühlte sich gleichzeitig berufen, alle Konsequenzen aus den bisherigen Mißerfolgen solcher Erhebungen zu ziehen, damit sie in Zukunft siegreich wären.

Im Zusammenhang mit den frühkommunistischen Traditionen war es aufschlußreich, daß im Gründungsmanifest der Komintern (vom 6. 3. 1919) an Babeuf erinnert wurde. Zunächst hieß es nur, daß sich die Kommunistische Internationale als Erbin des „Kommunistischen Manifestes" fühle, seit dessen Veröffentlichung 72 Jahre verflossen seien, und daß die Entwicklung des Kommunismus im Laufe dieser sieben Jahrzehnte schwere Wege gegangen wäre. Schon hier war bemerkenswert, daß man auch für jene Zeit (1850— 1912) von einer Entwicklung es Kommunismus sprach, als es nach der Selbstauslösung des Kommunisten-bundes kommunistische Parteien noch nirgendwo gab. Aber noch eindrucksvoller klang der Hinweis, daß sich „die in der III. Internationale vereinigten Kommunisten als die direkten Fortsetzer der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Generationen, von Babeuf bis Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg" betrachteten. Der Bolschewismus knüpfte nicht nur an Marx an, sondern ging teilweise auch hinter den Marxismus zurück. Lenin fühlte sich in der kommunistischen Gesamttradition stehen und war einer ihrer Kulminatoren. Aber diese Tradition ging mit ihm eher rückwärts als vorwärts, wenn man den kulturellen Maßstab an sie legt. Während der Kommunismus mit Lenin in die Breite schoß, verlor er gleichzeitig an kulturellem Niveau. In Gestalt des Marxismus hatte der Kommunismus eine Stufe der Sublimierung erreicht, die er nicht zu halten vermochte. Zwar sind auch die Schöpfer des Marxismus hier und da entgleist, indem etwa der Hang zum Terrorismus hervortrat, aber schon der Umstand, daß eine der Quellen, aus denen sich der Marxismus speiste, die klassische deutsche Philosophie war, bewahrte sie in der Regel vor politischer Vulgarität. Hierzu hat gewiß auch beigetragen, daß sie in Westeuropa und in dessen Kulturzentren lebten.

Schließlich sind es schon mehr oder weniger demokratisierte Länder gewesen, in denen sie den größten Teil ihres Lebens verbrachten.

Alle diese Umstände hatten auf den Marxismus eingewirkt und ihn so geformt, daß er noch heute selbst viele Intellektuelle mit hohem Bildungsgrad anzieht. Der Leninismus, obwohl viel später entstanden, rief jedodr bei vielen von diesen Intellektuellen ein gewisses Unbehagen hervor, das sie vielfach selbst nicht zu erklären vermochten. Mir scheint, daß es die Diskrepanz zwischen dem kulturellen Niveau Westeuropas und den politischen Theorien Lenins war, die dieses Mißbehagen erzeugte, eine Diskrepanz, die allerdings nur Europäer zu empfinden vermochten, nicht aber — um zwei Beispiele zu nennen — Mao Tse-tung oder Ho Chi Minh. Der Marxismus hatte auf der kulturellen Höhe seiner Zeit gestanden, und erst Trotzki schien sich wieder dem Niveau von Marx und Engels zu nähern.

Lenin war mehr im Boden seines Landes als im Kosmopolitismus des Intellektualismus verwurzelt. Er brachte Rußland auch in die Emigration mit. Das unterschied ihn von Trotzki, der eher Westeuropa nach Rußland hineintrug. Während in Trotzki der Westen aufzuschimmern begann, schien Lenin die Dunkelheit des Ostens aufzusaugen: sie brach — nur durch seinen scharfen Intellekt zerteilt, statt durch einen kulturellen Filter gegangen — immer wieder aus ihm hervor. Lenin war ein Meister der politischen Analyse, aber es fehlte ihm jenes „Mehr", das auch politische Theorien über ihre unmittelbaren Zwecke erhebt und sie zu Bestandteilen der Kultur machen kann. (In einem seiner letzten Artikel — vom 6. 1. 1923 — stand der enthüllende Satz: „Zweitens war für mich stets der praktische Zweck wichtig.") Ein solches Kulturelement ist der Marxismus gewesen, beispielsweise durch seine Theorie der Entfremdung. Die leninistischen Theorien zeichnen sich demgegenüber durch ihre direkte Zweckverhaftung aus. Der Ansatzpunkt des Marxismus war philosophisch, der des Leninismus politisch. Marx spannte schon in den Pariser Manuskripten von 1844 seinen Geist auf einen geradezu kosmischen Bogen, während Lenin selbst in seiner philosophischen Schrift über „Materialismus und Empiriokritizismus" den Geist der russischen Rückständigkeiten reproduzierte, indem er etwa die Rolle des menschlichen Bewußtseins auf die Funktion der „Widerspiegelung" beschränkte — eine Erkenntnistheorie, die längst begraben und vergessen schien, bevor sie von Lenin aufgefrischt wurde. Doch enthielt diese Reproduktion insofern einen Hinweis, als der Leninismus und seine bolschewistische Praxis einer „Widerspiegelung" des zaristischen Regimes glichen. Der hierarchische Aufbau der bolschewistischen Partei war der hierarchischen Struktur des russischen Absolutismus angepaßt. Der bolschewistische Zentralismus war sogar als bewußte Analogie zum zaristischen Zentralismus gedacht, da man den Feind nur mit seinen eigenen Waffen schlagen könne. Unter den russischen Verhältnissen war es unmöglich, eine Partei nach demokratischen Grundsätzen zu organisieren und zu leiten. Lenins Realismus zeigte sich gerade darin, daß er vor „einer blinden Nachahmung" der sozialistischen Parteien des Westens warnte. Das bürokratische Polizeiregime der Zaren erstickte jede freiheitliche Regung, von welcher Seite sie auch kommen mochte, mit Gewalt. Daher hatte Lenin nicht ganz unrecht, wenn er in „Was tun?“ im Jahre 1902 schrieb: ..... man wird sehen, daß der . umfassende Demokratismus'der Parteiorganisationen in der Finsternis der Selbstherrschaft, wo die Gendarmen es sind, die eine Auslese vornehmen, nur eine leere und schädliche Spielerei ist." Die leninistischen Organisationsprinzipien: strengste Konspiration, sorgfältige Auslese der Mitglieder, hierarchischer Aufbau, Zentralismus und Heranbildung von Berufsrevolutionären — alle diese Prinzipien sind teils aus Anpassungsreflexen, teils aus wohlüberlegten Versuchen entstanden, jene politischen Methoden, Taktiken und Organisationsformen herauszufinden, die zur Niederwerfung der zaristischen Selbstherrschaft am geeignetsten waren und zugleich die eigene Partei am besten vor der Vernichtung schützten. Die Neigung zur Diktatur, auch über die eigenen Parteimitglieder, kündigte sich zunächst — außer im Ultrazentralismus — nur in Lenins Forderung nach blindem Gehorsam gegenüber den Direktiven der Parteizentrale an; aber selbst dieses Gebot der „eisernen Disziplin" schien durch die Eigenart der russischen Verhältnisse gerechtfertigt zu sein.

Lenin war Realist, was die Möglichkeiten einer politischen Revolution in Rußland betraf. Daß er im Hinblick auf die eschatologische Revolution, die der Kommunismus von jeher erstrebte, zugleich zu den Utopisten gehörte, stand auf einem anderen Blatt.

Der Bolschewismus wurde also von ganz anderen Bedingungen als der Marxismus geformt.

Jedes Urteil ohne Berücksichtigung dessen, in welchem gesellschaftlich-staatlichem Rahmen er aufwuchs, ist schon im Ansatz verfehlt. Im zaristischen Rußland war es nicht nur unmöglich, eine nach demokratischen Spielregeln tätige Partei aufzubauen, es schien auch undenkbar, von einer friedlichen Umwälzung zu träumen oder gar auf bloße Reformen zu setzen. Was Bernstein für den Westen und insbesondere für Deutschland war, ist Lenin im umgekehrten Sinne für den Osten und insbesondere für Rußland gewesen. Ihr Gegensatz hat dem westeuropäisch-russischen Antagonismus entsprochen. Beide haben den Marxismus auf die Eigenart neuer und anderer Situationen bezogen, als sie Marx vor Augen standen.

In bezug auf den Leninismus ist vor allem folgendes zu beachten:

Erstens die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit Rußlands, so daß die Bolschewiki von einem unterentwickelten statt von einem überreifen Kapitalismus ausgehen mußten; zweitens die Tatsache des abolutistischen Polizeiregimes, das selbst unter revolutionärem Druck nur einen weitgehend potemkinschen Parlamentarismus zuließ und Sibiriens so sehr bedurfte wie Deutschland des Ruhrgebiets — wenn auch nicht zum Zweck der Produktion, sondern zu dem der Deportation; drittens der Umstand, daß die bolschewistischen Prinzipien dem zaristischen Regime so dicht angepaßt wurden, daß sie ihr Muster beibehielten, weshalb der Zarismus im Bolschewismus seinen eigenen Tod überdauern und das Schicksal der Sowjetunion mitbestimmen konnte; und viertens, daß Lenins Prinzipien allmählich von Mitteln zu Selbstzwecken wurden, so daß man beispielsweise auch nach dem Ende der Selbstherrschaft fortfuhr, die Demokratie als eine „leere und schädliche Spielerei" zu betrachten — das sind die den russischen Kommunismus prägenden Grundelemente gewesen.

Im Untergrund des Bolschewismus wirkte jedoch noch ein anderer Faktor. Denn Rußland hatte seinen eigenen Frühkommunismus, der spezifische Züge besaß. In den Bauernaufständen, vor allem den von Rasin und Putgatschow geführten, waren kommunistische und anarchistische Züge ineinandergeflossen, ebenso wie sich Rebellen-und Banditentum miteinander verflochten hatten. Besonders auf Rasin berufen sich die sowjetischen Kommunisten noch heute fast offiziell. Jewtuschenko hat ihm bekanntlich ein Gedicht gewidmet. Diese früh-kommunistische Tradition dürfte es vor allem gewesen sein, die in Rußland als erstem Land die Praxis der „gewaltsamen Expropriation" von Banken und Geldtransporten zugunsten der Parteikasse aufkommen ließ. Wenn Lenin einmal schrieb, daß man bestrebt sein müsse, „die spontane zerstörende Kraft der Menge und die bewußt zerstörende Kraft der Organisation der Revolutionäre" einander näherzubringen, damit sie „zu einem Ganzen verschmilzt" so war das im Sinne Rasin/Putgatschows und zugleich eine Folgerung aus ihren Niederlagen, denn bei den Bauernaufständen hatte die Organisation der Revolutionäre gefehlt,

Im Bolschewismus brach der kriegerische Charakter des agrargesellschaftlichem Kommunismus unvergleichlich stärker als im Marxismus durch. Der Zarismus, auf den seine eigene Brutalität zurückschlug, hat selbst dazu beigetragen, daß sich um die Führer der Bauern-aufstände zahlreiche Legenden rankten. Lenin ist diesem barbarischen Quell der frühkommunistischenTradition entschieden näher als Marx und Engels gewesen, obwohl er später lebte. Chronologisch lebte er später, soziologisch aber eher als sie, weil er in der Zwangsjacke eines politisch, wirtschaftlich und kulturell rückständigen Landes steckte, das hinter der westeuropäischen Entwicklung weit zurückgeblieben war. Selbstverständlich konnte das nicht ohne Einfluß auf seine kommunistischen Theorien bleiben.

Neben der frühkommunistischen Tradition und ihren speziell-russischen Zügen wirkte auch der Marxismus in der bolschewistischen Konzeption mit. Er ist das einzige internationalistische und teilweise auch humanistische Element des Leninismus gewesen. Sein Gewicht im Rahmen der bolschewistischen Theorie und Praxis ist geringer als gemeinhin angenommen wird, weil er, auf die Verhältnisse Westeuropas zugeschnitten und von ihnen geformt, den russischen Revolutionären wenig mehr als eine Denkmethode und eine eschatologische Vision geben konnte. Die unmittelbaren Bedürfnisse der Theorie und Praxis hat Lenin selbst befriedigen müssen, während die westeuropäischen Kommunisten und Sozialisten darauf hoffen durften, im Magazin des Marxismus auch die aktuellen Formeln zu finden. Lenin war zu eigenständigem Denken gezwungen. Nur der Umstand, daß die leninistische Theorie im Unterschied zum Marxismus innerhalb einer politischen Bewegung entstand, also von vornherein die Dienerin der Praxis war, hat den Schwung seines Denkens beengt und vielfach gebrochen. Trotzdem ist Lenin zweifelsfrei einer der schöpferischsten Marxisten gewesen. Aber er russifizierte den Marxismus auch. Daß er ihn darüber hinaus brutalisiert hat, wie schon Bernstein feststellen mußte, ist zwar unbestreitbar, aber verhältnismäßig leicht aus den von uns angeführten Umständen zu erklären. Im Westen hätte Lenin vielleicht Bernstein geheißen, und Bernstein, nach Rußland verpflanzt, wäre vielleicht zu einem Lenin geworden — vorausgesetzt immer, daß Bernstein Kommunist und Lenin Sozialist gewesen wäre. Diese Voraussetzung war indes nicht gegeben, womit wir in einem Bogen zu unserem Ausgangspunkt zurückgekehrt sind.

Beide Bewegungen, Kommunismus wie Sozialismus, wurden in ihren modernen Existenz-und Bewußtseinsformen nicht nur von ihren Zielen und den aktuellen Verhältnissen, sondern auch von ihren Traditionen bestimmt. Bisher sind im allgemeinen nur diese Verhältnisse und Ziele, aber nicht die frühkommunistischen und frühsozialistischen Traditionen berücksichtigt worden, obwohl sie zumindest Schlüssellöchern zu geheimen Kabinetten gleichen und entsprechende Einblicke erlauben. Das spezifische Verhältnis der Traditionen zu den zeitgenössischen Verhältnissen in dem betreffenden russischen Bezugsraum ist es wohl vor allem gewesen, was Lenin zu einer Art Synthese von Babeuf und Marx gemacht hat, indem er die Züge beider in sich aufnahm und verschmolz. Gewiß hatte schon der Marxismus eine barbarische Komponente, die sich aus seinen frühkommunistischen Traditionen nährte und in solchen Schriften wie dem Rundschreiben vom März 1850 offenbarte, aber er besaß ein philosophisches und humanistisches Gegengewicht, das dem Leninismus fehlte, zumal er den ethischen Aspekt des Marxismus meist überschlug oder nur bei feierlichen Anlässen zu betonen pflegte. Wenn man noch den besonders rabiaten Charakter der frühkommunistischen und terroristischen Traditionen Rußlands in Erwägung zieht, dann enthüllt sich der Bolschewismus als ein russisches Gewächs, das vom Marxismus in seinem Wachstum nur modifiziert, aber nicht determiniert werden konnte. Der Marxismus bildete die zweite Traditionsschicht über dem Frühkommunismus und gehörte den Glaubensgewißheiten, aber nicht den Handlungsgewißheiten Lenins an. Auch in diesem Sinne ist der Bolschewismus als eine neue Existenzform des Kommunismus entstanden. Vielleicht wird man nun besser verstehen, weshalb sich bei Lenin die Schubkraft der Geschichte von der Wirtschaftskrise auf den Krieg verschob. Die Begriffe Revolution und Krieg wuchsen in seinem Kopf zusammen. So wurde die Idee des revolutionären Krieges geboren, die von Mao Tse-tung zu einer besonderen Konzeption entwickelt worden ist. Lenin konkretisierte die Gewalttheorie des Marxismus, die ohnehin explosiv genug war. Er gab ihr jene verhängnisvolle Wendung, die der zweiten Form des modernen Kommunismus einen ausgesprochen militaristischen Charakterzug verleihen sollte — wie er noch heute bei den jährlichen Maiparaden in den meisten kommunistischen Ländern oder in der kommunistischen Jugenderziehung sichtbar wird. Vom Bolschewismus sprang gleichsam der zivilisatorische Lack ab, den Marx und Engels den Kommunisten hinterlassen hatten, so daß er, wo er als Rote Armee die Grenzen der Sowjetunion überschritt, die barbarischen Sitten der agrargesellschaftlichen Kriegführung restaurierte. Hinter dem Rücken Lenins kehrte jener antike Kriegertyp, der Plünderung und Vergewaltigung als sein gutes Recht ansah, in das 20. Jahrhundert zurück, was die schrecklichsten Folgen haben sollte. Der Bolschewismus brutalisierte nicht nur den Marxismus — das heißt die Anwendung bestimmter marxistischer Theorien in der politischen Praxis —, sondern auch den Soldaten, ja mehr oder weniger alle zwischenmenschlichen Beziehungen in seinem Herrschaftsbereich.

Gegenüber dem Sozialismus zeichnete sich das zunächst in seinem Verhältnis zur Idee der Entwaffnung ab, die Lenin nicht nur als eine Illusion, sondern auch als lächerlich empfand. Statt die Waffen wegzuwerfen, sollten sie umgekehrt werden, um den imperialistisch gewordenen Kapitalismus in allen Ländern mit dem Bajonett zu durchbohren. Damals, während des zweiten Schismas, war noch niemandem klar, welches militärische Monstrum aus dieser militanten Haltung hervoiwachsen würde. Sie schien nur eine radikale Konseguenz des Glaubens an die Revolution zu sein. Neben den tendenziellen Kommunisten neigte ihr auch der linke Flügel des Sozialismus zu. Aber die große Mehrheit der Sozialisten verharrte in der Ablehnung von Gewalt-methoden, die zu ihrer Tradition gehörte. Gewalt könne nicht mit Gewalt aus der Welt geschafft werden; dadurch würde sie vielmehr stets von neuem reproduziert, so daß der Blut-strom, der sich durch die Geschichte zöge, ständig neuen Zufluß fände.

Während der Leninismus vor allem als eine Revolutions-und Kriegstheorie entfaltet worden war, grub sich in die Sozialisten immer tiefer der Pazifismus hinein. Einmal, weil sich das Gewicht der gewaltlosen Tradition vermehrte, während jene sozialistischen Aktionen, die selbst im Zeichen der Gewalt gestanden hatten, im sozialistischen Gedächtnis verblaßten. Ferner, weil die Entwicklung der Industriegesellschaft in Westeuropa rasch voranschritt; eine Bewegung, die sich auf den industriegesellschaftlichen Wohlfahrtsstaat orientiert, kann in ihrer Grundhaltung nicht kriegerisch sein, sondern wird versuchen, den Aggressionsinstinkt zu tabuieren oder abzubauen. So sind die Sozialisten zu den eifrigsten Förderern einer internationalen Friedensbewegung geworden, lange bevor die Kommunisten — einschließlich Marx und Engels — ein Bündnis oder selbst ein Gespräch mit Pazifisten auch nur erwogen.

Mit der Billigung von Kriegskrediten schienen die Sozialisten aber auf einmal ins andere Lager überzugehen. Hatten sie nicht die Friedenssehnsucht der Völker verraten und entgegen den Beschlüssen ihrer eigenen Kongresse gehandelt?

In Wahrheit sind sie von der nationalistisch-patriotischen Welle mitgerissen worden und den Konsequenzen ihres eigenen Pazifismus erlegen. Julius Braunthal, ehemaliger Sekretär der Sozialistischen Internationale, hat beide Aspekte am prägnantesten umrissen. „Das überraschendste psychologische Ereignis der Augusttage 1914", so schrieb er, „war der überwältigende Gefühlsausbruch des Patriotismus und Nationalismus in den sozialistischen Parteien aller kriegführenden Länder, vor allem aber in der deutschen Arbeiterschaft." Hier wäre zwar in bezug auf Ruß-land und Bulgarien eine Einschränkung zu machen gewesen (beispielsweise haben die Parlamentarier der bulgarischen Sozialisten mit einer einzigen Ausnahme die Kriegskredite abgelehnt, was auch Braunthal erwähnt hat), aber selbst diese Einschränkung hätte die allgemeine Wahrheit des Gesagten unberührt gelassen. Doch ebenso wichtig ist ein zweiter Hinweis, der bei Braunthal allerdings auf die Frage gemünzt war, warum die sozialistischen Parteien — vor allem in Deutschland und Italien — im entscheidenden Augenblick dem Kampf mit dem Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus ausgewichen sind, statt den bewaffneten Aufstand zu wägen, um die Pläne Hitlers und Mussolinis zu durchkreuzen. „Die Sozialdemokratie hatte sich im Protest gegen Gewalt — gegen die Gewalt der politischen, sozialen und ökonomischen Unterdrückung der Arbeiterklasse und die Gewalt des Krieges entwickelt . . . War es nicht der ihr eingewurzelte Abscheu vor Gewalt, (der sie hemmte) zur Gewalt zu greifen?"

So ist es in der Tat gewesen. Aber war nicht vorauszusehen, daß die sozialistischen Parteien dem Aufstand ausweichen würden, nachdem die Generalprobe des August 1914 stattgefunden und aufgezeigt hatte, welche Rolle der Pazifismus in der Sozialdemokratie spielte? Neben dem Umstand, daß sich die meisten Sozialisten der eigenen Nation viel näher als die internationalistischen Kommunisten fühlten und daher auch für den Patriotismus empfänglicher waren, ist es ja paradoxerweise gerade der Abscheu vor Gewaltanwendung gewesen, der die Sozialisten den Kriegskrediten zustimmen ließ. Wenn es bei den Bolschewiki einen Kult der Gewalt gab, so bei den Sozialisten einen Kult der Gewaltlosigkeit; er hat sie schließlich unfähig gemacht, der fremden Gewalt zu widerstehen und die eigene zu entladen. Nach dem Attentat von Sarajewo war der Krieg nur noch durch den gewaltsamen Sturz der eigenen Regierung zu verhindern. Für die Sozialisten entfiel jedoch der Aufstand als Alternative zum Krieg, während Lenin unermüdlich die Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg verlangte.

Die Sozialisten waren in ihrer gewaltigen Mehrheit außerstande, zwischen Krieg und Bürgerkrieg (der 1914 schon durchs Streiks ausgelöst werden konnte) zu wählen. Aber die nationalistisch-patriotische Welle schwemmte sie an die Seite der Regierungen ihrer Länder. Schon aus diesem Grunde wurden sie von der Gewalt des Krieges, der in Form der Kriegskredite auf sie zukam, überrollt. Aber ausschlaggebend dürfte ihre Überzeugung von der Sinnlosigkeit jeglicher Gewaltanwendung gewesen sein. Bereits 1914 — und während des Ersten Weltkriegs — wichen die sozialistischen Parteien im entscheidenden Moment dem Bürgerkrieg aus, aber nicht, weil sie Verräter an der Friedenssehnsucht oder „Sozialchauvinisten" gewesen wären, sondern vor allem deshalb, weil sie prinzipielle Pazifisten waren. Gewiß spielten noch einige andere Gründe mit, auf die wir hier nicht näher einzugehen brauchen, aber rätselhaft wird die sozialistische Haltung im Jahre 1914 nur denen erscheinen, die allein die marxistische Periode des Sozialismus im Auge haben und seine frühsozialistische Tradition negieren, in der die fortschreitende Tabuierung der Gewaltanwendung ein kennzeichnender Zug war.

Der Bolschewismus wurde umgekehrt durch die Enthemmung des Aggressionsinstinkts charakterisiert, was ihn jahrzehntelang auf die Methoden der Gewalt fixieren sollte. Konnte man ernsthaft gegen den Krieg sein, wenn man ihn als den Motor der Geschichte ansah? Während die Sozialisten zunächst verzweifelte Anstrengungen unternahmen, um den Ersten Weltkrieg zu verhindern, aber schließlich bei seinem Ausbruch wie gelähmt waren, hatte Lenin schon lange den Krieg nicht nur als eine bloß revolutionäre, sondern auch als kommunistische Chance begriffen. Von Anbeginn seiner politischen Laufbahn um die Ausschaltung der Revisionisten und „Opportunisten" aus den sozialistischen Parteien bemüht, sah er die Kriegskredite richtig als jenen Spannungspunkt an, der den Bruch innerhalb der sozialistischen Parteien beschleunigen konnte, wenn die sozialistischen Parteivorstände für die winzige Minderheit jener Sozialisten verantwortlich gemacht wurden, die sich über die Bewilligung der Kriegskredite hinaus mit den Kriegs-zielen ihrer Regierungen identifizierten. Wenn es ferner gelang, erhebliche Teile der Sozialisten oder gar ganze sozialistische Parteien auf die Seite des Kommunismus, nun des Bolschewismus, zu ziehen, so war gleichzeitig die Voraussetzung für erfolgreiche kommunistische Aufstände geschaffen.

In der Tat sind es dann die Bolschewiki und ihre Anhänger in den sozialistischen Parteien — wie Karl Liebknecht in Deutschland — gewesen, die am frühesten und energischsten die Kriegskredite verwarfen. Allerdings sind auch Bolschewiki von der patriotischen Welle mitgerissen worden. Daniels berichtet in „Gewissen der Revolution", daß sich eine Reihe in Frankreich lebender Anhänger Lenins freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat, darunter sogar zwei Mitglieder des Pariser Komitees. Die Ablehnung der Kriegskredite stieß aber im Laufe des Krieges auf ein ständig wachsendes Echo, das seinen Höhepunkt erreichte, als die Bolschewiki im Oktober 1917 die politische Macht in Rußland nicht zuletzt im Namen der Beendigung des Krieges ergriffen. Ihre Friedenslosung war zumindest ebenso zugkräftig wie ihr Versprechen, den Bauern Boden zu geben. Vielleicht — niemand kann es beweisen — ist die Forderung nach Frieden die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen des bolschewistischen Aufstandes gewesen. Sicher ist, daß das „Dekret über den Frieden", am Tage nach der Oktoberrevolution vom II. Sowjetkongreß beschlossen und in alle Himmelsrichtungen ausgestrahlt, gewaltigen Widerhall fand. Lenins Partei trug als einzige der allgemeinen Kriegsmüdigkeit bedingungslos Rechnung, denn sie hatte von der Auflösung der (russischen) Armee nur Vorteile für sich zu erwarten.

So sind die von Sozialisten und Kommunisten im Verhältnis zum Frieden gespielten Rollen vertauscht gewesen. Dieser Rollentausch riet unbeschreibliche Verwirrung in den sozialistischen Parteien hervor. Er trug dazu bei, daß ausgerechnet die Bürgerkriegspartei über die Losung des Friedens zu einer internationalen Kraft wurde. War der Bolschewismus vor dem Ersten Weltkrieg — wenn man davon absieht, daß es bereits zahlreiche tendenzielle Kommunisten gab — fast gänzlich auf Rußland beschränkt, so gelang es ihm nun, die Sozialistische Internationale zu spalten und eine eigene Internationale zu bilden. Es ist den Kommunisten sogar allmählich gelungen, die Sozialisten zu überflügeln. Am 1. 1. 1928 standen 36 sozialistischen Parteien bereits 44 kommunistische gegenüber. Allerdings hatten diese 44 Parteien nur 1 707 769 Mitglieder, während die Mitgliederzahl der sozialistischen Parteien 6 638 000 betrug“ Im Jahre 1964 war auch dieses Verhältnis umgekehrt. Während die kommunistischen Parteien 42, 8 Millionen Mitglieder buchen konnten" zählten die Sozialisten 13 Millionen Den 68 sozialistischen Parteien standen nun 90 kommunistische gegenüber. Wenn außerdem berücksichtigt wird, in wieviel Ländern kommunistische Parteien zur Macht gelangt sind und welchen Anteil sowohl der Menschheit als auch der Erdoberfläche sie beherrschen, so ist die Überflügelung noch augenscheinlicher.

Ihr lag jedoch auch die falsche Voraussetzung zugrunde, daß die Bolschewiki die wahren Sozialisten seien. Der Bolschewismus erzielte unter Lenins Führung den günstigen Eindruck, daß eine vorbildliche Einheit von Wort und Tat bei ihm bestünde, die in den sozialistischen Parteien Westeuropas nicht mehr gegeben wäre. Die Haltung zu den Kriegskrediten stellte nur einen Nebenaspekt dieser Frage.

Wichtiger war, daß die Bolschewiki die Theorie vom unerläßlichen Machtantritt der Arbeiterschaft wahr gemacht zu haben schienen. Ihr Erfolg, die Tatsache ihrer Machtergreifung, überzeugte. Viele Sozialisten waren der vielen Worte, langen Diskussionen und schönen Theorien müde. Ihre Verwirklichung in Westeuropa schien nur durch die Übernahme der bolschewistischen Methoden und Organisationsformen möglich zu sein. Folglich war es nötig, auch die bolschewistische Theorie zu übernehmen. Wer aber die Theorie und Praxis des Bolschewismus wollte, mußte sich auch zum Kommunismus bekennen, was zunächst unter dem Namen des „revolutionären Marxismus" möglich war, bis Lenin darauf bestand, daß man sich auch offiziell als Kommunisten zu erkennen gab. Indem er dies verlangte, zwang er die zögernden Sozialisten, sich für oder wider den Bolschewismus zu entscheiden. Das sollte zwar den Übertritt der Sozialisten zum Kommunismus beschleunigen, zog aber auch einen Strich.

Zunächst ging alles glatt nach Lenins Wünschen. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution war in den meisten sozialistischen Parteien Europas und Amerikas ein starker Ruck zum Kommunismus hin zu spüren. In den sozialistischen Parteien Jugoslawiens, Schwedens, Norwegens und Italiens bekannte sich die Mehrheit der Mitglieder zum Sowjet-system. In den meisten anderen Ländern verwandelten sich die tendenziellen in überzeugte Kommunisten, die sich zu starken und ständig wachsenden Fraktionen formierten, welche den Anschluß an die Komintern verlangten. Die Norwegische Arbeiterpartei trat 1919 geschlossen in die Komintern ein. Die 1917 gegründete „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" brach auseinander, als sich auf ihrem Parteitag in Halle im Oktober 1920 fast zwei Drittel ihrer Delegierten für die Sowjetmacht erklärten, worauf die Mehrheit der Unabhängigen zur KPD überging, die dadurch zu einer Massenpartei von 356 000 Mitgliedern werden konnte. Der Kommunismus schien unaufhaltsam vorzudringen und die Vitalität des Sozialismus in sich aufzusaugen, von dem anscheinend nur noch ein sinkendes Wrack übrigbleib. Nun erst trat hervor, wie tief der Marxismus in den sozialistischen Parteien zugunsten des Kommunismus gewirkt hatte. Ohne die systematische Vorarbeit von Marx und Engels wären schwerlich Hunderttausende von Sozialisten zum Kommunismus übergegangen. Lenin wußte das zu schätzen, wie beispielsweise aus seinen erweiterten „Aprilthesen“ vom 10. 4. 1917 zu ersehen war, in denen er darauf hinwies, daß sich Marx und Engels jahrzehntelang bewußt mit der angeblich unwissenschaftichen Bezeichnung „Sozialdemokratie“ abgefunden hätten, weh die internationale Situation für den Kommunismus noch nicht günstig genug gewesen sei. Nun aber wäre es an der Zeit, die Wäsche zu wechseln. Wer von den Sozialisten nicht zum Kommunismus übertrete, sei ein Verräter, sogar ein Verräter am Sozialismus.

Aber die Bolschewiki selbst sorgten für eine Gegentendenz. Wenig später, als die Komintern triumphierend erklärte, daß sie bereits „die Sympathien der gewaltigen Mehrheit der klassenbewußten Arbeiter der ganzen Welt erobert" habe, setzte schon das Zurückfluten der Sozialisten vom Kommunismus ein. Es war die bolschewistische Praxis in Rußland, die dafür sorgte. Und jene, die die Sozialisten über ihre Irrtümer belehrten, waren oppositionelle Kommunisten und Exbolschewisten. Aber mehr noch sind es Tatsachen gewesen, die wiederum am meisten überzeugten. Die falschen Voraussetzungen für die Hochschätzung der Bolschewiki in den sozialistischen Parteien hatten in folgenden Annahmen bestanden:

Erstens, daß die Oktoberrevolution eine sozialistische Revolution gewesen sei und eine kapitalistische Regierung gestürzt habe. Statt dessen war, wie sich herausstellte, eine sozialistische Regierung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre von einer kommunistischen abgelöst worden. In einem „Prawda" -Artikel vom 28. 8. 1921 gab das Lenin höchstpersönlich zu: „In etwa zehn Wochen haben wir für die wirkliche und vollständige Vernichtung der Reste des Feudalismus in Rußland mehr getan als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre in den acht Monaten ihrer Macht (Februar bis Oktober 1917)." Nun erst wurde klar, daß man in bezug auf Rußland zwischen den kommunistischen Leninisten und den beiden sozialistischen Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre unterscheiden mußte, denen die Bolschewiki einen großen Teil ihrer Anhänger vor allem dadurch zu entziehen verstanden, daß sie die Programme beider einfach übernahmen.

Zweitens die Annahme, daß der Bolschewismus dem russischen Volk mehr Freiheit und Demokratie bringen würde, als es je zuvor besessen hatte. In Wahrheit war Rußland nur in der Zeit von Februar bis Oktober 1917 ein freies Land, und die Verfassunggebende demokratische Versammlung des russischen Volkes, die auf Grund der Wahlergebnisse vom November 1917 zusammengetreten war, wurde auf Anweisung Lenins am 5. Januar 1918 mit Gewalt auseinandergejagt. Karl Kautsky sollte später die Vermutung äußern, daß erst hierdurch der Stein des Bürgerkriegs ins Rollen kam: „Die hinter der Verfassunggebenden Versammlung stehende Mehrheit war so überwältigend, daß kein einziger von den zaristischen Generalen es wagte, gegen sie vorzugehen. . . Die Demokratie war errungen. Die Arbeiter und Bauern waren an der Macht. Die Forderungen der Arbeiterschaft hätten mit Hilfe demokratischer Methoden befriedigt werden können."

Drittens, daß man das Sowjetsystem keinesfalls mit der bolschewistischen Parteiherrschaft gleichsetzen dürfe, weil die Sowjets überparteiliche Vereinigungen mit offiziellen Vertretern auch der Sozialrevolutionäre und Menschewiki seien. So schlecht, wie das heute scheint, ist diese Annahme anfänglich nicht begründet gewesen, da die Sowjets tatsächlich als Dreiparteienkoalitionen entstanden. Als jedoch die Menschewiki und „rechten" Sozial-revolutionäre am 14. 6. 1918 aus den Sowjets ausgeschlossen wurden, verkümmerte nicht nur deren überparteilicher Charakter, sondern sie verwandelten sich auch in Instrumente der bolschewistischen Partei, die ihre Eigenbedeutung verloren. Wie die sozialistische Regierung in Rußland nur eine achtmonatige Episode gewesen war, so dauerte die Macht der Sowjets nicht wesentlich länger: sie war nur eine Ubergangsform zur kommunistischen Parteidiktatur, was nicht geheimgehalten werden konnte. Und die hinter der Sowjetfassade konstituierte Einparteiherrschaft stieß die Sozialisten in Massen zurück. Zugleich ergab sich, daß ein Bekenntnis zur Rätebewegung, wie es beispielsweise die USPD auf ihrem zweiten Parteitag im März 1919 abgelegt hatte, mit einem Bekenntnis zum Kommunismus nicht unbedingt identisch war. Im Gegenteil, gerade im Namen einer echten und freien Rätebewegung sollte sich eine bedeutende Gegenströmung zum Bolschewismus ent-wickeln, die sogar revolutionäre Formen an-nahm. Viertens, daß in Rußland der Sozialismus aufgebaut würde. Aber im März 1921 erhob sich gemeinsam mit sozialistischen und anarchistischen Rebellen die Kronstädter Avantgarde der Oktoberrevolution gegen die „Unterdrükkung der kommunistischen Autokratie, die drei Jahrhunderte monarchistisches Joch verblassen ließ", um vor aller Welt auszurufen, „daß alles, was bei uns bis jetzt im Namen der Arbeiter und Bauern geschaffen wurde, kein Sozialismus war." Mit dem Kronstädter Aufstand und seiner erbarmungslosen Unterdrückung hat der Bolschewismus für immer seine Unschuld verloren. Zugleich zeichneten sich die ersten Risse in seinem Fundament ab. Wenngleich die Rebellen untergingen, war ihre Spur nicht mehr zu tilgen. Kronstadt hob wie ein Windstoß den Schleier von der Illusion, die von Lenin ausgestrahlt wurde, wobei die Blößen des Kommunismus zutage traten.

Die Norwegische Arbeiterpartei, das erstaunlichste Symbol dafür, was falsche Annahmen zu bewirken vermochten, demonstrierte im November 1923 ebenso drastisch, was die Des-illusionierung über den Bolschewismus für Folgen haben konnte: indem sie nämlich mit großer Mehrheit ihren Austritt aus der Komintern beschloß. Das Jahr 1923 kann als Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Sozialisten und Kommunisten nach dem zweiten Schisma gelten. In England kam erstmals die Labour Party an die Macht. Im Mai 1923 wurde die Sozialistische Internationale neu begründet; Lenins Versuch, sie für immer zu zerschlagen und den Sozialismus als eine eigenständige Bewegung auszulöschen, war gescheitert. Wenn es den Kommunisten dennoch gelang, die Sozialisten zu überflügeln, so vor allem dank dessen, daß sie mit den Losungen des Antikolonialismus und Antiimperialismus in allen Erdteilen Wurzeln schlugen. Die Sozialistische Internationale beschränkte sich hingegen vornehmlich auf Europa und die „weißen" Länder, was im großen und ganzen erst nach dem Zweiten Weltkrieg korrigiert worden ist. Wiederum spielte, wie bei den Kriegskrediten, die nationale Bindung der sozialistischen Parteien eine wichtige Rolle; die Rücksichtnahme auf den internationalen Einfluß und die Großmachtrolle des eigenen Staates standen einem konsequenten Antikolonialismus im Wege, was den Kommunisten erlaubt hat, den Sozialisten in vielen Ländern Asiens und Afrikas vorzukommen.

Wird fortgesetzt!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Julius Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, Hannover 1961, S. 152.

  2. S. Miller, Das Problem der Freiheit im Sozialismus, Frankfurt/M. 1964, S. 234.

  3. Eduard Bernstein, Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus, Berlin 1904, II. Teil, S. 59.

  4. Ebenda, S. 75.

  5. Ebenda, S. 76.

  6. Ebenda, S. 103.

  7. Ebenda, S. 95.

  8. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Hannover 1964, S. 57.

  9. P. Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus, Nürnberg 1954, S. 305.

  10. Bernstein, Voraussetzungen, S. 65.

  11. Karl Marx, Hamburg 1956, S. 108.

  12. Bernstein, Voraussetzungen, S. 179.

  13. Ebenda, S. 13.

  14. Ebenda, S. 182.

  15. Ebenda, S. 176.

  16. Ebenda, S. 9.

  17. Ebenda, S. 8.

  18. Ebenda, S. 8.

  19. Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Berlin (Ost) 1961, Band H, S. 25.

  20. Bernstein, Voraussetzungen, S. 179.

  21. Bernstein, Zur Theorie, II. Teil, S. 94.

  22. Bernstein, Voraussetzungen, S. 185.

  23. Ebenda, S. 185.

  24. Ebenda, S. 187.

  25. Marx/Engels, II, S. 27.

  26. Ebenda, S. 25.

  27. Ebenda, S. 34.

  28. Bernstein, Zur Theorie, II, S. 67 (von ihm selbst zitiert).

  29. Farner/Pinkus, Der Weg des Sozialismus, Hamburg 1964, S. 15.

  30. Bernstein, Voraussetzungen, S. 243 (von ihm selbst zitiert).

  31. Marx/Engels, II, S. 157.

  32. Ebenda, S. 681.

  33. F. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Berlin (Ost) 1960, Bana II, S. 678.

  34. Ebenda, I, S. 93- 103.

  35. Gay, Dilemma, S. 313.

  36. Miller, Problem der Freiheit, S. 157.

  37. Ebenda, S. 153.

  38. Einheit, Sonderheft, August 1962, S. 93.

  39. Zitiert von Miller, Das Problem der Freiheit, S. 249.

  40. K. Kautsky, Sozialdemokratie und Kommunismus, München 1948, S. 15.

  41. Lenin, Der . linke Radikalismus', die Kinderkrankheit des Kommunismus, Berlin (Ost) 1953, S. 92.

  42. Der Sowjetkommunismus, Dokumente, Band 1, hrsg. von Hans-Joachim Lieber und Karl-Heinz Ruffmann, Köln 1963, S. 307.

  43. Ebenda, S. 311.

  44. Ebenda, S. 307.

  45. Lenin, Radikalismus, S. 91.

  46. Marx/Engels, I, S. 99.

  47. Ebenda, S. 20.

  48. Lenin, Ausgewählte Werke, Berlin 1961, Band I, S 880.

  49. Ebenda, S. 887.

  50. Ebenda, S. 868/69.

  51. Ebenda, S. 870.

  52. Ebenda, S. 871.

  53. Ebenda, S. 877.

  54. Sowjetkommunismus, S. 300.

  55. Lenin, Ausgewählte Werke, 1/128.

  56. Ebenda, S. 228.

  57. Ebenda, S. 255.

  58. Braunthal, 11/18.

  59. Ebenda, 11/430.

  60. Ebenda, 11/341.

  61. Probleme des Friedens und des Sozialismus, Nr. 8/64.

  62. Vorwärts, 7. 4. 1965.

  63. Sowjetkommunismus, S. 307.

  64. Lenin, Ausgewählte Werke, 11/878.

  65. Kautsky, Sozialdemokratie und Kommunismus, S. 41/42.

  66. Lenin, Ausgewählte Werke, 11/878.

Weitere Inhalte

Günter Bartsch, freier Jouralist, geb. 13. Februar 1927 in Neumarkt/Schlesien, von 1948 bis 1953 in leitenden Positionen der kommunistischen Jugendbewegung, Bruch mit dem Kommunismus nach dem 17. Juhi 1953.