Chruschtschow unterschätzte den osteuropäischen Nationalismus
Zu den vielen ungelösten Problemen, die Chruschtschow seinen Nacholgern Breschnew und Kossygin hinterlassen hat, gehört auch die Politik in Osteuropa. Das Problem war unlösbar geworden, jedenfalls zu Bedingungen, die für die Sowjetunion annehmbar gewesen wären.
Chruschtschow hatte sich dort vor allem darum bemüht, zwischen Einheit und Vielfalt einen Ausgleich herzustellen, der die Vorherrschaft der Sowjetunion sichern, zugleich aber auch den anderen genügend Freiheit und Beweglichkeit gewähren würde, um eigene Lebensformen im Rahmen des kommunistischen Welt-systems zu entwickeln.
Durch die Ereignisse in Ungarn und Polen im Herbst 1956 wurden ihm viele der Vorstellungen und Illusionen genommen, die er bei seiner Machtübernahme noch gehegt hatte. Für einen Mann, der in der Ukraine ausgewachsen war, hatte Chruschtschow den osteuropäischen Nationalismus merkwürdig unterschätzt. Zwar war er sich der Sünden des stalinistischen Kolonialismus und der Mißstände, die behoben werden mußten, bewußt; doch unerschätzte er den Schaden, den die stalinistische Zeit den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas sowie der Sache des Kommunismus selbst in diesen Gebieten zugefügt hatte. Auch die ernste Gefahr, die seine Verdammung des Stalinismus für das neue und noch schwache sozialistische Gefüge in Osteuropa bedeuten würde, hatte er nicht vorausgesehen. Was eine in sich gefestigte Sowjetunion überstehen konnte, war für die noch in den Kinderschuhen steckenden „Volksrepubliken" fast der Ruin. Vor allem die Ereignisse des Jahres 1956 zeigten Chruschtschow, daß der bloße Glaube an die bindende Kraft einer gemeinsamen Ideologie zur Katastrophe führen mußte. Durch seine Verhandlungen mit Tito wurde ihm klar, daß es keine einheitliche Meinung darüber gab, worin diese Ideologie Die beiden Beiträge dieser Ausgabe werden mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber aus der Londoner Vierteljahreszeitschrift Survey, Oktober 1965, nachgedruckt. eigentlich bestand. Er begriff nicht, daß Tito es mit seinem „Revisionismus" ebenso ernst meinte wie er mit seiner „Orthodoxie", und sah die gefährlichen Auswirkungen nicht voraus, die dieser Revisionismus auf die herrschenden Parteien der anderen osteuropäischer Länder haben sollte.
Nach 1956 bemühte er sich, einen organisatorischen Kunstgriff zu finden, der nicht nur die zentrifugalen Kräfte in diesem Gebiet neutralisieren, sondern auch einen höheren Grad von Einheit erzeugen würde. Er verfolgte dieses Ziel zwar oft auf umständlichen Wegen und wurde häufig von dringenderen oder wichtige-
Uri Ra’anan:
Die sowjetische Taktik in der Dritten Welt ............................ S. 13 ren Fragen davon abgelenkt, aber er gab es nie auf, auch dann nicht, als sich gegen Ende seiner Herrschaft immer deutlicher zeigte, daß er es nie erreichen würde.
Das Kominform hatte Chruschtschow im April 1965 im wesentlichen den Jugoslawen zuliebe abgeschafft. Es war seit langem tot und erfüllte keinen nützlichen Zweck mehr. Man hätte es auch nicht bestehen lassen können, weil es zu eng mit Stalins Tyrannen-herrschaft und mit seinen Fehlern verbunden war, um in der Atmosphäre der Zeit nach 1956 zu neuem Leben erweckt zu werden. Gomulka, der immer ein Gegner des Kominform gewesen war, hätte es nicht geduldet und natürlich auch Tito nicht, auf den Chruschtschow trotz der ungarischen Katastrophe immer noch Hoffnungen setzte. Chruschtschow erkannte, daß es zu früh war, auf irgendeine Form von Institutionalisierung zu drängen und entschloß sich weise, sich an das Durchführbare zu halten. In der Erklärung der zwölf herrschenden Parteien vorn November 1957 wurde die Führer-stellung der Sowjetunion im kommunistischen Lager anerkannt. Obwohl Tito sich weigerte, sie zu unterzeichnen und Gomulka es nur sehr zögernd tat, war diese Erklärung doch eine nützliche Demonstration der Einigkeit des kommunistischen Blocks. Außerdem schuf die Konferenz vom November 1957 einen Präzedenzfall für die dann folgenden, multilateralen Treffen, die zu einer Lieblingsmethode Chruschtschows bei der Behandlung der osteuropäischen Regimes werden sollten.
Der einzige wichtigere organisatorische Schritt nach der November-Erklärung war die Gründung der Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus im September 1958. Obwohl in Prag beheimatet, hatte diese „theoretische und informative Monatsschrift" einen sowjetischen Chefredakteur und wurde zu einem sowjetischen Propagandainstrument von erheblicher Bedeutung. Die Zeitschrift diente zunächst hauptsächlich als ideologische Waffe in dem Kampf gegen den jugoslawischen Revisionismus — ein Kampf, der eine Zeitlang einen formalen Kristallisationspunkt zwischen der Sowjetunion und dem übrigen Osteuropa herstellte.
Wiederbelebung des COMECON
Die November-Erklärung, die neue Zeitschrift Problem^ des Friedens und des Sozialismus und die Offensive gegen den Revisionismus bildeten jedoch kein genügend starkes Bollwerk gegen jene zentrifugalen Kräfte, die — trotz der scheinbaren Ruhe der späten fünfziger Jahre — nicht bezwungen worden waren. Aber Chruschtschow hatte seine Bemühungen nicht auf die politische Integration allein beschränkt. Schon 1957 waren ihm die Möglichkeiten des COMECON (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) als Mittel zu einer wirtschafts-politischen Integration subtilster und dauerhaftester Art klar geworden. Die sowjetische Presse und auch Chruschtschow selbst fingen an, den Wert einer gegenseitigen Interdependenz auf wirtschaftlichem Gebiet zu betonen. Im Mai 1958 fand in Moskau eine Zusammenkunft von Parteiführern der Mitgliedstaaten des COMECON statt, um Methoden zur Stärkung der wirtschaftlichen Koordinierung zu erörtern. Als Ergebnis dieser Konferenz erfühl-das COMECON eine bemerkenswerte Wiederbelebung; die Zahl seiner Organe wurde erheblich erhöht, Maßnahmen zur Spezialisierung nach Industriezweigen in verschiedenen Mitgliedstaaten wurden beschleunigt. Was sich Chruschtschow von dieser wirtschaftlichen Integration erhoffte, ging aus einer Rede, die er im März 1959 hielt, deutlich hervor. Nachdem er von der künftigen kommunistischen Gesellschaft und ihren Vorteilen gesprochen hatte, fuhr er fort:
„Unter diesen Bedingungen werden die alten Vorstellungen von Staatsgrenzen verschwinden. . . . Aller Wahrscheinlichkeit nach werden nur Volksgrenzen noch eine Zeitlang bestehen bleiben, und selbst diese werden wahrscheinlich lediglich als Formalität, aus Gewohnheit weiter bestehen. Natürlich wird es an diesen Grenzen, wenn man sie überhaupt so bezeichnen kann, keine Grenzposten, keine Zollbeamten, keine Zwischenfälle mehr geben. . . . In den souveränen Ländern des sozialistischen Lagers entwickelt sich eine ausgedehnte Zusammenarbeit auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens. Was die Zukunft betrifft, wird, so scheint es mir, die weitere Entwicklung der sozialistischen Länder aller Wahrscheinlichkeit nach zur Konsolidierung des sozialistischen Wirtschaftssystems in einer einheitlich sozialistischen Welt führen."
Die Folgerungen lagen auf der Hand; sie betrafen die Politik genau so stark wie die Wirtschaft. Chruschtschow entwarf das Bild einer Utopie, zu der die ersten Schritte getan wurden.
Fehlschlag der Idee einer Gesamtplanung für alle COMECON-Länder
Nach dieser Anstrengung, zu irgendeiner Art von einheitlicher Kontrolle zu gelangen, geschah etwa drei Jahre lang von seifen der Sowjetunion nach außen hin nichts. Das erklärt sich wahrscheinlich aus einer Reihe zusammenwirkender Gründe. Von 1960 an konzen-trierte sich die Aufmerksamkeit des sowjetischen Regimes — und das hieß mehr und mehr Chruschtschows persönlich — auf gewisse Pro-bleme innerhalb des Blocks, die von sehr viel größerer und unmittelbarer Bedeutung waren. Dazu gehörte die Auseinandersetzung mit China, die Annäherung an Jugoslawien und der Abfall Albaniens. Osteuropa, ein zwar wichtiger, aber niemals vorherrschender Faktor im Zeitplan der Sowjetführer, wurde von den Problemen des Blocks im ganzen überschattet. Das Jahr 1960 brachte die erste Auseinandersetzung mit China auf der „kleinen Gipfelkonferenz" in Bukarest im Juni und das große Aufeinanderprallen der Gegensätze bei der Moskauer Konferenz der 81 Parteien im November. 1961 erreichte Albanien den „Punkt, von dem es keine Rückkehr mehr gibt", und im Oktober des gleichen Jahres brachte der XXII. Parteitag der KPdSU die unüberbrückbare Spaltung der kommunistischen Bewegung an das Licht der Öffentlichkeit. Zu alledem kamen Chruschtschows innenpolitische Sorgen und die Aufmerksamkeit, die er seiner Politik gegenüber dem Westen widmen mußte. In den Jahren 1960 und 1961 mußte die Frage der osteuropäischen Integration in den Hintergrund treten.
Nach dem XXII. Parteitag kehrte Chruschtschow jedoch zu dieser Frage zurück. Das COMECON hatte seit der Zusammenkunft vom Mai 1958 beachtliche Fortschritte gemacht; aber das Kernproblem der zentralen Lenkung war immer noch nicht in Angriff genommen worden. Jetzt aber griff Chruschtschow, beeindruckt von den Gefahren der spalterischen Tendenzen innerhalb des Blocks und in der Erkenntnis, daß das COMECON in seiner jetzigen Form keine entscheidenden Fortschritte erzielen könne, kühn die Frage einer überstaatlichen Planungsbehörde auf. Sein erster offizieller Schritt war die Einberufung einer weiteren COMECON-Gipfelkonferenz der Parteichefs nach Moskau im Juni 1962. Bei dieser Zusammenkunft wurde eine Grundsatzerklärung angenommen, in der es unter anderem heißt: „Die Konsolidierung und Ausdehnung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern würde zur Förderung der von Lenin aufgezeigten objektiven Entwicklungslinie beitragen, die auf eine von dem siegreichen werktätigen Volk auf Grund eines einheitlichen Planes gelenkte künftige kommunistische Weltwirtschaft hin-geht."
Chruschtschows Versuch, die Rumänen zu überzeugen, schlug fehl. Er entschloß sich aber, seine Linie weiter zu verfolgen; dabei brachte er seine Vorstellungen deutlicher zum Ausdruck. In einem Aufsatz in Probleme des Friedens und des Sozialismus vom September 1962 schrieb er: „Heute bestehen alle Möglichkeiten . .. für einen zentral gelenkten Ausgleich, der die Rolle eines Kollektivplans für die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten spielen könnte." Auf einer Sitzung des Plenums des sowjetischen Zentralkomitees im November des gleichen Jahres setzte er sich offen für die Errichtung eines einzigen Planungsorgans der Mitgliedstaaten ein, dessen mit allen Vollmachten ausgestattete Vertreter „Gesamtpläne ausarbeiten und Probleme lösen sollten mit dem Ziel einer Koordinierung der wirtschaftlichen Entwicklung des sozialistischen Systems."
Was aus Chruschtschows Plänen geworden ist und wie sie durch die geschickte rumänische Ausnutzung des chinesisch-sowjetischen Konflikts sabotiert wurden, ist oft genug geschildert worden und bedarf hier keiner Wiederholung. Es genügt zu sagen, daß Chruschtschow ein Jahr nach der Aufnahme seines Kampfes für eine supranationale Planungsbehörde gezwungen wurde, diesen Kampf abzubrechen. Eine weitere COMECON-Gipfelkonferenz im Juli 1963 schloß mit einem Kommunique ab, in dem nicht nur nichts von einer Zentralplanung erwähnt, sondern den Rumänen — stillschweigend — auch das Recht zugestanden wurde, ihr umfangreiches Industrie-programm durchzuführen. Das Thema wurde öffentlich nicht wieder aufgegriffen. Es scheint jedoch eher auf die lange Bank geschoben als völlig aufgegeben worden zu sein. Die Heftigkeit, mit der die Rumänen fast ein Jahr später in ihrer April-Erklärung diese und jedwede anderen, die nationale Souveräntiät einschränkenden
Politische Schwierigkeiten mit Osteuropa
In den zwölf Monaten vor seinem Sturz bemühte sich Chruschtschow hauptsächlich um die Organisierung einer Konferenz der kommunistischen Parteien mit dem Ziel, China aus der Weltbewegung auszuschließen. Auch diese Frage bereitete ihm in Osteuropa Schwierigkeiten. Die Starrköpfigkeit der Rumänen hinsichtlich des „Grundsatzes der Exkommunizierung", wie es in der April-Erklärung heißt, ist bekannt. Aber es gab auch noch andere, die sich widersetzten oder die Sache verschleppten. Obwohl die Jugoslawen nicht unmittelbar betroffen waren, zögerten sie, Chruschtschow zu unterstützen. Auch Gomulka war gegen eine Wiederbelebung des Grundsatzes der „Exkommunizierung". Zwar stimmte er einer internationalen Konferenz zu, stellte aber Bedingungen, die eine Aufschiebung auf unabsehbare Zeit bedeutet hätte. Als Chruschtschow stürzte, hatte Gomulka sich noch nicht zu dem Vorschlag der sowjetischen Partei, eine vorbereitende Konferenz der 26 Parteien im Dezember 1964 in Moskau abzuhalten, geäußert. Selbst Kadar in Ungarn, dessen enge Beziehungen und Treue zu Chruschtschow allgemein bekannt waren, stimmte einer Weltkonferenz nur zögernd zu; erst der persönliche Besuch des sowjetischen Führers hatte ihn zu einem Entschluß gelangen lassen. Nur die Ostdeutschen, die Bulgaren und die Tschechen haben Chruschtschow sofort unterstützt. Das Beispiel Rumäniens und der Einfluß der italienischen Kommunisten waren jetzt zu wichtigen Faktoren geworden, mit denen in Osteuropa gerechnet werden mußte.
Enttäuscht, weil es ihm nicht gelungen war, alle osteuropäischen Staaten mitzureißen, kam Chruschtschow, den auch die herrschende Uneinigkeit beunruhigte, wieder auf den Gedanken irgendeiner politischen Organisation zurück — auf den Vorschlag, den er 1957 nur zögernd vorgebracht hatte. Bei einer Sitzung des Plenums des Zentralkomitees im Februar 1964 verbreitete sich Suslow eingehend über die Notwendigkeit einer „allgemeinen proletarischen Disziplin". Seine Rede wurde erst am 3. April in der Prawda veröffentlicht. Am gleichen Tage erklärte Chruschtschow während eines Aufenthalts in Ungarn: „Es wäre offensichtlich zweckmäßig, die Frage der organisatorischen Formen zur Verbesserung des ständigen Gedankenaustauschs und die Frage der Koordinierung der Außenpolitik zwischen den Mitgliedern des COMECON und den Mitgliedern des Warschauer Paktes gemeinsam zu erörtern."
So wurden die Osteuropäer innerhalb von 24 Stunden von Suslow auf die Notwendigkeit größerer proletarischer Disziplin und von Chruschtschow auf ein Mittel zu ihrer Verwirklichung hingewiesen. Diese Vorschläge gefielen den Osteuropäern aber offenbar nicht. Die italienischen Kommunisten protestierten sofort, die Polen schlossen sich alsbald an
Sowjetischer Autoritätsverlust
Chruschtschow wurde im Oktober 1964 gestürzt. Er hinterließ ein Vermächtnis ungelöster Probleme. Ehe ich nun schildere, wie seine Nachfolger auf diese Probleme reagierten, lohnt es sich, die Hauptgründe kurz zu erörtern, die zum Sturz führten. Sie sollten sowohl in äußeren Faktoren als auch in der Entwicklung innerhalb der osteuropäischen Staaten selbst gesucht werden. Verallgemeinerungen sind gefährlich, weil die äußeren Faktoren sich in den verschiedenen Ländern weder im gleichen Maße noch in der gleichen Weise auswirkten; auch die innerpolitische Entwicklung war im ganzen Gebiet durchaus nicht einheitlich. Man kann jedoch — ohne allzu sehr zu vereinfachen — sagen, daß der wichtigste äußere Faktor der chinesisch-sowjetische Konflikt war. Er machte es Albanien möglich, der Sowjetunion zu trotzen und sich ganz von ihr zu lösen, und ermöglichte es Rumänien, sich vorsichtig, aber entschlossen von der sowjetischen Bevormundung zu befreien. Damit gab Rumänien ein Beispiel, dem andere folgen konnten. Auch hierüber ist so viel gesagt worden, daß eine ausführliche Schilderung nicht nötig ist. Es genügt zu betonen, daß eine der wichtigsten Folgen des chinesisch-sowjetischen Konflikts ein sowjetischer Prestige-und Autoriätsverlust in ganz Osteuropa war — ein Verlust, der durch das Debakel in Kuba im Jahre 1962 noch beschleunigt wurde.
Die Entspannung zwischen Ost und West, deren Verfolgung Chruschtschow in seinen Beziehungen zu Peking so teuer zu stehen gekommen war, untergrub auch seine Herrschaft in Osteuropa. Damit wurde jene Konfrontation der Kräfte gemindert, die die allgemeine Feindseligkeit in der Welt und die Kriegs-gefahr hervorgerufen hatte. Darüber hinaus spielte die beginnende positive Haltung des Westens gegenüber Osteuropa, die sich an die Spielregeln des „friedliche Koexistenz" genannten heftigen Konkurrenzkampfs hielt, eine zwar kleine, aber bedeutsamer werdende Rolle.
Natürlich wäre keiner dieser äußeren Faktoren besonders ins Gewicht gefallen, hätten nicht die Vorbedingungen bestanden, um sie auszunutzen. In dieser Hinsicht war die innenpolitische Entwicklung in den osteuropäischen Ländern von entscheidender Bedeutung. Es hatte stets zu Chruschtschows Politik gehört, diesen Ländern ein hohes Maß innerer Autonomie zu gewähren. Auch bevorzugte er die Regimes, die sich so eng wie möglich mit den von ihnen beherrschten Völkern identifizierten. Diese Politik wirkte sich jedoch trotz ihrer vordergründigen Vorteile gegen die Interessen der Sowjetunion aus. Auch hier unterschätzte Chruschtschow die Stärke des Nationalismus. Da der Nationalismus noch immer die stärkste Kraft in ganz Osteuropa war, mußte jedes Regime, das sich mit der Bevölkerung identifizieren wollte, ihn sich bis zu einem gewissen Grade zu eigen machen. Das taten nicht alle Regimes: die Bulgaren wollten es nicht und die Ostdeutschen konnten es nicht. Aber die anderen taten es, wenn auch in sehr verschiedenem Umfang, und diese nationalistische Haltung konnte, selbst wenn sie nicht antisowjetisch gemeint war, in Osteuropa kaum anders als antisowjetisch verstanden werden. In Rumänien zum Beispiel bildeten die antisowjetischen Schritte und Gesten einen wesentlichen Bestandteil des Nationalismus des Regimes. In Polen hingegen hatte Gomulka stets betont, daß sein Nationalismus nichts mit Antisowjetismus zu tun habe, und er hat sich immer bemüht, die alten antirussischen Gefühle des polnischen Volkes einzudämmen. Aber Gomulkas Nationalismus, obwohl inzwischen stark verwässert, hat gelegentlich zu Meinungsverschiedenheiten mit Moskau geführt, die sich unweigerlich zum Nachteil der sowjetischen Position und Autorität auswirkten.
Neues Selbstvertrauen der osteuropäischen Elite
Beinahe ebenso wichtig war das wachsende Selbstvertrauen der neuen Elite in den osteuropäischen Ländern. Ihnen war eingeimpft worden, daß das sowjetische Beispiel in allen Dingen nachahmenswert sei — eine These, der viele von Anfang an skeptisch gegenübergestanden hatten. Je sicherer sie im Sattel saßen und je mehr sie sich ihrer eigenen Bedeutung bewußt wurden, um so ungeduldiger wurden sie gegenüber der sowjetischen Bevormundung. Diese Ungeduld wurde durch zwei Vorgänge nur noch verstärkt: erstens durch die Enthüllungen über die stalinistischen Exzesse in der Sowjetunion (später bedeutete natürlich Chruschtschows eigener Sturz einen weiteren vernichtenden Schlag für das sowjetische Prestige); zweitens durch die 'Öffnung des Fensters zum Westen Ende der fünfziger Jahre und dann der Tür Anfang der sechziger Jahre. Die Auswirkungen auf die Intellektuellen sind in diesem Zusammenhang nicht so wichtig wie die auf die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Kader. Ihnen wurde nun Gelegenheit gegeben, Ost und West zu vergleichen, und sie wußten, was sie mehr beeindruckte. Der Prestigeverlust, den die Sowjetunion durch die Enthüllung ihrer eigenen inneren Schwächen erlitt, wirkte sich in Osteuropa vielleicht ebenso stark aus wie der, den sie durch die Rückschläge in der Blockpolitik sowie in der Außenpolitik erlitt.
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r Die Sowjetunion war nicht mehr Modell und nicht mehr anerkannter Bahnbrecher. Daß Ostdeutschland und die Tschechoslowakei, die stets als die ergebensten Anhänger gegolten hatten, im Jahre 1964 weitreichende Programme für eine Wirtschaftsreform aufstellen konnten, ohne der Sowjetunion den Vortritt zu lassen, stellte einen höchst bedeutsamen Schritt in der Entwicklung der sowjetisch-osteuropäischen Beziehungen dar.
Folgen der Absetzung Chruschtschows
Die Absetzung Chruschtschows war ein weiterer schwerer Schlag für die sowjetische Position in Osteuropa. Sie bedeutete das Verschwinden eines Mannes, der trotz aller Fehlschläge und Fehler ohne Zweifel d i e überragende Gestalt der kommunistischen Politik in Europa gewesen war, eines Mannes, der kraft seiner Persönlichkeit und seines Ansehens als Bremse der zentrifugalen Kräfte gewirkt hatte. Ferner enthüllte dieser Vorgang erneut die mangelnde Stabilität und die Schwäche des Sowjetregimes; das Vertrauen zu Moskau wurde noch mehr untergraben. Und schließlich wurde Chruschtschows Absetzung in einer Art und Weise durchgeführt, die die wachsende Empfindlichkeit der osteuropäischen Regime verletzen mußte und ein auffallendes Beispiel bot für die mangelnde Rücksichtnahme der Sowjetunion auf die Gefühle ihrer Verbündeten. Denn die meisten von ihnen waren inzwischen nicht mehr Satelliten, sondern Verbündete geworden. Chruschtschows Sturz rief bei ihnen teils einen Schock, teils Zorn hervor, und ihre Reaktionen waren für Breschnew und Kossygin eine ernüchternde Einführung in die neue Wirklichkeit der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Osteuropa. Lediglich Bulgarien begrüßte die Revolution im Kreml in einer Form, die den Machthabern gefiel. Sogar Ostdeutschland — Satellitenstaat per definitionem — zeigte sich beleidigt.
Die Reaktion des tschechoslowakischen Regie-mes muß die neuen Machthaber besonders beeindruckt haben. Moskau hatte den Präsidenten und Ersten Parteisekretär Nowotny stets zu den zuverlässigsten osteuropäischen Führern gerechnet. Jedenfalls hielt er Chruschtschow die Treue, aber in den Jahren nach 1960 war diese Treue nicht die eines hilflosen Vasallen, denn die beiden Männer brauchten einander. Chruschtschow brauchte Nowotnys Unterstützung für seine Block-und Außenpolitik und erhielt sie. Nowotny brauchte 1963 und 1964 Chruschtschows Unterstützung in der Tschechoslowakei selbst — und auch er erhielt sie
Vorsichtige Taktik der neuen sowjetischen Führung
Von einer neuen Breschnew-Kossygin-Politik in Osteuropa zu sprechen, wäre verfrüht. Allerdings scheinen die neuen Machthaber besonderes Gewicht auf die wirtschaftlichen Bindungen zwischen der Sowjetunion und ihren Verbündeten zu legen. Das ist vernünftig, denn dies ist eine der wenigen Bereiche, in denen noch viele Gemeinsamkeiten bestehen.
Die wirtschaftliche Abhängigkeit der osteuropäischen Länder von der Sowjetunion ist noch immer sehr stark. Die große Publizität, die der Entwicklung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen zuteil geworden ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Sowjetunion die Wirtschaft der osteuropäischen Länder noch immer beherrscht, was sich zum Beispiel darin ausdrückt, daß der Handels-verkehr mit der Sowjetunion 42 0/0 des gesamten Außenhandels sogar des rebellischen Rumäniens ausmacht. Die von den osteuropäischen Regimes mit der Sowjetunion abgeschlossenen langfristigen Verträge für die Planungsperiode 1966— 70 sehen in den meisten Fällen ein starkes Anwachsen des Handels-volumens vor. Es ist noch zu früh, von einer Verlagerung des Handels vom Osten nach Westen zu sprechen. Aber wenn man auch die wirtschaftliche Abhängigkeit Osteuropas nicht übersehen darf, so ist diese Abhängigkeit, wie Chruschtschow sehr wohl wußte, keine Gewähr für eine sowjetische Kontrolle und kein echter Ersatz für jene Art von Einheit, die Chruschtschow vergeblich durchzusetzen versuchte. Im übrigen haben die neuen Sowjetführer sich anscheinend bisher damit zufrieden gegeben, Auseinandersetzungen zu vermeiden und dem Verfall Einhalt zu tun. Ihre bisherigen Versuche, gemeinsame Beratungen abzuhalten — das Treffen auf höchster Ebene der War-schauer-Pakt-Staaten im Januar 1965 und die vorbereitende Konferenz von 19 Parteien in Moskau im März —, werden sie wohl kaum von der Möglichkeit multilateraler Zusammenkünfte überzeugt haben.. Das erste Treffen endete in einer Reihe wenig sinnvoller Gemeinplätze, das zweite war eine schwere diplomatische und propagandistische Niederlage für die Sowjetunion. Um eine öffentliche Zurschaustellung der Uneinigkeit und das peinliche Eingeständnis des Fehischlagens einer gemeinsamen Aktion zu vermeiden, wird Moskau, wie man annehmen darf, in Zukunft zwar nicht völlig auf multilaterale Treffen verzichten, sich aber mehr und mehr auf bilaterale Beratungen mit den osteuropäischen Regimes verlassen. Die sowjetischen Führer haben verständlicherweise Chruschtschows Ideen über eine neue Kominform anscheinend fallen gelassen. Jede solche Form der institutionalisierten Einheit kommt in voraussehbarer Zukunft nicht in Frage.
Mangelnde Solidarität in der Vietnam-Frage
Eine internationale Entwicklung, die unter normalen Verhältnissen zu einer eindrucksvollen Demonstration der Einigkeit hätte führen müssen, war die amerikanische Luft-offensive gegen Nordvietnam. Ebenso wie eine Atmosphäre internationaler Entspannung leicht die Uneinigkeit fördert, hätte umgekehrt die Gefährdung dieser Entspannung durch die amerikanische Aktion theoretisch dazu beitragen müssen, diese Einigkeit wiederherzustellen. Das ist jedoch bezeichnenderweise nicht geschehen. Zwar sollte dieser Punkt wegen des offensichtlichen Dilemmas, in dem sich Moskau hinsichtlich der Vietnamkrise befindet, nicht allzu stark betont werden, aber es ist dennoch auffallend, daß, obwohl ein kommunistisches Land angegriffen wurde, selbst das schwächliche sowjetische Angebot, Freiwillige nach Vietnam zu schicken, in den osteuropäischen Ländern keine einheitliche positive Reaktion hervorgerufen hat. Zwar ist in eindrucksvoller Weise eine sentimentale Solidarität mit Hanoi bekundet worden, aber nur Bulgarien und Ungarn sind dem sowjetischen Beispiel, Freiwillige anzubieten, tatsächlich gefolgt. Sollte aber die Sowjetunion die
Initiative ergreifen und eine direktere militärische Intervention vorschlagen, so wäre Rumänien sicher nicht der einzige Verbündete, der sich dagegen sträuben würde
Bis jetzt liegen noch keine eindeutigen Beweise dafür vor, daß die Sowjetunion mit ihren Verbündeten im Warschauer Pakt Schwierigkeiten gehabt hat hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft oder ihrer Beteiligung an der Arbeit der Paktorganisation. Alle Mitgliedstaaten sind inzwischen sämtlich mit Boden-Boden-Raketen ausgerüstet worden, und im Mai 1965 wurde eine Konferenz der Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten abgehalten.
Aber der Vorschlag einer gemeinsamen militärischen Aktion würde zu einer politischen Frage erster Ordnung werden, bei der die Sowjetunion kaum mit einer unzweideutigen und einheitlichen Reaktion rechnen könnte
Jüngste Entwicklungen in den sowjetisch-osteuropäischen Beziehungen
In einigen Gebieten Osteuropas setzen Breschnew und Kossygin Chruschtschows Politik anscheinend fort, während sie sie in anderen fallen lassen oder modifizieren. Einer der partiellen Erfolge Chruschtschows in den letzten Jahren seiner Herrschaft war die Annäherung an Jugoslawien. Innere Schwäche und Unsicherheit hatten Tito gezwungen, seine Beziehungen zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Regimes zu verbessern. Er besuchte Chruschtschow im Juni 1964, und im folgenden September wurde bekanntgegeben, daß Jugoslawien sich in irgendeiner Form dem COMECON anschließen werde. Breschnew und Kossygin ist es offenbar gelungen, Tito davon zu überzeugen, daß seine Befürchtungen hinsichtlich der sowjetischen Politik nach Chruschtschows Sturz unberechtigt seien, denn der Besuch des jugoslawischen Führers in Moskau im Juni 1965 zeichnete sich durch große Herzlichkeit auf beiden Seiten aus. Im Falle Jugoslawiens ist also die Kontinuität gewahrt worden. Im Falle Ostdeutschlands hingegen hat eine Veränderung stattgefunden, die für Ulbricht höchst befriedigend war. Chruschtschow hat zwar nie versucht, die „DDR" zu schwächen oder ihren Führer fallen zu lassen, aber seine Schritte im Jahre 1964 in
Richtung auf eine Annäherung an Bonn haben in Pankow sicherlich Bestürzung hervorgerufen. Seine Nachfolger haben diese Maßnahmen aufgegeben; sie sind offenbar bemüht, Ulbricht zu beruhigen und haben auch darauf gedrängt, daß die wachsenden Handelsbeziehungen zwischen den osteuropäischen Staaten und der Bundesrepublik nicht auf Kosten Ostdeutschlands gehen sollten
Im Falle Albaniens haben die neuen Führer anscheinend vergeblich versucht, die Beziehungen zu verbessern. Radio Moskaus Sendungen nach Albanien sind im Ton viel maßvoller gewesen als meistens unter Chruschtschow, und die Sowjetunion erklärte sich — wahrscheinlich auf Vorschlag Polens — da-mit einverstanden, Albanien zu einer Zusammenkunft der Warschauer Pakt-Staaten im Januar 1965 einzuladen. Die Antwort war eine Flut von Beschimpfungen aus Tirana, die jede Hoffnung auf eine Normalisierung der Beziehungen zunichte machte
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Beziehungen zu Polen, Rumänien und Bulgarien, da alle drei Länder im Augenblick besonders wichtig sind.
Polen: starke Position
Die besondere Beziehung, die zwischen Gomulkas Polen und Chruschtschow bestand, scheint unter seinen Nachfolgern weiterhin zu bestehen. Weniger als zwei Wochen nach Chruschtschows Sturz trafen die neuen Führer mit Gomulka und Premierminister Cyankiewicz auf polnischem Gebiet zusammen. Unmittelbar nach der Konferenz der Warschauer Pakt-Staaten in Warschau im Januar 1965 kamen die vier Männer in der Nähe der Masurischen Seen zu Beratungen zusammen. Im April besuchte eine sowjetische Delegation unter Führung von Breschnew Warschau. Es lag den neuen Führern offensichtlich daran, die Furcht vor etwaigen grundsätzlichen Veränderungen zu zerstreuen, und sie waren offenbar bereit, Gomulkas Rat anzuhören. Die Aufmerksamkeit, die Gomulka zuteil wurde, verriet die ernste Sorge der Sowjets hinsichtlich der Haltung Polens zum Führungswechsel in Moskau. Diese Aufmerksamkeit beruhte nicht nur auf Achtung vor Gomulka und seinem Einfluß in Osteuropa, sondern bewies erneut, daß sich die Sowjets der Bedeutung Polens für ihre gesamte europäische Politik und Strategie bewußt sind. Ostdeutschland, die Tschechoslowakei und Polen bilden eine nördliche Staaten-gruppe in Osteuropa, die den größeren Teil der Industrie des gesamten Gebiets und weit über die Hälfte seiner Bevölkerung umfaßt;
diese Gruppe ist für die Sowjetunion viel wichtiger als die südliche Staatengruppe. Diese besteht aus den Balkanländern, während Ungärn das Bindeglied zwischen beiden Gruppen bildet. Die strategische Position Polens in der nördlichen Gruppe ist von größter Bedeutung, denn Polen stellt die militärische und wirtschaftliche Verbindung zwischen der Sowjetunion und Ostdeutschland dar. Der Abfall Polens oder eine gefährliche Bekundung der Unabhängigkeit, auch nur nach rumänischem oder gar jugoslawischen Muster, würde die sowjetische Position in Mitteleuropa schwächen und geradezu die Existenz des ostdeutschen Staates gefährden. Natürlich ist kaum anzunehmen, daß Gomulka zu viel Unabhängigkeitsdrang entfaltet oder gar abfällt. Polens geographische Lage ist eher ein Handicap als ein Vorteil. Die Sowjetunion ist noch immer der Garant der polnischen Westgrenze, und die Wirtschaft Polens ist so schwach, daß Gomulka stets bereit gewesen ist, ein gut Teil Unabhängigkeit für die Vorteile zu opfern, die nach seiner Meinung eine wirtschaftliche Integration bringen könnte. Aber er besitzt unter Verhältnissen, die im großen und ganzen wenig beneidenswert sind, einen gewissen Verhandlungsspielraum. Das weiß er und das wissen auch die Sowjets. Daher die besondere Stellung, die sie ihm eingeräumt haben. Was für Polen zutrifft, trifft auch in geringerem Maße für die Tschechoslowakei zu; deshalb ist Moskaus Reaktion auf den neuen Kurs, den Nowotny zu steuern scheint, von besonderem Interesse.
Rumänien: selbständiger Kurs
Die nördliche Staatengruppe hat im ganzen gesehen fest zur Sowjetunion gehalten. Die südliche, die zwar weniger wichtig, aber immer noch von großem Wert ist, hat verheerende Einbrüche erlitten. Erst fiel Jugoslawien, dann Albanien ganz ab, und in jüngster Zeit ist Rumänien zu einem zweifelhaften Element geworden. Wenn die neuen Führer je gehofft haben, daß der Sturz Chruschtschows die Kluft zwischen Moskau und Bukarest überbrücken würde, so muß diese Hoffnung bald zerstört worden sein. Chruschtschows Sturz unterstrich nur den Sieg Rumäniens. Wenn sie ferner gehofft haben sollten, daß der Tod Georgiu-Dejs ihrer Sache dienlich sein würde, so müssen sie auch darin enttäuscht worden sein. Der Nationalismus des neuen rumänischen Parteiführers Ceausescu ist, wenn möglich, noch militanter als der Dejs. Seit Oktober 1964 haben die Sowjetführer Rumänien gegenüber eine Politik „sanfter Vernunft" verfolgt, ja ihm geradezu die andere Backe hingehalten. Sie haben jeden Schritt vermieden, der die Beziehungen verschlechtern könnte. Die Anwesenheit Breschnews beim rumänischen Parteitag im Juli 1965 sowie die freundliche Rede, die er dort hielt, waren eindeutig als versöhnliche Geste gemeint. Die Rumänen haben sich ihrerseits sehr korrekt verhalten, aber keinerlei Anzeichen für einen Widerruf erkennen lassen. Ja, es gelang ihnen sogar auf dem Parteitag, eine marxistisch-leninistische Rechtfertigung für ihren selbständigen Kurs vorzulegen.
Die Verschlechterung der Beziehungen zu Rumänien ist wahrscheinlich ein Grund gewesen, warum die Sowjetunion sowohl unter der alB ten wie unter der neuen Führung ein besseres Verhältnis zu Jugoslawien angestrebt hat. Die äußerst freundlichen Beziehungen zwischen Georgiu-Dej und Tito Ende 1963 und in der ersten Hälfte des Jahres 1964 blieben in Moskau nicht unbemerkt. Die Errichtung einer Achse Belgrad-Bukarest hätte die Isolierung Bulgariens bedeutet, des einzigen noch übrig-gebliebenen Verbündeten der Sowjetunion auf dem Balkan. Die sowjetischen Bemühun gen, das zu verhindern, haben anscheinend Erfolg gehabt. Während Titos Besuch in Leningrad im Juni 1964 hat Chruschtschow ihm vielleicht nahegelegt, daß eine allzu enge Verbindung mit Georgiu-Dej nicht ratsam sei. Obwohl die späteren rumänisch-jugoslawischen Beziehungen sehr gut blieben, haben sie sich nicht mehr so rasch weiterentwickelt wie bisher. Moskau ist für Belgrad im Augenblick wichtiger als Bukarest
Bulgarien: schwaches Regime
Durch die Verschlechterung der sowjetischen Position auf dem Balkan ist Bulgarien für Rußland jetzt wichtiger als je zuvor seit 1945. Bulgariens strategische Bedeutung als Außenposten, der an zwei unzuverlässige Verbündete des Westens — Griechenland und die Türkei — angrenzt, war allgemein anerkannt. Aber zur Zeit ist Bulgarien der einzige Staat in ganz Südosteuropa, auf den sich die Sowjetunion ganz verlassen kann. Bis jetzt ist das bulgarische Regime — im wesentlichen wegen seiner eigenen Schwäche — von unerschütterlicher Treue gewesen. Die Sowjets haben die Treue akzeptiert und die Schwäche und Unfähigkeit bewußt übersehen. Aber im April 1965 wurde in Sofia eine Verschwörung aufgedeckt, deren Beweggründe in einer starken Unzufriedenheit mit der Unterwürfigkeit des Schiwkow-Regimes gegenüber Moskau lagen
Defensivpolitik der Sowjets
„Halten, was wir haben", scheint überhaupt die Politik des Breschnew-Kossygin-Regimes für Osteuropa zu sein. Es ist eine negative, defensive Politik, die vielleicht nur für den Übergang gedacht ist. Aber es ist schwer vorstellbar, wie sie mit Erfolg durch eine positivere ersetzt werden kann. Die Sowjetunion wird auf Jahre hinaus der wichtigste Einzel-faktor in der osteuropäischen Politik bleiben, aber ihre Führungsrolle ist bereits stark angeschlagen. Die Wiederherstellung dieser Rolle scheint kaum mehr möglich zu sein. Nun muß abgewartet werden, ob Breschnew und Kossygin oder etwaige künftige Führer das Wagnis auf sich nehmen und versuchen werden, die Führungsrolle wiederherzustellen, oder ob sie den Weg des geringsten Widerstandes wählen und aus einer jetzt schon sehr unbefriedigenden Situation das Beste machen.