Der frühere Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, der lange Zeit maßgeblich an den Verhandlungen über die wirtschaftliche Integration Europas, insbesondere an der Gründung der EWG, beteiligt war und danach die Bundesregierung im Ministerrat der EWG vertreten hat, gibt in den Beiträgen dieser Ausgabe eine Analyse der gegenwärtigen Krise der europäischen Integration und macht detaillierte Vorschläge zu ihrer Überwindung. Der Verfasser spricht mit der Autorität des mit den Problemen hervorragend vertrauten Fachmannes. Seine Thesen stellen jedoch weder eine offizielle Äußerung dar noch decken sie sich unbedingt mit der Meinung des Herausgebers.
I. Ausgangspunkte
1. Die europäische Einigung befindet sich in einer Krise, über deren wahrhaft umfassenden Charakter man sich in der Öffentlichkeit nicht im klaren ist. Das Fernbleiben Frankreichs vom Brüsseler Ministerrat im Juli 1965 war ursprünglich durch die Nichteinigung in Fragen der Agrarfinanzierung motiviert. Inzwischen hat der französische Außenminister Couve de Murville eindeutig erklärt, Frankreich strebe über die Austragung der Agrarfragen hinaus einen Umbau der Gemeinschaft an, über den auf politischer Ebene ohne die Kommission und außerhalb Brüssels beraten werden soll. An dem Vorhandensein einer perfekten Krise ist nicht mehr zu zweifeln. 2. Beschwichtigungsversuche und die krampfhaften Bemühungen, durch Zuwarten wie auch durch schriftliche Abstimmungen über die Lage hinwegzugehen, sind ebenso trügerisch wie die Annahme, man könne spätestens im Zeitpunkt des Ausscheidens von Präsident de Gaulle aus der Regierung mit einer Änderung der französischen Haltung rechnen. 3. Wenn eine Erfahrung aus den Verhandlungen mit Frankreich in den letzten Jahren, an denen ich beteiligt war, formuliert werden kann, so ist es die: Die französische Haltung hat sich in Stil und Inhalt seit 1953 kaum gewandelt. Die Gesten sind mit de Gaulle im-perialer geworden, aber nichts berechtigt zu der Hoffnung, daß in einer Zeit nach de Gaulle die Haltung der französischen Diplomatie eine andere würde. 4. Die gegenwärtige Krise ist die vierte ihrer Art. Die erste von 1954 brachte durch eine Abstimmung im französischen Parlament unter dem Einfluß von Mendes France das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), also des Gedankens einer integrierten europäischen Wehrorganisation. Die damalige Krise besiegelte auch das Schicksal der in Deutschland insbesondere von Heinrich von Brentano geförderten Versuche, zu einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) zu kommen. Seither ist es nicht geglückt, den Gedanken einer politischen Union zu realisieren. Alle Versuche bis in die jüngste Gegenwart hinein scheiterten vollständig. Der Umweg über die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes und einer wirtschaftspolitischen Kooperation in EWG und Euratom war damit gewiesen.
Die zweite Krise trat Ende 1958 ein, als die von Maudling geleiteten Verhandlungen über die Große Europäische Freihandelszone durch eine Erklärung des französischen Informationsministers Soustelle auf einer Pressekonferenz, also von außen her, torpediert wurden. Die Zeit der EFTA-Gründung und der späteren Bemühung um den Beitritt Großbritanniens und der Assoziierungen brach an. Bereits in dieser Phase wurde von de Gaulle die Einstimmigkeit verlangt. Er war sogar bereit, sein Ja zur Freihandelszone zu sagen und hat dies offiziell den Vertretern des EWG-Ministerrates gegenüber erklärt. Diese Verhandlungen sind nicht aus ihren sachlichen Schwierigkeiten heraus gescheitert. Die Sachfragen waren, wie man damals taxierte, zu 80 0/0 gelöst. Sie sind gescheitert, weil Frankreich der Konstruktion als solcher widersprach.
Die dritte Krise im Januar 1963 trat ein, als Präsident de Gaulle sein Veto gegen einen Beitritt Englands zur EWG ebenfalls außerhalb des Konferenzsaales mitteilte. Seit dieser Zeit ist die Haltung Frankreichs zur EWG durch strikte Forderungen einerseits und eine wachsende Skepsis gegenüber der Grundlage der Gemeinschaft andererseits gekennzeichnet. Was das Fernbleiben im Juli 1965 und die Schwierigkeiten um die Agrarfinanzierung betrifft, so haben sie insofern nur akzidentellen Charakter gegenüber der Distanzierung von einer Organisation, deren Prinzipien Frankreich immer entschiedener in Frage stellt. 5. Es wäre jedoch falsch, nur auf Frankreich und insbesondere auf Präsident de Gaulle in dieser Auseinandersetzung um die Politik der Europäischen Gemeinschaft zu sehen. In der deutschen Öffentlichkeit wird die europäische Diskussion gegenwärtig weitgehend um Personen geführt, die abwechselnd als Gaullisten und Nicht-Gaullisten auftreten. Man sollte die europäische Krise, die wir augenblicklich nicht ableugnen können, nicht von den Namen her, sondern von der Sache aus erörtern.
Anderthalb Jahrzehnte nach Gründung der Montanunion, zehn Jahre nach der Konferenz von Messina sollte man in Europa in einer Krise ohne Beispiel klar trennen, was positiv erreicht wurde und für die Zukunft gesichert werden muß und wo eine kritische Beurteilung am Platze ist, um neue Ziele für die europäische Einigung zu setzen. 6. Alle Arbeit in Europa muß sicherlich von einer Begeisterung und Hingabe an die große Aufgabe, die Einigung unseres Kontinents zu stärken, getragen sein. Aber es erscheint mir gefährlich, mit vagen Forderungen nach einer europäischen Einheitswährung, gar nach einem europäischen Präsidenten im amerikanischen Sinne, nach einem europäischen Einheitsstaat usw. Unerreichbares anzustreben. Fast ebenso gefährlich wie das Zuviel europäischer Forderungen erscheint mir das Zuwenig europäischer Bemühungen. Die Hoffnungen einfach auf das Weiterarbeiten der europäischen Bürokratie zu setzen, wird wenig Enthusiasmus wecken. Nichts verspreche ich mir von Schein-lösungen wie der leider beschlossenen Fusion der Exekutiven, die nur personelle Schwierigkeiten und eine unerwünschte Verstärkung der Macht der Bürokratie erwarten läßt. 7. Als echtes Positivum der Entwicklung im letzten Jahrzehnt muß die Schaffung eines inneren Gemeinsamen Marktes genannt werden. Alle Staaten haben die im Vertrage enthaltenen Verpflichtungen erfüllt, und in zwei, drei Jahren wird diese Entwicklung abgeschlossen sein. Die gegenwärtige Krise stellt die Koordinierung der Wirtschaftspolitik, die nun als nächste Aufgabe vor uns steht, jedoch vor große Schwierigkeiten. Man sollte prüfen, ob für die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes das hohe Maß an wirtschaftspolitischer Koordinierung im formellen Sinne erforderlich ist, das seinerzeit bei der Schaffung des Vertrages von Rom für notwendig gehalten wurde. Nützlich wäre es, die inzwischen gemachten Erfahrungen der EFTA-Länder, die ja auch einen gemeinsamen inneren Markt bilden, zu prüfen. Offensichtlich hat sich die lockere Form dieses Zusammenschlusses keineswegs als sokünstlich, sondern durchaus auch als praktikabel erwiesen. 8. Notwendiger als die Fusion erscheint die Verschmelzung der Verträge, insbesondere des Montanunion-Vertrages und des EWG-Ver-trages. Daß hierbei die streng supranationale Organisation der Hohen Behörde nicht auf die Kommission übertragen werden kann, dürfte sich zwingend aus der auf den Ministerrat abgestellten Gesamtordnung der EWG ergeben. Eine supranationale Behörde kann auf die Dauer, wenn nicht gegen jede Erwartung die Schaffung eines europäischen Parlaments erreicht werden sollte, kaum vertreten werden. Der supranationale Charakter der Hohen Behörde wird offensichtlich auch von ihren Mitgliedern mit Recht als revisionsbedürftig empfunden. 9. Die europäische Integration kennzeichnet nicht nur Fortschritte, sondern auch klare Mißerfolge. Der 1957 in Rom den Kommissionen und.der Hohen Behörde gegebene Auftrag, eine gemeinsame Energiepolitik zu entwickeln, ist bis heute auch nicht im Ansatz erfüllt. Es vollzog sich in den letzten Jahren eine zunehmende Aufspaltung des Montanmarktes je nach der von den einzelnen Ländern verfolgten Energiepolitik. Italien führte eine Politik freier Energieeinfuhren durch. In Frankreich haben Monopole und Dirigismus eine vom Wettbewerb weit entfernte Lösung ermöglicht. Die holländische Energiepolitik wechselte je nach der Bedeutung, die man der einheimischen Kohle und dem neuentdeckten einheimischen Erdgas zumaß. Die deutsche Energiesituation ist durch einen radikalen Substitutionswettbewerb zugunsten des Öls und des Erdgases gekennzeichnet, bei der ein innerer Wettbewerb der Kohleproduzenten trotz der formalen Einhaltung der dyopolistischen Verkaufsorganisation nicht erwartet werden kann. Die Lösung der deutschen Energiekrise ist auf europäischer Basis nach so vielen Jahren des Versuchs einfach nicht zu erreichen. Es wird sich also zwangsläufig hier der Rückzug auf eine eigenstaatliche Energiepolitik als notwendig erweisen. 10. Der größte Mißerfolg der europäischen Integration ist die Zweiteilung des freien Europa in EWG und EFTA. Die höheren Zuwachsraten des Inner-EWG-Handels geben der EWG auch heute noch eine gewisse Attraktionskraft. Man mag darauf hinweisen, daß auch der Handel mit der EFTA in einem befriedigendem Maße weitergeht. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die Bundesrepublik ein vitales Interesse hat, die Beziehungen zum EFTA-Markt in den kommenden Jahren, in denen der voll diskriminierende Effekt der beiden Gesamtmärkte gegeneinander zum Zuge kommt, für den deutschen Export zu erhalten. Der im Jahre 1964 erzielte deutsche Exportüberschuß von 7 Mrd. DM im Handel mit den EFTA-Ländern bedeutet bei sich generell passivierender Handels-und Zahlungsbilanz einen wesentlichen Rückhalt unserer Außenhandelsstärke. Die großzügige Art, mit der die Bundesrepublik über ihr vitalstes Interesse im Außenhandel in den Brüsseler Verhandlungen hinweggesehen hat, kann auf die Dauer nicht durchgehalten werden und wird — so fürchte ich —, je später man sich darauf einstellt, zu unguten Reaktionen nationalistischer Art führen. 11. Die Bestürzung in der EWG lenkt alle Aufmerksamkeit nach innen. Man ist in Brüssel, aber auch in vielen anderen Ländern der EWG kaum bereit, dem Problem einer Verbindung zwischen EWG und EFTA auch nur einige Beachtung zu schenken. Ein beklagenswerter Verlust unseres europäischen Einheitsbewußtseins tritt darin zutage. Der Rom-Vertrag enthält klare Hinweise in seiner Präambel (8) und in Artikel 237 darauf, daß es sich bei der Kooperation der Sechs nur um ein Provisorium handeln soll. Der Begriff Europa ist durch eine zweitausendjährige Geschichte so eindeutig vorbestimmt, daß wir nicht das Recht haben, wenn schon der östliche Teil Europas dem Bolschewismus anheimfiel, den Rest des freien Europa noch einmal zu teilen. Es ist aber auch wirtschaftlich schädlich, und es zeigt sich, daß insbesondere die agrarpolitische Abschließung zu Reaktionen in den nordischen Ländern führt. In erster Linie ist es vom allgemeinen politischen Standpunkt aus töricht, Verbündete, deren politische Zusammenarbeit und Hilfe man erwartet, in die Rolle der Ausgeschlossenen und gar der Bittsteller zu versetzen.
In einem Konzept für Verhandlungen zwischen der EWG und der EFTA (siehe den zweiten Beitrag dieser Ausgabe) sind die relativ einfachen technischen Maßnahmen dargelegt, die es erlauben, bei Fortbestand von EWG und EFTA beide Systeme durch das Dach einer Freihandelszone im Sinne der GATT-Satzung zu verbinden. Die innereuropäische Zolldiskri-minierung könnte so beseitigt werden. Ich verweise auf die Ausführung dieser Denkschrift, insbesondere auch was die Agrarpolitik angeht. Wenn Schweden z. B. unlängst darauf verzichtete, sich an einer großen deutschen Nahrungsmittelmesse offiziell zu beteiligen mit der Begründung, daß ja doch keine nennenswerten Agrarexporte mehr zustande kommen könnten, so sollte das nachdenklich stimmen.
Wenn man sich neuerdings im Kreise der Außenminister dahin ausgesprochen hat, die EFTA möge ihrerseits Vorschläge machen, so scheint mir hier die Verantwortung der EWG als der stärkeren Organisation, eine eigene Konzeption vorzulegen, übersehen zu werden. Inzwischen ist ein EFTA-Beschluß erfolgt, auf eine solche Prozedur, die nur zu neuen Demütigungen führen würde, nicht einzugehen. Es ist Aufgabe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, handfeste und seriöse Vorschläge vorzulegen.
II. Zur Überwindung der Krise
1. Angenommen, es würde durch geschicktes Taktieren erreicht werden, den Vertreter Frankreichs an den Brüsseler Ministerratstisch zurückzuholen: Was wäre erreicht? Alle eben ausgesprochenen Probleme blieben ungelöst, und nur französische Forderungen zu honorieren, ohne auf die Wünsche und Lebensanliegen der übrigen Staaten einzugehen, wäre ein schlechtes Verfahren, das kurz über lang zum Scheitern des Ganzen führen würde. 2. Die gegenwärtige Krise kann nur in einer Gesamtkonzeption behoben werden, die die in einer solchen Lage auch enthaltenen positiven Entwicklungsmöglichkeiten miteinbezieht. Es scheint mir in erster Linie die Bundesregierung zu einer gewissen Mittlerstellung berufen, aber auch dafür verantwoitlich zu sein, eine Konzeption zu entwickeln, die den Weilergang der europäischen Einigung ermöglicht. Wenn französische Forderungen erfüllt werden sollten, kann dies nur geschehen, wenn Frankreich bereit ist, dafür einen Preis zu zahlen, der, an der Größe der Konzession gemessen, die Erneuerung der im Juli 1958 gegebenen Zustimmung de Gaulles zu einer EWG-EFTA-Lösung sein kann. Eine solche Lösung würde auch den deutschen Interessen entsprechen. Leider hat die Bundesregierung bisher keine Anstalten gemacht, eine solche Konzeption vorzulegen. Sie hat statt dessen zum wiederholten Male die bereits 1954 gescheiterte politische Union verlangt; ein Vorschlag, der, wie jeder Wissende voraussagen konnte, von vornherein zum Mißlingen verurteilt war. Zwar besticht der Gedanke der politischen Union durch seine Einfachheit. Aber diese Einfachheit ist gleich-B zeitig das Ergebnis der völligen Inhaltslosigkeit dessen, was man unter politischer Union fordert. Auf eine kurze Formel gebracht: der Gedanke der politischen Union enthält nichts anderes als die Forderung, politische Fragen regelmäßig zu koordinieren und zu diesem Behufe turnusmäßige Zusammenkünfte der Regierungschefs und Außenminister zu veranstalten. So weit geht die Einigkeit. Der von verschiedenen Ländern hinzugefügte weitere Satz, man solle ein Generalsekretariat oder eine Kommission oder einen Rat von drei Weisen vorbereiten, brachte den Vorschlag bereits zum Einsturz, weil darin seitens de Gaulles der Ansatz eines supranationalen Elements gesehen wurde. Mit Recht hat demgegenüber der Präsident der europäischen Kommission den Gedanken vertreten, daß die politische Zusammenarbeit aus dem umfassenden Weitergang der wirtschaftspolitischen Koordination hervorgehen muß.
Diejenigen, die gleichwohl an dem Gedanken der politischen Union festhalten möchten, hätten es sehr leicht, die Seriosität ihres Vorschlages unter Beweis zu stellen; man setze an den Anfang den politischen Entschluß, die EWG-und EFTA-Länder zur Einheit eines Gemeinsamen Marktes zusammenzuführen, und man hätte damit den Start, durch den der Gedanke der politischen Union wirklich glaubhaft würde, was schwerlich durch äußerliche Konferenzgeschäftigkeit geschehen kann. 3. Es ist unsere Aufgabe, eine irenische Gesamtvorstellung zu entwickeln, die für alle beteiligten Staaten möglicherweise akzeptabel ist und fähig wäre, der europäischen Bewegung wieder einen neuen Auftrieb zu geben. 4. Als erstes Erfordernis erscheint mir eine sachliche Auseinandersetzung mit der französischen Position. Die gegenwärtige Kampagne gegen die Auffassung des französischen Staatspräsidenten bemüht sich, wie ich meine, nur wenig, dem französischen Standpunkt gerecht zu werden. Da ich selbst 1963 nach dem Veto gegen den Beitritt Englands aus dem Dienst schied, weil mir der Verzicht auf eine gesamteuropäische Lösung unerträglich schien, werde ich nicht in dem direkten Verdacht stehen, Gaullist zu sein. Vielleicht hat die französische Diplomatie, die so gern verstanden werden möchte, der es aber so schwer fällt, sich verständlich zu machen, hier einiges unterlassen. Aber wie dem auch sei: 5. Drei Thesen liegen der französischen Auffassung zugrunde: Das Wort „L'Europe des patries" bildet den Ausgangspunkt. Es ruft in Deutschland wie bei den Partnerländern der EWG heftigste Reaktionen vieler Europäer hervor, weil man darin einen Verzicht auf Integration überhaupt und auf ein Weitergehen in der europäischen Arbeit erblickt. Ich weiß nicht, ob diese Stimmen recht haben. So wie dieses Wort zu lesen ist, enthält es den Hinweis auf ein unbestreitbares geschichtliches Faktum, nämlich daß Europa aus seiner Geschichte heraus, anders als die Vereinigten Staaten, aus geprägten nationalen Staaten besteht. Deren Eigenständigkeit in einer Einheitsorganisation aufgehen zu lassen, ist schlichte Utopie. Es enthält gleichzeitig den Hinweis, daß versucht werden muß, dieses Vorhandensein von konturierten Einzelstaaten, mag man sie als geschichtliche Last betrachten oder als wertvolles Erbe, als Realität zu berücksichtigen. Ich meine, das ist ein richtiger Standpunkt, wenn sicherlich auch de Gaulle eine andere Ansicht haben wird, wieweit in diesem , Europe'der Einfluß eines einzelnen Nationalstaates, nämlich Frankreichs, veranschlagt werden soll. 6. Die zweite These de Gaulles ist die Ablehnung der Supranationalität als Organisationsprinzip, daraus resultierend seine Angriffe gegen die Bürokratie in Brüssel. Hier liegt nun ein Mißverständnis vor. Supranational im Sinne der Abgabe von Entscheidungsbefugnissen an eine übergeordnete Instanz ist nur die Hohe Behörde in Luxemburg, und es kann keinem Zweifel unterliegen, daß bei einer Anpassung der Verträge die spezifisch supranationale Form durch die im EWG-Ver-trag definierte Position der Kommission abgelöst wird. Wie ist es nun freilich zu diesem Mißverständnis gekommen? Vielleicht ist die Kommission in Brüssel — ich sage es bei aller freundschaftlichen Verbundenheit durch eine langjährige Zusammenarbeit — aber bisher zu weit gegangen in dem Versuch, den an sich rein wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Inhalt des Rom-Vertrages als einen politischen auszulegen und für sich selbst eine entsprechende politische Rolle zu beanspruchen. Die einzigen politischen Forderungen des Rom-Vertrages finde ich am Schluß der Präambel, wo alle Länder des freien Europa aufgefordert werden, sich der Gemeinschaft anzuschließen, und in dem Art. 237, in dem jedem europäischen Staate die Möglichkeit des Beitritts eingeräumt wird — freilich bei Einstimmigkeit. Dem Geiste nach sind zweifellos diese einzigen politischen Artikel nicht erfüllt worden.
Sonst ist der Vertrag, wie gesagt, ein wirtschaftspolitischer Vertrag. Bei seiner Abfassung ist, insbesondere seitens der deutschen Delegation unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die man in der Montanunion gemacht hatte, eine Wendung vollzogen worden von einer ursprünglich supranational gedachten Kommission zu einem Ministerrat, der in der EWG eindeutig die Entscheidung in Händen hält. Damit bestimmen also die Staaten selbst über die Gemeinschaft, die Kommission hat lediglich ein Vorschlagsrecht. Daß sie hierbei eine dynamische Kraft, die ich aufrichtig bewundere, entwickelt hat, macht jedoch die Kommission nicht zu einer supranationalen Behörde. Hier wäre es sicherlich nötig, das Wuchern des staatsrechtlichen Begriffsapparates einzudämmen, um die Gemeinschaft wieder auf den Boden nüchternen wirtschaftlichen Denkens zu bringen. 7. Die dritte These General de Gaulles richtet sich gegen den ab 1966 in vielen Entscheidungen platzgreifenden Grundsatz der Mehrheitsabstimmung. Zwar ist es nicht sehr schön gewesen, daß man mit der offenen Drohung einer Mehrheitsabstimmung über den Getreidepreis die Bundesregierung zu erheblichen Konzessionen und finanziellen Aufwendungen in dieser Frage veranlaßte, dann jedoch, sobald Frankreich die Anwendung gegen sich fürchtete, das Mehrheitsprinzip für unmöglich erklärte. Bereits vor mehreren Jahren hatte ich den Vorschlag gemacht, man solle mit Frankreich eine Vereinbarung dahin treffen, daß bei einer Zusammenlegung der Verträge auch eine Modifizierung in der Anwendung der Mehrheitsentscheidung erfolgt. Man hat früher, selbst dort, wo es möglich war, wie bei der Kartellverordnung, keine Mehrheitsentscheidungen getroffen, sondern so lange verhandelt, bis auch Frankreich zustimmte, um die allgemein verpflichtende Einstimmigkeit zu erzielen. Es ist in der Tat ein lebensfremder Gedanke einiger Staatsrechtler, man könne durch Mehrheitsentscheidung Europa zu einem Einheitsstaat zusammenschmieden. In vitalen Fragen wird eine Mehrheitsentscheidung von den Großen, wie das Beispiel Frankreich zeigt, einfach nicht hingenommen. Aber ebenso verwerflich wäre es, kleinere Staaten durch Mehrheitsentscheidungen in vitalen Interessen zu treffen. Technische Fragen aber wird man wie bisher entscheiden müssen. Man wird auch für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik einen gewissen Katalog von weniger wichtigen Fragen aufstellen müssen, die mehrheitlich zu entscheiden sein werden. Das ist auch immer geschehen. Aber was nützt im übrigen das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen, das ab 1966 festgelegt ist, wenn der also Geschädigte sich in der Frage des Beitritts anderer Staaten seines Vetorechtes bedient, da in dieser Frage eine ewige Einstimmigkeit im Vertrage festgelegt ist. Ich halte den Gedanken einer Ver-tragsmodifizierung in diesem Sinne keineswegs für abwegig. Die — wie man sagt — elegante Lösung eines Gentlemen’s Agreement, die augenblicklich vorgeschlagen wird, daß man sich also abspricht, möglichst keine Mehrheitsentscheidungen zu treffen, ist nicht Rechtens. Beschlüsse, bei denen eine Mehrheit in Zukunft mit Ja stimmt, sind rechtlich zustande gekommen und können nachträglich vor dem Gerichtshof eingeklagt werden. Es hilft also nur die offene Bereitschaft, in diesem Punkte den Vertrag zu ändern und im übrigen die gegenwärtige Zusammenarbeit im heutigen Stile fortzusetzen. Das, was wir heute haben, ist ja unter dem Grundsatz der Einstimmigkeit erreicht worden. Zugegeben, daß an die Qualität der Verhandler dabei größere Anforderungen gestellt werden; aber es kann keine Rede davon sein, daß damit die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den Status etwa der OECD zurückfiele. Ihre Struktur ist ja durch einen vorhandenen Vertrag durchaus gefestigt, und es wäre nur politische Torheit, meinen zu können, mit der Majorisierung von Staaten integrieren zu können. Die lockeren Konsultationen mit Frankreich vor dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, die jahrelang durchgeführt wurden, haben nie zu Schwierigkeiten geführt. Erst mit dem Vorhandensein eines formulierten Vertrages kamen 1963 die Differenzen. 8. Idi vermag in der Betonung des Weiterexistierens der Nationalstaaten in einem Europäischen Gemeinsamen Markt und auch in dem Verzicht auf supranationale Behörden und auf die Mehrheitsabstimmung nichts zu sehen, was unvernünftig wäre. Ob die Präsentation geschickt war, ob man über derartige Dinge nicht ruhig reden kann, ist eine andere Frage.
Offensichtlich würden wir, wenn wir auf diesem Wege den französischen Vorschlägen ein Stück folgen, den gesamteuropäischen Zusammenschluß sowohl wirtschaftlich als auch politisch wesentlich erleichtern. Es ist ja doch eine Paradoxie in den Verhandlungen um die europäische politische Union gewesen, daß Frankreich gegen die Hinzuziehung Englands war, obwohl beide Staaten in gleichem Maße wenig Neigung zu supranationaler Organisation verspüren, während auf der anderen Seite insbesondere Holland, aber auch Belgien und Italien, England hinzuziehen wollten, das gegen eine starke Supranationalität ist, während gerade diese Staaten das supranationale Element verstärken möchten. Alle diese Widersprüche würden vermindert werden, wenn man unter Beiseitestellung aller staatsrechtlichen Finessen auf dem Gemeinsamen Markt von Montanunion und EWG aufbauend eine europäische Kooperation aller Staaten herbeiführte. Je größer die Zahl der Beteiligten ist, um so geringer werden auch die Befürchtungen der kleineren Staaten zu sein brauchen, von wenigen großen übergangen zu werden, was für sie das Motiv war, die supranationale Organisation zu fordern.
In der gegenwärtigen Krise sehe ich so durchaus positive Möglichkeiten, wenn sich die europäischen Staaten bereitfinden, eine mittlere Lösung zu wählen, bei der nicht nur die Wünsche Frankreichs, sondern auch die Wünsche und Anliegen aller übrigen Staaten gerecht berücksichtigt werden. Im Kern ist das der Verhandlungsausgleich zwischen dem Ja zu gewissen Forderungen und Vorstellungen de Gaulles und seiner Zustimmung zu einer gesamteuropäischen Lösung einer Verbindung mit der EFTA. Ohne eine solche Gesamtlösung wäre eine einseitige Konzession ein für mein Empfinden unwürdiges Zurückweichen. Die Festigkeit der EWG muß durch die Festigkeit, eine solche Gesamtlösung zu fordern, unter Beweis gestellt werden. 9. Wenn gelegentlich der Gedanke aufgekommen ist, die EWG ohne Frankreich weitergehen zu lassen und eine Verbindung zur EFTA zu suchen, so kann diesem Gedanken-B spiel nur ernstlich widersprochen werden. Verhandlungen zwischen den Fünfen ohne Frankreich und Großbritannien haben 1963 nach dem Veto de Gaulles unter dem Titel „Les nou-veaux Six" in einer Nacht in Brüssel stattgefunden. Am nächsten Tage war alles spurlos vergangen. Eine europäische Lösung ohne Frankreich ist nicht möglich. Im übrigen kann man überzeugt sein, daß die französische Industrie und sicherlich auch die französische Regierung das reale Interesse Frankreichs am Gemeinsamen Markt hinlänglich einschätzt, um zu Konzessionen vernünftiger Art bereit zu sein. Der französischen Industrie kann an einem Anschluß der EFTA auch nur gelegen sein. Noch einmal jedoch einseitige Konzessionen zu machen, würde freilich das Ende des Vertrauens zu Europa sein, das nicht auf einseitigen Vorleistungen, sondern nur auf fairer Gegenseitigkeit beruhen kann.
Es scheint mir notwendig zu sein, mit Frankreich möglichst schnell ins Gespräch zu kommen und die Entwicklung, die seit dem Besuch de Gaulles im Juli 1964 so verhängnisvoll einsetzte, wieder rückgängig zu machen. Gespräch heißt, daß zwar die führenden Staatsmänner miteinander sprechen-, die Erfahrung zeigt, daß ohne ein Team erfahrener Ver-handler mit Gipfelgesprächen allein nicht durchzukommen ist. Erforderlich ist zunächst einmal eine konkrete Selbstdarstellung des französischen Standpunktes und die gleichzeitige Erarbeitung einer konkreten Gesamt-konzeption der deutschen Europapolitik. Es wäre nicht richtig, den EFTA-Staaten diese Aufgabe, die man selbst zu leisten hat, zuzuschieben. Ich weiß, wie sehr man im Ausland eine Initiative der deutschen Seite erwartet, ja geradezu enttäuscht ist, daß sie in den letzten zwei Jahren nicht sichtbar hervortrat. Verhandlungen dieser Art können nur Zug um Zug erfolgen. Die Zeit der Vorleistungen sollte endgültig vorbei sein. Das wird sicher auch in Frankreich gesehen werden. 10. Ich verspreche mir auch nichts davon, durch ein Nachgeben im kleinen, das mit Forderungen der fünf Partner kaschiert wird, die ohnehin selbstverständlich sind, Frankreich zur Rückkehr an den Brüsseler Ratstisch zu bewegen. So möchte man die französische Zustimmung zu einer Parallelität des Vorgehens im agrarischen wie im industriellen Bereich, zur Beseitigung der Steuergrenzen und zu gewissen handelspolitischen Fragen. Aus alledem spricht der Glaube, man könne die Lösung nur im Sechserkreis finden, statt nunmehr einen grundsätzlichen Vorstoß zu einer neuen europäischen Integrationsstruktur zu unternehmen. Die Chance, daß die Regierungen etwas in der Richtung einer Gesamtlösung tun werden, halte ich für gering. Ob das für die Regierungen spricht oder gegen die hier vorgelegte Konzeption, sei dahingestellt. Meine Absicht geht dahin, die Diskussion in Europa zu beeinflussen, wenigstens einmal auch dieses Tabu zu erörtern. 11. Ein deutsches Konzept hätte von dem Ziel auszugehen, eine Gesamtlösung für alle Länder des freien Europa zu finden. Bei der Ratifikation des Rom-Vertrages haben alle Parteien des Bundestages dieses Ziel zum ausdrücklichen Beschluß erhoben. Ein Entschluß, dieses Ziel vorerst zurückzustellen, was auf einen Dauerverzicht hinausliefe, widerspricht nicht nur der natürlichen Einheit Europas, sondern auch der vollzogenen demokratischen Willensbildung in unserem Lande. Man sollte daher von einer Verhandlungsführung absehen, die lediglich französische Vorstellungen erkundet, ohne zugleich diesen von fast allen Ländern geteilten Ansatz klar ins Spiel zu bringen. Die billigen diplomatischen Wohlwollenserklärungen, mit denen die Vertreter der EFTA abgespeist weiden, genügen nun nicht mehr. 12. Eine Lösung der gegenwärtigen Spannungen ist nur möglich, wenn die ohnehin erforderliche Fusion der Verträge sogleich durch-geführt wird. Diese Aufgabe, wie es im Augenblick geschieht, auf Jahre hinaus zu vertagen, bedeutet die Verlängerung der Krise und bringt das Ganze in Gefahr. Wenn eine Fusion der Verträge einen Sinn haben soll, so doch nur den, den Montan-Vertrag in den EWG-Vertrag einzubeziehen. Dabei können gewisse Übersteigerungen der Monopolpolitik gemildert werden, gewisse Besonderheiten des Montanbereiches könnten jedoch auch in den neuen Vertrag hinübergenommen werden. Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß es unmöglich wäre, die supranationale Stellung der Hohen Behörde auf die Kommission zu übertragen. EWG-Kommission und Hohe Behörde müssen ohne Zweifel die gleiche Rechtsstellung erhalten.
Die Fusion der Verträge müßte unter dem Gesichtspunkt erfolgen, den Beitritt und die Assoziierung europäischer Staaten zu erleichtern. An diesem Tatbestand haben sich in der Vergangenheit politische Krisen entwickelt.
Es kommt die Notwendigkeit hinzu, die durch Frankreich geforderte Änderung der Abstimmungsmodalitäten zu definieren. Sicher spricht vieles dagegen, die Möglichkeit von Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit in wichtigen Fragen einzuschränken. Die Abstimmungsartikel 148, 149 und 150 sind jedoch zweifellos zu kompliziert. Wenn der führende Kommentar (Wohlfahrth, Everling, Glaesner, Sprung, S. 449) als paradoxes Ergebnis formuliert: „Der einstimmige Beschluß sei am leichtesten, die einfache Mehrheit am schwersten zu erreichen“, so trifft das nur hypothetisch zu. Die Abstimmungsartikel sind ein Kompromiß zwischen dem Versuch, die Entscheidung im Rat im wesentlichen einstimmig bzw. mit qualifizierter Mehrheit zu vollziehen und der Kommission dennoch eine aktive Rolle zu übertragen. Freilich hat man mit juristischer Überspitzung im Art. 149 Abänderungen von Kommissionsvorschlägen an die Einstimmigkeit im Rate gebunden. Von allen juristischen Feinheiten abgesehen, bleibt sicher weiterhin die Notwendigkeit, eine Reihe noch zu definierender technischer Fragen, insbesondere pro-zedualer Art, mit einfacher oder, wie in der Regel, mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen.
Wir sollten uns jedoch der französischen Forderung, das Einstimmigkeitsprinzip in allen vitalen Fragen zu wählen, auch in unserem eigenen Interesse anschließen. Daß damit der Integrationsprozeß aufgegeben wäre, trifft nicht zu. Die Bestimmungen über den Gemeinsamen Markt im Innern z. B. erfordern keine Beschlüsse, sondern lediglich die Durchführung des bereits feststehenden Vertragsinhaltes. Freilich müßte, wenn wir aut die französischen Wünsche eingehen, dafür gesorgt werden, daß Einstimmigkeit nicht zum Verstoß gegen den Sinn und klaren Wortlaut des Vertrages führen darf. Der Art. 237 zeigt diese Gefahr am deutlichsten: „Jeder europäische Staat kann beantragen, Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Er richtet seinen Antrag an den Rat. Dieser beschließt einstimmig, nachdem er die Stellungnahme der Kommission eingeholt hat." Praktisch kann die Einstimmigkeit den ersten Satz, wie es beim Veto gegen den Beitritt Englands geschehen ist, völlig beseitigen, während auf der anderen Seite Staaten, denen gerade an diesem Ziele des Beitritts anderer Staaten liegt, in anderen Fragen mehrheitlich überstimmt werden können. Ein solches Verfahren ist in der Tat nicht tragbar. Auch die Bundesrepublik hat kein Interesse, sich in bezug auf das von ihr angestrebte liberale Zoll-niveau überstimmen zu lassen oder gar durch Mehrheitsentscheidungen zu einem Wechsel ihrer marktwirtschaftlichen liberalen Ordnung gezwungen zu werden.
Alle diese Fragen lassen sich nur durch einen politischen Akkord zwischen den Beteiligten lösen, in dem Konzessionen über die Abstimmungsmodalitäten mit Vereinbarungen über Beitritt und Assoziierung anderer Staaten, mit der Entscheidung über eine liberale, nach außen offene Wirtschaftspolitik und über die Aufrechterhaltung der im Vertrage kodifizierten marktwirtschaftlichen Ordnung zu einer Gesamtvereinbarung verbunden werden. Das ist keine grundlegende Vertragsänderung, sondern eine Bereinigung von Unentschiedenheiten und Unklarheiten, wie sie ein internationaler Vertrag, der vor zehn Jahren entstanden ist, nun einmal aufweist. Wir sollten alles tun, diese Vertragsfusion sogleich in die Wege zu leiten und über formale Änderungen hinaus die echten inhaltlichen Probleme anspiechen. Mit der Entschiedenheit, mit der de Gaulle einige Schwächen des Vertrages bezeichnet, sollte auch die deutsche Regierung darauf bestehen, daß ihre-Anliegen einer liberalen Politik, einer marktwirtschaftlichen Ordnung, der Aufnahme weiterer Staaten, was der Rom-Vertrag expressis verbis verlangt, nicht leichthin in den Bereich der politischen Lyrik verwiesen, sondern mit dem gleichen Ernst realisiert werden, mit dem die Bundesregierung bereit sein sollte, auch auf den französischen Standpunkt einzugehen. Eine europäische Lösung ist nicht mehr durch einseitiges Nachgeben, sondern nur in einer Konzeption zu finden, bei der die wesentlichen und großen politischen wie wirtschaftlichen Anliegen gleichzeitig zum Zuge kommen. 13. Da die politische Union im eigentlichen Sinne aus anderer Wurzel erwachsen muß, sollte der wirtschaftspolitische Charakter der EWG stärker in den Vordergrund treten. Das bedeutet nicht einen völligen Verzicht auf eine gemeinsame Politik. Später mag sich eine politische Union anschließen. Diese wird jedoch besser vorbereitet, wenn in einer wirtschaftlichen Einigung, einschließlich Englands, die wirtschaftlichen Fragen gemeinsam gelöst werden. Die Beziehung zum Commonwealth mag als eine politische Verstärkung der europäischen Integration und nicht nur als eine Last wegen einiger Präferenzzölle angesehen werden. 14. Eine solche Vertragsrevision, die ohnehin bei einer Fusion der Verträge in der einen oder anderen Richtung erfolgen würde, ist kein Verzicht, die europäische Integration weiterzuführen. Sie ist primär ein Mittel, die drohende Blockierung des europäischen Fortschritts zu lockern. Gegenüber den Abstimmungsmodalitäten, die geändert werden müßten, sollte nicht übersehen werden, was man dabei etwa durch Schaffung einer Dachorganisation zwischen EWG und EFTA gewinnen kann. Aber im übrigen muß außer Frage stehen, daß die Praktizierung des Rom-Vertrages und des Gemeinsamen Marktes weitergeht. Die Bestimmungen des Rom-Vertrages sind geltendes Recht. Daß man mit dem Einstimmigkeitsprinzip praktisdi arbeiten kann, haben die letzten Jahre durchaus bewiesen. Man fürchte also nicht, daß ein auf seine wirtschaftlichen Aufgaben verwiesenes Europa nur die Technik einer Zollunion zu praktizieren hätte, obwohl das nicht wenig wäre. Man sollte bei dem sicherlich notwendigen stark technischen undbürokratischen Ausbau der Organisation nicht übersehen, daß die europäischen Staaten eine Fülle von politisch wichtigen, wirtschaftlichen Kooperationsmöglichkeiten haben, die sie gegenwärtig noch in keiner Weise voll nutzen. Ich nenne eine europäische Konjunkturpolitik, eine europäische Budget-Politik, eine europäische Politik gemeinsamer Investitionen, eine europäische Forschungspolitik, gemeinsame europäische Verkehrsplanung, Planungen für den Tourismus, Koordinierung der Entwicklungspolitik und der Haltung zum Osthandel. 15. Man hat zwar nach vielen Bemühungen ein europäisches konjunkturpolitisches Gremium zustande gebracht und im April vergangenen Jahres einen Ministerratsbeschluß gefaßt, der positive Ergebnisse zeitigte. Seit-her pausiert man wieder. Die Institutionalisierung der Konjunkturpolitik ist nicht weiter-getrieben worden, obwohl in Europa und in der Bundesrepublik konjunktur-und finanzpolitisch sehr viel zu tun wäre. So hätte die Kapitalmarkt-und Budget-Politik der Bundesrepublik mit ihren exorbitanten, weit über die Brüsseler Norm von 5 °/o hinausgehenden Steigerungssätzen längst zu Reaktionen der dortigen konjunkturpolitischen Instanzen führen müssen. 16. Die europäischen Staaten in ihrer Gesamtheit könnten in bezug auf große gemeinsame Investitionen Möglichkeiten ergreifen, die im Vertrag selbst noch nicht enthalten sind, insbesondere auch im Hinblick auf die Forschungspolitik. Noch steht die Erfüllung des Art. 9 des EURATOM-Vertrages, die Gründung einer Post-Graduate-Universität mit integriertem Lehrkörper, aus. Zu denken wäre auch an gemeinsame Bemühungen um die Stabilität des Geldwertes. Hier kann die Erweiterung über den Kreis der Sechs nur nützlich sein.
Es sind also genügend Aufgaben, die im Vertrag ausdrücklich genannt sind oder über ihn hinausgehen, aber eben rein wirtschaftspolitische Aufgaben vorhanden, um einer erweiterten europäischen Kooperation Lebendigkeit und Bedeutung zu geben. Ein starker dynamischer Impuls würde einer solchen Erweiterung des europäischen Marktes folgen. Die Reduktion auf die hier gezeichnete staatsrechtlich anspruchslosere Linie ermöglicht den neutralen Mitgliedern der EFTA, Österreich, Schweden und der Schweiz, einen erleichterten Zugang zum Zusammenschluß mit dem Gemeinsamen Markt. Nicht zuletzt ist hier die Stellung Spaniens anzusprechen, dessen Wiederannäherung an die demokratischen Staaten Europas, im Innern weitgehend vorbereitet durch eine relative Liberalisierung der Wirtschaftspolitik, nach dem Anschluß an die EWG einen weiteren Fortschritt machen könnte. 17. Man war sich seit Jahren klar, daß der Fusion der Exekutiven eine solche derVerträge folgen müsse. Eine Anpassung der Verträge dürfte das einzige Mittel sein, die Organisation Europas in Übereinstimmung mit der Zeitsituation und den inzwischen gemachten Erfahrungen zu bringen. Freilich hat man bisher diese Seite der Fusion möglichst weit hinausschieben wollen und sich mit den inneren Problemen einer solchen Vertragsfusion kaum recht beschäftigt. Dieses Verfahren hat sich als gefährlich erwiesen. Wir müssen heute entscheiden, ob wir bestimmten Forderungen entsprechen wollen. Wir sollten uns nicht auf das Stückwerk bloßer Konzessionen einlassen, auf Absprachen über einen gewissen Knigge für Mehrheitsabstimmungen bei Ministerratssitzungen oder dergleichen mehr, sondern sollten versuchen, die nun entstehenden Probleme in einem Zuge an den beiden neuralgischen Punkten — Änderung der Abstimmungsstruktur und Erweiterung der Gemeinschaft — gleichzeitig anzupacken. Nur wenn wir durch einen nicht auf dem Mehrheitszwang beruhenden Beschluß der europäischen Sache einen neuen Impuls geben, wird die Lähmung überwunden werden, die, wenn wir ihre Ursachen bestehen lassen, den Gemeinsamen Markt in Gefahr bringt.
Der hier gemachte Vorschlag würde die EWG als solche, abgesehen von der Mehrheitsregelung, völlig intakt lassen. Genauso wie auf der anderen Seite die EFTA als Gruppe zusammenbleiben mag. Ein Vertrag über die Beseitigung des Grabens und über eine Kooperation auf den eben genannten Gebieten könnte durch einen Rahmenvertrag zwischen den unangetastet bleibenden Organisationen EWG und EFTA erfolgen. Gleichwohl würde zwischen ihnen ein gemeinsamer europäischer Markt entstehen.
Diese Grabenbereinigung sollte wohl erst im gewerblichen Bereich allein erfolgen. Für den Agrarbereich wären Sonderabsprachen angeB messen. Nachdem die Zollhöhe ab 1. Januar 20 °/0 der ursprünglichen Zölle erreicht, sollte niemand sagen, daß der Wettbewerb, der im Gemeinsamen Markt der EWG oder der EFTA jeweils schon vorhanden ist, die Unternehmen nicht befähigt, auch in einem größeren Markt zu bestehen. Gewiß hat man mit einigen neuen Konkurrenten in einem vergrößerten Markte zu rechnen, aber immerhin auch mit einem ungeheuren Impuls, den die Erschließung eines so vergrößerten Marktes auslöst. 18. Ein Eingehen auf einige Grundgedanken de Gaulles scheint mir keineswegs ein Verzicht auf ein Weitergehen in der Integration zu bedeuten. Gelingt es, die europäischen Gegensätze, die sich in vier Krisen angesammelt haben, durch eine Gesamtlösung zu entspannen, so kann dies nur im Interesse Europas sein. Beides, die gesamteuropäische Lösung wie auch die sinnvolle Erhaltung eines gewissen Maßes nationalstaatlicher Autonomie, dürfte dem natürlichen Status Europas entsprechen. Es gibt für Europa keine andere Lösung als die, EWG und EFTA zusammenzubringen und gleichzeitig die immer noch funktionierenden eigenstaatlichen Organisationen als Basis der europäischen Organisation zu erhalten.