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-Demokratie ohne Parteien? - | APuZ 45/1965 | bpb.de

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APuZ 45/1965 -Demokratie ohne Parteien? - Zur Kritik am Parteienstaat und zur Rolle der Opposition

-Demokratie ohne Parteien? -

Ernst-August Roloff

Entwicklungstendenzen parlamentarischer Regierungsformen

Der letzte Bundestagswahlkampf hat wieder einmal die Frage aufgeworfen, wieweit es in der Bundesrepublik noch grundsätzliche Unterschiede zwischen den großen Parteien gibt. Daß die Opposition keine echte Alternative zur Regierungspolitik mehr anzubieten habe, ist keineswegs eine nur bei uns gehörte Behauptung. Manfred Friedrich hat vielmehr denselben Tatbestand in einer 1962 erschienenen Broschüre auch für Schweden und England konstatiert. Danach hat bereits im Jahre 1955 das englische Wochenblatt „Manchester Guardian Weekly" über das Unterhaus geschrieben: „Ein Besucher aus einem anderen Lande könnte den Eindruck gewinnen, wir seien ein Ein-Parteien-Staat geworden." Diesen Eindruck bestätigt eine englische Repräsentativumfrage aus dem Jahre 1959, nach der etwa 40 °/o der Labourwähler keine grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden großen britischen Parteien angeben konnten. Der letzte Wahlkampf, der die Labour Party, genauer Mr. Wilson, mit einer knappen Mehrheit zur Regierung verhülfen hat, könnte diesen Eindruck allerdings mindern, indessen wußte jedermann, daß nach einem Laboursieg die praktische Politik doch nicht grundsätzlich und sofort anders werden würde als unter der konservativen Regierung. Und vor allem: Der Regierungswechsel bedeutete mehr eine persönliche Niederlage des konservativen Premierministers als eine sachliche Zustimmung zur Labourpartei. Die Einstellung des britischen Durchschnittswählers ist durchweg weniger auf die weltanschaulichen Differenzen der Parteien orientiert als vielmehr auf die Persönlichkeit des Regierungschefs, als dessen Deckungsmann er auch den von ihm zu wäh-Die Autoren der Beiträge dieser Ausgabe setzen sich mit zum Teil provozierenden Thesen mit dem System des Parteienstaates auseinander und kommen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen und Folgerungen. Schon daraus ergibt sich, daß es sich lediglich um Meinungsäußerungen der Verfasser handelt, die sich mit den Auffassungen der herausgebenden Stelle keineswegs in allen Punkten decken. Die Diskussion des Themas wird fortgesetzt. lenden Wahlkreiskandidaten auffaßt Deshalb waren zahlreiche Kenner der britischen Verhältnisse auch nicht geneigt, Wilson echte Chancen für das höchste Regierungsamt einzu-räumen, als er zum Parteiführer gewählt wurde, denn er galt als ein Mann des linken Flügels, der gerade die Wähler der bürgerlichen Mitte, auf die er für einen Wahlsieg angewiesen war, abstoßen würde. Seine Re-

Winfried Steffani:

Zur Kritik am Parteienstaat und zur Rolle der Opposition .... S. 17 gierungsmannschaft hat Wilson dann auch folgerichtig zum größten Teil vom gemäßigten rechten Flügel holen müssen.

Ähnliche Überlegungen gelten überall da, wo es faktisch eine Parlamentsregierung mit zwei Fronten — Regierung und Opposition — gibt. Beide Gruppen brauchen, um die Mehrheit zu gewinnen, genau die gleichen Wählerkreise, zu denen auch die zahlenmäßig meist nicht einmal besonders große Gruppe der in England und den USA „floating voters" genannten „Unpolitischen" gehört. Oft sind es in einem Wahlkreis nur wenige hundert oder tausend Stimmen, die den Ausschlag geben, aber die hierin enthaltenen Interessen, Wünsche, Vorurteile, Einstellungen, images und Gefühle bestimmen weitgehend den Wahlkampf beider Gruppen. Gelingt es der Partei, die auf diese Weise die Mehrheit und die Regierung errungen hat, die Wünsche dieser Schicht zu befriedigen, ohne damit am anderen Flügel zu starke innerparteiliche Opposition heraufbeschworen zu haben, dann hat die Opposition kaum Aussicht, die Mehrheit von der Notwendigkeit eines Regierungswechsels zu überzeugen, es sei denn, sie versucht, neue Wünsche zu wecken, die von der Regierung noch nicht oder nur ungenügend erfüllt wurden. Sie gerät dann allerdings leicht in die Gefahr, unglaubwürdige Versprechungen zu machen. Eine andere Gelegenheit bietet sich nur, wenn innenoder außenpolitische Krisen katastrophalen Ausmaßes eindeutig in die Verantwortung der Regierung verwiesen werden können oder die Regierenden charakterlich versagen.

Da Schweden sowohl von außenpolitischen Krisen verschont geblieben ist als auch zügig einen totalen Wohlfahrtsstaat ausgebaut hat, behauptet sich dort seit 1932 ununterbrochen die Sozialdemokratische Partei in der Regierung, seit 1936 sogar meist mit absoluter Mehrheit, wenn auch zur Zeit nur mit 117 gegenüber 116 Mandaten einer völlig zersplitterten Opposition. Solange der schwedischen Sozialdemokratie keine geschlossene Opposition entgegentritt, also die Bevölkerung sich nicht zum Zwei-Parteien-System entschließt, besteht keine Aussicht auf einen Regierungswechsel Es wird dies vermutlich nur unter Verzicht auf die bisherigen bürgerlichen liberalen und konservativen Parteien möglich sein; aber der Versuch der neuen „Christlichdemokratischen Sammlung", das Vorbild der Christlich-demokratischen Parteien Italiens und der Bundesrepublik zu kopieren, ist jedenfalls vorläufig gescheitert. Angesichts der Zufriedenheit des größten Teils der schwedischen Bevölkerung müßte sich eine solche Partei auch in manchen Dingen sozialdemokratischer als die Sozialdemokraten geben, was es ihrem Ministerpräsidenten Erlander leicht macht, der Opposition Konzeptionslosigkeit vorzuwerfen.

Wenn Friedrich recht hat, daß „der Inhaltsverlust aller politischen Richtungen" in England, Schweden und der Bundesrepublik mit der zunehmenden Festigung des Wohlfahrt-staates in einer Wohlstandsgesellschaft zusammenhängt, dann müßten derartige Tendenzen mit steigendem Wohlstand und zunehmender Staatsfürsorge auch in anderen Staaten zu erwarten sein. Ganz sicher ist aber, daß allein das Zwei-Parteien-System dazu zwingt, daß sich beide von der Weltanschauungsund Prinzipienpolitik zur Realpolitik wenden und immer deutlicher an Radikalität extremer Auffassungen verlieren, weil beide Gruppen dieselbe — im Grunde unpolitische — Wählerschicht zwischen den Fronten ansprechen müssen.

In den Vereinigten Staaten von Amerika sind die beiden großen Parteien, im Unterschied zu den großen europäischen, von eh und je weder Weltanschauungs-noch Standes-oder Klassenparteien gewesen. Ursprünglich spielte sich im Kampf der beiden Parteien die tiefgreifende Auseinandersetzung zwischen den Süd-und den Nordstaaten der Atlantikküste ab. Inzwischen sind die USA territorial und sozial längst über diesen Strukturunterschied weit hinausgewachsen, die beiden alten Gruppen bilden lediglich extreme Flügel in den Parteien. Das Merkwürdige ist, daß die „Konservativen" des Südens den linken Flügel der Demokraten bilden (obwohl die europäischen Vorstellungen von „links" und „rechts" hier überhaupt nicht angebracht erscheinen), der „rechte" Flügel der Republikaner aber ebenfalls aus „Konservativen" (Goldwater) besteht. Die große Mehrheit beider Wählergruppen ist aber so weitgehend liberal, daß in der Mitte kaum noch Differenzen zwischen den Parteien erkennbar sind. Joachim Schwelten bezeichnete in einer jüngst erschienenen Broschüre „die Identität dieser beiden Parteien" als „frappierend", womit er allerdings nicht „Identität", sondern Ähnlichkeit gemeint haben dürfte. Auch hier hat nur scheinbar der letzte Wahlkampf zwischen Johnson und Goldwater einen anderen Eindruck erweckt, da die Republikaner wider alle Wahlvernunft einen Mann des extremen „rechten" Flügels nominiert haben. In Wahrheit sind die Differenzen zwischen den „Flügeln", die auch Riker als das Kennzeichen der amerikanischen Parteien betrachtet, größer als zwischen den gemäßigten Flügeln beider Konkurrenten. Schwelien berichtet, man habe den beiden republikanischen Bewerbern Rockefeller und Scranton, die beide die Opposition gegen Goldwater führten, vorgeworfen, „sie suchten keine Alternative zur Politik des Präsidenten, sondern sie stünden auf dem Boden seines Programms und versprächen der Öffentlichkeit nicht mehr als eben dieses Programm besser als ein demokratischer Chef der Exekutive zu verwirklichen." Ähnlich lauten bekanntlich solche Sätze auch bei uns. Aber anders wäre, wie der letzte Wahlkampf gezeigt hat, die demokratische Mehrheit kaum zu beseitigen. Roosevelts Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der unter seiner Führung erfolgte Aufstieg zur beherrschenden Welt-macht machen es den Republikanern nur dann leicht, wenn die Demokraten einmal weniger überzeugende Kandidaten anbieten, die dem image der Massen nicht so entsprechen, wie der Republikaner Eisenhower oder — ganz anders geartet — der Demokrat Kennedy.

Der bemerkenswerteste Unterschied zwischen den amerikanischen und den traditionellen europäischen Parteien ist die Tatsache, daß sie keine Mitgliederparteien sind, sondern Managerunternehmen, die die Aufgabe haben, Persönlichkeiten „aufzubauen" und „durchzupauken" unter radikaler Ausnutzung moderner Werbe-und Propagandamethoden in den Massenmedien und im Volke unmittelbar. Die „Stärke" der Parteien wird bestimmt durch die Anzahl der Bürger, die sich in den Partei-büros als Sympathisierende eingetragen haben, ohne damit allerdings verpflichtet zu sein, nun auch in der entscheidenden Wahl für den Kandidaten dieser Partei zu stimmen. Auf diese Weise war 1964 der demokratische Parteikonvent von doppelt so vielen „Delegierten" beschickt wie der republikanische.

So ist es zu erklären, daß sich, wie der Amerikaner Riker angibt, zwar rund 80 °/0 der Wähler als „Anhänger" einer der Parteien bezeichnen, aber im Grunde doch „die Mehrheit der Wähler den Parteien auch heute noch mißtraut." Von entscheidender Bedeutung ist aber Rikers folgende Feststellung:

„Etwa Zweidrittel aller Wähler sagen regelmäßig, daß sie in erster Linie der Persönlichkeit und dann erst der Partei ihre Stimme geben." Er meint allerdings, diese Menschen behaupteten von sich damit ein viel zu großes Maß an Unabhängigkeit, aber der amerikanische Politologe Henry W. Ehrmann hat in einem bedeutsamen Vortrag über die Demokratie in den USA überzeugend dargelegt, daß der Funktionsunterschied zwischen dem Kongreß als der Legislative und dem Präsidenten als der Exekutive auch ein Unterschied im Verhalten des Wählers entspricht:

„Stimmt er für den Präsidentschaftskandidaten, so mag sich der Wähler von gewissen grundsätzlichen Erwägungen leiten lassen, seinen Repräsentanten im Kongreß aber sieht er als den Vertreter seiner unmittelbarsten, nächstliegenden Interessen an." Die Folge davon sei, so schließt er, daß auf dem Präsidentensessel vielfach liberalere und progressivere Männer sitzen als im Kongreß, der oft geradezu konservative Tendenzen zeige oder aber — im Repräsentantenhaus — sich in lokal-oder gruppengebundener Kleinarbeit verbrauche.

Es scheinen demnach überall da, wo die Entwicklung im angedeuteten Sinne fortschreitet, die Parteien viel mehr die Aufgabe zu haben, den Wählern eine personale als eine prinzipielle Alternative anzubieten. Sie sind mehr Persönlichkeitsgruppierungen und Wahl-teams als Pioniere eines weltanschaulischen Programms. „Ollenhauer statt Adenauer" lautete einmal die Wahlparole der SPD, bis sie merkte, daß Erich Ollenhauer nicht „ankam", weil er dem Kanzler-image des Durchschnittsbürgers nicht entsprach. Er wurde durch Brandt ersetzt. Wenn aber die Parteien weder grundsätzlich noch im konkreten Wahlprogramm zu unterscheiden sind und anstatt Programmen Persönlichkeiten anzubieten haben — sind dann Parteien, mindestens im traditionellen Sinne der Mitgliederpartei, überhaupt noch sinnvoll? In der Bundesrepublik umfassen die drei „großen" Parteien etwas mehr als eine Million Mitglieder, gemessen an der Gesamtbevölkerung sind das nicht einmal 2 °/o, umgerechnet auf die Wahlberechtigten höchstens 4— 5 0/0.

Nur aus der Mitgliedschaft der Parteien werden aber dem Volk die Kandidaten für die Parlamente angeboten. Die geringe Mitglieder-basis der Parteien ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. In Frankreich ist die einzige nennenswerte Mitgliederpartei — wie übrigens vielfach in der Welt — die kommunistische. Maurice Duverger, der anerkannte Verfas-* sungsspezialist der Sorbonne, schätzt ihre Stärke auf 250 000— 300 000 Mitglieder aber sie erzielte Wahlerfolge bis zu 25 °/o und mehr. Die Sozialisten schätzt er auf 60 000, die Vereinigte Sozialistische Partei auf ca. 20 000 Mitglieder. Alle anderen, insbesondere die „bürgerlichen" Parteien, sind keine Mitglieder-, sondern Kaderparteien. „Dies bedeutet, daß in einem Lande mit 46 Millionen Einwohnern nicht einmal 500 000 das Mitglieds-buch einer politischen Partei besitzen. Die Leute befreien sich von der politischen Partei, und in der Jugend glaubt man überhaupt nicht mehr an sie." Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt auch der bekannte Club Jean Moulin in seiner Untersuchung „Staat und Bürger" In den Parteien fast aller Staaten ist der Kontakt zwischen Parteien und Volk gestört, wobei die italienische Christlich-demokratische Partei, die deutsche CDU, die SPD, die britische konservative und auch die Labour Party im Vergleich zu Frankreich noch relativ „gesund" erscheinen, wobei man allerdings nicht übersehen darf, daß in der Labour Party einige Millionen Gewerkschaftsmitglieder die Masse stellen. Der Londoner Professor McKenzie hat allerdings der Labour Party keine bedeutsame Zukunft vorausgesagt wenn sie nicht endlich aufhöre, eine „Arbeiter" -, d. h. also eine betonte Klassenpartei sein zu wollen und die Entproletarisierung der Arbeiterschaft anerkenne. Außerdem sei sie in sich nicht demokratisch genug. Man darf getrost die für Deutschland und Frankreich getroffene Feststellung des Clubs Jean Moulin verallgemeinern: „Diese .. . Krise der Parteien gibt auf ihre Art ein Bild von den Veränderungen der Sozialstruktur."

Strukturwandel des Parlamentarismus — Wandel der Gesellschaft

Mögen gleich viele Parteien Europas in eine ernste Krise geraten sein, so halten Politiker und Lehrbücher der Politik unverändert an dem Dogma fest, daß die Existenz mehrerer Parteien Wesensmerkmal demokratischer Staaten und deshalb unbedingt notwendig sei. Selbst der Club Jean Moulin ist dieser Über-zeugung. Der damalige Innenminister Dr. Schröder leitete den Bericht der von ihm eingesetzten Parteienrechtskommission mit dieser Formulierung ein: „Die parlamentarische Demokratie ist eine Parteiendemokratie. Durch die Parteien äußert das Volk seinen Willen."

Genau das aber ist fragwürdig geworden, wenn es auch zum Teil noch stimmt, daß Gedanken und Bestrebungen aus dem Volk nur dann Aussicht haben, „in der Willensbildung des Staates ihren Niederschlag zu finden" wenn sie von Parteien aufgenommen werden. Aber die einflußreichen Verbände haben inzwischen schon oft genug den Weg zum Kanzler oder zu den Ministern selbst gefunden. Selbst darüber ist die Verfassungswirklichkeit bereits hinweggeschritten, was das Bundesverfassungsgericht 1952 erkannt hatte: „In der Demokratie von heute haben allein die Parteien die Möglichkeit, die Wähler zu politisch aktionsfähigen Gruppen zusammenzuschließen. Sie erscheinen geradezu als das Sprachrohr, dessen sich das mündig gewordene Volk bedient, um sich artikuliert äußern und politische Entscheidungen fällen zu können." In Wahrheit haben sich andere Formen der öffentlichen Meinung in der Presse und vor allem in den Verbänden längst als wirkungsvolle Sprachrohre und „aktionsfähige Gruppen" erwiesen. In einem der z. Z. besten Lehrbücher in der Bundesrepublik wird darauf hingewiesen, daß die Aufgabe, dem Volk Kandidaten anzubieten und ihm überhaupt eine realisierbare Meinung zur Stellungnahme vorzulegen, bisher nur von Parteien erfüllt wurde, „und es gibt weder eine überzeugende noch eine praktikable Alternative zu ihnen."

Und dennoch haben die Väter und Vorkämpfer der modernen Demokratie überhaupt nicht an politische Parteien gedacht, als sie die Repräsentation des Volkes durch ein Parlament, den Schutz der Grundrechte und eine Verfassung verlangten. Gerhard Leibholz hat sogar nachgewiesen daß Parteien dem Prinzip der parlamentarischen Repräsentation geradezu widersprechen, Parteien vielmehr erst die Folge eines tiefgreifenden Strukturwandels seien, die er „die fortschreitende radikal-egalitäre Demokratisierung" nennt: „Bei dieser parteienstaatlichen Demokratie handelt es sich in Wahrheit um eine Form der Demokratie, die in ihrer grundsätzlichen Struktur von der liberal-repräsentativen parlamentarischen Demokratie verschieden ist.“ In der Tat orientierte sich die Idee der parlamentarischen Repräsentation zunächst weitgehend am Urbild und Modell der britischen Volksvertretung, die das Volk, das war damals nur das Bürgertum der Städte, gegenüber dem Monarchen und den ihn stützenden Adel vertrat. „Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, daß der repräsentative Parlamentarismus die Existenz des Volkes als politische Einheit voraussetzt", kennzeichnet Leibholz die Uridee. Parteien traten erst auf, als aus der hart umkämpften Forderung Verfassungswirklichkeit zu werden begann und Regierungen gebildet werden mußten. Erst nach der Vertreibung der Engländer aus den USA begann der Gegensatz zwischen Norden und Süden Parteien-fronten zu forcieren, als nämlich eine Verfassung gegeben werden mußte. Als sich der Tiers etat zur Nationalversammlung erklärte und am 20. Juni 1789 im Ballhause den Schwur leistete, dem Lande eine Verfassung zu geben, dachte wohl selbst Mirabeau nicht daran, daß sich diese Versammlung nun notwendig in Parteien aufgliedern müsse. Aber als das Parlament die tatsächliche Macht übernahm, kam die Fraktionsbildung ebenso zwangsläufig, wie sie sich in der Paulskirche 1848 vollzog. Allein die Antwort auf die Frage, was Deutschland sei und wie es zu regieren sei, führte zu Parteigruppierungen.

Die liberale Bewegung hatte sich in ihrem Kampf gegen den Absolutismus und seine Lehre vom Gottesgnadentum der Lehrer und Lehren der Aufklärung als einer Art Gegen-ideologie bedient. Als „Volk" aber verstand sich nur der bürgerliche Dritte Stand, der nämlich dem Staat die Steuern zahlte, über die er mitbestimmen wollte, wie es die Amerikaner aufgrund verbriefter britischer Rechte auch verlangt hatten. Der Engländer Edmund Burke begann, was die deutsche Romantik zum weltanschaulichen System ausbaute: die christlich-konservative Antithese zum Liberalismus, wie sie sich politisch in dem Bund der Heiligen Allianz von 1815 als reaktionärer Monarchismus niederschlug, was letztlich die Vormacht des Liberalismus, die USA, zur Monroe-Doktrin herausforderte, als die Heilige Allianz die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten verurteilte. Als wenig später die gesellschaftliche Kraft des 4. Standes die Ideen des Sozialismus ausformte und Karl Marx dem Proletariat seine dogmatische Weltanschauung gab, worauf das Christentum mit Soziallehren und politischen Parteien auftrat, gab es in Europa schließlich für jede der vier „Klassen", Adel, Geistlichkeit, Bürgertum und Arbeiter, je eine Weltanschauung mit wiederum meist mindestens 2 Parteien. Obgleich Marx den 4. Stand für das „Volk"

schlechthin erklärt hatte, dem in der klassenlosen Gesellschaft auch nur eine Partei entsprechen würde, spaltete sich der Sozialismus in den meisten europäischen Staaten im 20.

Jahrhundert in drei Parteien, die in Italien, Frankreich und anderen Demokratien in ähnlicher Weise noch heute bestehen, wie sie in der Weimarer Republik bis 1922 existierten als Kommunisten, Unabhängige Sozialisten und Sozialdemokraten, von denen die einen den parlamentarischen Mehrparteienstaat überhaupt ablehnten, die anderen ihn als die einzige demokratische Form akzeptierten.

Auch die Liberalen und die Konservativen sind selten nur in einer Partei aufgetreten, wenn nicht die Gefahr des Unterganges sie dazu zwang.

Die Liberalen kämpften im Grunde um drei Ziele, die inzwischen in den meisten parlamentarischen Demokratien erreicht sind:

1. Sicherung und Garantie der Menschenrechte 2. Mitregierung des Volkes durch ein verfassungsmäßig gesichertes Parlament 3. Die nationale Selbstbestimmung.

Seit diese Ziele in den europäischen Demokratien durchweg verwirklicht sind, drohen die liberalen Parteien ihre Rolle überall da zu verlieren, wo die übrigen Parteien das Erbe des Liberalismus übernommen haben, wie es etwa in England und zum großen Teil auch in der Bundesrepublik der Fall ist. In den USA ist das Erbe des Liberalismus verpflichtendes Ideengut für beide Parteien geworden; für eine besondere liberale Partei fehlt jegliche Voraussetzung.

Im Unterschied zu den amerikanischen Parteien sind die europäischen Parteien, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, allgemein 1. Weltanschauungsparteien und 2. Standes-bzw. Klassenparteien. Seitdem besteht auch die Vorstellung, zum Wesen der Demokratie gehöre ein Parlament, in dem Parteien miteinander ringen, damit der Wähler für die eine oder andere votieren könne, seiner Weltanschauung und seiner Standeszugehörigkeit entsprechend. Der Wähler erwartete Programme, die deutlich die weltanschaulichen oder sonstigen prinzipiellen Unterschiede erkennen ließen. Die Wählerschaft der Parteien rekrutierte sich aus einem Stamm gesellschaftlich erkennbarer Gruppen, etwa die Linksliberalen aus dem Handwerkerstande oder ähnlichem Kleinbürgertum, die Konservativen aus der Landwirtschaft usw. Das 20. Jahrhundert hat dieses Modell aber völlig zerstört, und zwar aus zwei Gründen:

1. hatte die Industrialisierung zur Folge, daß die alte Klassenschichtung verschwand und eine radikale soziale Nivellierung einsetzte, 2. widerspricht der Charakter einer Weltanschauungspartei im Grunde dem Klassencharakter, da eine Weltanschauung ja Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit erhebt und über die Klassenbindung hinauskommen muß, um sich zu bestätigen. Der Marxismus hat sich aus diesem Grunde zu dem Trugschluß verleiten lassen, Ideologien seien grundsätzlich Ausdruck der Klassenbindung ihrer Träger. Die Entwicklung des Liberalismus hat ihn aber ebenso widerlegt wie die Tatsache, daß sich christliche Anschauungen im 20. Jahrhundert als tragfähige Idee für große Staatsparteien erwiesen haben. Nicht ohne Bewunderung und Neid stellt der Club Jean Moulin fest, die deutsche CDU sei ähnlich wie die italienische eine Christlich-Demokratische „echte Volkspartei" geworden, die zu ihren Mitgliedern Angehörige aller Gesellschafts -schichten zählt Da sich Formen und Ziele eines christlichen Sozialismus vielfach mit den Vorstellungen sozialdemokratischer Politik vereinbaren lassen, ergeben sich daraus völlig neue Fronten gegenüber den Gewerkschaften oder sogar Koalitionsmöglichkeiten zwischen christlichen Demokraten und Sozialdemokraten, wie sie u. a. Italien kennengelernt hat. Andererseits führt derselbe Tatbestand auch zu „Flügeln" innerhalb der Parteien, so daß es in Italien ebenso wie in der Bundesrepublik einen konservativen und der Sozialdemokratie grundsätzlich feindlich gegenüberstehenden und einen gewerkschaftsfreundlichen gibt, die nicht selten weiter auseinanderklaffen als die Unterschiede zwischen den gemäßigten Flügeln beider Parteien. Ähnliche Erscheinungen wurden bereits bei den beiden Parteien in den USA erwähnt.

Wenn heute Parteien Wert darauf legen, „Volksparteien" zu sein, dann wollen sie damit dokumentieren, daß sie keine Klassen-partei mehr sind, sondern das ganze Volk repräsentieren, indem sie Angehörige aller Schichten vertreten, wenn ihre Mitgliedschaft auch im günstigsten Falle 1— 2 °/o des Volkes umfaßt. Jede Partei repräsentiert das ganze Volk, nicht das Parlament. Wenn aber drei Parteien das ganze Volk repräsentieren — wen oder was vertreten dann die Abgeordneten der Parteien in den Parlamenten? Wenn die Parteien — gesetzt, sie seien Volksparteien — das ganze Volk vertreten, dann folgt daraus, daß sie weder Standes-noch überhaupt Programmparteien sein können, sondern ihnen nur noch die Alternative im Personalangebot bleibt, indem dem Wähler die Auswahl zwischen Kandidaten und „Mannschaften" ermöglicht wird.

Konsequent erscheint dann aber nicht nur die Wandlung von der Programm-zur Persönlichkeitspartei, sondern auch der Schritt von der Mitglieder-zur Funktionärs-oder Kaderpartei. Es ist symptomatisch, daß die noch am stärksten klassengebundenen und weltanschaulich orientierten sozialistischen Parteien am meisten Mitgliederparteien sind, denn offenbar wirken Ideologien oder ähnliche geistige Prinzipien noch am stärksten gemeinschaftsfördernd und gesellschaftlich bindend. Je größer der Konformismus, desto mitglieder-stärker! Offene, tolerante, Fraktionen und Flügel ermöglichende Parteien können ihre Stärke nicht in Mitgliederzahlen ausdrücken. Es ist zu fragen, ob Mitgliederparteien überhaupt noch der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts entsprechen.

Die Parteien in der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts

Europas Demokratien haben die Anpassung an die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts unterschiedlich vollzogen, überall da, wo sich die Parteienstruktur noch in der Form mehrerer Weltanschauungs-und Standesparteien erhalten hat — ergänzt oft noch durch reine Interessenparteien, wie z. B. Bauernparteien — und das Proporzsystem allen eine Chance im Parlament einräumt, ist der Parlamentarismus in der Krise. Als Beispiele seien hier Italien und Frankreich genannt, wo die antirepublikanische Opposition von links und rechts den Staat ernsthaft gefährdet. Wie Deutschland in der Weimarer Republik erfahren hat, erschweren oder verhindern mehrere Parteien, die zu gezwungen Koalitionen sind, eine vielfach stabile Regierung, während sie den Wählern gegenüber durch Koalitionsabhängigkeiten an Profil und schließlich auch an Glaubwürdigkeit verlieren.

In Frankreich ist aus dieser Krise die 5. Republik de Gaulles hervorgegangen. Der General sah durch die 4. Republik seine alte Abneigung gegen den Parteienparlamentarismus bestätigt, so daß er Frankreich vor den Parteien retten zu müssen glaubte: „Offenkundig sind die Parteien nicht imstande, dem Volk solch eine (kräftige) Regierung zu geben", schreibt er in seinen Memoiren Der französische Staatspräsident ist der Meinung, daß Parteien lediglich Gruppeninteressen vertreten und nicht in der Lage seien, das Interesse der Allgemeinheit wahrzunehmen, weil sie durch Jagd nach öffentlichen Ämtern sich gegenseitig vor den Bürgern in Mißkredit bringen, was „in der Praxis nichts anderes ist als politischer Kuhhandel oder gar Verleugnung der eigenen Ziele." De Gaulle, der gewiß z. B.

durch die 21 Wahlgänge der italienischen Präsidentenwahl Weihnachten 1964 in seiner Auffassung bestätigt worden ist, kommt zu folgendem Schluß: „Nach meiner Meinung braucht der Staat eine Spitze, d. h. einen Führer, in dem die Nation über alle Schwankungen hinweg den für das Wesentliche verantwortlichen Mann und Garanten ihrer Geschicke erblicken kann. Es ist auch notwendig, daß die Exekutive .. . nicht vom Parlament herkommt, das in sich die Vertretungen von Einzelinteressen vereint. Das bedeutet, daß der Staatschef nicht aus einer Partei hervorgehen soll, daß er vom Volk bestimmt wird."

Die Konsequenz hätte auch sein können, sich am Modell der Präsidialdemokratie der USA zu orientieren, aber de Gaulle hat auch die Kontrolle des Präsidenten durch das Parlament abgelehnt und stattdessen das Parlament weitgehend seiner Kontrolle unterworfen. Die offensichtliche starke Kluft zwischen den Parteien und dem Volk, das jetzt durch den einen Führer repräsentiert wird, hat der General erkannt und daraus eine neue Art unmittelbarer Demokratie konstruiert. Die ursprüngliche Idee der parlamentarischen Repräsentation setzte nämlich voraus, daß der Wähler die ihm angebotenen oder möglichst von ihm aufgestellten Kandidaten auch persönlich kennt, daß der Abgeordnete der Mitte seiner Wähler entstammt und sie in ständigem Kontakt persönlich vertritt. Die moderne Parteiendemokratie hat aus den Abgeordneten Beauftragte und Vertreter einer Partei gemacht, so daß vielfach die Wähler ihren Abgeordneten überhaupt nicht kennen. Das ist sogar in England der Fall, wo noch immer die Fiktion einer Wahlkreisrepräsentation aufrechterhalten wird. Bei reiner Listen-wahl weiß der Wähler manchmal überhaupt nicht, wen er wählt, folglich fühlt er sich auch nicht persönlich vertreten. In solchem Fall sind die Parteien im günstigen Falle für den Wähler eine Art Dienstleistungsbetrieb geworden, die das Geschäft der politischen Meinungsbekundung und der Interessenwahrnehmung für ihn besorgen. Im Regelfälle aber werden sie dann zu einer dem Wähler fremden, unverständlichen und daher ihn mißtrauisch stimmenden Institution, hinter der er dann sehr leicht Cliquen-und Bonzenwirtschaft vermutet. Der Fraktionszwang im Parlament ist eine logische Folge des Parteienprinzips ebenso wie die Anonymität, mit der politische Entscheidungen gefällt und Verantwortungen übernommen werden.

De Gaulle hat in dieser Situation das Bedürfnis des Wählers richtig gespürt und ausgenutzt, und zwar mit Hilfe des Fernsehens. Auf dem Bildschirm in der Wohnstube jedes Franzosen wendet er sich an jeden einzelnen persönlich, indem er ihn zu einer Stellungnahme auffordert. Unbewußt gewinnt der einzelne den Eindruck, den Präsidenten zu kennen, er vertraut ihm in dem Gefühl, daß dieser Mann auf die Meinung des Volkes baut. Es fühlt sich ernstgenommen und entscheidungsstark, wo manipuliert wird — eine Form der modernen unmittelbaren Demokratie, die auch Telekratie genannt wird. Wiederum erinnert diese französische Form an Erscheinungen der amerikanischen Demokratie, wo es die Präsidentschaftskandidaten darauf anlegen müssen, möglichst vielen Wählern die Hand zu schütteln, weil diese Leute mit dem Eindruck fortgehen, nun den großen Mann persönlich zu kennen. Wie White in seinem Buch „The Making of the President" überzeugend dargelegt hat, ist vermutlich auch die knappe Entscheidung zwischen Kennedy und Nixon im Jahre 1960 vor dem Fernsehschirm gefallen. De Gaulle, der in seiner Kennzeichnung der Parteiendemokratie vernichtende Worte gefunden hat, hat in seiner Weise dem Struktur-wandel der Parteiendemokratie Rechnung getragen. Die andere Möglichkeit scheint aber der Weg über das Zwei-Parteien-System zu sein, in dem die Parteien aufhören, Weltan-schauungs-, Standes-und auch Mitgliederparteien zu sein. Die Aufgabe der demokratischen Staatsordnung, die Volkssouveränität und die Menschenrechte zu sichern, muß nicht notwendig durch ein Vielparteienparlament allein erfüllt werden.

In der Massengesellschaft sind zwei wesentliche Kräfte aufgetreten, die eng miteinander und auch mit den Parteien Zusammenhängen, aber doch in der Verfassungswirklichkeit vom Parteienparlament weitgehend unabhängige Mächte darstellen, nämlich die öiientliche Meinung und die Verbände. Heinz Josef Varein, der sich wiederholt mit der Rolle der Verbände auseinandergesetzt hat, formulierte kürzlich in prägnanter Kürze daß die Parteien in unserem Staate nicht mehr „Repräsentationsorgan der Bevölkerung" seien, sondern geradezu als „der Staat" und damit als Adressat der Verbände aufgefaßt werden. Für viele Staatsbürger seien die Verbände überhaupt das einzige Bindeglied zum öffentlichen Leben, wobei der Begriff „Verband" sehr weit zu verstehen ist, reicht er doch von dem annähernd 7 Millionen Mitglieder umfassenden Deutschen Gewerkschaftsbund bis zum örtlichen Sportverein, der ebenfalls politische Aufgaben wahrnimmt, wenn er z. B. mit Hilfe der Gemeinde Sportanlagen ausbauen will. Es ist verständlich, daß die Mitgliederschaft etwa des Bauernverbandes, die infolge klarer Interessenkonformität als homogene und wirkungsvolle Macht auftritt, bei den Überlegungen einer Partei eine größere Rolle spielt als etwa die eigene schwache Mitgliederschaft. Die Freie Demokratische Partei hat mehrfach, mit unterschiedlichem Erfolg, lieber einige Mitglieder als eine ganze Wählerschicht preisgegeben, womit sie unbewußt zugegeben hat, daß die Vorstellung der starken Mitglieder-partei nicht mehr zeitgemäß ist. Es kommt darauf an, in ganz bestimmten Situationen ganz bestimmte Interessen aufzugreifen, sagen wir z. B. im geeigneten Augenblick die der Lehrer oder anderer Beamtengruppen.

Eine geschlossene Mitgliedschaft ist solchen Praktiken gegenüber zu unbeweglich.

Wer erinnert sich nicht noch des Streites um die Wahlaufrufe des DGB „Wählt einen besseren Bundestag", durch den die CDU den parteipolitisch neutralen Charakter des DGB als Schein entlarvt sah, weil der Aufruf als Votum für die SPD aufgefaßt wurde? Das aber ist Verfassungswirklichkeit, die von den Dogmatikern der Parteiendemokratie nicht klar genug gesehen wird: Die Manager der großen Verbände geben immer wieder und überall ihr Votum zur Politik der Parteien und Regierungen ab und beeinflussen ihre Mitglieder. In den USA wenden sich z. B. Gewerkschaftsführer über das Fernsehen an ihre Mitglieder, um sie aufzufordern, diesem oder jenem Kandidaten ihre Stimme zu geben. Es ist oft für Sieg oder Niederlage eines Kandidaten entscheidend, ob solche Männer für oder gegen ihn sprechen, was er nicht mit Sicherheit vorher weiß. Die Mitglieder der Verbände erwarten von ihren Funktionären Aufklärung darüber, wie die verschiedenen Persönlichkeiten in den sich ihren Forderungen gegenüber eingestellt haben. Die Verbände nehmen in diesem Sinne genaue Notiz von namentlichen Abstimmungen, versuchen die Auswahl der Kandidaten in den Parteien oder diese selbst zu beeinflussen, schließlich schikken sie ihre eigenen Leute in die Parteien und Parlamente. Nicht zuletzt beeinflussen sie die öffentliche Meinung durch Pressearbeit; auch ihre eigene Presse ist ein Bestandteil der öffentlichen Meinung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Varein behauptet sogar, ohne die Verbände gebe es über wichtige Fragen überhaupt keine öffentliche Meinung; man braucht nur an den Getreidepreis in der EWG zu denken.

Verbände regen selbst Gesetzentwürfe an, diskutieren sie öffentlich, treten als Fachleute in der Öffentlichkeit auf und haben auch unmittelbaren Einfluß auf die Exekutive, abgesehen von ihrer Rolle in Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie z. B.den Kammern. Sie begünstigen oder torpedieren die Besetzung von Beamtenstellen und sogar von Ministerposten, wobei z. B. an den Wirtschaftsminister, den Arbeitsminister oder an Kultusminister zu denken ist. Auf diese Weise sind sie ein Stück Verfassungswirklichkeit geworden, und zwar bereits weitgehend neben Parteien und Parlamenten. Eine Partei, die diese Wirklichkeit nicht anerkennt, ist hoffnungslos verloren.

Ich habe selbst an anderer Stelle nachgewiesen daß es die Nationalsozialisten waren, die diese Zusammenhänge zuerst erkannt und für sich ausgenutzt haben. Hitlers entscheidender Durchbruch zum mittelständischen Bürgertum erfolgte planmäßig auf dem Wege über dessen Interessenverbände, deren Forderungen die NSDAP zu den ihren machte.

Sie diffamierte die Funktionäre und ließ sie durch nationalsozialistische Verbandsfunktionäre ersetzen; schon vor der Machtübernahme schaltete die NSDAP u. a. weitgehend die Handwerkerverbände, kaufmännische Verbände und nicht zuletzt den Landbund gleich.

Die Verbände verdanken ihre Macht, ganz im Gegensatz zu den Parteien, einer starken Mitgliedschaft;

sie finanziert einen Funktionärsund Büroapparat, der über Verbindungsstellen zum Parlament bis zu hauptamtlichen Pressereferenten reicht. Ihre Funktionäre sind heute zu einer Schicht von Berufspolitikern geworden, die zahlenmäßig bei weitem stärker ist als die der Parteifunktionäre. Verbände, so sagt Varein, sind aber für das Mitglied meist so etwas wie ein Dienstleistungsbetrieb, eine Art Versicherung für Interessenvertretung. Der französische Club Jean Moulin hat aus diesen Zusammenhängen Schlüsse gezogen, die für die französische Demokratie eine Alternative zu de Gaulles Präsidialdemokratie erkennen lassen könnten. Frankreich brauche, so meint er, eine „neue Partei belebender Kräfte", die weder Mitglieder-noch Honoratiorenpartei sein dürfe. Sie müsse dagegen „von ihren Mitgliedern verlangen, daß sie eine Rolle in nichtparteilichen Organisationen . .. einnehmen.'

Die demokratische Partei der Zukunft ist also nicht, wie heute noch die Regel, dem Druck der verschiedenen pressure groups und der Lobby ausgesetzt, sondern macht die Verbände selbst zu ihrem Wirkungsfeld, wird aktiv. Der Club Jean Moulin verspricht sich z. B. von einer solchen Partei, daß sie die drei großen einander befehdenden französischen Gewerkschaften an einen Tisch und zu gemeinsamen Konzeptionen bringen kann. Wenn die parlamentarische Demokratie erhalten bleiben soll, werden die Parteien neuen Stils auch ein ganz anderes Verhältnis zur öffentlichen Meinung gewinnen müssen. Der Club Jean Moulin legt deshalb in seinen Empfehlungen besonderen Wert auf eine zeitgemäße public-relations-Arbeit. Das Koalitionsrecht und das Recht der freien Meinungsäußerung erweisen sich in der gegenwärtigen Situation aller Demokratien als wichtigste Grundlage für eine Weiterentwicklung der Verfassungswirklichkeit, denn die öffentliche Meinung zu formen und zu einer demokratischen Macht zu erheben, wird in der Verantwortung aller politisch aktiven Staatsbürger liegen. Politologen und Verfassungsrechtler werden der Entwicklung dieses Phänomens ihre Hauptaufmerksamkeit zuwenden müssen.

Entwicklungstendenzen in den jungen Demokratien

Obwohl die historischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen in den jun-gen Demokratien Asiens, Afrikas und Lateinamerikas völlig anders sind als in Europa, lassen sich überraschenderweise eine Reihe von ähnlichen Problemen erkennen. Weder sind dort die europäischen Weltanschauungen des Liberalismus, Konservatismus oder Marxismus als tragfähiger Boden für Parteien relevant, noch gibt es eine den europäischen Verhältnissen entsprechende Klassenschichtung oder die egalitäre Massengesellschaft des Industriezeitalters. Auch das Christentum als verbindliche Staatsoder Soziallehre käme bestenfalls für das römisch-katholische Lateinamerika in Betracht, wo es tatsächlich christliche Parteien gibt.

In Afrika und Asien gibt es vielfach überhaupt keine politischen Parteien in unserem Sinne, nicht einmal eine öffentliche Meinung, einen demokratischen Rundfunk oder eine freie Presse. Da die meisten dieser Staaten aus dem Kolonialstatus hervorgegangen sind, entstammen ihre Führungskräfte durchweg der von wenigen intellektuellen Berufspolitikern getragenen Unabhängigkeitsbewegung. Ihr Ziel, die Europäer aus der Macht zu drängen, duldete keine Zersplitterung der Kräfte, sondern nur die schlagkräftige Kampfpartei, für die Demokratie dasselbe bedeutete wie Unabhängigkeit. Es ist naheliegend, daß sich die Führer dieses Kampfes als Repräsentanten ihres neuen unabhängigen Staates durch ihre Rolle im Freiheitskampf für die Übernahme der Staatsämter qualifiziert haben. Aus all diesen Gründen ist auch heute noch vielen führenden Männern der jungen Staaten ein Unterschied zwischen den „westlichen" Demokratien und dem kommunistischen Inhalt dieses Begriffs nicht begreifbar, weshalb sie, da sie von einem scharfen Kampf zwischen beiden wissen, einen angeblichen Neutralismus proklamieren. Abgesehen davon also, daß für Parteibildungen, soweit sie nicht, wie z. B. in Nigeria, aus der Heterogenität der Bevölkerung, den Rassen-, Religionsoder Stammesunterschieden hervorgehen, die Voraussetzungen fehlen, sind die meisten Staaten der Meinung, daß eine Aufspaltung in Parteien die wirtschaftliche und geistige Entwicklung hemmen würde. Deshalb traten die meisten Staaten Afrikas mit einem Ein-Partei-System in ihre Selbständigkeit ein.

Dr. Julius K. Nyerere, einer der markantesten Repräsentanten des jungen Afrika, hat, wenige Monate nach der Übernahme der Staatspräsidentschaft von Tanganjika, am 14. Januar 1963 das Ein-Partei-System geradezu als die demokratische Form der Zukunft bezeichnet: „Ich behaupte: In einem Land, in dem es nur eine Partei gibt — vorausgesetzt, diese identifiziert sich mit der ganzen Nation —, ist das Fundament der Demokratie solider, da das Volk hier die sichere Möglichkeit hat, die richtige Wahl zu treffen." Nyerere bemängelte am europäischen Mehrparteienstaat vor allem, daß der Wähler keinen Einfluß auf die Auswahl der Kandidaten habe, zweifellos ein Mangel, den politische Praktiker, z. B. Carlo Schmid, und Staatsrechtler, z. B. Gerhard Leibholz, oder Politologen, wie u. a. Eschenburg, ebenfalls erkannt haben. Dem Modell Nyerere liegt eine ganz ähnliche Vorstellung zugrunde wie der Theorie der „Volksdemokratie" kommunistischer Einparteiherrschaft. Aber die afrikanischen Einheitsparteien sind durchweg völlig frei von jeder ideologischen Dogmatik und personell so heterogen, daß die Gefahr der Unfreiheit längst nicht so akut ist, wie es dem Europäer bei dem Gedanken an ein Ein-Partei-System erscheinen mag.

Zunächst einmal brauchte der Staat Persönlichkeiten für Regierung, Verwaltung und Wirtschaft, für Sozial-und Bildungsaufgaben und — für die politische Erziehung des Volkes, dem es durchweg an Staats-oder Nationalbewußtsein fehlt. Bevor das Volk zu eigener Politik fähig ist, ist es aufgerufen, die Macht der Führungsschicht zu legitimieren, so daß vom Volke nur verlangt wird, Persönlichkeiten das Vertrauen zu bekunden oder zu versagen. Ohne Zweifel fällt das dem Staatsbürger auch in Staaten mit höherem Bildungsniveau wesentlich leichter als über Programme und Prinzipien sachlich zu urteilen. Es leuchtet unmittelbar ein, daß es die Entscheidung in den weniger differenzierten Demokratien sehr erschweren würde, träten die Kandidaten auch noch als Repräsentanten von sich befehdenden Programmparteien auf, die in solchen Völkern ohnehin auch keine Mitgliederparteien sein können. Die Kandidaten würden außerdem Gefahr laufen, wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer festen Gruppe von den Gegnern diffamiert zu werden, während sich ohne Parteien der Wahlkampf nur mit der Persönlichkeit befassen würde. Das ganze rational kaum faßbare Geflecht von Vorurteilen, Gruppenspannungen und Stereotypen, das die Parteiendemokratie so sehr in Widerspruch zu rationalistischen Lehre vom vernunftbestimmten Individuum gebracht hat, wird hier weniger günstigen Nährboden finden. Das Parlament im Ein-Partei-Staat ist identisch mit der Kaderspitze der Partei, die überdies die Möglichkeit hat, jeden befähigten Bürger zur Aktivität zu gewinnen, ohne daß er ein Parteibuch erwirbt, das ihn künftig im allgemeinen Bewußtsein abstempelt. Es hat sich in der Tat herausgestellt, daß alle Staaten mit einem — freilich dem europäischen kaum vergleichbaren — Mehrparteiensystem unsicherer sind als Ein-Par-tei-Demokratien. Bis vor kurzem schien Nigeria das Gegenteil zu beweisen, bis sich bei den ersten allgemeinen Wahlen Ende 1964 die Brüchigkeit des ganzen Staatswesens in fast ebensolchen Ausmaßen herausstellte wie im Kongo. Man wird die afrikanischen Ein-Par-tei-Demokratien dann Demokratien nennen müssen, wenn wirklich die Kandidaten unter Mitwirkung der wählenden Bevölkerung aufgestellt werden und ihr eine freie Entscheidung über mehrere Persönlichkeiten ermöglicht wird. Im Oktober 1964 zählte Kohl 18 Ein-Partei-Staaten von insgesamt 33 in Afrika, von denen freilich nur wenige bereits die Vorstellung Nyereres verwirklicht haben. Aber wer wollte bestreiten, daß hier die Möglichkeit eines Weges zur Demokratie ohne Mehrparteiensystem gegeben ist? Hier wie dort ist das Funktionieren vor allem ein Bildungs-und Erziehungsproblem. Begünstigt wird die afrikanische Demokratie zudem durch die verbreitete Tradition des „Palaverns", bei dem solange über eine zu entscheidende Angelegenheit diskutiert wird, bis schließlich ein einstimmiger Beschluß zustande kommt. Der bloße Abstimmungssieg einer oft nur geringen Mehrheit über eine knapp unterlegene Minderheit erscheint vielen Afrikanern als unfair, zumal, wenn der einzelne, um den Sieg zu ermöglichen, dem Zwang einer geschlossenen Fraktion unterworfen ist. Ist es wirklich so falsch, wenn man in Entscheidungen dieser Art nicht immer einen Sieg der politischen Vernunft anerkennt?

Eine eigenartige Mischung von Ein-und Mehrparteiensystem hat sich in Indien herausgebildet, dessen Kampf um die Unabhängigkeit von der Sammlungsbewegung Ghandis, der sog. Kongreßpartei geführt wurde. Diese Kongreßpartei errang bei den Wahlen von 1962 mit 45 0/0 der abgegebenen Stimmen die Stärke einer Oppositionspartei in einem Zwei-Parteien-System, und ihre Position entspricht beinahe der Einheitspartei in einem Ein-Par-

tei-Staat. Von den 55°/o der Mehrheit der Wähler entfielen 10 0/0 auf die Kommunisten, je 6— 7 °/o auf die Volkssozialistische Partei (nicht-marxistische Sozialisten), die Swatantra (Freiheits-) Partei (konservativ, antisozialistisch) und die Jan Sangh, die konservative hinduistische Volkspartei. 25 °/o der Wählerstimmen entfielen auf zahlreiche, meist regionale Parteien oder Wählergruppen, gingen also im Kampf um die Macht verloren In Anbetracht dieser hoffnungslos zersplitterten Mehrheit des Wählervolkes ist es der Minderheit der Kongreßpartei bisher möglich gewesen, den Staat weitgehend allein zu beherrschen. Surindar Suri glaubt bemerkt zu haben, daß sich die Opposition gegen die Kongreßpartei im wesentlichen auf die Reihenfolge der zu bewältigenden Aufgaben bezieht, da die Regierung nicht all die vielen Probleme des Landes auf einmal lösen kann. Im übrigen geht es auch dort vor allem um die Persönlichkeiten. Wo Wähler mit den Kandidaten der Kongreßpartei nicht zufrieden sind und sich Männer finden, die eine Alternative anzubieten haben, kommt es zur Bildung opponierender Parteien, die, wie gesagt, aus diesem Grunde vielfach lokal eng begrenzt sind. Wenn aber die Kongreßpartei selbst mehrere Kandidaten zur Auswahl anzubieten hat, hat es jede weitere Opposition sehr schwer.

Allerdings spielen in Indien durchaus schon Prinzipien eine wichtige Rolle, was vor allem auf die Aktivität der Kommunisten und die Tendenzen zur sozialistischen Planwirtschaft in den Reihen der Kongreßpartei zurückzuführen ist. In Bombay, so berichtet Suri, haben drei Oppositionsparteien den Rivalen des bekannten Krishna Menon unterstützt, weil man Menon zu starke Neigungen zum Sozialismus nachsagte und daher von ihm Begünstigung des Kommunismus befürchtete. Auch der konservative Hinduismus, der vielfach dem sozialen und technischen Fortschritt hindernd in den Weg tritt, ist so etwas wie eine weltanschauliche und parteienbildende Kraft. Insgesamt aber ist das Parlament eine Institution, die im Volke nicht sehr stark verankert ist, die Parteien sind keine „Volksparteien", keine Mitgliederparteien, sondern nur Gruppierungen einer kleinen Schicht von Aktivbürgern, deren Hauptaufgabe es ist, das Volk zur Teilnahme am politischen Leben zu erziehen. Indiens Politiker zeigten sich nach der letzten Wahl von 1962 besonders erfreut darüber, daß die Wahlbeteiligung zum ersten Male 50 0/0 überschritten hatte und 53, 7 °/o erreichte.

In Lateinamerika hat die Alternative Diktatur oder Anarchie fast überall zur Bil-dung eines Präsidialsystems geführt, das sich vielfach ebenfalls auf eine Art Ein-Partei-System stützt. Mehr noch als in Indien wird die Politik von einer kleinen Gruppe politisch aktiver Intellektueller mit der Tendenz zum Berufspolitiker betrieben. In Mexiko bestimmt schon seit 1929 die Partido Revolucionario Institucional den Präsidenten und damit die Geschicke des Lan-des. Die Opposition besteht aus zwei katholisch-konservativen Parteien, einer sozialistischen Volkspartei (Partido Populär) und einer 1957 gegründeten „Partei der wirklichen mexikanischen Revolution", deren Name darauf hindeutet, daß es sich um eine Separation von der herrschenden Staatspartei handelt. Die vorläufig unangreifbare Stellung der Revolutionspartei beruht darauf, daß sie Gewerkschaftler ebenso umfaßt wie Unternehmer, Sozialisten und Konservative, Katholiken und Dissidenten, also weder Weltanschauungsnoch Standespartei ist. Insbesondere der Kampf um den Präsidenten spielt sich innerhalb der Partei ab, die sich auf einen Kandidaten einigt, der allen Gruppen am geeignetsten erscheint. Solange die innerparteiliche Demokratie intakt ist und jedem Bürger ohne Aufgabe seiner Unabhängigkeit die Mitarbeit möglich ist, täuscht der Eindruck, den die Präsidentenwahl auf einen Europäer macht, der nämlich dann kaum noch einen Unterschied zur kommunistischen Einheitswahl erkennt. Extremlösungen innerhalb der Partei sind zwar in außergewöhnlichen Zeiten denkbar, aber im übrigen muß die Einheitspartei bei der Aufstellung ganz ähnliche Überlegungen anstellen wie die beiden großen Parteien in den benachbarten USA. Die Partei sieht ihre Aufgabe darin, die Masse des Volkes zu aktivieren, deshalb versucht sie, ihre Reihen für die verschiedenartigsten Gruppen und Interessen otfenzuhalten. Das Betätigungsfeld der Partei liegt u. a. in den vorhandenen Interessenverbänden, deren Vertreter in der Partei arbeiten können, ohne sich weltanschaulich oder anderweitig festzulegen. Sie versucht die Masse des Volkes dadurch zu gewinnen, daß sie ihm geeignete Persönlichkeiten zur Wahl anbietet und innerhalb der Partei jede Auswahl ermöglicht. Daß freilich dieses System nicht immer einwandfrei funktioniert, wird durch die zunehmende Opposition kleinerer Splittergruppen innerhalb der Partei und nicht zuletzt durch Separation bewiesen. Trotzdem lassen sich gewisse Entwicklungstendenzen nicht übersehen, die durchaus ähnliche Probleme wie einerseits in den USA, andererseits in den asiatischen und afrikanischen Demokratien aufwerfen.

Sind Parteien noch zeitgemäß?

Die Form der Ein-Partei-Parlamente darf nicht grundsätzlich als undemokratisch verworfen werden, wenn die eine Partei frei von dogmatischer Verbindlichkeit ist und den verschiedenartigen Persönlichkeiten freie Entfaltung ermöglicht. Die Form des europäischen Mehrparteienstaates, ein Ausdruck der gesellschaftlichen Struktur des 19. Jahrhunderts, kommt als Modell für die jungen Staaten Afrikas und Asiens nicht in Betracht, aber hier wie dort geht es darum, die mangelnde Verwurzelung der Parteien im Volk zu überwinden. überall erweist sich die Vertretung des Volkes durch Parlamente als ein Problem der guten und demokratischen Persönlichkeitsauswahl

Ähnlich wie im Parteiendualismus der USA scheint sich in England die Alternative immer mehr auf die repräsentative Persönlichkeit zu verengen. In der Bundesrepublik hat dieser Prozeß von allen Staaten auf dem Kontinent am weitesten Fortschritte gemacht; die Verbandsdemokratie ist hier am offensichtlichsten. Ähnlichkeiten der französischen Präsi-dialdemokratie mit dem mexikanischen System sind nicht weniger erkennbar als mit dem amerikanischen.

Nach Leibholz hat die Demokratie bisher zwei Phasen durchlaufen: die parlamentarisch-repräsentative Demokratie des Liberalismus mit unabhängigen Abgeordneten, die das ganze Volk vertraten — eine Form, die ich nur in der „Kampfzeit" des Parlamentarismus erkenne—, und die egalitäre (Mehr-) Parteiendemokratie. Mir scheint, wir befinden uns mitten in einem erneuten Strukturwandel, dessen Tendenzen sich in den verschiedenen Demokratien unterschiedlich deutlich abzeichnen: An die Stelle von Programmen treten überall Persönlichkeiten, anstatt um Prinzipien geht es um Realpolitik. Die Wähler sind überall nicht mehr bereit, das Geschäft der Politik anonymen Unternehmen zu überlassen, sondern wollen über Menschen urteilen, was ihnen viel leichter fällt, als über Weltanschauungen zu entscheiden.

Die Demokratie der Zukunft wird aber nicht unbeeinflußt von der Tatsache bleiben, daß sich die weltweite Abhängigkeit aller Staaten von einander auf die innenpolitischen Fronten ebenso auswirkt wie auf die außenpolitischen Rücksichten. Man denke nur daran, welche Konsequenzen eine Wahl Goldwaters zum Präsidenten der USA für die gesamte europäische Situation hätte haben können, was im Wahlkampf von den Demokraten ebenso oft betont wurde wie innerhalb der republikanischen Partei. Bei uns haben manche Kreise mit großer Skepsis und Besorgnis die Wahl Wilsons ausgenommen, weil sie Nachteile durch die Politik des disengagement für Deutschland befürchteten; de Gaulle hat überall in der Welt pro-und antigaullistische Gruppen provoziert usw. Aber diese Abhängigkeiten zwingen auch dazu, jeden Kurs-wechsel in der Außenpolitik unter Einhaltung aller außenpolitischen Verpflichtungen so behutsam vorzunehmen, daß er vielfach kaum noch spürbar wird, obwohl de Gaulles Außenpolitik das Gegenteil zu beweisen scheint. Die zunehmende internationale Integration läßt jedenfalls so weitgehende außen-politische Alternativen wie vor dem Ersten Weltkriege nicht mehr zu. Es ist daher natürlich, daß es grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über den außenpolitischen Kurs zwischen den Parteien kaum noch gibt.

Daraus folgt: Sowohl das Vielparteiensystem des europäischen Kontinents als auch das Ein-Partei-System der jungen Demokratien tendieren zum Personalprinzip. Hierbei müssen dem Wähler in irgendeiner Form Entscheidungen angeboten werden, sei es, daß die Wähler in stärkerem Maße an der Auswahl der Kandidaten beteiligt werden, sei es, daß ihm eine echte Persönlichkeitsalternative angeboten wird, die in der Praxis eine Team-Alternative sein wird, wie sie im Brauch der englischen Schattenregierung angelegt ist. In der Demokratie muß es ferner die Möglichkeit zur Kritik und zur ständigen Einflußnahme auf die Staatsgeschäfte geben. Das bedeutet 1. eine unabhängige öffentliche Meinung und 2. eine personale Alternative zu den regierenden Persönlichkeiten. Längst hat sich in manchen Landen die Regierung als Inhaber der tatsächlichen Macht erwiesen, nicht mehr das Parlament. In der Form der alten Vielparteienparlamente können sie diese Macht nicht mehr zurückgewinnen. Es muß klare Mehrheiten und eindeutige Alternativen geben, daher sind Vielparteienformen mit Welt-anschauungsund Klassen-oder gar Interessenparteien unzeitgemäß.

Wenn die Alternative in einem zeitgemäßen Parteiensystem mehr personaler als programmatischer Art ist, wird es eine der vordringlichen Aufgaben der Parteien sein, geeignete Persönlichkeiten als Kandidaten für die Parlamente zu gewinnen, die sich bisher scheuten, eine Parteibindung einzugehen. Es wird zu überlegen und in Versuchen zu erproben sein, auf welche Weise die nicht parteigebundene, aber politisch interessierte Wählerschaft auch an der Auswahl der Kandidaten beteiligt werden kann. Die Notwendigkeit, in stärkerem Maße als bisher an die soziale Wirklichkeit heranzukommen, um die Kluft zwischen der Masse des Volkes und der Aktivbürgerschaft in Parteien und Parlamenten zu überbrücken, wird die Parteien mehr und mehr dazu zwingen, ihren Charakter als geschlossene Mitgliederpartei aufzugeben Das Argument, ohne eine feste Mitgliedschaft könnten sich die Parteien nicht finanzieren, scheint mir ohnehin durch die Wirklichkeit bereits weitgehend widerlegt zu sein. Die politischen Kräfte werden sich weiterhin bemühen, mit Hilfe der das moderne Leben kennzeichnenden Massenkommunikationsmittel die Bevölkerung zu interessieren, zu aktivieren und zu Entscheidungen aufzurufen. Diese Aufgabe der politischen Bildung macht auch die Parteien zu einflußreichen Miterziehern in Jugend-und Erwachsenenbildung und bedeutet für sie eine große Verantwortung, weil die Möglichkeiten der Massenmedien die Versuchung in sich bergen, das Volk mit Hilfe werbepsychologischer Methoden zu manipulieren, anstatt zum selbständigen Urteilen zu erziehen Der Durchschnittswähler wird überfordert, wenn man von ihm erwartet, über alle politischen Sachverhalte ein eigenes Urteil zu haben, aber die Urteilsfähigkeit des Staatsbürgers wird durchaus in der Lage sein, darüber zu wachen, daß es gerecht, saubei und ehrlich im Staate zugeht. Ein gesundes Urteil über die Persönlichkeiten seiner Wahl wird man ihm zutrauen müssen, nicht minder den Mut, seine Rechte zu verteidigen, als deren Sachwalter er Parteien und Politiker auffassen wird, wenn der demokratische Staat seinen Auftrag zeitgemäß erfüllt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Opposition ohne Alternative? Köln 1962, S. 76. Friedrich beruft sich einerseits hier auf Ralph Milliband, Parliamentary Socialism. A Study in the Politics of Labour, London 1961, und Hans-Oskar Wilde, England — Weg der Mitte, Stuttgart 1959.

  2. Die „unbedingte Beherrschung des Unterhauses durch das Kabinett" und die daraus folgenden politischen Strukturwandlungen der brit. Demokratie legt eine neue Studie von Karl Loewenstein dar: Der britische Parlamentarismus, Entstehung und Gestalt, Reinbek b. Hamburg, 1964, S. 111 ff.

  3. Hierzu Theodor Eschenburg, über das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie, in dem 1964 in München erschienenen Sammelband „Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker".

  4. In Norwegen ist es den bürgerlichen Parteien unter ganz ähnlichen Umständen dennoch gelungen, die seit dreißig Jahren regierende Arbeiterpartei in die Opposition zu schicken. Die Gründe dafür können hier jedoch nicht mehr analysiert werden, da dieser Aufsatz bereits vor einiger Zeit abgeschlossen worden ist.

  5. Wer regiert Amerika?, Stuttgart 1964, S. 36 ff.

  6. William H. Riker, Schwäche und Stärke der Demokratie, Köln 1958.

  7. Henry E. Ehrmann, Funktionswandel der demokratischen Institutionen in den USA, in dem vom Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin herausgegebenen Sammelband „Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft", Berlin 1963.

  8. Die Entwicklung der Demokratie in Frankreich. In dem in Anm. 6 zitierten Sammelband.

  9. In deutscher Übersetzung 1964 in Stuttgart erschienen.

  10. R. T. McKenzie, Probleme der englischen Demokratie, in dem in Anm. 6 zitierten Sammelband. Während Loewenstein hierüber anderer Ansicht ist, bestätigen die Analysen von Jean Blondel, Demokratie in England, Wähler, Parteien, Politiker, Frankfurt 1964, eher McKenzie.

  11. Zitiert nach Heino Kaack, Die Parteien in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Schriften der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 1964, S. 8.

  12. Zit. nach Andreas Hamann, Das Grundgesetz, Berlin 19612, S. 214 ff.

  13. Der junge Staatsbürger, Band I, Politik und Recht, Frankfurt, S. 57 ff.

  14. Demokratie und Rechtsstaat, Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Reihe A, H. 5, Hannover 1961.

  15. a. a. O. S. 107. über die christlichen Parteien in Europa s. a. vier Beiträge in Heft 156 der Politischen Studien, 15. Jg. (1964), S. 389 ff.

  16. Charles de Gaulle, Memoiren 1942— 1946, Gütersloh o. J., S. 412 ff.

  17. Die Verbände in unserer politischen Ordnung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 15 (1964), S. 410 ff. Ausführlich in seinem Buch „Parteien und Verbände."

  18. Braunschweig und der Staat von Weimar, Braunschweig 1964; und: Wer wählte Hitler?, in: Politische Studien, H. 155/1964.

  19. a. a. O., S. 144 u. 147.

  20. Zitiert nach Ernst Kohl, Die Einheitspartei als Institution der Demokratie in Afrika, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 15 (1964), S. 304 f.

  21. Daß die Verhältnisse in Wirklichkeit nicht in so einfacher Weise zahlenmäßig zu erfassen sind, lehrt jede Lektüre einschlägiger Fachliteratur, u. a. Franz Ansprenger, Politik im Schwarzen Afrika, Opladen 1961, oder: Ronald Segal, Afrikanische Profile, München 1963.

  22. Surindar Suri, Die dritten allgemeinen Wahlen in Indien, in: Politische Vierteljahresschrift, 4. Jg. (1963), S. 81 ff.

  23. Literatur u. a.: Hans Edgar Jahn, Vom Feuerland nach Mexiko, Lateinamerika am Scheidewege, München 1962; Hillekamps: Lateinamerika — Staaten suchen ihre Nation, Stuttgart 1963.

  24. Die hier vorgetragenen Schlußfolgerungen stehen im Widerspruch zu Konsequenzen, die Ernst Fraenkel in einer Abhandlung „Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung" gezogen hat (Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 9/64, S. 14 f.). Der Unterschied scheint mir darin zu liegen, daß Fraenkel letztlich normativ denkt, während ich phänomenologisch vorzugehen versuche.

  25. Vgl. die Schlußfolgerungen von Ulrich Lohmar in seinem Buch: Innerparteiliche Demokratie, Stuttgart 1963.

  26. Hierzu u. a. Rolf Berth, Wähler-und Verbraucher-Beeinflussung, Stuttgart 1963, u. Wolfg. Treue, Der Wähler und seine Wahl, Wiesbaden 1964.

Weitere Inhalte

Ernst-August Roloff, Dr. phil., Studienrat und Diplom-Psychologe, geb. 28. Mai 1926 in Braunschweig, seit 1952 im Höheren Schuldienst in Braunschweig, Fachreferent für Psychologie und Politische Bildung im DGB, lange Jahre in führenden Stellungen in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Bürgertum und Nationalsozialismus 1930— 1933. Braunschweigs Weg ins Dritte Reich, Hannover 1961; Braunschweig und der Staat von Weimar. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1918— 1933, Braunschweig 1964; Zeitschriftenaufsätze zur Zeitgeschichte, zur Didaktik und Methodik der politischen Bildung und zur pädagogischen Psychologie.