Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Frankreich und Deutschland. Freundschaftliche Bindungen und unterschiedliche Interessen | APuZ 48/1965 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 48/1965 Frankreich und Deutschland. Freundschaftliche Bindungen und unterschiedliche Interessen Die Verbreitung der Kernwaffen

Frankreich und Deutschland. Freundschaftliche Bindungen und unterschiedliche Interessen

Alfred Grosser

Französische Sympathien für Deutschland

Die französisch-deutschen Beziehungen sind zugleich viel besser und viel schlechter, als man es sich im allgemeinen in den Vereinigten Staaten vorstellt. Besser, weil die frostige Atmosphäre und die Spannungen der Jahre 1964/65 den Blick verstellen für die Festigkeit der Bande, die zwischen Frankreich und der Bundesrepublik geknüpft worden sind; schlechter, weil diese Spannungen nicht allein auf die Person des Generals de Gaulle zurückzuführen, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden Divergenz in der politischen Betrachtungsweise sind.

Wer hätte zum Zeitpunkt der Befreiung Frankreichs vorausgesehen, daß zwanzig Jahre später die Antworten auf die Frage: „Wie ist Ihre Meinung in bezug auf Westdeutschland?" so lauten würden: „gute Meinung" 52%, „weder gut noch schlecht" 29 %, „schlechte Meinung“ 9 %, keine Antwort 9 % — womit Deutschland in der Sympathie der Franzosen an der Spitze aller Länder steht. Um diese Entwicklung eingehend zu erklären, wäre ein Buch erforderlich. Wir wollen lediglich anmerken, daß die Besserung der Beziehungen im Jahre 1954 begann. Bei Kriegsende gab es einige Franzosen, die glaubten, daß man die Zukunft nicht auf Abneigung und Furcht gründen könne. Die meisten von ihnen waren aus der Resistance hervorgegangen. Vielfach waren sie gerade aus deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern zurückgekehrt. Sie glaubten nicht an eine Kollektivschuld und wollten jener Minderheit der Deutschen helfen, die ein neues Deutschland aufzubauen versuchte.

Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber übernehmen wir den Artikel von Alfred Grosser aus dem Oktoberheft der New Yorker Vierteljahreszeitschrift FOREIGN AFFAIRS und den Beitrag von Curt Gasteyger aus den Zürcher „Schweizer Monatsheften" vom Oktober 1965.

Sie waren die Organisatoren und Teilnehmer der deutsch-französischen Treffen der Jahre 1945— 1950. Sie bildeten eine Art menschlicher Infrastruktur des gegenwärtigen politischen Verhältnisses. Unabhängig von der Tagespolitik gibt es heute — in Botschaften, Ministerien, Zeitungsredaktionen, Gewerkschaftsführungen, Parteien und Berufsorganisationen beider Länder — Männer, die sich seit vielen Jahren kennen und daran gewöhnt sind, miteinander zu arbeiten.

Als sich die anderen europäischen Länder 1963 über den exklusiven Charakter des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages beklag-

Curt Gasteyger:

Die Verbreitung von Kernwaffen ... S. 13 ten, hatten sie vom politischen Standpunkt aus gesehen zweifellos recht. Aber waren Belgien, Holland oder gar Großbritannien gleich Frankreich bereit, solche engen Beziehungen aufzunehmen? Diese engen Beziehungen reichen, von gemeinsamen Kabinettssitzungen bis zum Erfolg des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, das im Juli 1963 begründet worden war und allein im letzten Jahr zur Begegnung von 180 000 Jugendlichen beider Länder auf 6500 Treffen, Tagungen und Studienreisen beigetragen hat. Sie gründen sich auf ein ganzes Netz von Kontakten und früheren gegenseitigen Besuchen — ein Netz, das zwischen Frankreich und Deutschland dichter ist als zwischen einem der beiden Länder und jedem anderen. Die Wandlung im französischen Wirtschaftsdenken ist eine weitere Erklärung für die Annäherung. General de Gaulle hatte recht, als er im September 1962 zu den Arbeitern in Duisburg sagte: „Was heute an der Ruhr erreicht wird . . ruft in meinem Land nur Symphatie und Befriedigung hervor." Der neue Glaube an die Entwicklung hat hier sein Werk getan. Auf politischem Gebiet gilt das gleiche für die Europäische Idee, deren Apostel und Schöpfer Robert Schuman war. Zwar ist die Bundesrepublik ungefähr ebenso groß wie Frankreich, doch wäre das bei einem wiedervereinigten Deutschland nicht der Fall. Daher ist es interessant, daß heute 55 0/0 der Franzosen auf die Frage: „Ist nach Ihrer Meinung die Wiedervereinigung Deutschlands wünschenswert oder nicht?" eine bejahende Antwort gaben; nur 26 °/o äußerten sich negativ. Im Gegensatz zu dem, was man im allgemeinen außerhalb Frankreichs, vor allem in Deutschland, darüber denkt, sehen Franzosen, die sich für politische Probleme interessieren, die Frage der deutschen Wiedervereinigung nicht im Zusammenhang mit „Deutschland", sondern mit „Ost-West-Beziehungen" — eine Tatsache, die etwas mit Auffassungen zu tun hat, über die sogleich zu reden sein wird.

Das Klima hat sich abgekühlt

Nach seiner Rückkehr zur Macht trug General de Gaulle außerordentlich zur Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen bei, wobei er manchmal ganz im Gegensatz zu der Haltung handelte, die er vor 1958 eingenommen hatte. Seit 1963 brachte er es dazu, daß sie sich verschlechterten. In diesem Jahr scheinen sie sich wieder ein wenig erholt zu haben. Ohne Zweifel hat er eine große Anzahl Franzosen, die sich gegen Ende der Vierten Republik noch abwartend verhielten, dazu gebracht, die Idee einer Verständigung mit Deutschland zu akzeptieren. Aber in der Bundesrepublik haben sein politischer Stil — der zunächst verführerisch schien —, sein Anti-Amerikanismus und sein jüngster Flirt mit Moskau das Klima ernstlich abgekühlt. Sein Nationalismus wird gerade von jenen Deutschen gefürchtet, die am meisten dem demokratischen Staat zuneigen, der in Deutschland noch immer nicht genügend gegen eine verhängnisvolle Anstek-kung immunisiert ist. Der Deutsch-Französische Vertrag vom 22. Januar 1963 hat der Christlich-Demokratischen Union ganz gewiß nicht in ihrem Wahlkampf geholfen.

Aber das alles ist nicht das Wesentliche. Sollte de Gaulle abtreten, sollte ein „Europäer" wie Maurice Faure die Nachfolge Couve de Mur-

villes am Quai d’Orsay antreten, würde das Klima sich zweifellos ändern, und manche heftige Konflikte über die Probleme Europas und der Atlantischen Allianz würden entschärft. Aber Franzosen und Deutsche, so eng verbunden sie auch sind, nähmen nach wie vor verschiedene Standpunkte zu einigen zentralen Fragen ein. Zwischen Frankreich und der Bundesrepublik ist eine Ehe geschlossen worden. Eine Scheidung ist höchst unwahrscheinlich, aber die Ehegatten gehören verschiedenen Bekenntnissen an.

Die Folgen des Kalten Krieges

Ihre Lage war von Anfang an unterschiedlich. Die Teilung der Welt und der Kalte Krieg hatten für Frankreich nicht dieselbe Bedeutung wie für Deutschland. Seit 1947 sah sich die französische Politik gezwungen, nach und nach ihre Ziele (die zu dieser Zeit darin bestanden, Deutschland niederzuhalten und zu dezentralisieren) aufzugeben, um die amerikanische Sicherheitsgarantie zu erlangen. Bezeichnenderweise erfolgte die Verschmelzung der französischen Besatzungszone mit der britisch-amerikanischen Zone gleichzeitig mit der Unterzeichnung des Nordatlantikpaktes. Sogar zu diesem Zeitpunkt wollten die Franzosen den Gedanken einer Ost-West-Entspannung nicht aufgeben, weil eine Verminderung der Gegensätze den innerfranzösischen Zwiespalt zwischen Kommunisten und Nicht-Kommunisten lindern und zugleich den Machtstatus Frankreichs verbessern würde. In Perioden der Spannung jedoch erhielt das Militärpotential eines entschieden antikommunistischen Westdeutschland größere Bedeutung. Daß Deutschland seine Souveränität wiedergewinnen und seine Rolle im internationalen Kräftespiel wieder aufnehmen konnte, war zweifellos in erster Linie eine Folge des Kalten Krieges. Im Jahre 1949 waren die Bundesrepublik und der Nordatlantikpakt gleichsam wie Zwillinge dem Ost-West-Konflikt entsprossen. Seit 1948 hatte die Berlin-Krise den besiegten Feind in einen Verbündeten und die Hauptstadt des Preußentums und des Hitlerreiches in ein Symbol der Freiheit verwandelt. Die Spannung würde unzweifelhaft die Teilung Deutschlands aber sie verschlimmern, würde auch und vor allem der Bundesrepublik dazu verhelfen, das Hauptziel ihrer Außenpolitik zu erreichen, nämlich das Recht, eine Außenpolitik zu haben — etwas, was ihr durch das Besatzungsstatut ursprünglich verwehrt war. Im März 1951 wurde die Bonner Regierung ermächtigt, ein Außenministerium ins Leben zu rufen, damit sie den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl unterzeichnen konnte und besser dafür gerüstet war, an den Vorbereitungen für die deutsche Wiederbewaffnung teilzunehmen. Die Schaffung Europas hatte weitere Schritte auf die Gleichberechtigung hin im Gefolge. Supranationale Einrichtungen bedeuteten für die Bundesrepublik äußerstenfalls den Verzicht auf den Erwerb von etwas, was sie noch nicht hatte. Für Frankreich bedeuteten sie hingegen die Aufgabe einer durchaus festgefügten Souveränität. Dies erklärt teilweise, weshalb die französische Haltung gegenüber der politischen Integration 15 Jahre lang — von Bidaults verschleierter Weigerung im Jahre 1953 bis zu den donnernden „Nons" des Generals de Gaulle — immer reservierter war als der der die deutschen. Ebenso ist der Status Ungleichheit innerhalb der NATO sehr viel weniger akzeptabel für die Franzosen, die einst zu den Großen Vier zählten, als für die Bundesrepublik, die die Atlantische Allianz unter amerikanischer Vorherrschaft verglichen mit der Situation von 1945 oder auch 1948 als ein Paradies der Gleichheit ansieht. Konrad Adenauer wußte, als er die Initiative in Richtung auf die Wiederbewaffnung ergriff, sehr wohl, in welchem Maße dies die Position des jungen Staates verbessern würde.

Souveränität und Wiedervereinigung

Der Wunsch, die Ausübung der Souveränitätsrechte zu normalisieren, findet in Deutschland jedoch seine Grenzen in den Gegebenheiten des wichtigsten nationalen Problems — der Verteidigung Berlins und der Wiedervereinigung. Die Pariser Verträge, die im Mai 1955 in Kraft traten, stellen ausdrücklich fest, daß sich „die Drei Mächte die Rechte und Verantwortlichkeiten vorbehalten, die sie zuvor ausgeübt haben oder die ihnen vorbehalten waren in bezug auf Berlin oder Angelegenheiten, die ganz Deutschland betreffen, einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und der endgültigen Friedensregelung." Kein deutscher Politiker spricht davon, diese Klausel zu revidieren, obgleich sie eine schwerwiegende Beschränkung der vollen Souveränität darstellt. Der Grund dafür ist, daß diese Beschränkung zugleich eine Garantie dafür darstellt, daß die Bundesrepublik sich nicht allein mit der Sowjetunion oder Ulbrichts Deutschland konfrontiert sieht. Die drei Westmächte aus ihrer Verantwortung zu entlassen, hieße den Sowjets die Rechtfertigung dafür zu liefern, dasselbe zu tun. In dieser Angelegenheit ist die Sowjetunion immer sehr vorsichtig gewesen. Obwohl Chruschtschow sechs Jahre lang erklärt hatte, wie überholt die Vereinbarungen von 1945 seien, stellt der „Vertrag über Freundschaft, Beistand und Zusammenarbeit" zwischen der Sowjetunion und der „DDR", der am 12. Juni 1964 in Moskau unterzeichnet wurde, in Artikel 9 genau fest, daß die im Potsamer Abkommen niedergelegten Rechte und Verpflichtungen unangetastet bleiben.

Unter diesen Umständen mußte de Gaulles Erklärung in seiner Pressekonferenz vom 4. Februar 1965, daß die Wiedervereinigung Deutschlands durch Verhandlungen zwischen Ost-und Westeuropa erreicht werden sollte, die Deutschen in Bestürzung versetzen. Die vernünftige Feststellung, daß die deutsche Frage nicht ohne Zustimmung Polens und der Tschechoslowakei gelöst werden könne, findet bei den Deutschen wenig Anklang. Sie waren schockiert darüber, daß de Gaulle jeden Hinweis auf die Viermächte-Verantwortung, und das heißt die amerikanische Verantwortung, vermissen ließ. Paris bemühte sich durch zahlreiche Erklärungen, die Wogen wieder zu glätten; aber hier war ein lebenswichtiger Nerv getroffen worden. Die Bundesrepublik ist zwar mehr als Frankreich geneigt, ein supranationales Europa zu bejahen, sie setzt jedoch den durch ein vereinigtes Europa auszuübenden Befugnissen im voraus Grenzen. Für die Deutschen liegt die deutsche Frage nicht in europäischer Zuständigkeit, um so mehr, als es nicht allein um die Wiedervereinigung geht, sondern auch und in erster Linie um die Verteidigung des freien Teils des geteilten Deutschlands, die Bundesrepublik mit West-Berlin, die durch ein kommunistisches Deutschland bedroht wird, das wiederum Rücken-deckung seitens der UdSSR erhält.

Zwangsvorstellung Sicherheit

Der wesentlichste Unterschied in den Auffassungen von Franzosen und Deutschen liegt in der Frage der Sicherheit. Eine seltsame Wandlung hat sich hier seit der Zwischenkriegsperiode ergeben. Nach 1918 war Sicherheit für die Franzosen eine Zwangsvorstellung. Die Maginotlinie war. ein Zeichen der Furcht, die weitgehend aus dem Bewußtsein der Schwäche infolge der schrecklichen Massaker des Krieges und der ungünstigen demographischen Struktur resultierte. Seit 1948 ist Sicherheit für Deutschland eine Zwangsvorstellung, und auch hier wieder entspringt sie einem Bewußtsein der Schwäche — dieses Mal im Hinblick auf die Sowjetunion. Die Franzosen andererseits haben sich noch nie so sicher gefühlt wie in den Jahren 1947— 1949. Gewiß gab es Befürchtungen in diesen Jahren. Als General de Gaulle im Frühjahr 1947 wieder ins politische Leben zurückkehrte, tat er das, weil er glaubte, der dritte Weltkrieg stünde nahe bevor. Die französische Diplomatie war im folgenden Jahr mit solchem Eifer bemüht, eine amerikanische Garantie zu erhalten, weil die kommunistische Machtübernahme in Prag Frankreich zu der Auffassung gebracht hatte, ein neuer sowjetischer Vorstoß sei in unmittelbarer Zukunft zu erwarten und es müßten daher Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Aber nach und nach legten sich diese Befürchtungen. Heute glaubt niemand an die Möglichkeit eines Krieges in Europa, einerseits weil man die UdSSR für friedlich hält (warum sollte sie ihren Aufbau aufs Spiel setzen?), andererseits weil man stillschweigend auf die Wirkung des „Gleichgewichts des Schreckens“

vertraut.

Da nun keine Gefahr besteht und (oder) weil die Vereinigten Staaten die Zerstörung dieses Gleichgewichtes nicht zulassen können, sind die Armee oder die nationale Atomstreitmacht nicht so sehr als Instrumente der Sicherheit notwendig. Vielmehr sind sie als diplomatische Waffen zu benutzen, besonders innerhalb der westlichen Welt. Die Deutschen glauben, daß die Gefahr besteht, die Vereinigten Staaten könnten Europa nicht verteidigen, und ziehen daraus die Folgerung, die Amerikaner dürften nicht vor den Kopf gestoßen oder abgeschreckt werden. General de Gaulle kann es sich erlauben, sie zu provozieren, weil er nicht wirklich an die sowjetische Bedrohung und auch nicht an einen amerikanischen Rückzug glaubt. Die französische Atomstreitmacht ist hauptsächlich als politischer Auslösemechanismus angelegt. Da die Sowjetunion in der Lage ist, die Vereingten Staaten zu vernichten, können die Europäer nicht sicher sein, daß die Sowjets an den amerikanischen Gegen-schlag glauben, der für die Amerikaner doch das Risiko des Selbstmords heraufbeschwört. Es müßte also ein Mittel gefunden werden, um die UdSSR davon zu überzeugen, daß ein Konflikt sich zum Atomkrieg ausweiten würde, und zwar auf Grund einer französischen Entscheidung. Aber sogar die Auslösetheorie hat zur Voraussetzung, daß der Rückzug der Amerika-ner aus Europa nicht das Ende der Sicherheit bedeuten würde.

Für die Deutschen ist das Gegenteil richtig. Das einzige Mittel, um die Sicherheit Europas in einer Periode zu verbürgen, in der Gegen-schlag und Risiko des Selbstmordes miteinander verknüpft sind, liegt darin, daß eine größtmögliche amerikanische Streitmacht nahe der Linie stationiert ist, die die beiden Lager voneinander trennt. Jede Verletzung dieser Grenzlinie wird dann sofort zu amerikanischen Verlusten führen und die Vereinigten Staaten zwingen, zurückzuschlagen. Damit würde die so sehr gefürchtete Eskalation beginnen. Gerade dieser Umstand dient am besten dazu, jeden Angriff von vornherein zu unterbinden. Die Schwäche der französischen Position liegt hauptsächlich darin, daß sogar General de Gaulle bisher die deutsche Argumentation im Hinblick auf Berlin akzeptiert hat. Diese Argumentation wird von allen westlichen Regierungen geteilt und erklärt, weshalb sie jeden Vorschlag, die Stadt zu internationalisieren oder zu neutralisieren, zurückgewiesen haben. Wenn es keine westlichen und vor allem keine amerikanischen Soldaten in West-Berlin gäbe, würde ein Angriff des Ostens kein Risiko in sich bergen. Kein amerikanischer Präsident könnte glaubwürdig mit einem atomaren Gegenschlag drohen, um ein fait accompli rückgängig zu machen. Auf der anderen Seite würde der Tod amerikanischer Soldaten jeden amerikanischen Präsidenten zwingen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und damit die Eskalation in Gang zu setzen. Darin liegt ein beträchtliches Risiko für den Osten. Warum sollte, so fragen die Deutschen, etwas, was für Berlin gilt, nicht für ganz Europa gelten?

Vertrauen in die Vereinigten Staaten

Ohne das Paradoxon zu weit zu treiben, kann man sagen, daß die Frage nach dem Vertrauen in die Vereinigten Staaten sich für die Franzosen kaum stellt, während sie für die Deutschen im Mittelpunkt ihrer außenpolitischen Überlegungen steht. Die Deutschen unternehmen zahllose Versuche, im Weißen Haus oder im amerikanischen Außenministerium Zusicherungen zu erhalten. Sie müssen sich selbst immer wieder vergewissern, daß sie Vertrauen in die Vereinigten Staaten haben können, daß die USA sie nach wie vor bei ihrer Konfrontation mit jener riesigen Macht unterstützen, die 17 Millionen Deutsche in Gefangenschaft hält und die Freiheit der übrigen bedroht. Und um Vertrauen zu haben, muß man selbst Vertrauen ausstrahlen. Frankreich kann es sich erlauben, bis an den Rand der offenen Beleidigung der Vereinigten Staaten zu gehen. Sogar das Mißtrauen, das General de Gaulle hervorruft, erreicht nicht die Tiefenschichten des amerikanischen Kollektivbewußtseins; die Bundesrepublik hingegen, Erbe der lastenden deutschen Vergangenheit, liefert zahllose Beweise der Ergebenheit, ohne daß die amerikanische öffentliche Meinung sich darum einmal weniger fragte, wieviel Vertrauen man in die Deutschen setzen könne.

Die Stellung, die die Vereinigten Staaten in den deutschen Wahlkämpfen einnimmt, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. In den Jahren 1953 und 1957 mußte die SPD zum Teil deshalb Wählerstimmen einbüßen, weil viele Wähler glaubten, daß eine Regierungsübernahme der SPD das Vertrauen der Amerikaner in die Bundesrepublik erschüttern würde und daß folglich Deutschland sich nicht mehr in demselben Maße auf den Schutz und die Unterstützung der Vereinigten Staaten verlassen könne. Im Jahre 1961 versuchte die SPD dieses Handicap zu überwinden, und 1964/65 hat sie eine vollständige Kehrtwendung gemacht. Im Gegensatz zu den manchmal gespaltenen christlichen Demokraten hat die SPD eindeutig auf die Karte der Treue zu den Vereinigten Btaaten gesetzt. Nicht für einen Augenblick hat sie in ihrer Billigung der amerikanischen Politik geschwankt, weder im Hinblick auf Vietnam noch auf Santo Domingo. In Frankreich dagegen lautet die Streitfrage zwi-sehe Gaullisten und Anti-Gaullisten nicht, ob man die Vereinigten Staaten kritisieren dürfe, sondern mit welchen Ausdrücken man dies tun soll. Gaston Deferres letzte Erklärung, bevor er seine Präsidentschaftskandidatur zurückzog, sprach von dem „schwerwiegenden politischen Irrtum" von Santo Domingo und warf de Gaulle vor, er gebe sich damit zufrie-den, „den Amerikanern ein paar unangenehme Dinge zu sagen" in einem Moment, „wo es besser wäre, uns gegen die Invasion amerikanischen Kapitals und amerikanischer Unternehmungen zum Widerstand zu rüsten."

Deutscher Europazentrismus — französischer Globalismus

Die französisch-deutschen Divergenzen in Fragen der Verteidigung und des Vertrauens werden in gewisser Weise symbolisiert durch die militärischen Realitäten der NATO. Hier eröffnet sich auch noch ein weiterer Unterschied — der zwischen dem deutschen „Europazentrismus" und dem französischen „Globalismus". Der Fehlbetrag im französischen Beitrag zu den NATO-Streitkräften ist beinahe so alt wie die Organisation selbst. Während der Fünften Republik ist er den Auflösungstendenzen zuzuschreiben, der Weigerung, die Integration mitzumachen. In der Vierten Republik war die französische Armee in Indochina, dann in Algerien, jedenfalls nicht in Europa. Die gemeinsame Verteidigung gegen den Osten in Europa war und bleibt nur ein französisches nationales Interesse unter anderen Interessen.

Umgekehrt gibt es zehn Jahre nach dem Beginn der deutschen Wiederbewaffnung genau genommen keine deutsche Armee. Abgesehen von einigen Grenzschutzverbänden sind alle von der Bundesrepublik aufgestellten Divisionen in die NATO integriert. Diese vollständige Integration entstand in erster Linie aus Mißtrauen. Die Unterstellung der deutschen Armee unter NATO-Kommando kam dem Sicherheitsbedürfnis seiner Partner angesichts einer möglichen neuen deutschen Aggression entgegen, einer Aggression nach Osten eher als nach Westen. Ihr zweiter Ursprung war der Wunsch der Deutschen, sich der Anwesenheit der Amerikaner zu versichern. Mit einer integrierten Struktur ist das leichter zu erreichen als mit nationalen Armeen. Das Fehlen eines deutschen Gegenstücks zu den „Eingreifverbänden", dem wichtigsten Teil der französischen Militärorganisation, ist darauf zurückzuführen, daß die Bundesrepublik außerhalb des NATO-Bereiches keine Verpflichtungen und keine Interessen hat.

Verständlicherweise ist die deutsche Außenpolitik allzusehr mit dem deutschen Problem beschäftigt. Das Fehlen von Kritik an der amerikanischen Politik in Vietnam oder Santo Domingo rührt nicht nur daher, daß man sich mit den Amerikanern gutstellen möchte, sondern entspringt auch einem Mangel an Interesse. Die Wirtschaftsgroßmacht Bundesrepublik hat nicht das geringste Bedürfnis, auch eine politische Großmacht zu sein. Weder in Brasilien noch in Indien noch sonstwo verfolgen das deutsche Kapital und die deutschen Stahlwerke einen politischen Zweck, außer insoweit, als die deutsche Frage betroffen ist. Eine afrikanische oder asiatische Regierung ist „gut" oder „schlecht", je nachdem ob sie die „DDR" anerkennt oder nicht. Die Deutschen sind der Meinung, daß sie mit der Hilfe für Berlin, mit der Wiederbewaffnung und mit ihrer festen antikommunistischen Haltung an der Elbe genug zu der gemeinsamen Sache beitragen, um die Verantwortung für die übrige Welt den anderen überlassen zu können. Auf diese Weise erfüllen sich die kühnsten Hoffnungen der Sieger von 1945, die jeden Willen zur Macht aus der Seele des deutschen Volkes herausreißen wollten. Nichtsdestoweniger ergeben sich daraus Probleme, besonders im Hinblick auf die Zukunft Europas. Die „europäischen" Gegner General de Gaulles in Frankreich geben sich einer Täuschung hin, wenn sie glauben, ein vereinigtes Europa würde eine bedeutende Rolle in der Weltpolitik spielen. Eine gemeinsame Außenpolitik würde notwendigerweise dadurch beeinflußt werden, daß die Deutschen sich einer solchen weltpolitischen Rolle Europas widersetzen würden. Ein vereinigtes Europa müßte auch die Priorität in Betracht ziehen, die die Deutschen dem deutschen Problem beimessen. Hier ist die Eile, mit der die Deutschen die politi8 sehe Integration Europas fordern, ein wenig verwirrend. Welche deutsche Regierung könnte z. B. in voraussehbarer Zukunft eine Mehrheitsentscheidung über Fragen wie die polnischen Grenzen oder den Status der „DDR" akzeptieren. Verantwortliche Deutsche weichen dieser Frage aus. Sie betrachten es als selbstverständlich, daß ein vereinigtes Europa gegenüber dem Osten die Politik verfolgen würde, die sie wünschen.

Dies könnte eine Illusion sein, ebenso wie das Argument der französischen „Europäer", daß ihre fünf Partner ebenfalls an die Idee eines Europas als Dritter Kraft glaubten. Denn das einzige Land, das weltweite Interessen derselben Größenordnung wie Frankreich hat, Großbritannien, gehört nicht zum Europa der Sechs. Man könnte zahlreiche gleichartige Aussprüche britischer und französischer Politiker, der Regierung und der Opposition, zitieren, die von der Notwendigkeit sprechen, Streitkräfte zu unterhalten, um außerhalb Europas intervenieren und auf die Weltpolitik, vor allem auf die Politik der Vereingten Staaten, Einfluß nehmen zu können. Großbritannien und Frankreich müssen sich die schreckliche Frage stellen: Wie behält man Einfluß auf die Weltpolitik, nachdem man aufgehört hat, eine Weltmacht zu sein? Der gemeinsame Fehlschlag von Suez war ein Symbol. Beide Länder suchen nach einer neuen Basis für ihren Einfluß auf die Weltpolitik. Entsprang Großbritanniens Wunsch, sich Europa anzuschließen, nicht weitgehend der Hoffnung, daß es durch Europa den Einfluß wiedergewinnen könne, den es — sogar zusammen mit dem Commonwealth — nicht mehr besitzt? Ganz ähnlich sieht General de Gaulle Europa hauptsächlich als ein Mittel an, um den französischen Einfluß auszudehnen. Seine sozialistischen und volksrepublikanischen Widersacher, die gleich ihm die Solidarität Frankreichs mit den jungen afrikanischen Staaten verteidigen, sind kaum mehr als er bereit, Europa zu erlauben, an Stelle der sprachlichen, kulturellen und intellektuellen „Presence" Frankreichs zu treten.

Unterschiedliche ideologische Orientierung

Hinsichtlich der Dritten Welt gibt es noch eine weitere Divergenz in den Auffassungen Frankreichs und Deutschlands, und deren Ursache liegt in der unterschiedlichen ideologischen Orientierung. Die Konsequenzen machen sich auf den verschiedensten Gebieten bemerkbar, von den Beziehungen zum Osten bis zu den Zielen der Gewerkschaften. Wenn man die Rechte als Verteidigung der bestehenden Ordnung und die Linke als Versuch der Errichtung einer neuen Ordnung definiert, steht Frankreich (von der Idee mehr als von ihrer politischen oder technischen Realisierung her) deutlich weiter auf der Linken als die Bundesrepublik. Anti-Amerikanismus allein genügt nicht, um einen gewissen französischen „Castroismus" und die lebhafte Kritik an der Landung in Santo Domingo zu erklären. Hinzu kommt die Sympathie für die, die im Namen der Freiheit und der Gleichheit gegen jene revoltieren, die Reichtum und Macht besitzen. Und wenn der Fortschritt nur durch den Sozialismus erzielt werden kann, so meinen die Franzosen, dann muß man eben den Sozialismus einführen. Autoritarismus, der alte Lebensformen zum Wohle der Enterbten verändert, ist gerechtfertigt, während Liberalismus, der nur die Privilegierten begünstigt, nicht toleriert wird. Die Deutschen, die durch die antikommunistische Ideologie beherrscht werden, geben sich leichter mit den amerikanischen Erklärungen — gestern über Guatemala, heute über Santo Domingo — zufrieden, die dazu neigen, mit Kommunismus gleichzusetzen, was in französischen Augen der Versuch ist, ein größeres Maß an politischer, wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit zu erreichen.

Dieser ideologische Unterschied spielt auch eine bedeutende Rolle in europäischen Angelegenheiten. Die französische Vorliebe für die Idee der Planung entspringt teilweise der Überzeugung, daß die wirtschaftliche und soziale Ordnung geändert werden muß, während die Deutschen, die lieber die „Gesetze des Marktes" sich auswirken lassen, mit der westlichen Gesellschaft mehr zufrieden sind. Infol-gedessen hat die wirtschaftliche Integration, die Schaffung einer wahren Wirtschaftsgemeinschaft in Europa, mehr Anhänger in Frankreich als in Deutschland, während das Gegenteil für die politische Gemeinschaft gilt. Sollte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft das französische System der „flexiblen Pla-nung" übernehmen, würde sie etwas ganz anderes werden als ein bloßer gemeinsamer Markt. Aber eben dieses „geplante Europa" ist es, was Bundeskanzler Erhard fürchtet, einfach wegen der Risiken, die es für die Marktwirtschaft der Bundesrepublik im Gefolge haben würde.

Fortschrittliche und reaktionäre Unterdrückung

Die unterschiedlichen ideologischen Grundhaltungen haben sogar noch wichtigere Rückwirkungen auf die Ansichten über den sowjetischen Osten. Es spricht vieles dafür, daß jede Veränderung in Richtung einer Lockerung des Totalitarismus in Deutschland unter-und in Frankreich überschätzt wird. Auf deutscher Seite steht die Idee der westlichen Zivilisation, die dem Wesen nach gut ist, der Idee der kommunistischen Welt gegenüber, die dem Wesen nach schlecht ist. Frankreich hat in bezug auf die Ärgernisse, Fehlschläge und Ungerechtigkeiten der westlichen Zivilisation ein schlechteres Gewissen als Deutschland, und die östlichen Regime erscheinen weniger allgemein tadelnswert, überdies haben die Franzosen in der Schule gelernt, daß Terror und Unterdrückung manchmal nur vorübergehende Phänomene in einer allgemeinen Bewegung auf den Fortschritt hin sein können: Die französische Revolution hat die Humanität trotz des Blutes, das sie vergoß, vorangebracht. Infolgedessen legen viele Franzosen — und nicht nur diejenigen auf der Linken — einen doppelten Maßstab an, wenn es um Gewaltanwendung geht. Ein Student, den Franco einsperrt, ruft mehr Emotionen hervor als zehn Studenten, die Ulbricht ins Gefängnis wirft. „Reaktionäre" Unterdrückung gehört irgendwie zu einer anderen Sorte als Unterdrückung im Namen des „Fortschritts". Gleichzeitig sind die Franzosen sehr viel mehr geneigt als die Deutschen, die Entwicklung im Osten gelassen zu betrachten und vor allem nicht die völlige „Verwestlichung" der Volksdemokratien zu verlangen.

Als vor einigen Jahren Walter Hallstein, damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, von einen Europa bis zum Ural sprach, war das, was er meinte, nicht sehr verschieden von John Foster Dulles'Idee des „roll-back". Wenn General de Gaulle den Ausdruck „Europa vom Atlantik bis zum Ural" benutzt, meint er die Wiedervereinigung des Kontinents nach der Liberalisierung (aber ohne vollständige „Verwestlichung") der Länder des Ostens. Sicherlich kommen hier einige rein französische Überlegungen ins Spiel, etwa die alten Bande mit Polen und der Tschechoslowakei. Aber der ideologische Aspekt ist wahrscheinlich noch bedeutsamer: Hätten sie die Wahl zwischen Gomulka und Salazar, würde die Mehrheit der Franzosen sich für den ersteren entscheiden, die Mehrheit der Deutschen für den letzteren.

Die Bundesrepublik braucht eine Aufgabe

Dieser mehr als simplifizierende Überblick bedarf natürlich einer Differenzierung. So spricht etwa Rolf Lahr, einer der Staatssekretäre des Bonner Auswärtigen Amtes, in Bukarest von der „europäischen Solidarität", die die Bundesrepublik mit Rumänien verbindet, und die „Zeit" und der „Spiegel" nehmen eine „französische" Haltung gegenüber Osteuropa ein.

Davon abgesehen, wird die Tagespolitik nach wie vor von den General de Gaulle eigentümlichen Auffassungen mit ihren widersprüchlichen und verderblichen Aspekten hinsichtlich der deutschen Probleme beherrscht werden. Die Bundesrepublik brauchte und braucht weiterhin eine Aufgabe, die mehr ist als eine bloß nationale, um von der Fixierung auf ihr eige-nes Problem loszukommen. Bis jetzt gab es zwei: eine negative — Verteidigung gegen den Kommunismus — und eine positive — die Errichtung Europas. Aber die französische Politik gegenüber der Bundesrepublik besteht gegenwärtig darin, ihr vorzuwerfen, sie beschränke sich auf die erste, während sie sich veigert, ihr zu gestatten, die zweite zu vollenden. Aber die tiefgehenderen und dauerhafteren Differenzen, die hier analysiert worden sind, sind nicht weniger real. Die amerikanische Presse und die amerikanische Führung neigen dazu, sie zu unterschätzen — so wie sie gleichzeitig umgekehrt die Anzahl und die Stärke der Bande unterschätzen, die heute Frankreich und Deutschland miteinander verknüpfen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Alfred Grosser, Professor für Politische Wissenschaften am Institut d’Etudes Politiques, Paris, Studienund Forschungsdirektor der Fondation Nationale des Sciences Politiques, Generalsekretär des Comite Franaise d'Echange avec l’Allemagne Nouvelle, geb. 1. Februar 1925 in Frankfurt/Main. Veröffentlichungen u. a.: L'Allemagne de l'occident, Paris 1953; La democratie de Bonn 1949— 1957, Paris 1958 (deutsch: Die Bonner Demokratie, Düsseldorf 1960); La politique exterieure de la Cinquieme Republique, Paris 1964.