Dieser Beitrag erschien zuerst im Juli-Heft der Londoner Vierteljahreszeitschrift INTERNATIONAL AFFAIRS, die vom Royal Institute of International Affairs herausgegeben wird. Der Abdruck ist vom Verfasser autorisiert.
Am 8. Mai 1965, auf den Tag 20 Jahre nach der Unterzeichnung des deutschen Waffenstillstands, unterhielten sich General Eisenhower und Feldmarschall Montgomery vor der Fernsehkamera. Diese beiden Männer haben nicht nur entscheidend zum Sieg beigetragen, sie waren auch die ersten, die von ihren Ländern mit der Aufgabe betraut wurden, nach dem Siege in Deutschland die oberste Gewalt zu übernehmen. Zwar blieben sie nicht lange dort, weil sie zu anderen Aufgaben berufen wurden, aber sie waren die ersten.
General Eisenhower erinnerte an einen Tag im Jahre 1945, an dem Präsident Roosevelt mit ihm in Washington über seine Pläne für die Besetzung Deutschlands nach dem Sieg und für die Sicherung des künftigen Friedens sprach. Hier unterbrach ihn Feldmarschall Montgomery mit der Frage: „Können Sie sagen, ob das alles Ihrer Ansicht nach gut ausgegangen ist?" „Nein", erwiderte der General, „das nicht. Wir haben keinen Frieden. Der Kampf dauert an." (Die Worte sind nicht genauso gefallen, geben aber, wie ich hoffe, in etwa den Sinn wieder.)
1954 war ich Feldmarschall Montgomerys Stellvertreter bei der Militärregierung in Deutschland und wurde später selbst-ihr Chef. Ich blieb fünf Jahre in Deutschland und vertauschte 1949, als die deutsche Bundesrepublik gegründet wurde, das Amt des Militär-gouverneurs mit dem des Hohen Kommissars.
Meine Antwort auf die Frage des Feldmarschalls wäre anders ausgefallen. „Unter Berücksichtigung aller Umstände", hätte ich gesagt, „ist alles erstaunlich gut gegangen."
Wenn ich sage „unter Berücksichtigung aller Umstände", denke ich in erster Linie daran, daß die Pläne, die für die Behandlung Deutschlands nach dem Siege aufgestellt worden waren, auf einer Reihe ganz falscher Vorstellungen darüber beruhten, wo die eigentlichen Schwierigkeiten liegen würden. Von dieser Kritik müßten wir die Russen ausnehmen. Soweit man in die dunklen und unheimlichen Winkel von Stalins Hirn einzudringen vermag, muß man zugeben, daß er der größte Realist von allen war. Er war in der glücklichen Lage, zu wissen, was er selbst wollte. Die Männer aber, die aus den Vereinigten Staaten und England in Teheran, Quebec, Jalta und Potsdam zusammentrafen, hatten sich ein vollkommen falsches Bild von der Lage gemacht, die sie in Deutschland vorfinden würden. Darüber hinaus hatten sie sich völlig falsche Ziele gesteckt. Ich will damit keine Kritik üben und behaupten, daß wir alle klüger gehandelt hätten, wenn wir in ihrer Lage gewesen wären. Ich sage nur, wie ich es sehe. Gewiß, in Jalta begann wenigstens Churchill ein Licht aufzugehen, und in Potsdam breitete sich bei der britischen Delegation ein starkes Unbehagen aus; aber da war es schon zu spät, um wieder von vorne anzufangen. Außerdem war die Erleuchtung noch nicht bis zur amerikanischen Delegation durchgedrungen.
Von allen falschen Vorstellungen hatten die, denen sich Präsident Roosevelt hingab, die schwerwiegendsten Folgen, denn sie beherrschten das amerikanische Denken und Handeln in den ersten zwei sehr wichtigen Jahren nach dem deutschen Zusammenbruch. Roosevelt starb zwar einen Monat vor der Unterzeichnung des Waffenstillstands, aber der Einfluß seines starken Charakters blieb vorherrschend und sein in weltpolitischen Fragen völlig unerfahrener Nachfolger hielt sich — und das war sehr verständlich — an die gegebene Linie — jedenfalls so lange, bis er Zeit gehabt hatte, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Präsident Roosevelts „Großer Plan" für den künftigen Frieden der Welt beruhte auf einer die Vereinten Nationen beherrschenden russisch-amerikanischen Partnerschaft, wobei wahrscheinlich eine enge Freundschaft mit Großbritannien ausgeschlossen gewesen wäre. Hand in Hand mit dieser Konzeption ging eine harte Deutschlandpolitik. Die grausame Unmenschlichkeit des Morgenthau-Plans, Deutschland seine gesamte Industrie zu nehmen, ging zwar selbst Roosevelt zu weit, aber der Plan wurde eigentlich nur aufgeschoben und nicht fallen gelassen.
Frankreich, das weder in Jalta noch in Potsdam vertreten war, ist seitdem stets bestrebt gewesen, die Verantwortung für die Folgen dieser Konferenzen von sich zu weisen. Seine Einstellung zu Deutschland kam deutlich zum Ausdruck in der auf der Pariser Konferenz vom Mai 1946 erhobenen Forderung, das Ruhrgebiet von Deutschland abzutrennen und durch eine internationale Behörde verwalten zu lassen. (Bei der gleichen Konferenz schlug Byrnes für die Vereinigten Staaten die vollständige Entwaffnung Deutschlands auf 25 Jahre vor!)
Wenn man ein Urteil fällen will über das, was in jenen fünf Jahren geschah, in denen die oberste Gewalt in Deutschland in den Händen der Alliierten und nicht bei den Deutschen lag, so muß man sich den Hintergrund vor Augen führen, sich erinnern, wie es begonnen hatte.
Die Ziele der Besetzung wurden im Potsdamer Abkommen festgelegt. Kurz zusammengefaßt lauteten sie:
1. Abrüstung und Entmilitarisierung, Ausschaltung oder Überwachung der gesamten deutschen Industrie, die für die Kriegsproduktion benutzt werden konnte.
2. Das deutsche Volk sollte davon überzeugt werden, daß es eine totale militärische Niederlage erlitten habe.
3. Entnazifizierung.
4. Vorbereitung der „endgültigen Umgestaltung des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage und einer eventuellen friedlichen Mitarbeit Deutschlands am internationalen Leben".
Die Reihenfolge ist bezeichnend, ebenso das Wort „eventuell" im letzten Absatz.
Als ich im Juli 1945 nach Deutschland kam, wurde mir dies als Auftrag übergeben. Außerdem erhielt ich ein Exemplar des Buches von Brigadegeneral Morgan, Assize of Arms, das uns bei der Aufgabe, eine heimliche Wiederaufrüstung der Deutschen zu verhindern, als Leitfaden dienen sollte. Ich hatte zwei Jahre (1932/33) beim Völkerbund in Genf verbracht und mit eigenen Augen gesehen, wohin es geführt hatte, daß man Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nicht richtig behandelt hatte. Mein Vater, der damals eine Zeitlang Militärgouverneur gewesen war, sprach häufig mit mir über die Fehler und Probleme jener Jahre. „Die Vorstellung, daß man ein Land wie Deutschland auf unbestimmte Zeit niederhalten könne, ist töricht", pflegte er zu sagen. Oder: „Mit Bajonetten kann man beinahe alles machen, aber man kann nicht darauf sitzen. Diese Besetzung wird nicht lange dauern und wir müssen die Situation rasch wieder in Ordnung bringen.“ Die Alliierten waren untereinander aber uneinig, und die Amerikaner, was noch wichtiger war, kehrten Europa den Rücken; der Völkerbund schwankte in seiner Haltung hin und her. Das Ergebnis war Hitler. Wir durften die gleichen Fehler nicht noch einmal machen.
Als erstes aber — und zwar sehr rasch — entdeckte ich, daß die Männer an Ort und Stelle andere Dinge im Kopf hatten. Sehr bald erkannte ich, daß die Voraussetzungen, auf denen unsere Politik gegründet war, falsch waren und daß es auf die Ziele, die man erreichen wollte, überhaupt nicht ankam.
Die eigentliche Gefahr für die Zukunft Europas und für den Frieden der Welt war nicht Deutschland, sondern Rußland. Das unmittelbare Ziel hatte nicht zu sein, Deutschland zu zerschlagen — es lag ja schon am Boden —, sondern es wiederaufzubauen und dabei so klug wie möglich vorzugehen. Wir mußten Deutschland retten •— physisch vor Hunger, Schmutz und Not, geistig vor der Verzweiflung und vor dem Kommunismus.
Montgomerys beweglicher Verstand hatte das natürlich klar erkannt. Sein Hauptberater für nichtmilitärische Fragen war Gerald Templer, ein Mann, den ich immmer gern gehabt und geachtet hatte. Er war sich über die wahre Lage vollständig im klaren, und ich war froh, ihn als meinen Stellvertreter gewinnen zu können.
Die Besetzung Deutschlands war zum großen Teil geplant und vorbereitet worden, als die Feindseligkeiten noch im Gange waren. Ein großer Stab von Fachleuten für alle Sparten der Verwaltung war zusammengestellt worden, in dem die wichtigsten Posten mit hervorragenden Männern besetzt waren. Viele von ihnen haben später hohe Ämter in der Politik, der Diplomatie, der Industrie, im Erziehungswesen und anderswo bekleidet.
Als sie nach Deutschland kamen, wollten sie sich voller Begeisterung in die Arbeit stürzen, aber das erste, was sie tun mußten, war, sich völlig neu zu orientieren. Einigen gelang das nie.
In London dauerte die Neuorientierung noch länger. Zunächst lag die Verantwortung für die Militärregierung in Deutschland beim Kriegsministerium. Diese offensichtlich absurde Zuständigkeitsordnung wurde nach wenigen Monaten geändert. Das Foreign Office brauchte jedoch Zeit, um eine Organisation auf die Beine zu stellen, die diese ungeheure und noch nie dagewesene Verantwortung auf sich nehmen konnte. Außerdem hatte Außenminister Ernest Bevin persönliche Gründe, den Deutschen gegenüber besonders verbittert zu sein. Er konnte sich nur schwer damit abfinden, daß die Voraussetzungen, die von der Koalitionsregierung der Kriegszeit über-4 nommen und von Premierminister Attlee und ihm selbst in Potsdam endgültig bestätigt waren, falsch sein sollten.
Den Amerikanern gingen erst bei der Moskauer Konferenz vom März 1947 endgültig die Augen auf. Dort ließ Rußland keinen Zweifel daran, daß es nicht die geringste Absicht hatte, Deutschland, wie in Potsdam vereinbart, als wirtschaftliche Einheit zu behandeln oder den Deutschen zu erlauben, baldige Fortschritte auf dem Wege zur demokratischen Selbstverwaltung im Sinne der Westmächte zu machen. Nun endlich wurde den Vereinigten Staaten klar, daß sie auf unabsehbare Zeit für die Ernährung Deutschlands, die Verwaltung der amerikanischen Zone und für die Verteidigung Europas eine gewaltige Last würden auf sich nehmen müssen, wenn sie weiterhin den Dingen ihren Lauf ließen.
Es schien mir richtig, diese Hintergründe ausführlich zu schildern, denn nur wenn man sie kennt, kann man die Erfolge und das Versagen der alliierten Besatzungspolitik gerecht beurteilen.
Auf der negativen Seite unserer Arbeit war die Entwaffnung eine verhältnismäßig unkomplizierte und klare Aufgabe. Die Entmilitarisierung hingegen brachte viel mehr Komplikationen mit sich. Die Planer hatten lange Listen ausgestellt von Anlagen, die im Rahmen der Entmilitarisierung zerstört oder entfernt werden sollten. Es war nicht immer leicht, diese Listen mit dem, was tatsächlich an Ort und Stelle vorgefunden wurde, in Einklang zu bringen. Noch schwieriger war, daß sich die Frage geradezu aufdrängte, ob es angesichts des in Trümmern liegenden Deutschlands klug sei, gerade die Dinge zu zerstören, die Deutschland einen späteren wirtschaftlichen Wiederaufbau ermöglichen könnten. Hierfür waren Schiffswerften und Trockendocks ein besonders schlagendes Beispiel. Zwar waren sie während des Krieges dazu benutzt worden, um Schiffe für die deutsche Marine zu bauen und wieder instandzusetzen, und sie konnten auch wieder zu diesem Zweck benutzt werden; aber sie stellten auch ein sehr wertvolles Gut der deutschen Wirtschaft im Frieden dar. Eines war mir bei diesen Überlegungen sehr klar: Es war nicht unsere Aufgabe, den Deutschen Hindernisse in den Weg zu legen, um der britischen Industrie bei einem künftigen Konkurrenzkampf einen Vorteil zu verschaffen, und ich kann ehrlich sagen, daß wir in dieser Hinsicht sehr gewissenhaft waren. So blicke ich heute mit einer gewissen Befriedigung auf eine an sich unbedeutende Begebenheit zurück: Auf einigen Wiesen in der unmittelbaren Umgebung von Hannover standen Flugzeughallen, die im Zuge der Entmilitarisierung zerstört werden sollten. Mir wurde die Bitte vorgetragen, diese Hallen zu verschonen und sie den deutschen Behörden zu übergeben als Grundstock für eine Industrieausstellung. Auf diesem Platz steht die große Hannoversche Messe, die heute zu den bedeutendsten in Europa gehört und wesentlich zum deutschen Wiederaufbau beigetragen hat. Was die Reparationen betrifft, so kann man bestenfalls sagen, daß die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg an diesem Problem ebenso gescheitert sind wie nach dem Ersten, wenn auch nicht aus den gleichen Gründen. Es waren sorgfältig ausgearbeitete Pläne gemacht worden, deren Verwirklichung jedoch viel Zeit beanspruchte. Die Deutschen waren verständlicherweise nicht besonders hilfsbereit und brachten gegen die Entfernung irgendeiner bestimmten Anlage tausend Gründe vor. Die Sache zog sich viel zu lange hin und erregte natürlich Verstimmung und Groll. Ja, es ist überraschend, daß dieser Groll nicht noch viel heftiger war. Jedenfalls war er aber stark genug, um ein ernstes Hindernis bei der Verwirklichung unserer politischen Pläne zu bilden. Ich habe seit dem Kriege Gelegenheit gehabt, viele Stahlwerke und andere Fabriken in England zu besuchen, die von diesen Reparationen etwas erhalten hatten. Ich habe nicht einen Fall erlebt, in dem die Betriebsleitung bereit gewesen wäre, zu erklären, daß das Empfangene dem Betrieb wesentliche Vorteile gebracht habe. In mehr als einem Fall lag das aus Deutschland entfernte Gerät ungenutzt auf freiem Felde herum. In Deutschland waren die Stahlwerke und überhaupt die Industrie, denen man ihre überalterten Anlagen genommen hatte, gezwungen, moderne Maschinen anzuschaffen, die vorwiegend aus alliierten Mitteln finanziert wurden. Natürlich hoffen wir alle, daß es nie wieder einen großen Krieg geben wird, ja wir müssen es hoffen, wenn wir überleben wollen. Es ist deshalb unlogisch zu sagen, daß unsere Versuche, Reparationen aus Deutschland herauszuholen, uns eine Lehre sein sollten. Aber vielleicht darf man mit einer gewissen Berechtigung den Schluß ziehen, daß die ganze Angelegenheit sich im Grunde nicht gelohnt hat.
An die Frage der Entnazifizierung sind wir mit großem Ernst herangegangen. Ein Versuch, zu einer Übereinstimmung der vier Mächte über ein einheitliches Verfahren für ganz Deutschland zu gelangen, scheiterte bald an der Starrköpfigkeit der Sowjets. So führte jeder der Alliierten verschiedene Maßnahmen in der eigenen Zone durch. Die Anordnungen in der britischen Zone waren das Ergebnis der sehr sorgfältigen Planung eines begabten britischen Offiziers namens Heyman.
Sie waren meiner Ansicht nach gründlich genug, auf vernünftige Weise human und so weit wie möglich gerecht. Es wäre zweifellos besser gewesen, die ganze unangenehme Aufgabe den Deutschen selber zu überlassen, aber ihr Justizwesen war damals noch nicht genügend ausgebaut. Außerdem hätte die öffentliche Meinung in den alliierten Ländern damals kaum davon überzeugt werden können, daß diese Aufgabe befriedigend gelöst würde, wenn man sie Deutschen überließe.
Tatsächlich sind die Deutschen bei der Entnazifizierung selbst viel rücksichtsloser vorgegangen als die Alliierten. Ich persönlich bedauere, daß sie dieser Angelegenheit auch jetzt noch kein Ende bereitet haben.
Eine Frage, die die Alliierten zu lösen hatten, war die der Kriegsverbrechen; sie bereitete mir großes Unbehagen, hauptsächlich deshalb, weil die Prozesse sich viel zu lange hinzogen. Ich war sehr erleichtert, als wir der ganzen Geschichte ein Ende machten und die meisten Generäle begnadigten, die im wesentlichen nur deshalb im Gefängnis sitzen mußten, weil ihr Land den Krieg verloren hatte.
Damit komme ich zu einer allgemeinen Bemerkung über diesen ganzen Teil — den negativen, strafenden, Vergeltung übenden Teil — unserer Arbeit. Der große Fehler, den wir begangen haben — und es war ein sehr englischer Fehler —, war meiner Überzeugung nach, daß wir viel zu lange dazu gebraucht haben. Wir waren so sehr bemüht, das Richtige zu tun, gründlich und gerecht zu sein und beide Seiten zu sehen. Die russische Methode war das genaue Gegenteil. Als die russischen Truppen nach Deutschland kamen, stürmten sie durch die Städte, die Dörfer und Konzentrationslager, sie schossen sofort, ohne Gerichtsverhandlungen und ohne große Bedenken. Ihre Truppen plünderten und vergewaltigten, wie sie Lust hatten. Ihnen folgte ein Schwarm von Fachleuten, die Maschinen, die in Rußland benötigt wurden, mitnahmen. Die militärischen Befehlshaber wurden angewiesen, Reparationen aus der laufenden Produktion herauszuholen, obwohl gerade diese Form der Reparationen im Potsdamer Abkommen ausgeschlossen worden war. Ebenso plötzlich wie sie begonnen hatten, wurden die Plünderungen abgebrochen, die Disziplin wurde wiederhergestellt, für die Reparationen wurden Fristen gesetzt. Niemand wird dieses Verfahren empfehlen, keinesfalls würden wir es nachahmen wollen. Andererseits hat es zweifellos zu einer Art roher Gerechtigkeit geführt, den Russen selbst eine gewisse Befriedigung gewährt und im großen und ganzen weniger Haß ausgelöst als die Methoden, deren wir uns bedienten.
Vielleicht kann man die Behandlung eines besiegten Feindes mit der eines ungezogenen Kindes vergleichen. Die Strafe sollte rasch auf die Tat folgen, sie sollte weh tun, aber sie sollte nicht lange dauern.
Nicht ohne Erleichterung wende ich mich der konstruktiveren Seite unserer Arbeit zu. Noch während des Krieges war, wie ich schon sagte, ein großer Stab für die Verwaltung des besetzten Deutschlands aufgestellt worden. Darüber hinaus hatte die 21. Armeegruppe bei ihrem Vormarsch einen verhältnismäßig umfangreichen militärischen Stab an Ort und Stelle eingesetzt. Die Auswahl der Leute war nicht immer glücklich gewesen, die Versuchungen waren groß und es wurde viel kritisiert, zum Teil mit Recht. Die Situation hätte eine katastrophale Entwicklung nehmen können, sie wurde aber gerettet dank der Tatsache, daß die führenden Leute gut ausgesucht und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, außerordentlich tüchtig waren.
Am Anfang neigten wir alle dazu, zu viel zu tun. Der Engländer liebt die Rolle des Pro-konsuls und eignet sich auch ausgesprochen dafür, denn wir haben große Erfahrung darin.
Aber es war nicht unsere Aufgabe, die britische Zone in Deutschland zu kolonisieren, sondern das deutsche politische Leben wieder in Gang zu bringen. Den deutschen Verwaltungsapparat haben wir — von der rein örtlichen Ebene abgesehen — zu langsam wieder aufgebaut. Es darf aber wohl daran erinnert werden, daß wir aus London zu rascherer Arbeit überhaupt nicht ermutigt wurden. Ernest Bevin rühmte sich ein Mann zu sein, der Wort hielt. Er hatte das Potsdamer Abkommen unterzeichnet, und die Russen waren eindeutig gegen eine Zentralverwaltung in jeder Form. Die Franzosen waren in dieser Hinsicht ebenso unnachgiebig, und Bewin wollte sie nicht gern drängen.
Sehr bald trieben uns jedoch die Ereignisse dazu, Maßnahmen zur Wiederherstellung der deutschen Wirtschaft zu ergreifen, wie sie in Potsdam bestimmt nicht erwogen worden waren. Die Deutschen in der britischen und in der amerikanischen Zone hungerten, Lebensmittel mußten in großem Umfang eingeführt werden, und es lag auf der Hand, daß die deutsche Wirtschaft instandgesetzt werden mußte, dafür zu zahlen. Es konnte kaum sinnvoll sein, daß Amerikaner und Engländer schwer arbeiteten, um Lebensmittel für die Deutschen zu bezahlen, anstatt daß die Deutschen selbst arbeiteten und für ihre Lebensmittel selber aufkamen. Es wurde damals gesagt — vor allem von Byrnes in seiner Rede in Stuttgart im September 1946 —, Schuld an dieser Lage sei die russische Weigerung, Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu behandeln. Das russische Verhalten trug zwar zur Verschlimmerung der Lage bei, aber in Wirklichkeit hatte die Ostzone nicht so viele Lebensmittel, daß sie dem Westen in Hülle und Fülle hätte abgeben können, wenn nur die Russen entgegenkommender gewesen wären. Die Schwierigkeiten lagen tiefer. Der Krieg hatte die deutsche Wirtschaft ruiniert, und die Lage war unendlich verschlechtert worden durch die Abtrennung gerade jener Gebiete im Osten, die Deutschlands Kornkammer gewesen waren, sowie durch die brutale Vertreibung der Einwohner dieser Gebiete, wodurch die Bevölkerung der westlichen Zonen um fast 10 Millionen angewachsen wär. In dieser überaus ernsten Lage entstand die Partnerschaft zwischen den Besetzern und den Besetzten, eine Partnerschaft mit einem gemeinsamen Ziel — die deutsche Wirtschaft so rasch wie möglich wiederaufzubauen. Als ich in dieser Zeit einmal nach London fahren mußte, ersuchte ich um eine private Unterredung mit dem Handelsminister. Ich bat ihn mir zu versichern, daß die Regierung sich klar darüber sei, was wir in Deutschland machten. Begreife man, daß wir den Deutschen dazu verhalfen, später unsere Konkurrenten zu werden? Sir Stafford Cripps war, glaube ich, überrascht, aber er sah die Notwendigkeit ein. Das deutsche „Wunder" ist in erster Linie von den Deutschen selbst vollbracht worden, jedoch ohne die Hilfe der Amerikaner und Engländer wäre es nie in Gang gekommen. Die Deutschen sind stets bereit gewesen, das zuzugeben. Die Währungsreform von 1948 bot das Sprungbrett für diese wirtschaftliche Wiedergenesung. Manche behaupten, das Verdienst für diesen erstaunlich erfolgreichen Schritt gebühre den Amerikanern, andere sagen, den Deutschen. In Wirklichkeit war es eine gemeinsame Anstrengung, an der die Engländer ihren vollen Anteil hatten. Ich denke mit Dankbarkeit daran, daß ich sehr wertvolle Ratschläge aus London bekam; außerdem hatte ich in Deutschland sehr tüchtige Finanz-fachleute. Für die letzten Entscheidungen hat man mir aber ein hohes Maß von Freiheit gelassen. Das gleiche gilt für die Anweisungen, die ich für den Wiederaufbau des deutschen Verwaltungs-und Regierungsapparates erhielt. Die jetzige Verfassung der Bundesrepublik ist in fast unveränderter Form das 1949 von den Militärgouverneuren (Großbritanniens, Frankreichs und der Vereinigten Staaten) genehmigte Grundgesetz. Es hat sich bewährt — die Deutschen sind zufrieden damit. Auch diese Verfassung beruht auf der gemeinsamen Arbeit der Deutschen und der drei Militärgouverneure (und natürlich ihrer Stäbe). Die Franzosen wollten eine weitgehend dezentralisierte Verfassungsordnung mit starken Länderregierungen, über denen nur eine schwache Zentralgewalt stehen sollte. Die Amerikaner waren der Ansicht, die deutsche Verfassung solle so weit wie möglich ihrer eigenen nachgebildet sein. Wir, die wir weitgehend nach eigenem Ermessen handeln durften, waren lediglich darum bemüht, den Deutschen eine Verfassung zu geben, unter der sie zufrieden leben konnten und die gegen jene Art von Angriffen gefeit sein würde, die sich in der Vergangenheit als so unheilvoll für die deutsche Demokratie erwiesen hatten. Das Grundgesetz, das so entstand, spiegelt in seinen Hauptzügen meiner Ansicht nach den englischen Standpunkt etwas deutlicher wider, als den unserer Verbündeten. Es wäre aber falsch, unseren Anteil allzu hoch zu bewerten. Unsere Ideen haben sich nicht immer durchgesetzt, und wenn General Clay nicht gedrängt hätte, würden die Deutschen vielleicht heute noch über einige strittige Punkte diskutieren.
Das Wiederaufleben der Gewerkschaftsbewegung, besonders in der britischen Zone, erwies sich als Stabilisierungsfaktor von unschätzbarem Wert in der Zeit, in der ein Verwaltungsapparat auf höherer Ebene noch fehlte. Den Gewerkschaften, die unter ihren Führern ausgezeichnete Männer besaßen, konnten wir bei dem Wiederaufbau ihrer Organisation helfen, ohne in Whitehall Unruhe zu erregen. Ernest Bevin und seine Labour-Regierung freuten sich über die Fortschritte auf diesem Gebiet.
Es wäre noch über vieles andere zu sprechen: von unserer Arbeit im Erziehungswesen (es war eine große Genugtuung, daß die Deutschen Robert Birley ehrten, nachdem er das Land verlassen hatte); für Presse und Rundfunk (wir können wenigstens für uns in Anspruch nehmen, daß wir den Deutschen ihre erste wirklich nationale Zeitung gegeben haben) ; von der Neuordnung der deutschen Polizei (wir haben wirklich versucht, den in Deutschland völlig neuen Gedanken einzuführen, daß der Polizist der Freund des Volkes ist. Hingegen haben wir keinen Versuch gemacht, die deutsche Polizei nach unserem eigenen merkwürdigen System zu reorganisieren, und haben zugelassen, daß die Polizei Waffen trug, wie sie es immer getan hatte.)
Bei dieser ganzen Arbeit war man ständig der Kritik der Neunmalklugen ausgesetzt. „Finden Sie nicht, daß Sie Ihre Zeit verschwenden?" fragten sie. „Sie können doch nicht den Charakter eines Volkes ändern!"
Auf diese spöttischen Bemerkungen gibt es keine erschöpfende Antwort. Man darf aber dazu sagen, daß das deutsche Volk sich selbst in diese hoffnungslose Lage hineinmanövriert hat und daß es das genau wußte. Es war nicht fähig, ohne fremde Hilfe herauszukommen, überall dort, wo die Alliierten Männer von echter Integrität und hervorragenden Fachkenntnissen einsetzten, haben die Deutschen zunächst gerne unter ihnen, später mit ihnen zusammen gearbeitet. Natürlich haben wir Fehler gemacht. Im ganzen, glaube ich, überwiegen aber die positiven Leistungen, und auch die Deutschen sind dieser Ansicht.
General Eisenhower bezog sich in den Bemerkungen, die ich zu Beginn dieses Aufsatzes zitiert habe, auf die Gesamtbemühungen, den Weltfrieden zu sichern. In diesem Sinne ist sein Pessimismus verständlich, wenn ich auch sagen muß, daß die Gefahr eines Weltkrieges mir noch nie in meinem Leben geringer erschienen ist als heute. Aber dieser Aufsatz befaßt sich nicht mit einem so weiten Gebiet.
Ich habe nur versucht, die Pläne wieder ins Gedächtnis zu rufen, die die Alliierten für die Behandlung Deutschlands nach der Niederlage aufgestellt hatten, und in groben Zügen zu schildern, wie sie tatsächlich verwirklicht wurden. Nun ist es an der Zeit, das Ergebnis zu betrachten.
Westdeutschland ist heute ein blühendes und zufriedenes Land mit einer stabilen und demokratischen Regierung. Es ist ein treues Mitglied der NATO und ein aufrichtiger Partner der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (übrigens hat niemand den Wunsch, uns in der EWG zu haben, so deutlich geäußert wie die Deutschen). Es gibt keine wirklichen An-, Zeichen für ein Wiederaufleben des Militarismus oder des Nationalsozialismus. Während ich schreibe, reist unsere Königin durch Deutschland, wo sie offensichtlich mit aufrichtiger Verehrung und Freundschaft begrüßt wird, überdies haben wir die wahrhaft erstaunliche Entstehung der Freundschaft zwischen Westdeutschland und Frankreich miterlebt. In Ostdeutschland liegen die Dinge natürlich ganz anders. Die jetzige Teilung Deutschlands ist ein Teil des Preises, der gezahlt werden mußte. Eines Tages werden die Russen die Richtigkeit der Äußerungen meines Vaters einsehen; aber dieser Tag mag vielleicht noch auf sich warten lassen. In der Zwischenzeit sollten wir alles tun, damit am Tage der Wiedervereinigung Deutschland sich das neue Europa einfügt.
Wenn die Urheber der verschiedenen Vereinbarungen, die im Potsdamer Abkommen gipfelten, die heutige Lage hätten voraussehen können, so wären sie zweifellos in vieler Hinsicht damit sehr zufrieden gewesen.
Wirklichkeit sind die positiven Ergebnisse nur in sehr geringem Maße ihr Verdienst, während sie an den üblen Nachwirkungen hohem Maße schuld sind. In der überhitzten Atmosphäre des Sieges ist kein Platz für staatsmännische Klugheit. (Andererseits ist man noch viel klüger, wenn man im nachhinein urteilt.)
Wem gebührt also das Verdienst? Ein Teil sollte — das ist nur recht und billig — der den angelsächsischen Völkern innewohnenden Anständigkeit und ihrer christlichen Nächstenliebe zugeschrieben werden. Angesichts des hungernden Deutschlands erwachte ihr Gewissen, und das war der Anfang. Ein großer Teil gebührt dem deutschen Volk; wie vielschichtig sein Charakter ist, wieviel Erschreckendes und wieviel Gutes enthält er!
Eine Eigenschaft wird ihm niemand absprechen — den Mut. Dieser sein Mut ist in der Tat ein wesentlicher Faktor gewesen.
Nationaleigenschaften sind die Grundlage für wunderbare Erfolge. Es gibt aber keine Wunder, wenn nicht die Männer da sind, die ihr Volk führen. Blicke ich auf die letzten 20 Jahre zurück, so habe ich keinerlei Zweifel, daß das Handeln bestimmter führender Persönlichkeiten entscheidend zu der Wendung zum Guten beigetragen hat. Ich will nur eine erwähnen: Konrad Adenauer. Er ist ein echter Deutscher mit einem wirklich komplexen Charakter; aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Deutschland, Europa und die Welt allen Grund haben, für die Klugheit des „alten Fuchses" in diesen kritischen Jahren dankbar zu sein. Ich erwähne ihn, weil er wirklich herausragte. Neben ihm hat es bei den Deutschen sowie bei den Alliierten aber noch viele führende Männer gegeben, die eine entscheidende Rolle gespielt haben. Das eigentliche Wunder besteht darin, daß sie gefunden werden konnten, als man ihrer am meisten bedurfte.
Es gibt heute Leute, die uns sagen, Gott greife in die Angelegenheiten der Menschen nicht ein und es sei falsch, das von ihm zu erwarten. Wenn ich mit meinem schlichten Verstand auf Potsdam im Jahre 1945 zurückblicke und dann auf Westeuropa im Jahre 1965 schaue, so scheint es mir doch, daß hier eine klügere Macht am Werke gewesen ist als die der Menschen.