Entwicklungstendenzen parlamentarischer Regierungsformen
Der letzte Bundestagswahlkampf hat wieder einmal die Frage aufgeworfen, wieweit es in der Bundesrepublik noch grundsätzliche Unterschiede zwischen den großen Parteien gibt. Daß die Opposition keine echte Alternative zur Regierungspolitik mehr anzubieten habe, ist keineswegs eine nur bei uns gehörte Behauptung. Manfred Friedrich hat vielmehr denselben Tatbestand in einer 1962 erschienenen Broschüre
Winfried Steffani:
Zur Kritik am Parteienstaat und zur Rolle der Opposition .... S. 17 gierungsmannschaft hat Wilson dann auch folgerichtig zum größten Teil vom gemäßigten rechten Flügel holen müssen.
Ähnliche Überlegungen gelten überall da, wo es faktisch eine Parlamentsregierung mit zwei Fronten — Regierung und Opposition — gibt. Beide Gruppen brauchen, um die Mehrheit zu gewinnen, genau die gleichen Wählerkreise, zu denen auch die zahlenmäßig meist nicht einmal besonders große Gruppe der in England und den USA „floating voters" genannten „Unpolitischen"
Da Schweden sowohl von außenpolitischen Krisen verschont geblieben ist als auch zügig einen totalen Wohlfahrtsstaat ausgebaut hat, behauptet sich dort seit 1932 ununterbrochen die Sozialdemokratische Partei in der Regierung, seit 1936 sogar meist mit absoluter Mehrheit, wenn auch zur Zeit nur mit 117 gegenüber 116 Mandaten einer völlig zersplitterten Opposition. Solange der schwedischen Sozialdemokratie keine geschlossene Opposition entgegentritt, also die Bevölkerung sich nicht zum Zwei-Parteien-System entschließt, besteht keine Aussicht auf einen Regierungswechsel
Wenn Friedrich recht hat, daß „der Inhaltsverlust aller politischen Richtungen" in England, Schweden und der Bundesrepublik mit der zunehmenden Festigung des Wohlfahrt-staates in einer Wohlstandsgesellschaft zusammenhängt, dann müßten derartige Tendenzen mit steigendem Wohlstand und zunehmender Staatsfürsorge auch in anderen Staaten zu erwarten sein. Ganz sicher ist aber, daß allein das Zwei-Parteien-System dazu zwingt, daß sich beide von der Weltanschauungsund Prinzipienpolitik zur Realpolitik wenden und immer deutlicher an Radikalität extremer Auffassungen verlieren, weil beide Gruppen dieselbe — im Grunde unpolitische — Wählerschicht zwischen den Fronten ansprechen müssen.
In den Vereinigten Staaten von Amerika sind die beiden großen Parteien, im Unterschied zu den großen europäischen, von eh und je weder Weltanschauungs-noch Standes-oder Klassenparteien gewesen. Ursprünglich spielte sich im Kampf der beiden Parteien die tiefgreifende Auseinandersetzung zwischen den Süd-und den Nordstaaten der Atlantikküste ab. Inzwischen sind die USA territorial und sozial längst über diesen Strukturunterschied weit hinausgewachsen, die beiden alten Gruppen bilden lediglich extreme Flügel in den Parteien. Das Merkwürdige ist, daß die „Konservativen" des Südens den linken Flügel der Demokraten bilden (obwohl die europäischen Vorstellungen von „links" und „rechts" hier überhaupt nicht angebracht erscheinen), der „rechte" Flügel der Republikaner aber ebenfalls aus „Konservativen" (Goldwater) besteht. Die große Mehrheit beider Wählergruppen ist aber so weitgehend liberal, daß in der Mitte kaum noch Differenzen zwischen den Parteien erkennbar sind. Joachim Schwelten bezeichnete in einer jüngst erschienenen Broschüre
Der bemerkenswerteste Unterschied zwischen den amerikanischen und den traditionellen europäischen Parteien ist die Tatsache, daß sie keine Mitgliederparteien sind, sondern Managerunternehmen, die die Aufgabe haben, Persönlichkeiten „aufzubauen" und „durchzupauken" unter radikaler Ausnutzung moderner Werbe-und Propagandamethoden in den Massenmedien und im Volke unmittelbar. Die „Stärke" der Parteien wird bestimmt durch die Anzahl der Bürger, die sich in den Partei-büros als Sympathisierende eingetragen haben, ohne damit allerdings verpflichtet zu sein, nun auch in der entscheidenden Wahl für den Kandidaten dieser Partei zu stimmen. Auf diese Weise war 1964 der demokratische Parteikonvent von doppelt so vielen „Delegierten" beschickt wie der republikanische.
So ist es zu erklären, daß sich, wie der Amerikaner Riker angibt, zwar rund 80 °/0 der Wähler als „Anhänger" einer der Parteien bezeichnen, aber im Grunde doch „die Mehrheit der Wähler den Parteien auch heute noch mißtraut." Von entscheidender Bedeutung ist aber Rikers folgende Feststellung:
„Etwa Zweidrittel aller Wähler sagen regelmäßig, daß sie in erster Linie der Persönlichkeit und dann erst der Partei ihre Stimme geben." Er meint allerdings, diese Menschen behaupteten von sich damit ein viel zu großes Maß an Unabhängigkeit, aber der amerikanische Politologe Henry W. Ehrmann hat in einem bedeutsamen Vortrag über die Demokratie in den USA
„Stimmt er für den Präsidentschaftskandidaten, so mag sich der Wähler von gewissen grundsätzlichen Erwägungen leiten lassen, seinen Repräsentanten im Kongreß aber sieht er als den Vertreter seiner unmittelbarsten, nächstliegenden Interessen an." Die Folge davon sei, so schließt er, daß auf dem Präsidentensessel vielfach liberalere und progressivere Männer sitzen als im Kongreß, der oft geradezu konservative Tendenzen zeige oder aber — im Repräsentantenhaus — sich in lokal-oder gruppengebundener Kleinarbeit verbrauche.
Es scheinen demnach überall da, wo die Entwicklung im angedeuteten Sinne fortschreitet, die Parteien viel mehr die Aufgabe zu haben, den Wählern eine personale als eine prinzipielle Alternative anzubieten. Sie sind mehr Persönlichkeitsgruppierungen und Wahl-teams als Pioniere eines weltanschaulischen Programms. „Ollenhauer statt Adenauer" lautete einmal die Wahlparole der SPD, bis sie merkte, daß Erich Ollenhauer nicht „ankam", weil er dem Kanzler-image des Durchschnittsbürgers nicht entsprach. Er wurde durch Brandt ersetzt. Wenn aber die Parteien weder grundsätzlich noch im konkreten Wahlprogramm zu unterscheiden sind und anstatt Programmen Persönlichkeiten anzubieten haben — sind dann Parteien, mindestens im traditionellen Sinne der Mitgliederpartei, überhaupt noch sinnvoll? In der Bundesrepublik umfassen die drei „großen" Parteien etwas mehr als eine Million Mitglieder, gemessen an der Gesamtbevölkerung sind das nicht einmal 2 °/o, umgerechnet auf die Wahlberechtigten höchstens 4— 5 0/0.
Nur aus der Mitgliedschaft der Parteien werden aber dem Volk die Kandidaten für die Parlamente angeboten. Die geringe Mitglieder-basis der Parteien ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. In Frankreich ist die einzige nennenswerte Mitgliederpartei — wie übrigens vielfach in der Welt — die kommunistische. Maurice Duverger, der anerkannte Verfas-* sungsspezialist der Sorbonne, schätzt ihre Stärke auf 250 000— 300 000 Mitglieder
Strukturwandel des Parlamentarismus — Wandel der Gesellschaft
Mögen gleich viele Parteien Europas in eine ernste Krise geraten sein, so halten Politiker und Lehrbücher der Politik unverändert an dem Dogma fest, daß die Existenz mehrerer Parteien Wesensmerkmal demokratischer Staaten und deshalb unbedingt notwendig sei. Selbst der Club Jean Moulin ist dieser Über-zeugung. Der damalige Innenminister Dr. Schröder leitete den Bericht der von ihm eingesetzten Parteienrechtskommission mit dieser Formulierung ein: „Die parlamentarische Demokratie ist eine Parteiendemokratie. Durch die Parteien äußert das Volk seinen Willen."
Genau das aber ist fragwürdig geworden, wenn es auch zum Teil noch stimmt, daß Gedanken und Bestrebungen aus dem Volk nur dann Aussicht haben, „in der Willensbildung des Staates ihren Niederschlag zu finden"
Und dennoch haben die Väter und Vorkämpfer der modernen Demokratie überhaupt nicht an politische Parteien gedacht, als sie die Repräsentation des Volkes durch ein Parlament, den Schutz der Grundrechte und eine Verfassung verlangten. Gerhard Leibholz hat sogar nachgewiesen
Die liberale Bewegung hatte sich in ihrem Kampf gegen den Absolutismus und seine Lehre vom Gottesgnadentum der Lehrer und Lehren der Aufklärung als einer Art Gegen-ideologie bedient. Als „Volk" aber verstand sich nur der bürgerliche Dritte Stand, der nämlich dem Staat die Steuern zahlte, über die er mitbestimmen wollte, wie es die Amerikaner aufgrund verbriefter britischer Rechte auch verlangt hatten. Der Engländer Edmund Burke begann, was die deutsche Romantik zum weltanschaulichen System ausbaute: die christlich-konservative Antithese zum Liberalismus, wie sie sich politisch in dem Bund der Heiligen Allianz von 1815 als reaktionärer Monarchismus niederschlug, was letztlich die Vormacht des Liberalismus, die USA, zur Monroe-Doktrin herausforderte, als die Heilige Allianz die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten verurteilte. Als wenig später die gesellschaftliche Kraft des 4. Standes die Ideen des Sozialismus ausformte und Karl Marx dem Proletariat seine dogmatische Weltanschauung gab, worauf das Christentum mit Soziallehren und politischen Parteien auftrat, gab es in Europa schließlich für jede der vier „Klassen", Adel, Geistlichkeit, Bürgertum und Arbeiter, je eine Weltanschauung mit wiederum meist mindestens 2 Parteien. Obgleich Marx den 4. Stand für das „Volk"
schlechthin erklärt hatte, dem in der klassenlosen Gesellschaft auch nur eine Partei entsprechen würde, spaltete sich der Sozialismus in den meisten europäischen Staaten im 20.
Jahrhundert in drei Parteien, die in Italien, Frankreich und anderen Demokratien in ähnlicher Weise noch heute bestehen, wie sie in der Weimarer Republik bis 1922 existierten als Kommunisten, Unabhängige Sozialisten und Sozialdemokraten, von denen die einen den parlamentarischen Mehrparteienstaat überhaupt ablehnten, die anderen ihn als die einzige demokratische Form akzeptierten.
Auch die Liberalen und die Konservativen sind selten nur in einer Partei aufgetreten, wenn nicht die Gefahr des Unterganges sie dazu zwang.
Die Liberalen kämpften im Grunde um drei Ziele, die inzwischen in den meisten parlamentarischen Demokratien erreicht sind:
1. Sicherung und Garantie der Menschenrechte 2. Mitregierung des Volkes durch ein verfassungsmäßig gesichertes Parlament 3. Die nationale Selbstbestimmung.
Seit diese Ziele in den europäischen Demokratien durchweg verwirklicht sind, drohen die liberalen Parteien ihre Rolle überall da zu verlieren, wo die übrigen Parteien das Erbe des Liberalismus übernommen haben, wie es etwa in England und zum großen Teil auch in der Bundesrepublik der Fall ist. In den USA ist das Erbe des Liberalismus verpflichtendes Ideengut für beide Parteien geworden; für eine besondere liberale Partei fehlt jegliche Voraussetzung.
Im Unterschied zu den amerikanischen Parteien sind die europäischen Parteien, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, allgemein 1. Weltanschauungsparteien und 2. Standes-bzw. Klassenparteien. Seitdem besteht auch die Vorstellung, zum Wesen der Demokratie gehöre ein Parlament, in dem Parteien miteinander ringen, damit der Wähler für die eine oder andere votieren könne, seiner Weltanschauung und seiner Standeszugehörigkeit entsprechend. Der Wähler erwartete Programme, die deutlich die weltanschaulichen oder sonstigen prinzipiellen Unterschiede erkennen ließen. Die Wählerschaft der Parteien rekrutierte sich aus einem Stamm gesellschaftlich erkennbarer Gruppen, etwa die Linksliberalen aus dem Handwerkerstande oder ähnlichem Kleinbürgertum, die Konservativen aus der Landwirtschaft usw. Das 20. Jahrhundert hat dieses Modell aber völlig zerstört, und zwar aus zwei Gründen:
1. hatte die Industrialisierung zur Folge, daß die alte Klassenschichtung verschwand und eine radikale soziale Nivellierung einsetzte, 2. widerspricht der Charakter einer Weltanschauungspartei im Grunde dem Klassencharakter, da eine Weltanschauung ja Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit erhebt und über die Klassenbindung hinauskommen muß, um sich zu bestätigen. Der Marxismus hat sich aus diesem Grunde zu dem Trugschluß verleiten lassen, Ideologien seien grundsätzlich Ausdruck der Klassenbindung ihrer Träger. Die Entwicklung des Liberalismus hat ihn aber ebenso widerlegt wie die Tatsache, daß sich christliche Anschauungen im 20. Jahrhundert als tragfähige Idee für große Staatsparteien erwiesen haben. Nicht ohne Bewunderung und Neid stellt der Club Jean Moulin fest, die deutsche CDU sei ähnlich wie die italienische eine Christlich-Demokratische „echte Volkspartei" geworden, die zu ihren Mitgliedern Angehörige aller Gesellschafts -schichten zählt
Wenn heute Parteien Wert darauf legen, „Volksparteien" zu sein, dann wollen sie damit dokumentieren, daß sie keine Klassen-partei mehr sind, sondern das ganze Volk repräsentieren, indem sie Angehörige aller Schichten vertreten, wenn ihre Mitgliedschaft auch im günstigsten Falle 1— 2 °/o des Volkes umfaßt. Jede Partei repräsentiert das ganze Volk, nicht das Parlament. Wenn aber drei Parteien das ganze Volk repräsentieren — wen oder was vertreten dann die Abgeordneten der Parteien in den Parlamenten? Wenn die Parteien — gesetzt, sie seien Volksparteien — das ganze Volk vertreten, dann folgt daraus, daß sie weder Standes-noch überhaupt Programmparteien sein können, sondern ihnen nur noch die Alternative im Personalangebot bleibt, indem dem Wähler die Auswahl zwischen Kandidaten und „Mannschaften" ermöglicht wird.
Konsequent erscheint dann aber nicht nur die Wandlung von der Programm-zur Persönlichkeitspartei, sondern auch der Schritt von der Mitglieder-zur Funktionärs-oder Kaderpartei. Es ist symptomatisch, daß die noch am stärksten klassengebundenen und weltanschaulich orientierten sozialistischen Parteien am meisten Mitgliederparteien sind, denn offenbar wirken Ideologien oder ähnliche geistige Prinzipien noch am stärksten gemeinschaftsfördernd und gesellschaftlich bindend. Je größer der Konformismus, desto mitglieder-stärker! Offene, tolerante, Fraktionen und Flügel ermöglichende Parteien können ihre Stärke nicht in Mitgliederzahlen ausdrücken. Es ist zu fragen, ob Mitgliederparteien überhaupt noch der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts entsprechen.
Die Parteien in der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts
Europas Demokratien haben die Anpassung an die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts unterschiedlich vollzogen, überall da, wo sich die Parteienstruktur noch in der Form mehrerer Weltanschauungs-und Standesparteien erhalten hat — ergänzt oft noch durch reine Interessenparteien, wie z. B. Bauernparteien — und das Proporzsystem allen eine Chance im Parlament einräumt, ist der Parlamentarismus in der Krise. Als Beispiele seien hier Italien und Frankreich genannt, wo die antirepublikanische Opposition von links und rechts den Staat ernsthaft gefährdet. Wie Deutschland in der Weimarer Republik erfahren hat, erschweren oder verhindern mehrere Parteien, die zu gezwungen Koalitionen sind, eine vielfach stabile Regierung, während sie den Wählern gegenüber durch Koalitionsabhängigkeiten an Profil und schließlich auch an Glaubwürdigkeit verlieren.
In Frankreich ist aus dieser Krise die 5. Republik de Gaulles hervorgegangen. Der General sah durch die 4. Republik seine alte Abneigung gegen den Parteienparlamentarismus bestätigt, so daß er Frankreich vor den Parteien retten zu müssen glaubte: „Offenkundig sind die Parteien nicht imstande, dem Volk solch eine (kräftige) Regierung zu geben", schreibt er in seinen Memoiren
durch die 21 Wahlgänge der italienischen Präsidentenwahl Weihnachten 1964 in seiner Auffassung bestätigt worden ist, kommt zu folgendem Schluß: „Nach meiner Meinung braucht der Staat eine Spitze, d. h. einen Führer, in dem die Nation über alle Schwankungen hinweg den für das Wesentliche verantwortlichen Mann und Garanten ihrer Geschicke erblicken kann. Es ist auch notwendig, daß die Exekutive .. . nicht vom Parlament herkommt, das in sich die Vertretungen von Einzelinteressen vereint. Das bedeutet, daß der Staatschef nicht aus einer Partei hervorgehen soll, daß er vom Volk bestimmt wird."
Die Konsequenz hätte auch sein können, sich am Modell der Präsidialdemokratie der USA zu orientieren, aber de Gaulle hat auch die Kontrolle des Präsidenten durch das Parlament abgelehnt und stattdessen das Parlament weitgehend seiner Kontrolle unterworfen. Die offensichtliche starke Kluft zwischen den Parteien und dem Volk, das jetzt durch den einen Führer repräsentiert wird, hat der General erkannt und daraus eine neue Art unmittelbarer Demokratie konstruiert. Die ursprüngliche Idee der parlamentarischen Repräsentation setzte nämlich voraus, daß der Wähler die ihm angebotenen oder möglichst von ihm aufgestellten Kandidaten auch persönlich kennt, daß der Abgeordnete der Mitte seiner Wähler entstammt und sie in ständigem Kontakt persönlich vertritt. Die moderne Parteiendemokratie hat aus den Abgeordneten Beauftragte und Vertreter einer Partei gemacht, so daß vielfach die Wähler ihren Abgeordneten überhaupt nicht kennen. Das ist sogar in England der Fall, wo noch immer die Fiktion einer Wahlkreisrepräsentation aufrechterhalten wird. Bei reiner Listen-wahl weiß der Wähler manchmal überhaupt nicht, wen er wählt, folglich fühlt er sich auch nicht persönlich vertreten. In solchem Fall sind die Parteien im günstigen Falle für den Wähler eine Art Dienstleistungsbetrieb geworden, die das Geschäft der politischen Meinungsbekundung und der Interessenwahrnehmung für ihn besorgen. Im Regelfälle aber werden sie dann zu einer dem Wähler fremden, unverständlichen und daher ihn mißtrauisch stimmenden Institution, hinter der er dann sehr leicht Cliquen-und Bonzenwirtschaft vermutet. Der Fraktionszwang im Parlament ist eine logische Folge des Parteienprinzips ebenso wie die Anonymität, mit der politische Entscheidungen gefällt und Verantwortungen übernommen werden.
De Gaulle hat in dieser Situation das Bedürfnis des Wählers richtig gespürt und ausgenutzt, und zwar mit Hilfe des Fernsehens. Auf dem Bildschirm in der Wohnstube jedes Franzosen wendet er sich an jeden einzelnen persönlich, indem er ihn zu einer Stellungnahme auffordert. Unbewußt gewinnt der einzelne den Eindruck, den Präsidenten zu kennen, er vertraut ihm in dem Gefühl, daß dieser Mann auf die Meinung des Volkes baut. Es fühlt sich ernstgenommen und entscheidungsstark, wo manipuliert wird — eine Form der modernen unmittelbaren Demokratie, die auch Telekratie genannt wird. Wiederum erinnert diese französische Form an Erscheinungen der amerikanischen Demokratie, wo es die Präsidentschaftskandidaten darauf anlegen müssen, möglichst vielen Wählern die Hand zu schütteln, weil diese Leute mit dem Eindruck fortgehen, nun den großen Mann persönlich zu kennen. Wie White in seinem Buch „The Making of the President" überzeugend dargelegt hat, ist vermutlich auch die knappe Entscheidung zwischen Kennedy und Nixon im Jahre 1960 vor dem Fernsehschirm gefallen. De Gaulle, der in seiner Kennzeichnung der Parteiendemokratie vernichtende Worte gefunden hat, hat in seiner Weise dem Struktur-wandel der Parteiendemokratie Rechnung getragen. Die andere Möglichkeit scheint aber der Weg über das Zwei-Parteien-System zu sein, in dem die Parteien aufhören, Weltan-schauungs-, Standes-und auch Mitgliederparteien zu sein. Die Aufgabe der demokratischen Staatsordnung, die Volkssouveränität und die Menschenrechte zu sichern, muß nicht notwendig durch ein Vielparteienparlament allein erfüllt werden.
In der Massengesellschaft sind zwei wesentliche Kräfte aufgetreten, die eng miteinander und auch mit den Parteien Zusammenhängen, aber doch in der Verfassungswirklichkeit vom Parteienparlament weitgehend unabhängige Mächte darstellen, nämlich die öiientliche Meinung und die Verbände. Heinz Josef Varein, der sich wiederholt mit der Rolle der Verbände auseinandergesetzt hat, formulierte kürzlich in prägnanter Kürze
Eine geschlossene Mitgliedschaft ist solchen Praktiken gegenüber zu unbeweglich.
Wer erinnert sich nicht noch des Streites um die Wahlaufrufe des DGB „Wählt einen besseren Bundestag", durch den die CDU den parteipolitisch neutralen Charakter des DGB als Schein entlarvt sah, weil der Aufruf als Votum für die SPD aufgefaßt wurde? Das aber ist Verfassungswirklichkeit, die von den Dogmatikern der Parteiendemokratie nicht klar genug gesehen wird: Die Manager der großen Verbände geben immer wieder und überall ihr Votum zur Politik der Parteien und Regierungen ab und beeinflussen ihre Mitglieder. In den USA wenden sich z. B. Gewerkschaftsführer über das Fernsehen an ihre Mitglieder, um sie aufzufordern, diesem oder jenem Kandidaten ihre Stimme zu geben. Es ist oft für Sieg oder Niederlage eines Kandidaten entscheidend, ob solche Männer für oder gegen ihn sprechen, was er nicht mit Sicherheit vorher weiß. Die Mitglieder der Verbände erwarten von ihren Funktionären Aufklärung darüber, wie die verschiedenen Persönlichkeiten in den sich ihren Forderungen gegenüber eingestellt haben. Die Verbände nehmen in diesem Sinne genaue Notiz von namentlichen Abstimmungen, versuchen die Auswahl der Kandidaten in den Parteien oder diese selbst zu beeinflussen, schließlich schikken sie ihre eigenen Leute in die Parteien und Parlamente. Nicht zuletzt beeinflussen sie die öffentliche Meinung durch Pressearbeit; auch ihre eigene Presse ist ein Bestandteil der öffentlichen Meinung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Varein behauptet sogar, ohne die Verbände gebe es über wichtige Fragen überhaupt keine öffentliche Meinung; man braucht nur an den Getreidepreis in der EWG zu denken.
Verbände regen selbst Gesetzentwürfe an, diskutieren sie öffentlich, treten als Fachleute in der Öffentlichkeit auf und haben auch unmittelbaren Einfluß auf die Exekutive, abgesehen von ihrer Rolle in Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie z. B.den Kammern. Sie begünstigen oder torpedieren die Besetzung von Beamtenstellen und sogar von Ministerposten, wobei z. B. an den Wirtschaftsminister, den Arbeitsminister oder an Kultusminister zu denken ist. Auf diese Weise sind sie ein Stück Verfassungswirklichkeit geworden, und zwar bereits weitgehend neben Parteien und Parlamenten. Eine Partei, die diese Wirklichkeit nicht anerkennt, ist hoffnungslos verloren.
Ich habe selbst an anderer Stelle nachgewiesen
Sie diffamierte die Funktionäre und ließ sie durch nationalsozialistische Verbandsfunktionäre ersetzen; schon vor der Machtübernahme schaltete die NSDAP u. a. weitgehend die Handwerkerverbände, kaufmännische Verbände und nicht zuletzt den Landbund gleich.
Die Verbände verdanken ihre Macht, ganz im Gegensatz zu den Parteien, einer starken Mitgliedschaft;
sie finanziert einen Funktionärsund Büroapparat, der über Verbindungsstellen zum Parlament bis zu hauptamtlichen Pressereferenten reicht. Ihre Funktionäre sind heute zu einer Schicht von Berufspolitikern geworden, die zahlenmäßig bei weitem stärker ist als die der Parteifunktionäre. Verbände, so sagt Varein, sind aber für das Mitglied meist so etwas wie ein Dienstleistungsbetrieb, eine Art Versicherung für Interessenvertretung. Der französische Club Jean Moulin hat aus diesen Zusammenhängen Schlüsse gezogen, die für die französische Demokratie eine Alternative zu de Gaulles Präsidialdemokratie erkennen lassen könnten. Frankreich brauche, so meint er, eine „neue Partei belebender Kräfte", die weder Mitglieder-noch Honoratiorenpartei sein dürfe. Sie müsse dagegen „von ihren Mitgliedern verlangen, daß sie eine Rolle in nichtparteilichen Organisationen . .. einnehmen.'
Die demokratische Partei der Zukunft ist also nicht, wie heute noch die Regel, dem Druck der verschiedenen pressure groups und der Lobby ausgesetzt, sondern macht die Verbände selbst zu ihrem Wirkungsfeld, wird aktiv. Der Club Jean Moulin verspricht sich z. B. von einer solchen Partei, daß sie die drei großen einander befehdenden französischen Gewerkschaften an einen Tisch und zu gemeinsamen Konzeptionen bringen kann. Wenn die parlamentarische Demokratie erhalten bleiben soll, werden die Parteien neuen Stils auch ein ganz anderes Verhältnis zur öffentlichen Meinung gewinnen müssen. Der Club Jean Moulin legt deshalb in seinen Empfehlungen besonderen Wert auf eine zeitgemäße public-relations-Arbeit. Das Koalitionsrecht und das Recht der freien Meinungsäußerung erweisen sich in der gegenwärtigen Situation aller Demokratien als wichtigste Grundlage für eine Weiterentwicklung der Verfassungswirklichkeit, denn die öffentliche Meinung zu formen und zu einer demokratischen Macht zu erheben, wird in der Verantwortung aller politisch aktiven Staatsbürger liegen. Politologen und Verfassungsrechtler werden der Entwicklung dieses Phänomens ihre Hauptaufmerksamkeit zuwenden müssen.
Entwicklungstendenzen in den jungen Demokratien
Obwohl die historischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen in den jun-gen Demokratien Asiens, Afrikas und Lateinamerikas völlig anders sind als in Europa, lassen sich überraschenderweise eine Reihe von ähnlichen Problemen erkennen. Weder sind dort die europäischen Weltanschauungen des Liberalismus, Konservatismus oder Marxismus als tragfähiger Boden für Parteien relevant, noch gibt es eine den europäischen Verhältnissen entsprechende Klassenschichtung oder die egalitäre Massengesellschaft des Industriezeitalters. Auch das Christentum als verbindliche Staatsoder Soziallehre käme bestenfalls für das römisch-katholische Lateinamerika in Betracht, wo es tatsächlich christliche Parteien gibt.
In Afrika und Asien gibt es vielfach überhaupt keine politischen Parteien in unserem Sinne, nicht einmal eine öffentliche Meinung, einen demokratischen Rundfunk oder eine freie Presse. Da die meisten dieser Staaten aus dem Kolonialstatus hervorgegangen sind, entstammen ihre Führungskräfte durchweg der von wenigen intellektuellen Berufspolitikern getragenen Unabhängigkeitsbewegung. Ihr Ziel, die Europäer aus der Macht zu drängen, duldete keine Zersplitterung der Kräfte, sondern nur die schlagkräftige Kampfpartei, für die Demokratie dasselbe bedeutete wie Unabhängigkeit. Es ist naheliegend, daß sich die Führer dieses Kampfes als Repräsentanten ihres neuen unabhängigen Staates durch ihre Rolle im Freiheitskampf für die Übernahme der Staatsämter qualifiziert haben. Aus all diesen Gründen ist auch heute noch vielen führenden Männern der jungen Staaten ein Unterschied zwischen den „westlichen" Demokratien und dem kommunistischen Inhalt dieses Begriffs nicht begreifbar, weshalb sie, da sie von einem scharfen Kampf zwischen beiden wissen, einen angeblichen Neutralismus proklamieren. Abgesehen davon also, daß für Parteibildungen, soweit sie nicht, wie z. B. in Nigeria, aus der Heterogenität der Bevölkerung, den Rassen-, Religionsoder Stammesunterschieden hervorgehen, die Voraussetzungen fehlen, sind die meisten Staaten der Meinung, daß eine Aufspaltung in Parteien die wirtschaftliche und geistige Entwicklung hemmen würde. Deshalb traten die meisten Staaten Afrikas mit einem Ein-Partei-System in ihre Selbständigkeit ein.
Dr. Julius K. Nyerere, einer der markantesten Repräsentanten des jungen Afrika, hat, wenige Monate nach der Übernahme der Staatspräsidentschaft von Tanganjika, am 14. Januar 1963
Zunächst einmal brauchte der Staat Persönlichkeiten für Regierung, Verwaltung und Wirtschaft, für Sozial-und Bildungsaufgaben und — für die politische Erziehung des Volkes, dem es durchweg an Staats-oder Nationalbewußtsein fehlt. Bevor das Volk zu eigener Politik fähig ist, ist es aufgerufen, die Macht der Führungsschicht zu legitimieren, so daß vom Volke nur verlangt wird, Persönlichkeiten das Vertrauen zu bekunden oder zu versagen. Ohne Zweifel fällt das dem Staatsbürger auch in Staaten mit höherem Bildungsniveau wesentlich leichter als über Programme und Prinzipien sachlich zu urteilen. Es leuchtet unmittelbar ein, daß es die Entscheidung in den weniger differenzierten Demokratien sehr erschweren würde, träten die Kandidaten auch noch als Repräsentanten von sich befehdenden Programmparteien auf, die in solchen Völkern ohnehin auch keine Mitgliederparteien sein können. Die Kandidaten würden außerdem Gefahr laufen, wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer festen Gruppe von den Gegnern diffamiert zu werden, während sich ohne Parteien der Wahlkampf nur mit der Persönlichkeit befassen würde. Das ganze rational kaum faßbare Geflecht von Vorurteilen, Gruppenspannungen und Stereotypen, das die Parteiendemokratie so sehr in Widerspruch zu rationalistischen Lehre vom vernunftbestimmten Individuum gebracht hat, wird hier weniger günstigen Nährboden finden. Das Parlament im Ein-Partei-Staat ist identisch mit der Kaderspitze der Partei, die überdies die Möglichkeit hat, jeden befähigten Bürger zur Aktivität zu gewinnen, ohne daß er ein Parteibuch erwirbt, das ihn künftig im allgemeinen Bewußtsein abstempelt. Es hat sich in der Tat herausgestellt, daß alle Staaten mit einem — freilich dem europäischen kaum vergleichbaren — Mehrparteiensystem unsicherer sind als Ein-Par-tei-Demokratien. Bis vor kurzem schien Nigeria das Gegenteil zu beweisen, bis sich bei den ersten allgemeinen Wahlen Ende 1964 die Brüchigkeit des ganzen Staatswesens in fast ebensolchen Ausmaßen herausstellte wie im Kongo. Man wird die afrikanischen Ein-Par-tei-Demokratien dann Demokratien nennen müssen, wenn wirklich die Kandidaten unter Mitwirkung der wählenden Bevölkerung aufgestellt werden und ihr eine freie Entscheidung über mehrere Persönlichkeiten ermöglicht wird. Im Oktober 1964 zählte Kohl
Eine eigenartige Mischung von Ein-und Mehrparteiensystem hat sich in Indien herausgebildet, dessen Kampf um die Unabhängigkeit von der Sammlungsbewegung Ghandis, der sog. Kongreßpartei geführt wurde. Diese Kongreßpartei errang bei den Wahlen von 1962 mit 45 0/0 der abgegebenen Stimmen die Stärke einer Oppositionspartei in einem Zwei-Parteien-System, und ihre Position entspricht beinahe der Einheitspartei in einem Ein-Par-
tei-Staat. Von den 55°/o der Mehrheit der Wähler entfielen 10 0/0 auf die Kommunisten, je 6— 7 °/o auf die Volkssozialistische Partei (nicht-marxistische Sozialisten), die Swatantra (Freiheits-) Partei (konservativ, antisozialistisch) und die Jan Sangh, die konservative hinduistische Volkspartei. 25 °/o der Wählerstimmen entfielen auf zahlreiche, meist regionale Parteien oder Wählergruppen, gingen also im Kampf um die Macht verloren
Allerdings spielen in Indien durchaus schon Prinzipien eine wichtige Rolle, was vor allem auf die Aktivität der Kommunisten und die Tendenzen zur sozialistischen Planwirtschaft in den Reihen der Kongreßpartei zurückzuführen ist. In Bombay, so berichtet Suri, haben drei Oppositionsparteien den Rivalen des bekannten Krishna Menon unterstützt, weil man Menon zu starke Neigungen zum Sozialismus nachsagte und daher von ihm Begünstigung des Kommunismus befürchtete. Auch der konservative Hinduismus, der vielfach dem sozialen und technischen Fortschritt hindernd in den Weg tritt, ist so etwas wie eine weltanschauliche und parteienbildende Kraft. Insgesamt aber ist das Parlament eine Institution, die im Volke nicht sehr stark verankert ist, die Parteien sind keine „Volksparteien", keine Mitgliederparteien, sondern nur Gruppierungen einer kleinen Schicht von Aktivbürgern, deren Hauptaufgabe es ist, das Volk zur Teilnahme am politischen Leben zu erziehen. Indiens Politiker zeigten sich nach der letzten Wahl von 1962 besonders erfreut darüber, daß die Wahlbeteiligung zum ersten Male 50 0/0 überschritten hatte und 53, 7 °/o erreichte.
In Lateinamerika
Sind Parteien noch zeitgemäß?
Die Form der Ein-Partei-Parlamente darf nicht grundsätzlich als undemokratisch verworfen werden, wenn die eine Partei frei von dogmatischer Verbindlichkeit ist und den verschiedenartigen Persönlichkeiten freie Entfaltung ermöglicht. Die Form des europäischen Mehrparteienstaates, ein Ausdruck der gesellschaftlichen Struktur des 19. Jahrhunderts, kommt als Modell für die jungen Staaten Afrikas und Asiens nicht in Betracht, aber hier wie dort geht es darum, die mangelnde Verwurzelung der Parteien im Volk zu überwinden. überall erweist sich die Vertretung des Volkes durch Parlamente als ein Problem der guten und demokratischen Persönlichkeitsauswahl
Ähnlich wie im Parteiendualismus der USA scheint sich in England die Alternative immer mehr auf die repräsentative Persönlichkeit zu verengen. In der Bundesrepublik hat dieser Prozeß von allen Staaten auf dem Kontinent am weitesten Fortschritte gemacht; die Verbandsdemokratie ist hier am offensichtlichsten. Ähnlichkeiten der französischen Präsi-dialdemokratie mit dem mexikanischen System sind nicht weniger erkennbar als mit dem amerikanischen.
Nach Leibholz hat die Demokratie bisher zwei Phasen durchlaufen: die parlamentarisch-repräsentative Demokratie des Liberalismus mit unabhängigen Abgeordneten, die das ganze Volk vertraten — eine Form, die ich nur in der „Kampfzeit" des Parlamentarismus erkenne—, und die egalitäre (Mehr-) Parteiendemokratie. Mir scheint, wir befinden uns mitten in einem erneuten Strukturwandel, dessen Tendenzen sich in den verschiedenen Demokratien unterschiedlich deutlich abzeichnen: An die Stelle von Programmen treten überall Persönlichkeiten, anstatt um Prinzipien geht es um Realpolitik. Die Wähler sind überall nicht mehr bereit, das Geschäft der Politik anonymen Unternehmen zu überlassen, sondern wollen über Menschen urteilen, was ihnen viel leichter fällt, als über Weltanschauungen zu entscheiden.
Die Demokratie der Zukunft wird aber nicht unbeeinflußt von der Tatsache bleiben, daß sich die weltweite Abhängigkeit aller Staaten von einander auf die innenpolitischen Fronten ebenso auswirkt wie auf die außenpolitischen Rücksichten. Man denke nur daran, welche Konsequenzen eine Wahl Goldwaters zum Präsidenten der USA für die gesamte europäische Situation hätte haben können, was im Wahlkampf von den Demokraten ebenso oft betont wurde wie innerhalb der republikanischen Partei. Bei uns haben manche Kreise mit großer Skepsis und Besorgnis die Wahl Wilsons ausgenommen, weil sie Nachteile durch die Politik des disengagement für Deutschland befürchteten; de Gaulle hat überall in der Welt pro-und antigaullistische Gruppen provoziert usw. Aber diese Abhängigkeiten zwingen auch dazu, jeden Kurs-wechsel in der Außenpolitik unter Einhaltung aller außenpolitischen Verpflichtungen so behutsam vorzunehmen, daß er vielfach kaum noch spürbar wird, obwohl de Gaulles Außenpolitik das Gegenteil zu beweisen scheint. Die zunehmende internationale Integration läßt jedenfalls so weitgehende außen-politische Alternativen wie vor dem Ersten Weltkriege nicht mehr zu. Es ist daher natürlich, daß es grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über den außenpolitischen Kurs zwischen den Parteien kaum noch gibt.
Daraus folgt: Sowohl das Vielparteiensystem des europäischen Kontinents als auch das Ein-Partei-System der jungen Demokratien tendieren zum Personalprinzip. Hierbei müssen dem Wähler in irgendeiner Form Entscheidungen angeboten werden, sei es, daß die Wähler in stärkerem Maße an der Auswahl der Kandidaten beteiligt werden, sei es, daß ihm eine echte Persönlichkeitsalternative angeboten wird, die in der Praxis eine Team-Alternative sein wird, wie sie im Brauch der englischen Schattenregierung angelegt ist. In der Demokratie muß es ferner die Möglichkeit zur Kritik und zur ständigen Einflußnahme auf die Staatsgeschäfte geben. Das bedeutet 1. eine unabhängige öffentliche Meinung und 2. eine personale Alternative zu den regierenden Persönlichkeiten. Längst hat sich in manchen Landen die Regierung als Inhaber der tatsächlichen Macht erwiesen, nicht mehr das Parlament. In der Form der alten Vielparteienparlamente können sie diese Macht nicht mehr zurückgewinnen. Es muß klare Mehrheiten und eindeutige Alternativen geben, daher sind Vielparteienformen mit Welt-anschauungsund Klassen-oder gar Interessenparteien unzeitgemäß.
Wenn die Alternative in einem zeitgemäßen Parteiensystem mehr personaler als programmatischer Art ist, wird es eine der vordringlichen Aufgaben der Parteien sein, geeignete Persönlichkeiten als Kandidaten für die Parlamente zu gewinnen, die sich bisher scheuten, eine Parteibindung einzugehen. Es wird zu überlegen und in Versuchen zu erproben sein, auf welche Weise die nicht parteigebundene, aber politisch interessierte Wählerschaft auch an der Auswahl der Kandidaten beteiligt werden kann. Die Notwendigkeit, in stärkerem Maße als bisher an die soziale Wirklichkeit heranzukommen, um die Kluft zwischen der Masse des Volkes und der Aktivbürgerschaft in Parteien und Parlamenten zu überbrücken, wird die Parteien mehr und mehr dazu zwingen, ihren Charakter als geschlossene Mitgliederpartei aufzugeben