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Neue Motive der europäischen Einigung | APuZ 47/1965 | bpb.de

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APuZ 47/1965 Neue Motive der europäischen Einigung Der Europarat

Neue Motive der europäischen Einigung

Hendrik Brugmans

In der Menschheitsgeschichte vollzieht sich das reih Wünschenswerte nur selten. Marx hatte Recht: gute Ideen blamieren sich immer, wenn sie nicht den Anschluß finden an konkrete Interessen. Jedoch brauchen diese „Interessen" nicht materieller Auch wenn Art zu sein. eine Gemeinschaft sich die Frage stellt, was heute von ihr erwartet werden darf, wenn sie sich also Sorgen macht über ihre Berufung in der Welt, auch dann ist das ein sehr konkretes „Interesse".

In diesem Sinne müssen wir uns drei Fragen vorlegen.

Erstens: Was waren unmittelbar nach dem Kriege die Motive, die Anknüpfungspunkte an die Wirklichkeit, auf die das europäische Ideal damals gegründet war?

Zweitens: Was ist davon noch lebendig oder wieder lebendig?

Drittens: Welche neuen Motive haben sich seitdem entwickelt und auf welche neuen Probleme gibt die Idee der europäischen Föderation heute eine Antwort?

Die Voraussetzungen haben sich geändert

Ich möchte mit einer persönlichen Erinnerung beginnen. Als die Europa-Union mir zum ersten Male die Gelegenheit gab, eine Vortragsreise durch die drei Besatzungszonen (die Bundesrepublik gab es damals noch nicht) zu unternehmen, da kam von überall ein alles überragendes Problem auf uns zu: der Wiederaufbau. Deutschland roch nach Schutt. Aber in Arnheim, in Warschau, in Mailand, selbst in London, war es kaum anders.

Die Frage, die sich aufzwang, lautete folglich: Wenn Europa gemeinsam durch den Nationalsozialismus gelitten hat, wenn europäische Patrioten überall — auch in Deutschland selbst — gegen den Ungeist des Anti-Europa gekämpft haben, ergibt sich dann daraus nicht die Schlußfolgerung, daß wir jetzt auch zusammenstehen müssen, um für die gemeinsamen Aufgaben einen gemeinsamen Plan zu entwickeln? Im Juni 1947 hatte Marshall mit seiner Rede hierfür die materielle Grundlage geschaffen. Der weitblickende Amerikaner hatte die europäische Tragödie besser durchschaut als die Mehrheit der Europäer selbst. Ein positiver Ansatzpunkt war gegeben. Die Idee konnte zur Politik werden.

Heute sehen die Dinge freilich anders aus. Der Wiederaufbau, der damals ein beinahe übermenschlich schweres Unterfangen zu sein schien, hat sich schneller und erfolgreicher Curt Christoph von Pfuel Der Europarat .................................... Seite 11 vollzogen, als irgend jemand erwarten konnte. Unser europäisches „Wirtschaftswunder" (es handelte sich nicht nur um ein deutsches Phänomen!) ist sicher nicht der idealste Ausgangspunkt für die europäische Einigung, es stellt aber eine historische Leistung ersten Ranges dar und liefert den Beweis dafür, daß Europa seine Vitalität nicht verloren hat. Schon seit Jahren brauchen wir nicht mehr von amerikanischen Almosen zu leben. So gesehen ist in der Tat ein „europäisches" Europa entstanden.

Wir haben eine Atempause

Ferner stellte sich unmittelbar nach Kriegsende das Problem der militärischen Sicherheit dem kommunistischen Block gegenüber. Wir hatten Illusionen im Hinblick auf die soge-

Nach einem Vortrag anläßlich der Eröffnung der EUROPA AKTION 65 am 20. Oktober 1965 in Bad Godesberg. nannte „Demokratisierung" des bolschewistischen Systems, wie sie den amerikanischen Idealisten noch während des Krieges vorgeschwebt hatte, verloren. Der Eiserne Vorhang war nicht die Erfindung westlicher Reaktionäre oder Kriegshetzer. Er war der weltpolitische Ausdruck der „Shdanowtschina" und der imperialistischen Ziele Stalins. Als einziger Staat hatte die Sowjetunion beim Zusammenbruch Deutschlands eine erhebliche Gebietsausdehnung vorgenommen. Dann wurden in schnellem Tempo die sogenannten „Satelliten" gleichgeschaltet. Im Februar 1948 bewies der Staatsstreich in Prag, daß Moskau es damit nicht bewenden lassen wollte. Es mußte etwas getan werden, und es erschien zugleich sinnlos, nach der westlichen Demobilisierung wieder zu einer rein nationalen Wiederaufrüstung überzugehen. Auch hier bedeutete das Wort „Europa" die Anbahnung neuer konkreter und realistischer Möglichkeiten. Doch auch im Hinblick auf unsere Sicherheit hat sich die Lage wesentlich geändert. Heute würde Paul-Henri Spaak nicht mehr die Rede halten, die er 1951 vor der Vollversammlung der UN mit dem Grundthema hielt: „Wir haben Angst".

Der traditionelle „proletarische Internationalismus", der politische Wille, sich unter allen Umständen den Forderungen des „Vaterlandes aller Werktätigen" zu fügen, hat abgedankt. Zwar gibt es in Europa noch immer Millionen Kommunisten, aber sie sind nicht mehr das, was Leon Blum damals als „Nationalisten einer fremden Macht" bezeichnete. Soweit sie noch eine „fünfte Kolonne" darstellen, müssen sie sich die Frage stellen: „Für wen?" Für Rußland? Für China? Oder gar für den erstgeborenen häretischen Staat des Kommunismus, für Jugoslawien? Man weiß es nicht mehr. Hinzu kommt, daß die UdSSR selbst nach dem Tode Stalins sich wesentlich verändert hat. Der georgische Diktator hat das Grundgesetz der Geschichte, die Evolution, wohl zeitweilig außer Kraft setzen oder seinem Willen unterwerfen können, jetzt aber entwickeln sich von neuem die Kräfte der Differenzierung, die zugleich Kräfte der Freiheit sind.

Das soll nicht heißen, daß wir außer Gefahr sind. Es wäre eine Illusion und gefährlicher Ausdruck westlicher Trägheit, wenn wir glaubten, Russen und Chinesen würden uns den Gefallen tun, sich gegenseitig zu zerfleischen, damit wir in aller Ruhe unser komfortables Leben weiter fristen können. Nein, das Problem ist noch immer da, wenn auch in anderen Formen. Nur die unmittelbare Bedrohung, der Europa damals ausgesetzt war, hat aufgehört. Daraus geht hervor, daß der „Föderalismus aus Panik" der ersten Nachkriegsjahre keine treibende Kraft mehr ist. Wir haben zumindest eine Atempause. Mit anderen Worten, wir haben Zeit gewonnen, um zu beweisen, daß wir aus eigenen Kräften Konstruktives leisten können. Etwas überspitzt könnte man diesen Wandel wie folgt ausdrücken: Während man anfangs EuropaPolitik trieb, um sich die Kommunisten vom Leibe zu halten, betreiben wir heute Integration, um ihnen zu beweisen, daß der Westen nicht dekadent und selbstmordlüstern ist.

Das deutsche Problem

Und schließlich gab es in den ersten Jahren das „deutsche Problem". Wie konnte man die Volkskraft Deutschlands fördern, ohne die Keime eines neuen Konfliktes, einer neuen Gefahr, eines neuen Nationalismus zu züchten?

Auch auf diese Frage gab der europäische Föderalismus die Antwort. Aber den politischen Mut zur totalen Verwirklichung dieser Antwort hat Europa nicht aufgebracht. Man wollte dem deutschen Militarismus vorbeugen, aber zu gleicher Zeit nichts aufgeben von der eigenen nationalen Souveränität, von den eigenen militaristischen „Glorien". Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wurde verworfen, weil Frankreich lieber eine selbständige Bundeswehr in Kauf nehmen als der Europäisierung der eigenen Streitkräfte zustimmen wollte. Seitdem wird versucht, das militärische Problem entweder zu vergessen oder es mit althergebrachten Methoden zu meistern. Das Vakuum von damals ist zwar aufgefüllt worden, aber eine auf die Zukunft gerichtete Lösung wurde nicht gefunden. Wer die Psychologie der jüngeren Generation hat beobachten können, weiß, mit wie wenig Über-zeugung die meisten ihrer Dienstpflicht Genüge leisten. Das ist verständlich, denn wer kann heute noch an rein nationale Verteidigungsmethoden glauben?

Kurz, unsere Argumente aus den ersten Jahren waren gut und richtig, aber wir haben die Bereitschaft der Europäer, ihnen Rechnung zu tragen, überschätzt. Tatsache ist, daß nicht nur unsere europäischen Lösungsvorschläge unberücksichtigt geblieben sind, sondern daß darüber hinaus das nationalistische Gift überall wieder durchsickert. Frankreich zum Beispiel unterschätzt den Widerwillen, der sich heute ihm gegenüber breitmacht. Es scheint zu vergessen, daß es zur Zeit Robert Schumans einen weit größeren Einfluß in Europa hatte als jetzt. Auch scheinen manche Nationalisten nicht zu sehen, daß Nationalismus eine ansteckende Krankheit ist. Was Jupiter erlaubt ist, erlauben sich ja auch seine Nachbarn, und es muß jedem Beobachter auffallen, daß nicht nur Frankreich, sondern auch Deutschland dadurch an Sympathie in der Welt verliert. Die Erinnerungen aus der Hitlerzeit mögen verblaßt sein, aber — paradoxerweise — sind es heute gerade die Jüngeren in Europa, die sich Sorgen machen um die Zukunft der deutschen Demokratie. Sie sind sich bewußt, daß eine Wiederbelebung auch des deutschen Nationalismus in den Bereich des Möglichen rückt, wenn nationales Interesse, Staatsräson und Chauvinismus wieder absolute Priorität genießen.

Als Rektor des Europa-Kollegs verkehre ich tagtäglich mit Studenten aus rund zwanzig Nationen und konnte beobachten, daß das so-genannte „deutsche Problem", nachdem es jahrelang tot war, seit kurzem wieder in allen Diskussionen auftaucht. Mit anderen Worten: die Losung „Frankreich über alles" kehrt sich auch, ja insbesondere, gegen Deutschland, gegen die Bundesrepublik. Wenn der Nationalismus nicht überwunden wird, wenn jeder Staat wieder seinem eigenen „sacro egoismus" nachgeht, so ist das tragisch für uns alle ... vor allem aber für das deutsche Volk. Die deutsche Frage schien in der Tat gelöst, und wir fingen schon an, sie zu vergessen. Gerade wir, die wir in der Widerstandsbewegung gelernt hatten, daß wir nicht gegen ein Volk, sondern gegen eine teuflische Ideologie gekämpft hatten, atmeten auf. Heute aber beunruhigt die deutsche Frage wieder manchen Europäer, auch wenn er den Krieg nicht persönlich miterlebt hat, dafür aber die Furcht vor einer neuen Selbstzerfleischung in sich trägt. Um es kurz und deutlich auszusprechen: In einem Europa der absolut souveränen Staaten, das heißt in einem Europa des institutionalisierten Mißtrauens, kann niemand darauf rechnen, beliebt zu sein — Deutschland am allerwenigsten!

Der Kleinstaat ist überholt

Die Aufgabe des materiellen Wiederaufbaus ist also gelöst. Die Widerstandskraft dem Kommunismus gegenüber scheint gestärkt. Die Unruhe um Deutschlands Zukunft dagegen nimmt zu. Wie steht es um das vierte Leitmotiv der europäischen Einigung, nämlich die föderalistische Aktion als solche? Dieses Motiv, das uns seit nunmehr zwanzig Jahren so mächtig inspiriert, hat auch heute nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Es verbindet sich mit dem Gedanken: „Mein Vaterland muß größer sein".

Mehr als je wird deutlich, daß in der modernen Welt der Kleinstaat überholt ist — und jeder Staat mit weniger als hundert Millionen Einwohnern ist heute ein Kleinstaat. Luxemburg oder Schweden, ja selbst Großbritannien können heute keine echte Weltpolitik betreiben. Zugleich aber stellen wir fest, daß die Zeit für eine umfassende Weltföderation noch nicht gekommen ist. Man muß sich sogar fragen, ob es jemals möglich sein wird, das Geschick der Menschheit von einem Zentrum, von einer Welthauptstadt aus zu gestalten. Viel wahrscheinlicher ist, daß der regionale, kontinentale oder subkontinentale Zusammenschluß die Formel der Zukunft sein wird. Panafrika und ein geeintes Lateinamerika werden sich der amerikanischen Föderation und der Sowjetunion zur Seite stellen. In einer solchermaßen organisierten Welt sind unsere europäischen Nationalstaaten zu klein.

Originell klingt eine solche Feststellung nicht. Sie bleibt aber wahr. Es ist uns nicht darum zu tun, sensationelle Paradoxe aufzuzeigen, sondern einige Grundzüge der heutigen Situation darzulegen, auch wenn damit Gemeinplätze ausgesprochen werden.

Ich weiß: manche Europäer verlangen gar nicht danach, wieder Weltpolitik treiben zu können. Sie überlassen die großen Entscheidungen lieber den internationalen Riesen und träumen von einem neutralisierten Europa, das auf dem Balkon der Weltgeschichte sitzen und den Giganten gute Ratschläge geben könnte. Für diejenigen, die in diesem Stile kapituliert haben, ist die europäische Einigung gerade gut genug, um noch etwas mehr Komfort zu zeugen, in der seligen Hoffnung, daß man uns dann weiter in Frieden läßt. Wir dagegen glauben an Europas Weltaufgabe in dem Sinne, daß es dazu berufen ist, eine echte Alternative zu verkörpern, sowohl den kom-munistischen Gegnern als auch dem amerikanischen Verbündeten gegenüber. Wir müssen beweisen, daß „die freie Welt" nicht nur USA heißt.

Als Präsident de Gaulle vor einiger Zeit in Mexiko so begeistert empfangen wurde, geschah dies nicht, wie man behauptet hat, weil man in ihm die Verkörperung des Antiamerikanismus gesehen hätte, sondern vielmehr, weil man hoffte, in ihm endlich dem wiedererstandenen Europa zu begegnen. Zu lange hat Europa geschwiegen oder nur in Verwirrung und Zerstückelung gesprochen. Würde man jetzt die Stimme Europas, die Stimme der traditionellen Revolution und der revolutionären Tradition hören? Der große französische Staatsmann hat die geniale Intuition gehabt, daß hier eine historische Aufgabe liegt. Aber man muß es bedauern, daß er bei dieser Gelegenheit nur Frankreich, nur ein einziges Land, nur eine Schattierung Europas vertreten konnte.

Wir, europäische Föderalisten von heute, wollen nicht zurückflüchten in die Enge der Kleinheit. Auch haben wir nicht die Illusion, daß unsere nationalen Gemeinschaften, so wichtig diese auch sind und bleiben werden, allein genügen, um in der modernen Welt Großes zu leisten. Wir ziehen die Schlußfolgerung aus unserer ursprünglichen Idee und sagen: Wir wollen nicht die „kleinen Europäer" sein, vergleichbar mit den „kleinen Griechen", den „Graeculi", die den mächtigen Römern damals so ungemein sympathisch waren. Wir wissen, daß wir etwas zu bieten haben, und darum ersticken wir in unserer allzu nationalen, relativen Kleinheit. Nur der Defaitist wird leugnen, daß die Welt Europa braucht, und solange wir nicht unsere föderative Selbsterneuerung vollzogen haben, wird die Welt ohne uns auskommen müssen.

Kontrolle der wirtschaftlichen Konzentration

Was haben wir denn zu bieten? Bei der Beantwortung dieser Frage denken wir in erster Linie an die Perspektiven unserer wirtschaftlichen Expansion. Europa hat seine ökonomische Vitalität längst gezeigt. Aber nichts ist definitiv gewonnen. Wir müssen noch beweisen, daß die moderne Industriegesellschaft nicht nur produktiv, sondern auch im Stande ist, einen Kulturstil zu schaffen in ihrer Freizeitgestaltung und in dem, was ein französischer Volkswirt die „Consommativite" genannt hat, das heißt, die bewußte, auf die wahren Bedürfnisse abgestimmte Produktion ebenso wie ein dem Stand unserer Zivilisation angemessener Verbrauch.

Gewiß, eine europäische Föderation wird einen solchen Kulturstil nicht unmittelbar schaffen. Aber die Geschichte lehrt, daß jede tief eingreifende Erneuerung, wie die Über-windung des Nationalismus eine sein wird, immer neue Lebenskräfte erweckt, neue Probleme stellt, neue Menschen aktiviert, und so die Gelegenheit schafft, neu zu improvisieren. In diesem Zusammenhang denke ich ebenso an die Perspektiven der Wirtschaftsdemokratie. Auch wirtschaftlich leben wir in einer Welt der Giganten. Die amerikanische Stahl-industrie holt zu einem gewaltigen Investitionsprogramm aus, und ihr japanisches Gegenstück ist schöpferischer denn je. Wenn wir einer solchen Konkurrenz gegenüber bestehen wollen, müssen wir mit gewaltigen Machtkonzentrationen operieren, so wie sie übrigens hier in Deutschland schon wieder entstanden sind. Das war notwendig und ist begrüßenswert. Daraus ergeben sich aber Probleme und Gefahren.

Gewiß, die großen Oligopole können ihrem Wesen nach nicht nationalistisch sein, und damit ist schon viel gewonnen. Der Luxemburger Emile Mayrisch, der vor einer Generation das Stahlkartell schuf, war — auch kulturell — ein überzeugter Europäer. Aber die allzu imposante Zusammenballung der wirtschaftlichen Macht hat schon damals berechtigte Entrüstung hervorgerufen. Demokraten und Gewerkschaftler stellten die Frage, ob der Parlamentarismus noch einen Sinn habe, wenn die sogenannten „Trusts" doch das letzte Wort sprechen.

Auf diese berechtigte Frage wurde damals keine realistische Antwort gegeben. Lag die Lösung in einer Zerstückelung von Komplexen, die der Natur der Sache nach zusammengehören? Kann Europa mit anderen Weltteilen wetteifern, wenn es aus einer falsch verstandenen Scheindemokratie heraus die kleineren, weniger rentablen Betriebe künstlich fördert? Gewiß nicht! Aber wenn die riesigen Konzentrationen unvermeidbar und an sich heilsam sind, wie verhindern wir dann, daß sie „einen Staat innerhalb des Staates" oder vielmehr „einen Staat außerhalb des Nationalstaates" bilden? Denn auch diesmal ist die Wirtschaft dem staatspolitischen Denken und Handeln vorausgeeilt. Sie ist schon längst kontinental und interkontinental eingestellt und lacht über unsere nationalpolitischen Strukturen. Auch hier sagen wir nicht, daß eine europäische Föderation unsere Probleme lösen wird, wohl aber, daß sie uns endlich die Möglichkeit gibt, sie richtig zu sehen.

Demokratie, sagte ein Engländer, ist die Abwesenheit von unkontrollierter Macht. Aber wenn die Kontrolle überhaupt funktionieren soll, müßte sie sich zumindest auf derselben Ebene wie die Macht befinden, im selben geographischen Raum. Der moderne Demokrat hat aufgehört, große Konzerne als etwas an sich Negatives zu betrachten. Er weiß, daß das Grundgesetz der Wirtschaft, und damit auch der Volkswohlfahrt, heutzutage in der „efficiency" liegt, die Konzentration voraussetzt. So ist es in den USA, so ist es auch bei uns. Aber Amerika hat seine Vereinigten Staaten, und schon Tocqueville hat im vorigen Jahrhundert erkannt, daß die Stärke der neuen Welt in ihrem Föderalismus lag, während wir in tragischer Hilflosigkeit unserem Verfall entgegenzuschreiten schienen.

Heute mit Einzelstaaten auskommen wollen, ist nicht nur defaitistisch, es ist auch undemokratisch, weil wir uns selbst damit der Möglichkeit berauben, dem „big business" ein kontinentales, föderalistisches „big government" entgegenzusetzen, eine europäische Bundesregierung, die lenken und kontrollieren kann.

Sorgen um Europas wirtschaftlichen Rang

Wir verlassen nur teilweise das Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, wenn wir uns den wissenschaftlichen und technologischen Kräften zuwenden. Auch sie drohen im Kleinraum zu verkümmern.

Es wird gesagt, daß heute die ganze Welt Wissenschaft und Technologie betreibt und daß man dabei eventuell auf Europa verzichten könnte. In gewissem Sinne trifft das zu. Aber doch läßt sich die Frage stellen, ob nicht gerade Europa eine besondere, eigene Berufung hat, nicht nur in der Weiterbildung dessen, was prinzipiell schon vorgedacht wurde, sondern gerade auf dem Gebiete der Grundlagenforschung.

Wie dem auch sei, heute spielt Europa, wie man in der Terminologie des Sports sagt, „unter seinen Kräften". Unsere Gelehrten sind der ständigen Aufforderung ausgesetzt, nach Amerika zu gehen, wo sie bessere Arbeitsmöglichkeiten finden als bei uns. Seit langem ist nicht unsere Zahlungs-und Handelsbilanz, sondern unsere „Erfindungsbilanz" den USA gegenüber katastrophal passiv. Man kann behaupten, dieser Abrahmungsprozeß sei nicht so schlimm, da es ja im Wesen der Wissenschaft liege, international zu wirken. Ich glaube nicht und könnte mir kaum vorstellen, daß ein allmähliches Erlöschen eines Kultur-pols für die Welt ein Segen sein sollte. Man spricht von „Paris et le desert franais“; wird man eines Tages von Amerika und der „Wüste des Westens", nämlich Europa, sprechen?

Wenn man einer solchen Entwicklung vorbeugen will, heißt die Lösung aufs neue Europa. Nur eine konsequent geplante Arbeitsteilung kann noch verhindern, daß wir weiter ins Hintertreffen geraten. Das ist nicht europäischer „Nationalismus". Es ist vielmehr der Wille, endlich wieder die Möglichkeit zu haben, unseren vollen Beitrag für die wissenschaftliche Gestaltung der Industriegesellschaft zu liefern.

Anders gesagt: Wir weigern uns, in der modernen Welt „provinziell" zu werden. Was wir brauchen, ist eine europäische Gemeinschaft der Wissenschaft, die die Probleme der Zukunft durchdenkt und neue Wege weist. Dabei ist nicht nur an Technik und exakte Wissenschaften zu denken, auch an Architektur, an Raumforschung und Städteplanung. Auch auf pädagogischem Gebiet müssen schöpferische Kräfte frei gemacht werden — frei für das Menschwerden der Massen, frei von jeder nationalen Beengung. Es gibt wohl kein einziges Spezialgebiet, auf dem wir nicht der Bedrohung ausgesetzt wären, überflügelt zu werden. Die passive Gemeinschaft unserer Probleme existiert bereits; die Gemeinschaft ihrer aktiven Bewältigung steht erst auf der Tagesordnung.

Gegen absolute Staatssouveränität — für Beschränkung des Staates

Auf einem ganz anderen Gebiet bewährt sich Europa, dem der Menschenrechte.

Die Menschenrechte sind aus der mittelalterlichen Vergangenheit zu uns gekommen und bilden heute nicht nur eine Reihe ideologischer Wunschvorstellungen wie in der universalen Erklärung der Vereinten Nationen. Sie werden vielmehr vom Europarat durch eine übernationale Prozedur gewährleistet. Sie bedeuten konkret die Verwirklichung sowohl eines konservativen als auch eines revolutionären Prinzips.

Konservativ, weil die Anerkennung gewisser Volksfreiheiten, zu jeder Zeit und in jeder politischen Konstellation, die Sicherheit gibt, daß eine noch so populäre Regierung nicht an allem rütteln kann. Revolutionär, weil hier ausgesprochen wird, daß nicht der Staat, sondern der einzelne Bürger das letzte Wort haben soll. Die Menschenrechte legen fest, daß auch und sogar gerade in der Demokratie das Mehrheitsprinzip nicht überall Allmacht besitzt. Auch das stabilste Regime muß seine Grenzen erkennen.

Europa ist sinnlos, wenn es nicht eine Verkörperung des „rule of law" darstellt, wenn es kein Rechtsstaat ist. Die afrikanischen Republiken haben das verstanden und arbeiten, in ihrem eigenen Stil, an der Gründung eines eigenen Gerichtshofes nach Straßburger Muster. Manche sind noch weit davon entfernt, unsere Methoden in der Praxis anzuwenden, aber sie haben sich zur prinzipiellen Anerkennung dieser Notwendigkeit durchgerungen. In den Menschenrechten spricht Europa zu der Welt! In den Menschenrechten spricht ein Europa der Mäßigung, das zu radikalsten Erneuerungen bereit ist, aber zugleich seine Bürger gegen Abenteuer und Willkür schützt. Ein einfacher Bürger plädiert gegen seinen eigenen Staat: hier ist die Revolution des Zwanzigsten Jahrhunderts, die europäische, die friedliche Revolution im Gange. Der absoluten Staatssouveränität gegenüber muß das Prinzip der Beschränkung des Staates als Banner unserer Einigung hochgehoben werden. Auch Frankreich, das sich im Jahre 1789 so unsterbliche Verdienste um die Menschenrechte erworben hat, muß bald verstehen, daß es bei der Weiterentwicklung der „Droits de l'Homme" heute nicht länger abseits stehen kann.

Die Demokratie muß sich den Forderungen der Zeit anpassen

Eine vierte europäische Errungenschaft, die heute nur durch den Föderalismus sichergestellt werden kann, ist die Volksregierung, die Volksvertretung, das „representative government".

Gewiß, wir sind keine „Achtundvierziger". Wir haben manche Illusionen verloren. Wir glauben nicht mehr, daß das souveräne Volk per definitionem gut, klug, weise, friedliebend und instinktiv gerecht wäre. Wir wissen auch, daß die Beschlußfassung in der Demokratie nicht gerade am schnellsten vor sich geht. Wir haben außerdem verstanden, daß ein freies Volk nicht ohne „leader", ein gut europäisch englisches Wort, auskommt und daß manche Diktaturen in der Vergangenheit ihre Erklärung — wenn auch nicht ihre Rechtfertigung — in dem Gefühl der Massen fanden, nicht wirklich geführt zu werden. Die Gleichheit aller Menschen vor Gott und dem Gesetz bedeutet nicht, daß man sich seine Regierenden durch das Los bestimmt, wie früher in Athen. Mangel an „leadership" ist kein Beweis dafür, daß wir das Prinzip der demokratischen Gleichberechtigung anerkannt haben, sondern daß wir zu wenig gute, phantasievolle Politiker besitzen. Gerade die Demokratie braucht die Churchills, und man sollte sich niemals mit den kleineren Taktikern zufrieden geben, so beruhigend sie in ihrer Mittelmäßigkeit erscheinen mögen. Mehr als je sehen wir ein, daß eine freie Gesellschaft sowohl eine Gesellschaft der Gleichen als auch der Ungleichen darstellt: eine „conspiration des inegaux"! Ungleich sind wir in der Freiheit, ungleich im Temperament, in unseren Interessen, in den Generationen, die einander folgen, ohne je einander gleich zu sein. Demokratie ist darum die wirkliche Koexistenz der Verschiedenheiten, die politische Technik, die es uns erlaubt, verschieden und solidarisch zu sein, Regierung und Opposition, aber jedenfalls einig in den moralischen Grundwerten. Demokratie ist dasjenige Regime, das dazu beiträgt, die normalen halbbewußten Ressentiments zu klären, zu bereinigen und konstruktiv werden zu lassen. Demokratie ist Absage an jeden politischen Dogmatismus, an Lenin und Mac-Carthy. Aber wird unsere Demokratie sich ohne Föderalismus handhaben lassen, das heißt, ohne sich den Forderungen der Zeit anzupassen? Sicher, sie war im historischen Leben stets mit nationalem Patriotismus verbunden. Der Schlachtruf von Valmy: „Vive la Nation!" bedeutet sozialpolitisch Demokratie: „Es lebe das revolutionäre Frankreich, weil es keine Untertanen mehr, sondern nur noch freie Bürger kennt!"

Die einzige legitime Demokratie ist also bis jetzt tatsächlich national beschränkt gewesen. Es fragt sich nur, ob das immer so sein wird. Man schleppt ein verzerrtes Geschichtsbild mit sich herum, wenn man nicht verstanden hat, daß die Errungenschaften von gestern nur erhalten bleiben können, soweit man sie den neuen Verhältnissen anpaßt und entsprechend weiterentwickelt.

Gewiß, die Krise der modernen Demokratie besteht nicht ausschließlich darin, daß sie kleinstaatlich geblieben ist und dadurch antiquarisch anmutet. Es gibt zum Beispiel auch das Problem der Integration des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in die Sphäre der rechtsstaatlichen Prozedur. Aber die jüngere Generation hat Recht, wenn sie fühlt, daß die Kernfragen der heutigen Welt nicht mehr mit nationalen Parteien, Parlamenten und Regierungen bewältigt werden können. Aufgabe ist es deshalb, zu verhindern, daß die Demokratie als politisches Ideal mitgerissen wird in dem Niedergang der national-politischen Ordnung schlechthin.

Soll das heißen, daß die nationalen Regierungen jetzt einer übernationalen Behörde untergeordnet würden? Wer die Alternative so stellt, denkt noch jakobinisch und ist im alten zentralistisch-hierarchischen Obrigkeitsdenken steckengeblieben. So wenig der Gouverneur der Provinz Westflandern „höher" ist als der Bürgermeister der Stadt Brügge, so wenig werden die europäischen Verwaltungsbeamten und Politiker ihren nationalen Kollegen „übergeordnet" sein. Sie haben nur andere Befugnisse; sie bearbeiten verschiedene Arbeitsbereiche. Die Instrumente dafür sollten ihnen geschaffen werden.

In der Vielfalt der Mächte — und zwar der demokratisch kontrollierten Mächte — offenbart sich die organisierte Freiheit. Politische „efficiency" besteht nur dort, wo verantwortliche Organe tatkräftig entscheiden können und sich im gleichen Raum bewegen wie die zu lösenden Probleme. Der Bürgermeister von Brügge ist Chef seiner Polizei, und der Gouverneur von Westflandern kümmert sich um Regionalplanung. Keiner der beiden fühlt sich aber unglücklich, weil er über keine eigene Währung verfügt. Im selben Sinne werden die historischen Vaterländer weiterbestehen, auch wenn wir alle in der gleichen Uniform dienen oder die Europäische Bundesbahn benutzen werden.

Das alles heißt Föderalismus: flexible Teilung der Aufgaben und Koordinierung der Macht. Heute sind wir uns dessen besser bewußt als in den Anfangsjahren der Europäischen Bewegung. Anders gesagt: wir sind leidenschaftliche Europäer geblieben, aber klarer denkende Föderalisten geworden.

Nationalismus ist Götzendienst

Auch ist es uns deutlicher zum Bewußtsein gekommen, daß gerade dieses Denken einen Appell an die Welt darstellt, denn die Menschheit sucht ihre Einheit zu verwirklichen, ohne den Reichtum ihrer Vielfalt zu verlieren. Ein erfolgreicher Föderalismus, eine radikale Überwindung des Nationalismus, gerade in Europa, würde für alle Erdteile — besonders aber für Afrika und Lateinamerika — den Sieg einer neuen Denkart und deshalb eine Botschaft der Hoffnung bedeuten.

Europa erneuern zu wollen, ohne es zu einigen, ist eine Illusion. Eine andere Utopie wäre, es einigen zu wollen, ohne den föderalistischen Preis dafür zu zahlen. Europäische Renaissance und Rückfall in das alte Spiel der Machtpolitik sind miteinander unvereinbar. Aber Föderalismus bleibt eine leere Konstruktion, wenn nicht in den Völkern wie in den Regierungen ein neuer Geist der Brüderlichkeit entzündet wird. Das ist nicht sentimental gemeint. Tatsache ist, daß Menschen entweder nur zusammengeprügelt oder — wenn man so sagen darf — zusammen-vereidigt werden können.

Am Anfang des Helvetischen Bundes steht nicht eine diplomatische Spekulation, sondern der Rütli-Schwur. Was war dort geschehen? Glaubten da Menschen, gewisse technische Vorteile zu haben, wenn sie einen Verteidigungsvertrag abschlössen? Ja, das war der Anfang, aber sie sind weitergegangen. Sie haben Geschichte gemacht, indem sie einander Treue geschworen haben, für gute und böse Zeiten, ohne kalkulieren zu können, was dabei für jeden Einzelkanton herausspringt oder zu welchen Opfern man bereit sein müßte. Man hat es gewagt mit der Brüderlichkeit, und wer darüber lächelt, wird niemals schöpferische Geschichte verstehen, geschweige denn machen können.

Ein großer Staatsmann unserer Zeit hat gesagt: „Man soll niemals niemandem vertrauen, nie!" Das klingt nach Palmerston. Aber die historische Entwicklung bringt es mit sich, daß der Zynismus von gestern zum Anachronismus von heute wird und dadurch auch moralisch untragbar erscheint. Jahrhundertelang beispielsweise hat die antike Volkswirtschaft ohne Sklavenarbeit nicht auskommen können. Aber der Tag brach an, an dem sich neue Möglichkeiten auftaten, und in diesem Augenblick revoltierte auch das Gewissen gegen die Sklaverei. So haben wir auch im nationalistischen Zeitalter mit der Unmoral des „right or wrong, my country" leben müssen. Heute aber ist eine neue Lebensform der Völkergesellschaft nicht nur wünschenswert, sondern praktisch realisierbar geworden. Deshalb wird heute der Nationalismus als Götzendienst und Schande für Europa erkannt. Wir werden ihn überwinden oder von ihm vernichtet werden.

Nie war der Feudalismus eifersüchtiger auf seine Privilegien als im Zeitalter seines Ausgangs. So auch der Nationalismus heute. Aber im Jahrhundert der Weltkriege, der Welt-krisen und der Weltrevolutionen, im Zeitalter des Unterganges der nationalen Kirchen und der Auferstehung der christlichen Ökumene sind Brüderlichkeit und Föderalismus keine weltfremden Utopien, sondern konkrete Lösungen. Dieses Bewußtsein gibt uns die Sicherheit, für das Rechte zu kämpfen: Wer die Zukunft ohne ein geeintes Europa planen will, ist kein Realist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hendrik Brugmans, Dr. phil., Professor für Romanistik, geb. 13. Dezember 1906 in Amsterdam, war während des Krieges Angehöriger der niederländischen Widerstandsbewegung, deshalb lange Zeit in Gestapohaft, bekleidete nach dem Kriege wichtige Regierungspositionen, war danach journalistisch tätig und spielte eine führende Rolle in der europäischen Bewegung. Auf seine Initiative geht das 1949 gegründete Europa-Kolleg in Brügge zurück, das er aufbaute und dessen Rektor er ist. Er hat zahlreiche Bücher zu wissenschaftlichen und politischen Problemen, darunter vor allem zu Fragen der europäischen Einigung, publiziert.