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Die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetzone | APuZ 36/1965 | bpb.de

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APuZ 36/1965 Die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetzone Die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetunion

Die Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetzone

Herbert Scheffler

Die Funktion der Sowjetzone

Der 8. Mai 1965 — der 20. Jahrestag des Zweiten Weltkrieges— wurde von den Machthabern des deutschen Gebietes zwischen Elbe und Oder zum Anlaß genommen, auf die zwanzig Jahre kommunistischer Herrschaft in diesem Teil Deutschlands zurückzublicken und gleichzeitig daraus Schlußfolgerungen für die Politik in Deutschland abzuleiten. Walter Ulbricht, „Staats" -und Parteichef der deutschen Sowjetzone, erklärte am 5. Mai vor der „Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik“:

„Der deutsche Friedensstaat, die Deutsche Demokratische Republik, hat sich stabilisiert und verfolgt seine große historische Aufgabe als Vertreter der nationalen und sozialen Interessen der ganzen deutschen Nation kraftvoll und zielbewußt."

Nur bei sehr vordergründiger Betrachtung könnte der Schluß gezogen werden, daß die Betonung der nationalen Aufgabe prinzipiell vergleichbar sei mit dem, was sich heute in anderen Satellitenstaaten Moskaus abzeichnet, nämlich einer Entwicklung zum „Nationalen Kommunismus". Dies aber wäre eine Verkennung der Funktion, die der Sowjetzone von Moskau zugedacht ist, wie auch der Bewegungsmöglichkeit, die das Ulbricht-Regime in der internationalen Politik hat. Die Politik der Sowjetzone — und auch ihre innere Entwicklung — ist zu verstehen als besondere Ausprägung der auf Deutschland gerichteten sowjetischen Politik. Im Hintergrund steht dabei die tief verwurzelte Auffassung der sowjetischen Kommunisten, den politischen Besitz Deutschlands als einen Schlüssel zur kommunistischen Revolution mindestens im europäischen Bereich — wenn nicht darüber hinaus — anzusehen und deshalb hierauf alle Kräfte zu konzentrieren. Nachdem die kommunistischen Umsturzversuche in den zwanziger Jahren gescheitert waren, hoffte Stalin, dieses Ziel durch die Niederwerfung des nationalsozialistischen Deutschland, sein Ausscheiden aus der Weltpolitik als einer eigenständigen politischen Größe und die Errichtung eines kommunisti-

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Wissenschaft und Politik, Köln, entnommen aus dem in Kürze erscheinenden Buch „Kommunismus International 1950— 1965 — Probleme einer gespaltenen Welt". sehen deutschen Staates zu erreichen. Er hoffte ferner, dabei Unterstützung zu finden in den Völkern und Staaten, die unter dem Nationalsozialismus und dem von ihm entfesselten Kriege gelitten hatten; die Vereinbarungen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges scheinen zunächst diese Hoffungen zu bestätigen. Erst die von ihm angewendeten Methoden im sowjetisch besetzten oder „befreiten" Teil Europas waren es, die seinen früheren Verbündeten den Blick dafür öffneten, daß sein Ziel nicht die Befreiung, sondern die Sowjetisierung Europas war. Dies und die nicht vorauszusehende Konsolidierung des nicht unter unmittelbarer sowjetischer Herrschaft stehenden Teiles Deutschlands zu einem demokratisch-freiheitlichen Rechtsstaat ließen auch den erneuten Versuch zur politischen Eroberung ganz Deutschlands scheitern.

Damit aber stand das von den Sowjets installierte und gestützte kommunistische System in der Sowjetzone unter einem dreifachen Druck:

1. Die Sowjets drängten auf die Erfüllung ihres Auftrages und beharrten zunächst darauf, hierbei Methoden anzuwenden, denen ausschließlich ihre Einschätzung von der deutschen Situation zugrunde lag (Ablehnung des „deutschen Weges zum Kommunismus"). 2. Die Situation in den deutschen Westzonen und später der Bundesrepublik machte die Tatsache offensichtlich, daß Ulbricht bestenfalls eine der Kräfte in der deutschen Politik, aber nicht die entscheidende ist, und die Bevölkerung der deutschen Sowjetzone widersetzte sich immer stärker der Umwandlung ihrer Lebensumgebung nach kommunistischem Rezept. Für diese Haltung bezog sie eine zusätzliche moralische Unterstützung aus der Tatsache, daß das kommunistische Argument, die Entwicklung sei eine Folge des verlorenen Krieges, deshalb unzureichend bleiben mußte, weil auch Westdeutschland den Krieg verloren hatte und dennoch eine Entwicklung nehmen konnte, die dem einzelnen Bürger ein hohes Maß an persönlicher Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sicherte. 3. Die Position der deutschen Sowjetzone ist deshalb nicht mit der anderer Mokauer Satelliten zu vergleichen, weil die Kongruenz zwischen Nation und kommunistischem Staats-und Gesellschaftsbereich nicht vorhanden und herzustellen war. Die Sowjetunion war — wenn ihr Ziel schon nicht in vollem Umfange zu erreichen ist — an einer Unstabilität in Mittel-und Westeuropa interessiert. Das wesentlichste Mittel hierzu war der Besitz eines Teiles Deutschlands;

das Problem, dieses Mittel einzusetzen, bestand jedoch darin, daß sich die kleine kommunistische Herrschaftsgruppe nicht nur nicht auf die Zustimmung ihrer Bürger stützen konnte, sondern deren — zum Teil aktiver — Gegnerschaft ausgesetzt war. Ulbricht hatte die Aufgabe, diese Gegnerschaft gegen das kommunistische System in Mittel-deutschland zu beseitigen, gleichzeitig der Bevölkerung ein Bewußtsein von der Zugehörigkeit zu einem eigenen deutschen Staat einzuprägen und schließlich alles zu tun, um diesen deutschen Staat in ein kommunistisches Gesamtdeutschland aufgehen zu lassen. Das Bemühen, diese Aufgabe zu lösen, charakterisiert die sechzehn Jahre — den Zeitraum einer halben Generation — seiner Tätigkeit in Mittel-deutschland.

Der Versuch einer Umformung des Menschen

Der Glaube der Marxisten an die Änderung des menschlichen Bewußtseins als unmittelbare und fast automatische Folge der Veränderung der gesellschaftlichen und materiellen Lebensbedingungen war bereits nach den ersten Jahren Erfahrung mit der Sowjetunion zusammengeschmolzen. Als politisches Dogma aber lebte er weiter. So erwiesen sich auch die Maßnahmen der Sowjetzonenführung als zwiespältig.

Das Ausbleiben der Wandlung des gesellschaftlichen Bewußtseins konnte zunächst begründet werden mit dem Nachwirken überholter — aus der Zeit des Kapitalismus herrührender — Bewußtseinshaltung. Man meinte aber, die junge Generation werde davon unbeirrt im neuen Geiste aufwachsen. Die spätere Erfahrung sollte lehren, daß auch diese Hoffnung unerfüllt blieb. Von der organisatorischen Seite her waren die Bedingungen für den Griff auf den Menschen allerdings perfekt: das Erziehungswesen war — neben der Justiz — der Hauptangriffspunkt der neuen kommunistischen Herrschaft. Die schnelle Entfernung aller Lehrkräfte, von denen das System befürchten mußte, daß sie nicht in ihrem Sinne tätig werden würden, die totale Verstaatlichung des Schulwesens, die Zentralisierung der Schulorganisation, die Durchdringung der Hochschulen in Organisation und Lehrkörper, die Durchsetzung des Unterrichtsstoffes mit dem dialektischen und historischen Materialismus und Marxismus-Leninismus, die Beseitigung der Freiheit der Forschung waren nur die äußeren Kennzeichen dieses Prozesses. Damit parallel vollzog sich der Kampf gegen die Religion und — in wechselnden Formen und mit unterschiedlicher Intensität — der Kampf gegen die Kirchen wie die Erschwerung der Beziehungen des einzelnen Menschen zu den konfessionellen Institutionen. Die Propagierung der Jugend-weihe, später auch der sozialistischen Eheschließung und der sozialistischen Namensgebung sollten Mittel sein, um die Kirche von ihrem traditionellen Platz im Leben des einzelnen Menschen zu entfernen und an dessen Stelle die Bindung an das Kollektiv zu setzen. Seinen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Verkündung der „Zehn Gebote der sozialistischen Moral" im Jahre 1958.

Der Ersatz ethischer und moralischer Werte durch Äußerungen eines „Kollektivgeistes" gelang jedoch nur unvollkommen. Die Tatsache, daß der junge Mensch heute an Jugend-weihe und Konfirmation gleichzeitig teilnehmen kann, ist ein Zeichen für die Grenzen, an die das System gelangt ist, nicht Merkmal einer „liberalen" Haltung gegenüber Religion und Kirche.

Der organisatorisch perfekt aufgebaute und psychologisch von den Erkenntnissen einer politisch beengten „Wissenschaft" abgeleitete Versuch der geistigen Erfassung des Menschen wurde begleitet und zugleich unterstützt durch die Etablierung und Wirksamkeit eines Terrorsystems von zuvor in Europa unbekannter Art. Neben dem äußeren, physischen Terror, von dem Zehntausende von Menschen an Leben und Freiheit unmittelbar betroffen wurden, stand die Errichtung einer Atmosphäre, die den einzelnen Menschen von seiner Umgebung isolieren und ihm das Gefühl vermitteln sollte, allein in einer für seine elementarsten Lebensäußerungen gefährlichen Umwelt zu stehen. Die Wirkung und Wirksamkeit des Staatssicherheitsdienstes beruht nicht so sehr auf der Tatsache, daß er jegliche Regung und Äußerung gegen das System zu ahnden vermochte, sondern vielmehr darin, daß er den Eindruck vermittelte, dazu in der Lage zu sein. Die Wirkung dessen war dreifacher Natur: Kurzfristig wurden Überlegungen und Regungen dem System feindlich gegenüberstehender Bevölkerungskreise in Zahl und Umfang so reduziert, daß der unmittelbar zu ihrer Repression eingesetzte Apparat Herr der Situation bleiben konnte. Mittelfristig wurde hierdurch der Anpassungsprozeß gefördert und beschleunigt, da nur wenige Menschen vermögen, auf die Dauer eine Haltung einzunehmen, die sie in Unfrieden mit ihrer Umgebung bleiben läßt. Mag diese Anpassung zunächst nur äußerlich vollzogen sein, so entsteht ein innerer Konflikt dadurch, daß das Verhalten nach außen nicht der inneren Haltung entspricht. Da aber das äußere Verhalten nicht ohne schwerwiegende Folgen für Existenz und physische Freiheit geändert werden kann, bleibt die Änderung der inneren Einstellung als einzige Möglichkeit, den Frieden „mit sich selbst" wiederzuerlangen. Diese Funktion des Terrors hat zur Anpassung wesentlich mehr beigetragen als jede politische Argumentation oder Veränderung der materiellen Situation. Langfristig hat der betonte und sichtbare Terror — besonders jener der Anfangszeit — die zusätzliche Wirkung, daß sein allmähliches Zurücktreten als politisches Führungsmittel, als Zeichen politischer Normalisierung, ja sogar als „Liberalisierung" gedeutet wird. Dies spiegelt sich besonders in jüngeren Diskussionen um die Situaton in Mittel-deutschland wider.

Kritische Phasen

Nach kommunistischer Auffassung stellt das Wirtschaftssystem die entscheidende Grundlage für die gesellschaftliche Situation und das gesellschaftliche Gefüge dar. Davon ausgehend war es vom kommunistischen Standpunkt nur konsequent, in kürzestmöglicher Frist die Grunderfordernisse kommunistischer Wirtschaft — Verstaatlichung und Zentralplanung — zu erfüllen. Der wirtschaftliche Effekt dieser Maßnahme war — und ist — negativ, das heißt, die Effizienz der Sowjetzonenwirtschaft bleibt nach übereinstimmender Auffassung sämtlicher Fachleute hinter dem zurück, was bei Anwendung privatwirtschaftlicher oder genossenschaftlicher Formen und sinnvoller Förderung statt starrer Planung hätte erreicht werden können. Für die kommunistische Zonenführung verschärft wurde dieses Problem zusätzlich durch die Einführung eines Arbeitsrechts in enger Anlehnung an das sowjetische Muster, eine systembedingte Maßnahme —• nach Verstaatlichung und Zentralplanung —, die jedoch in der traditionsbewußten deutschen Facharbeiterschaft heftige Reaktionen auslösen mußte. Die überhöhte Entnahme von Reparationen — auch aus der laufenden Produktion — durch die Sowjets erschwerte einerseits die wirtschaftliche Normalisierung, wirkte aber gleichzeitig andererseits — ohne daß dies (bis 1964) von der politischen Führung als Argument benutzt wurde — als Alibi für den wirtschaftlichen Rückstand, der besonders nach der Währungsreform gegenüber der Bundesrepublik für jeden sichtbar in Erscheinung trat.

Gestützt auf den Auftrag der Sowjetunion und unter deren Schutz, ohne Rücksicht auf die Reaktionen im nichtkommunistischen Bereich und unter Anwendung eines Höchstmaßes an Terror auf allen Lebensgebieten versuchte die Zonenführung, den Anschluß an das politisch-gesellschaftliche Niveau des Ostblocks, möglichst der Sowjetunion, zu erreichen.

Dieser Prozeß, der mit der II. Parteikonferenz der SED im Sommer 1952 begann, war aber abhängig von der Absicherung auch der Führungsmethoden durch die Sowjetunion — ein Problem, das deutlich sichtbar wurde, als diese nach dem Tode Stalins im Frühjahr 1953 Gegenstand des Machtkampfes in Moskau geworden waren.

Durch die auf Grund der II. Parteikonferenz getroffenen Maßnahmen (Kollektivierung der Landwirtschaft, Beseitigung der Restbestände des selbständigen Mittelstandes — auch in den freien Berufen —, verstärkter Kulturkampf und rigorose Verschärfung von Strafen bei mangelnder Planerfüllung), verschärft durch den Beschluß des Politbüros im Mai 1953, die Normen um durchschnittlich 10 Prozent her-aufzusetzen, war erstmals die taktische Grundregel verletzt, Maßnahmen nur gegen jeweils einen Teil der Bevölkerung durchzuführen, also mit differenzierter Zielrichtung zu operieren. Es war die Aufhebung oder Milderung bestimmter Maßnahmen (der II. Parteikonferenz), verbunden mit dem von Moskau befohlenen Eingeständnis der politischen Führung, in einigen Fragen Fehler begangen zu haben, die den Aufbruch der Bevölkerung am 17. Juni 1953 auslösten. Das Gefühl, das zu diesem Zeitpunkt die führenden Funktionäre neben der Furcht am meisten beherrschte, dürfte das der Überraschung darüber gewesen sein, daß es nicht die Alten und die „Kapitalisten" waren, die gegen das politische System aufstanden, sondern diejenigen, von denen es am ehesten Unterstützung und Hilfe erwartete: die Arbeiter und die Jugend. Der Einsatz der materiellen Machtmittel der Sowjetunion — neben dem Ausbleiben einer wirksamen Unterstützung aus dem Westen —, nicht der Einsatz des „Staatsapparates" (der in jenen Tagen zerbrochen war) oder gar die Überzeugungskraft der politischen Führung, haben die kommunistische Herrschaft über Mitteldeutschland vor ihrem Ende bewahrt.

Die Erfahrung der Bevölkerung im Jahre 1953 war die Ursache dafür, daß 1956, im Krisenjahr des Ostblocks, die Ereignisse in Ungarn und Polen in Mitteldeutschland keinen sichtbaren Niederschlag fanden. Allerdings hatte auch die politische Führung ihre politische Lektion gelernt und die Maßnahmen differenziert den Notwendigkeiten der Situation angepaßt und auf dogmatisch bedingte Bravourstücke verzichtet. Eine weitere kritische Phase entwickelte sich 1959 bis 1961, diesmal nicht von der inneren Situation ausgehend, sondern von dem Versuch Churschtschows, den sowjetischen Machtbereich an dem offenen Teil der Grenze nach Westen — nämlich in Deutschland — zu konsolidieren. Der Ursprung hierfür lag in einer auf Grund der weltpolitischen Lage notwendig gewordenen Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik. Unmittelbar richtete sich seine Aktion auf das Ziel, den Status quo in Europa, besonders in Deutschland, von den Westmächten — und den Deutschen selbst — garantiert zu bekommen und dabei gleichzeitig mindestens günstige Voraussetzungen für die endliche Beseitigung der bestehenden politischen Ordnung in Berlin und dessen Bindung an die Bundesrepublik wie den Schutz der Stadt durch die Westmächte zu schaffen. Ein Erfolg dieser Aktion würde gleichzeitig die Hoffnung der Bevölkerung in Mitteldeutschland auf Änderung ihrer Situation zerstören. „Friedensvertrag" und „Freie Stadt West-Berlin" waren die hierfür in Propaganda und Agitation benutzten Formeln. Berlin, die Bundesrepublik und die freie Welt widersetzten sich übereinstimmend und überzeugend diesem Bemühen. Während die sowjetische Führung offensichtlich sehr bald die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens erkannte, steigerte Ulbricht seine Agitation, möglicherweise, um die Sowjets an seine Politik zu binden, aber auch, um nach außen den Eindruck der Unaufhaltbarkeit dieser Entwicklung zu erwecken. Dies aber hatte eine Nebenwirkung, die sich zunächst nur zögernd, bald aber mit immer zunehmendem Tempo bemerkbar machte.

Fluchtbewegung und Mauer

Alle Bemühungen der Sowjetzonenführung, die Menschen geistig zu erfassen und sie zu dem von ihr gewünschten Verhalten und zu entsprechendem Einsatz zu zwingen, hatten ihre Grenze in der Möglichkeit gefunden, die Sowjetzone zu verlassen und sich damit dem Zugriff des Systems zu entziehen. Zwar stand seit 1951 — in wechselnden Formen — das „illegale Verlassen der Sowjetzone unter Strafandrohung (auch die Vorbereitung oder die Beihilfe hierzu), dennoch waren bis Mitte 1961 rund 3, 2 Millionen Menschen (= Bevölkerung Norwegens) nach Westdeutschland gegangen. Was für die Machthaber hierbei besonders besorgniserregend war, ist die Tatsache, daß der Anteil der Arbeiter und Personen bis zu 25 Jahren unter den Flüchtlingen prozentual größer war als die Anteile dieser Bevölkerungskreise unter der Gesamtbevölkerung. Noch schwerer aber wog die Fluchtmöglichkeit auf die psychologische Haltung, das „Bewußtsein" der Gesamtbevölkerung. Gewiß versuchte die große Mehrheit der Bevölkerung, in der gewohnten Umgebung ihrer Heimat leben zu können. Für einen Menschen, der sein in harter Arbeit erworbenes Eigentum, seinen Freundes-und Bekanntenkreis zurücklassen muß, ist die Flucht ein einschneidender Vorgang, der nicht ohne Not vollzogen wird. Aber es blieb immer die Möglichkeit — „wenn es gar nicht mehr anders ging" —, diese Umgebung zu verlassen. So stiegen die Flüchtlingszahlen immer dann an, wenn die politische Situation eine Entwicklung „zum Besseren" unwahrscheinlich erscheinen ließ: 1953, 1956 und erneut 1959, 1960. Im Sommer 1961 erreichte sie einen neuen Höhepunkt, als die Propaganda der SED mit der Forderung nach einem Friedensvertrag und der Veränderung des Status'Berlins die von der Bevölkerung als Drohung empfundene Voraus-sage verband, daß damit auch der „Republikflucht" ein Ende bereitet werde. Jetzt entschieden sich auch manche derjenigen zur Flucht, die andernfalls ihr Arrangement mit dem System vollzogen hätten. Die Absperrung der Sektoren-und Zonengrenze in Berlin und die Verstärkung der Demarkationslinie (im SED-Jargon „Staatsgrenze West") im August 1961 war ausschließlich die Folge der hemmungslosen Agitation der SED gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung, nicht der „Abwerbung", wie die kommunistische Propaganda glauben machen möchte.

Bemerkenswert ist dabei auch die Form der Grenzsicherung, die „Mauer" in Berlin. Zweifellos könnte der Effekt einer wesentlichen Verminderung der Flüchtlingszahl auch mit anderen technischen Mitteln erreicht werden; hier kommt es aber auch auf die psychologische Wirkung an, die in der Vermittlung des Eindrucks der Endgültigkeit und „Unüberwindlichkeit" besteht. Unverhohlen äußerten sich SED-Funktionäre nach dem Abklingen des ersten Schocks über die Mauer, daß die „Überzeugungsarbeit“ leichter geworden sei: zweifellos wird der oben beschriebene Anpassungsprozeß durch das Gefühl der Ausweglosigkeit verstärkt. Daß eine solche Situation auch Kräfte mobilisieren kann, findet seinen Niederschlag in der Tatsache, daß seit dem 13. August 1961 im Tagesdurchschnitt etwa 15 Menschen die Flucht gelingt und von einer wahrscheinlich um ein Vielfaches größeren Zahl die Flucht versucht wird, aber an den Sperrmaßnahmen scheitert.

Sozialisierung und Kollektivisierung

Die Sozialisierung der Wirtschaft ist bis an die Grenze des Möglichen, wenn auch zahlenmäßig nicht total, durchgeführt. Von der Industrie befanden sich Ende 1963 (gemessen an der Bruttoproduktion) nur noch 2, 5 Prozent in Händen privater Eigentümer. In der Landwirtschaft betrug der Sozialisierungsgrad in Form landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften und volkseigener Güter (gemessen an der landwirtschaftlichen Nutzfläche) 93, 6 Prozent. Der Außenhandel und das Banken-und Versicherungswesen sind zu 100 Prozent sozialisiert. Im Einzelhandel befanden sich (gemessen am Umsatz) noch 14, 2 Prozent in Privathänden und im Handwerk (an der Leistung gemessen) 63, 9 Prozent. Die Schwerpunkte innerhalb dieses Prozesses werden an folgenden Zahlen sichtbar.

Der Prozentsatz der in privatem Eigentum befindlichen Industriebetriebe sank von 74, 4 Prozent im Jahre 1950 auf 33, 3 Prozent im Jahre 1962. Im Jahre 1950 hatten die im Privateigentum befindlichen Industriebetriebe einen Anteil an den Arbeitern und Angestellten in der Industrie von 24, 3 Prozent. Diese Zahl sank bis 1962 auf 4, 6 Prozent ab. Gemessen an der Bruttoproduktion betrug der Anteil der im Privateigentum befindlichen Industriebetriebe im Jahre 1950 23, 5 Prozent und im Jahre 1962 2, 8 Prozent. Dieses zeigt mit aller Deutlichkeit, daß der Rest an Privatindustrie nahezu ausschließlich von kleinen Betrieben — sowohl an Beschäftigtenzahl wie an Umsatz — gestellt wird. Betrachtet man in diesem Zusammenhang die einzelnen Industriezweige, so zeigt sich, daß von den industriellen Privatbetrieben die Textilindustrie mit 16, 9 Prozent den relativ höchsten Anteil stellt, ihr folgt die Bekleidungs-und Näherzeugungsindustrie mit 12, 5 Prozent, die Nahrungs-und Genußmittelindustrie mit 12, 3 Prozent und die Holz-und Kulturwarenindustrie mit 11, 8 Prozent.

Ein hiermit durchaus vergleichbares Bild zeigt sich in der Landwirtschaft. Der Anteil der privaten landwirtschaftlichen Betriebe (gemessen an der landwirtschaftlichen Nutzfläche) sank von 74 Prozent im Jahre 1953 auf 6, 7 Prozent im Jahre 1962. Der entscheidende Schritt vollzog sich hier in den Jahren 1959 und 1960. Während private landwirtschaftliche Betriebe im Jahre 1959 noch einen Anteil von 51, 8 Prozent an der landwirtschaftlichen Nutzfläche Mitteldeutschlands hatten, waren es 1960 nur mehr 7, 8 Prozent. Dies erklärt, daß die Sowjetzone seit 1960 von einer „Vollsozialisierung in der Landwirtschaft" spricht. Diese Tendenz wird durch eine differenzierte Betrachtung des „Genossenschaftlichen Sektors" in der Landwirtschaft noch vertieft. Während bis 1959 die Zahl der LPG vom Typ III (der Mindeststufe der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften) mit 6 369 fast doppelt so hoch lag wie die Summe der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vom Typ I und II, stagnierte von da ab die Zahl der LPG vom Typ III, von denen es Ende 1962 6 351 gab; der gesamte Zuwachs an landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften entfiel auf die LPG der Typen I und II, deren Zahl Ende 1962 10 274 betrug. Dies unterstreicht deutlich die Tendenz zu den ausgeprägteren Formen „genossenschaftlicher Bindung, das heißt der unmittelbaren staatlichen Einflußnahme.

Im Einzelhandel verlief die Entwicklung völlig parallel. Der private Einzelhandel hatte 1950 einen Anteil von 90, 4 Prozent an der Gesamtzahl der Verkaufsstellen, im Jahre 1962 nur mehr 41, 4 Prozent. Dieser Bestand an privaten Einzelhandelsverkaufsstellen umfaßt jedoch in höherem Maße die umsatzschwachen Einzel-handelsbetriebe, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß 1950 der private Einzelhandel einen Anteil von 52, 8 Prozent am gesamten Einzelhandelsumsatz hatte, demgegenüber 1962 nur noch 14, 9 Prozent.

Der einzige Wirtschaftszweig, der von diesem Bild graduell abweicht, ist das Handwerk. Nachdem seit Ende 1952 ein ständig zunehmender Druck auf die Handwerker, Handwerks-Produktionsgenossenschaften beizutreten, ausgeübt und diesem Druck durch steuerliche und arbeitsrechtliche Maßnahmen Nachdruck verliehen wurde, steigerte sich die Zahl der Hand-

Werkerproduktionsgenossenschaften auf den zahlenmäßig gering erscheinenden Umfang von 2, 5 Prozent der Gesamtzahl der Handwerksbetriebe im Jahre 1962. Diese Zahl erscheint jedoch in einem wesentlich anderen Licht, wenn dabei berücksichtigt wird, daß diese 2, 5 Prozent der gesamten Handwerksbetriebe nicht weniger als 24, 6 Prozent aller im Handwerk Beschäftigten umfaßt. Der Anteil der Handwerkerproduktionsgenossenschaften an der gesamten vom Handwerk erbrachten Arbeitsleistung betrug 1962 26, 1 Prozent. Lediglich der Vollständigkeit halber sei vermerkt, daß der Außenhandel der sowjetischen Besatzungszone ganz überwiegend auf den Ostblock orientiert ist. Im Jahre 1955 hatten die Ostblockländer insgesamt einen Anteil von 79, 5 Prozent an der Einfuhr der Sowjetzone, im Jahre 1961 einen Anteil von 83, 1 Prozent. Dabei ist zu bemerken, daß sich der Anteil der Sowjetunion von 40, 5 Prozent im Jahre 1955 auf 53, 0 Prozent im Jahre 1961 erhöht hat, überwiegend zu Lasten der Einfuhren aus Polen und Rotchina.

Das System der Planwirtschaft

Der zweite politische Hebel in der Wirtschaft neben der „Sozialisierung" war die Einführung der totalen Planwirtschaft — seit 1950 zunächst in Gestalt der Fünfjahrpläne, seit 1958, der sowjetischen Planung angeglichen, durch einen Siebenjahrplan. Das Schwergewicht der Plan-ziele lag eindeutig bei der Ausweitung der industriellen Bruttoproduktion, hier wiederum am stärksten ausgeprägt in der Grundstoff-und Investitionsgüterindustrie. Der ganz überwiegende Teil der Produktionssteigerung war zu Lasten der Arbeitnehmer durch Steigerung der Arbeitsproduktivität vorgesehen. Während beim ersten Fünfjahrplan (1950 bis 1955; alle Zahlen bezogen auf das Jahr 1950) die industrielle Bruttoproduktion auf 193, 5 angehoben werden sollte, wurde nach eigenen Angaben der Sowjetzone dieses Ziel nicht ganz erreicht, sondern erbrachte ein Ist von 189, 6. Welchen Einfluß hirbei die Ereignisse des Jahres 1953 hatten, geht sehr deutlich daraus hervor, daß in der volkseigenen Industrie eine Steigerung der Arbeitsproduktivität je Industriearbeiter auf 172, 0 vorgesehen war, jedoch nur 154, 2 erreicht wurden. Für den Lohnfonds war eine Steigerung auf 131, 0 vorgesehen, tatsächlich aber stieg der Lohnfonds auf 168, 0. Die Löhne in der Industrie sollten auf 120, 0 ansteigen, tatsächlich jedoch erreichten die Löhne der Industrie 148, 0. Dieses Zurückbleiben der Arbeitsproduktivität gegenüber der Planung auf der einen Seite und das Ansteigen der Löhne und des Lohnfonds über den Plan hinaus auf der anderen Seite zwangen zu einer tiefgreifenden Änderung des ersten Fünfjahrplans.

Während für die genannte Planperiode Investitionen von insgesamt 28, 6 Milliarden DM Ost vorgesehen waren, enthielt der im Juni 1953 revidierte Plan nur noch einen Ansatz an Investitionen in der Höhe von 23, 1 Milliarden DM Ost. Dies macht deutlich, daß die vorgesehene Wachstumsrate im Grunde unrealistisch war und die Arbeiterschaft der Sowjetzone durch ihr Aufbegehren im Sommer 1953 die vorgesehene Ausbeutung durch die Wirtschaftsführung nicht unwesentlich abbremsen und ein für sie günstigeres Verhältnis zwischen Steigerung der Arbeitsproduktivität und Lohn-fonds erzwingen konnte.

Der zweite Fünfjahrplan mit der vorgesehenen Laufzeit von 1956 bis 1960 wurde durch die Umstellung auf den Siebenjahrplan ab 1959 nur teilweise durchgeführt. Seine Ziele waren offensichtlich zu hoch angesetzt, denn 1962 zeigten sich folgende Rückstände gegenüber den vorgesehenen Planzielen: bei Investitionen 25 Prozent, Industriebau 30 Prozent, Indu-strieproduktion 35 Prozent. Für dieses Zurückbleiben gegenüber dem Plan wurde diesmal die „offene Grenze" nach dem Westen, die „Abwerbung" und der „Menschenhandel" aus der Bundesrepublik verantwortlich gemacht. Als Konsequenz wurde für 1964 ein neuer Siebenjahrplan angekündigt, dessen Zielsetzung erheblich hinter dem ersten Siebenjahrplan zurückblieb: in der Industrieproduktion um 31 Prozent, in den Investitionen um 34 Prozent, in der Grundstoffindustrie um 34 Prozent, in der metallverarbeitenden Industrie um 37 Prozent, in der Konsumgüterindustrie jedoch um 73 Prozent und in der Lebensmittelindustrie um 49 Prozent. Daraus geht hervor, daß die Umstellung auf „einen neuen, solide fundierten Perspektivplan" (W. Ulbricht) überwiegend zu Lasten des Konsums und der privaten Lebenshaltung ging.

Im Zusammenhang hiermit muß die Bevölkerungs-beziehungsweise Arbeitskräfteentwicklung in der Sowjetzone gesehen werden. Die Wohnbevölkerung im sowjetisch besetzten Gebiet (Sowjetzone und Ost-Berlin) sank von 19, 06 Millionen Ende 1948 auf 17, 14 Millionen Ende 1962 ab. Dieses Absinken der Zahl der Gesamtbevölkerung wurde dadurch noch verschärft, daß sich der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter von 63, 3 Prozent im Jahre 1950 auf 57, 9 Prozent im Jahre 1965 verminderte. Unter diesen Voraussetzungen wurde es außerordentlich schwierig, die nicht mehr abzuwendenden Konsumbedürfnisse der Bevölkerung auch nur annähernd zu befriedigen und gleichzeitig den Westen (hier besonders Westdeutschland) „in historisch kurzer Frist" einzuholen und zu überholen. Daran änderte grundsätzlich auch nichts die Einführung des „Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" im Jahre 1963. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß darunter weder ein wesentliches Abweichen von dem bisher praktizierten System der zentralen Planwirtschaft verstanden wird noch die Einführung wirklich neuer Elemente in die Wirtschaftspraxis. Lediglich in sehr vorsichtiger Form wird die Möglichkeit einer Ausweitung der Dispositionsbefugnisse der Betriebe angedeutet.

Hierunter aber verbirgt sich ein anderes, für die politische Führung nahezu unlösbares Problem. Es hat sich bisher als schlechthin unmöglich erwiesen, eine volle Übereinstimmung zwischen den politischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen in der Praxis herbeizuführen. Gerade die Entwicklung der Sowjetzone Deutschlands zeigt deutlich, daß solche Phasen, in denen mit Nachdruck politische Ziele — die „sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft" — angestrebt wurden, gleichzeitig diejenigen waren, in denen der Zuwachs in der Wirtschaft unter dem Durchschnitt lag, während andererseits in solchen Zeiten, die Höhepunkte der wirtschaftlichen Entwicklung darstellten, gleichzeitig politisch „kurzgetreten" wurde. Seinen stärksten Ausdruck findet dieser Widerspruch in den an der Wirtschaftsführung und vor allem ihrer praktischen Durchführung beteiligten Personen. Trotz aller Anstrengungen war es bisher nicht möglich, einen Typ von Funktionären heranzuziehen, die gleichermaßen politisch überzeugt wie für die Wirtschaftspraxis fachkundig sind. Die Versuche der SED, wissenschaftlich ausgebildete Wirtschaftler durch ein zweijähriges Zusatzstudium auf einer SED„Zentralschule" zu gleichzeitigen Politfunktionären zu erziehen, erwiesen sich in der Praxis als wenig erfolgreich. In den meisten Fällen siegte der Wirtschaftsfunktionär und -praktiker über den Parteifunktionär. Die relativ große Fluktuation bei führenden Wirtschaftsfunktionären — auch im Staatsapparat — ist ein deutliches Zeichen dieser Situation.

Lebensstandard und politische Haltung der Bevölkerung

Angesichts dieser Voraussetzungen bleibt der Lebensstandard der Bevölkerung in Mittel-deutschland erheblich hinter der Entwicklung in der Bundesrepublik zurück. Zwar hat sich die Spanne zwischen den Aufwendungen für die Lebenshaltung (in der Mark-gleich-Mark-Rechnung) von 1958 bis 1961 zwischen der sowjetischen Besatzungszone und der Bundesrepublik etwas verringert, so zum Beispiel in der gehobenen Verbrauchergruppe von 145 auf 129 (Bundesrepublik gleich 100), in der mittleren Verbrauchergruppe von 133 auf 121, in der unteren Verbrauchergruppe von 126 auf 114. Dem steht jedoch gegenüber, daß der Nominal-lohn in der Bundesrepublik in größerem Umfang gestiegen ist als in der Sowjetzone. 1963 lagen die nominellen Bruttolöhne der Arbeitnehmer in der SBZ im Durchschnitt um rund 30 Prozent unter dem der westdeutschen Arbeitnehmer. Bei aller Problematik von Reallohnvergleichen zwischen verschiedenen Wirt-B schaftsgebieten (um so mehr, wenn sie über unterschiedliche Wirtschaftssysteme verfügen) stimmen die Berechnungen und Schätzungen nichtkommunistischer Fachleute darin überein, daß der Rückstand in der privaten Lebenshaltung gegenüber der Bundesrepublik etwa 40 Prozent beträgt. Dabei sind zahlenmäßig nicht ausdrückbare Unterschiede noch nicht berücksichtigt, wie die Tatsache, daß bestimmte Waren nur in sehr begrenzter Zahl oder zeitweilig gar nicht oder nur mit langen Lieferfristen erhältlich sind, ferner im allgemeinen das Sortiment in bestimmten Waren sehr viel begrenzter ist als in der Bundesrepublik und schließlich nicht unerhebliche Unterschiede in Qualität und Ausstattung bestehen.

Diese Unterschiedlichkeit in der wirtschaftlichen Situation und vor allem in den privaten Lebenshaltungsmöglichkeiten jedoch für spielt die politische Haltung der Bevölkerung nur eine recht geringe Rolle. Die verbreitete Vermutung, daß die Abneigung der Bevölkerung Mitteldeutschlands gegen das dort herrschende politische System wesentlich darauf beruhe, daß die wirtschaftliche Lage und die wirtschaftlichen Möglichkeiten in der Bundesrepublik günstiger seien, geht an der tatsächlichen Situation vobei. Dabei ist zunächst zu bedenken, daß sich in der Sowjetzone selbst eine relative Verbesserung gegenüber der jeweils zurückliegenden Zeit ergeben hat. Die staatliche Preismanipulation, die nach politischen Gesichtspunkten vorgenommen wird, gestattet es ferner, Veränderungen in der Struktur des Reallohns so zu gestalten, daß der positive Effekt propagandistisch mit zusätzlicher Deutlichkeit in Erscheinung tritt, überdies ist es dem System offensichtlich bei weiten Bevölkerungskreisen gelungen, die Tatsache, daß die Entwicklung in der Zone relativ langsam vor sich geht, dadurch aufzuwiegen, daß von ihr behauptet wird, sie stehe auf soliden Füßen. In jüngster Zeit wird dieses Argument durch Anmeldung einer Forderung von 110 Milliarden DM an die Bundesrepublik verstärkt. Dieser Betrag soll sich zusammensetzen aus den von der Zone an die Sowjetunion geleisteten Reparationen, außerdem — in Höhe von 30 Milliarden DM — den „Verlusten", die die Sowjetzone du-rch die „Abwerbung" aus der Bundesrepublik erlitten habe.

SED und Massenorganisationen

Uber dieser gesellschaftlichen „Basis" erhebt sich der gesellschaftliche überbau, dessen organisatorisches und ideologisches Gerüst die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" darstellt. Mit ihren 1 652 850 Mitgliedern im Januar 1963 (gleich 9, 5 Prozent der Gesamtbevölkerung) ist sie zahlenmäßig in der Lage, das gesamte Leben der Sowjetzone zu beherrschen und organisatorisch anzuleiten. Zwar ist die altersmäßige Zusammensetzung der Mitgliedschaft mit nur 10 Prozent 18— 25jährigen, dagegen aber 60 Prozent über 50jährigen Mitgliedern für eine in die Zukunft weisende Partei nicht gerade überzeugend, jedoch wird dieser Mangel weitgehend durch die Tatsache aufgehoben, daß die SED gleichzeitig Führungskader in sämtlichen Massenorganisationen stellt. Die anderen Parteien der „Nationalen Front" (die Ost-CDU, die Liberal-Demokratische Partei, die Nationaldemokratische Partei und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands) stellen keine eigenständige politische Größe dar, sie unterstützen vorbehaltlos die Politik der SED. Die Tatsache, daß nur etwa ein Drittel der Gesamtmitglieder der SED Arbeiter sind, wird von der Führung als ein Strukturmangel empfunden. Die Versuche, den Anteil der Arbeiter und der jüngeren Mitglieder an der Mitgliedschaft entscheidend zu erhöhen, sind jedoch praktisch gescheitert.

Von den gesellschaftlichen Organisationen spielt nach Zahl und Funktion die bedeutendste Rolle der „Freie Deutsche Gewerkschaftsbund", dessen Mitgliederzahl von 1950 bis 1963 von 4, 7 auf 6, 4 Millionen angestiegen ist. Hinsichtlich der Mitgliederzahl ist allerdings zu berücksichtigen, daß der Anteil nomineller Mitglieder beim FDGB höher sein dürfte als bei anderen Organisationen, da einerseits kaum die Möglichkeit besteht, sich der Aufforderung zum Beitritt zu widersetzen, andererseits das Organisationsleben des FDGB auf der Grundlage der betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen vielfach nur formelle Bedeutung hat. Der FDGB spielt jedoch eine erhebliche Rolle für die Durchsetzung der wirtschaftlichen Absichten der politischen Führung, besonders mit dem Ziel, die in den Wirtschaftsplänen vorgesehene Steigerung der Arbeitsproduktivität in die Praxis umzusetzen. Der FDGB betätigt sich ferner in den Betrieben als Organisator von inner-und zwischenbetrieblichen Produktionswettbewerben und der Ver-teilung von Prämien. Auch ist der FDGB Träger des gesamten Sozialversicherungs-und Versorgungswesens in der Sowjetzone.

Für die Erziehung und Erfassung der Jugend in der Sowjetzone hat die „Freie Deutsche Jugend" eine außerordentlich wichtige Funktion. Ihre Mitgliederzahl wurde Mitte 1963 mit 1, 3 Millionen angegeben (gegenüber 1, 7 Millionen im Jahre 1959.) Die Zahl von 1, 3 Millionen würde etwa 45 Prozent der Bevölkerung zwischen 14 und 25 Jahren entsprechen. Der FDJ kommt jedoch deshalb so große Bedeutung zu, weil sie entscheidende Funktionen im Erziehungswesen, hier vor allem über die Fortbildungsmöglichkeit junger Menschen in der Sowjetzone, innehat. Bei der Zulassung zur Oberstufe der Schule, der Universität und anderen weiterführenden Ausbildungseinrichtungen sind Vertreter der FDJ maßgeblich beteiligt. Der ungewöhnlich rigoros geführte Klassenkampf im Erziehungswesen schwächte sich seit Mitte der fünfziger Jahre unter dem Druck der Verhältnisse in der Sowjetzone etwas ab. Der empfindliche Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, vor allem auch solchen mit akademischer Ausbildung, zwang das System dazu, die vorhandenen Begabungsreserven möglichst restlos auszuschöpfen. Die Ablehnung einer weiterführenden Berufsausbildung allein wegen der gesellschaftlichen Position und politischen Vergangenheit des Vaters wurde stark eingeschränkt; auch die politische Aktivität des Bewerbers selbst war nicht mehr ausschließliches Kriterium für die Weiterbildungsmöglichkeit. Eine derartige Entwicklung mußte der Machtposition der FDJ Abbruch tun. Es wäre nicht ganz abwegig, zumindest einen Teil des • Mitgliederschwundes zwischen 1959 und 1963 auf diese Ursachen zurückzuführen. Auch dieser Vorgang ist nicht zuletzt ein Zeichen dafür, daß der Zwang wirtschaftlicher Fakten unter besonderen Umständen Abstriche an der politischen Praxis bewirken kann.

Militarisierung

Eine ständig zunehmende Bedeutung erlangte — besonders seit 1956 — der Ausbau und die Konsolidierung der Streitkräfte der Sowjetzone. Während von 1948 bis 1956 der Aufbau der Streitkräfte in verschiedenen Formen, nach außen als „Polizei" getarnt, durch den Aufbau der Kader vorbereitet wurde, traten die Streitkräfte seit Januar 1956 als „Nationale Volksarmee" offiziell in Erscheinung. Die aktiven Streitkräfte in einer Stärke von etwa 200 000 Mann werden ergänzt durch die „Kampfgruppen der SED" mit einer Stärke von etwa 320 000 Mann, ferner durch die Angehörigen der hauptsächlich mit militärischer Ausbildung befaßten „Gesellschaft für Sport und Technik" in Stärke von 450 000 Mann und schließlich durch die etwa 600 000 NVA-Reservisten.

Damit verfügen die aktiven Streitkräfte zusammen mit den kurzfristig militärisch mobilisierbaren Organisationen über eine Stärke, die weit über das zur Erfüllung der ihnen formell gestellten Aufgabe, nämlich „Verteidigung und Schutz der Heimat", erforderliche Maß hinausgeht. Die paramilitärischen Verbände werden außerdem durch häufige Übungen in ständiger Kampfbereitschaft gehalten.

In dieser Situation drückt sich die Tatsache aus, daß die kommunistische Erziehung wesentlich ergänzt, wenn nicht teilweise ersetzt worden ist durch eine Militarisierung des gesamten Lebens. Den Streitkräften und den paramilitärischen Organisationen ist außerdem die Funktion einer „politischen Schule der Nation" zugefallen. Diese Funktion ergibt sich konsequent aus der einzigen vorstellbaren Einsatzmöglichkeit, nämlich als Bürgerkriegsarmee revolutionäre politische Veränderungen in der Bundesrepublik herbeizuführen oder zumindest entscheidend zu fördern. Zu diesem Zweck wird in aller Härte und aller Konsequenz den Angehörigen der Streitkräfte ein „Feindbild" anerzogen, von dem aus eine Einsatzbereitschaft der Angehörigen der Streitkräfte zu erwarten ist. Erziehungsziel ist nicht die Revolution im kommunistisch ideologischen Sinne, sondern die Beseitigung der politischen Führungskräfte in der Bundesrepublik, denen „nationaler Verrat" vorgeworfen wird. Die „Deutsche Demokratische Republik" wird von den kommunistischen Machthabern nicht nur als „erster Arbeiter-und Bauernstaat auf deutschem Boden" dargestellt, sondern heute viel stärker als der Staat, in dem sich die „besten Traditionen des deutschen Volkes" verkörpern, und zugleich der Staat, der zur Lösung der „nationalen Aufgabe" allein berufen sein kann. Anfang 1963 wurde sogar juristisch die These entwickelt, daß die Sowjetzone eine völkerrechtliche Verpflichtung habe, auf die inneren Verhältnisse der Bundesrepublik im Sinne revolutionären (da. heißt kommunistischen) Umsturzes Einfluß zu nehmen. Bis an die äußerste Grenze ist in der jüngsten Zeit in der propagandistischen Terminologie der Begriff „kommunistisch" durch „national" ersetzt worden.

Die Bevölkerung und das Regime

Der Prozeß der organisatorischen und geistigen Erfassung der Menschen in Mitteldeutschland hat heute einen Stand erreicht, der es der politischen Führung ermöglicht — bei teilweisem Verzicht auf die Akzeptierung der weltanschaulichen Grundlagen durch den einzelnen Bürger —, die Bevölkerung zu einem Verhalten zu veranlassen, das der politischen Führung nicht akut gefährlich werden kann und darüber hinaus einen Einsatz nach außen — wenn auch nur mit begrenztem Ziel — ermöglicht. Der einzelne Bürger gewinnt über einen längeren Zeitraum ein unmittelbares Verhältnis zu seiner Arbeitsumgebung, das von der Propaganda erfolgreich dazu benutzt werden kann, ihn Stolz auf seine Leistung empfinden zu lassen. Diese sehr unmittelbare und menschlich verständliche Beziehung kann verhältnismäßig leicht in ein zumindest loyales Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat ausgeweitet werden. Dabei muß berücksichtigt werden, daß dies in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht eine Zustimmung zum politischen System — genauer: zum Marxismus-Leninismus — mit einschließt. Obgleich objektiv ein Staat wie der der „Deutschen Demokratischen Republik" nichts anderes sein kann als eine spezifische Ausprägung des Marxismus-Leninismus in einem bestimmten Gebiet und einer bestimmten historischen Periode, wird dies von den Betroffenen im allgemeinen subjektiv nicht empfunden. Im Gegenteil: nicht selten findet sich in einer Person eine ausdrückliche und betonte Ablehnung des kommunistischen Systems mit einer bewußten Bejahung der „Deutschen Demokratischen Republik" als Staat. Besonders unter jungen Menschen ist diese Haltung recht verbreitet; sie findet sich aber auch in anderen Bevölkerungskreisen, wozu sicher die Tatsache beiträgt, daß jeder Mensch eine Art natürlichen Bedürfnisses hat, sich in einem als Staat ausgeprägten politischen Gemeinwesen beheimatet zu fühlen. Daneben macht sich — besonders von der jungen Generation her — eine Erscheinung bemerkbar, die die Richtigkeit der marxistischen These bestätigt, daß jede Gesellschaft aus sich heraus den gesellschaftlichen Widerspruch entwickelt. Die junge Generation versucht, bewußt oder unbewußt, gegen die Widerstände der gesellschaftlichen Organisationen ihren privaten Lebensbereich zu erweitern und nach eigenem Ermessen auszufüilen. Die politische Führung verzichtet zur Zeit darauf, derartige Regungen rigoros und total zu unterdrücken.

Dafür hat sie ständig zu prüfen, wie weit dieser Raum gezogen sein kann, ohne für die Machtverhältnisse gefährlich zu werden.

Am deutlichsten zeigt sich dies in der Lockerung der Fesseln im kulturellen Bereich — andeutungsweise inder Literatur, ausgeprägter in der Musik und in der Architektur — sowie in der Tolerierung persönlicher Verhaltensweisen, die bisher als „kapitalistisch-dekadent"

und „westlich" strikt verpönt waren. Derartige Lockerungen des staatlichen und politischen Zugriffs auf den einzelnen Menschen und gewisse Wandlungen in den Formen, in denen dies geschieht, bleiben in der Sowjetzone weit hinter dem zurück, was in anderen europäischen Satellitenstaaten inzwischen Realität geworden ist. Für diese Erscheinung den Begriff „Liberalisierung" zu verwenden, wird jedoch weder der Sache noch dem Liberalismus gerecht. Solange der Bewegungs-und Entscheidungsmöglichkeit des Bürgers so enge Grenzen gezogen sind, wie dies heute der Fall ist — und eine qualitative Veränderung dieses Zustandes ist nicht vorauszusehen —, solange wird das Bemühen der Bürger um eine Erweiterung dieses Raumes der Freiheit gegen das tendenziell und weitgehend auch in der Praxis totale System der Erfassung des Menschen eine der Grunderscheinungen des Lebens in der Sowjetzone sein.

Das Streben nach Anerkennung

Mit dieser inneren Entwicklung der Sowjetzone korrespondieren Intensität und Methodik, mit der der kommunistische beherrschte Teil Deutschland für die sowjetische Außenpolitik und die Zwecke der kommunistischen Durchdringung von Gebieten außerhalb des sowjetischen Machtbereiches eingesetzt wird. Mos-kau und Pankow hatten um die Mitte der fünfziger Jahre offensichtlich erkannt, daß politisch-revolutionäre Methoden und Agitationsmaßnahmen in der Bundesrepublik wenig Wirkung zeigen. Der damalige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Deutschlands, Max Reimann, stellte fest, daß die Parole vom „Sturz des Adenauer-Regimes" der Bewußtseinslage der westdeutschen Bevölkerung — vor allem auch der Arbeiter — nicht gerecht wurde. Gleichzeitig ging auch in der Sowjetzone die Periode zu Ende, in der die Agitation fast ausschließlich mit sozialrevolutionären Parolen geführt wurde. Sie wurde abgelöst vor allem mit einer außenpolitischen Blickrichtung — durch die Parole von der „Koexistenz", dem friedlichen Zusammenleben von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen. Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik im Jahre 1955 zwang das Ulbricht-System, auch seinerseits die Bundesrepublik als einen nicht nur existierenden und von den Westmächten, sondern auch von der politischen Führungsmacht des Ostblocks anerkannten Staat zu akzeptieren. Gleichzeitig jedoch benutzte Ulbricht die Koexistenzparole, um das von ihm beherrschte politische Gebilde in Mittel-deutschland als einen deutschen Staat anerkannt zu bekommen. Dabei ging es ihm — und geht es heute — nicht in erster Linie um die internationale Reputation, sondern um die Möglichkeit, durch das internationale Renommee die Durchsetzungsmöglichkeit seiner Politik auf die eigene Bevölkerung zu vergrößern. Ein totalitäres System lebt im allgemeinen — und das Ulbricht-Regime in Mitteldeutschland im besonderen — von geliehener Macht, weil ihm die politische Zustimmung der Beherrschten fehlt. Die Absicherung durch die Sowjetunion war der eine Pfeiler dieser Macht, die Zustimmung der Bevölkerung und der von ihnen frei gewählten Regierung in der Bundesrepublik zu der Herrschaft Ulbrichts über die Sowjetzone sollte der zweite Pfeiler seiner Macht sein. Nicht nur nach allen völkerrechtlichen und psychologischen Gesetzen, sondern auch von der inneren Sachlogik her käme dies der Aufgabe des Zieles der Wiedervereinigung des deutschen Volkes in Frieden und Freiheit gleich.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Herbert Scheffler, geb. 1923, Ingenieur, bis 1961 Leiter des „Hauses der Zukunft" in Berlin, Mitarbeiter in verschiedenen Einrichtungen der politischen Jugend-und Erwachsenenbildung, leitender Redakteur der Zeitschrift europäisches iorum. Veröffentlichungen über Fragen des deutschen Kommunismus und der europäischen Einigungspolitik.