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Das demokratische Regime der Bundesrepublik Prinzipien, Institutionen, Probleme | APuZ 30/1965 | bpb.de

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APuZ 30/1965 Das demokratische Regime der Bundesrepublik Prinzipien, Institutionen, Probleme

Das demokratische Regime der Bundesrepublik Prinzipien, Institutionen, Probleme

Heinz Laufer

Seit das totalitäre Regime der Nationalsozialisten institutionell zerstört wurde, die alliierten Siegermächte im Potsdamer Abkommen ihre Demokratisierungsziele verkündet haben und die Bundesrepublik Deutschland als ein demokratisch geordnetes Gemeinwesen errichtet worden ist, ist die Demokratie zum neuen Zauberwort geworden. Demokratie ist das Kennzeichen der Regierungsweise von Regierung und Parlament; sie wird zum Postulat für Verwaltungshandeln und Rechtsprechung; sie dient zur Legitimation der politischen Parteien und pluralistischen Gruppen; sie wird zum Lebensraum der Kommunikationsmittel; der politischen Bildung ist sie Motiv und Ziel. Das Zauberwort „Demokratie", zum Schlüssel des neuen politischen Lebens geworden, tritt dabei in zahlreichen Wortverbindungen auf. Man spricht von der parlamentarischen Demokratie und der Präsidialdemokratie, von der Kanzler-und von der Parteiendemokratie, von der plebiszitären und repräsentativen Demokratie, von der Fernsehdemokratie und der Interviewdemokratie. Demokratie ist Mode geworden, und es ist chic, „in Demokratie zu machen". Prüft man jedoch einmal kritisch, welches Verständnis solchem mehr oder weniger ausgeprägtem Demokratieenthusiasmus zugrunde liegt, so wird man sehr bald feststellen können, wie oberflächlich das Zauberwort verwendet wird, wie unzureichend das Wissen über und das Bekenntnis zur Demokratie ist und wie wenig der politische Habitus der Bürger davon erfaßt wird.

Das schillernde Demokratieverständnis Das Verständnis dessen, was Demokratie ist, ist in der Bundesrepublik schillernd. Sehr häufig setzt es bei der „Macht" an und bestimmt Demokratie als eine Herrschaftsform, in der die Macht auf verschiedene Institutionen verteilt sei, wobei sich die Amtsinhaber der einzelnen Institutionen gegenseitig kontrollieren — horizontale Kontrolle —, und in der die Bürger die sogenannten „Machtträger" zu-In sätzlich kontrollieren — vertikale Kontrolle. In solchem Verständnis gilt der Wechsel der Machthaber als Wesensmerkmal der Demokratie. Die Macht wird nicht dauernd von einer Person oder einer Personengruppe, sondern immer nur befristet ausgeübt. Ist die Frist abgelaufen, so muß entweder der bisherige Machthaber in seinem Amt bestätigt werden oder es tritt ein Wechsel der Amtsinhaber ein. Eine andere Auffassung der Demokratie orientiert sich an der Idee der Mehrheit und identifiziert Demokratie mit der Herrschaft der Mehrheit. Deren Entscheidung gilt als richtig und ist verbindlich für alle Bürger. Wieder eine andere Auffassung sieht als entscheidendes Kennzeichen der Demokratie den Pluralismus der politischen Gesellschaft an, in dem alle politischen, religiösen, ökonomischen und sozialen Ideen sich ungehindert ausbreiten, als Gruppen organisieren und am Kampf um Mehrheit und Macht beteiligen können. Demokratie wird in solchem Verständnis aufgefaßt als ein System von Institutionen oder als eine Herrschaftsform. Alle derartigen Auffassungen von Demokratie, die in einer monistischen Art und Weise die Demokratie bestimmen wollen, leiden jedoch daran, daß sie die Demokratie nur verkürzt sehen. Indem sie umreißen, was nach ihrem Verständnis Demokratie ist, erliegen sie der Gefahr, nur einen Aspekt aus einem umfassenden politischen Komplex herauszugreifen und ihn zu verabsolutieren. Dieser Gefahr erliegen die Vertreter genannter Demokratieauffassungen in doppelter Weise: methodisch und sachlich.

Demokratie: Form oder Materie Zunächst muß man fragen, was unter Demokratie in methodischer Hinsicht eigentlich zu verstehen ist. Ist unter Demokratie eine Staatsform, eine Regierungsform oder eine Herrschaftsform zu verstehen? Oder ist Demokratie ein Regierungssystem? Versteht man unter Demokratie, wie dies weitgehend der Fall ist, eine Form, so gerät man damit unweigerlich in das seit Aristoteles die philosophischen Wissenschaften beschäftigende Materie-Form-Problem. Unter Demokratie wäre dann die eine Materie gestaltende Form zu verstehen, die jene erst zur Realität werden läßt. Soll dem so sein, muß man fragen, was unter Materie in diesem Fall verstanden werden kann. Sind die Bürger die Materie? Oder die Institutionen, der staatliche Apparat? Oder das Volk auf einem bestimmten Territorium? Und was kann exakt unter Form verstanden werden? Das Vermächtnis der Demokratie als einer Form von etwas scheitert zum einen daran, daß die Materie kaum zu bestimmen ist, und vor allem daran, daß die Trennung von Form und Materie im sozialwissenschaftlichen Bereich der Realität nicht gerecht wird, Zwar enthält auch die Demokratie Form-elemente, jedoch ist sie — wie gleich noch zu zeigen sein wird — mehr als Form. Sie nur als Form zu betrachten, kann — wie das Beispiel der Weimarer Republik zu zeigen vermag — fatale Folgen haben. Ist Demokratie nämlich nur Form, so vermag sich die Materie ihr leicht zu entziehen, denn im sozialen Bereich gibt es keinen Zwang von der Form auf die Materie, Innerhalb — oder besser, unterhalb — der Form kann sich etwas von der Form völlig Verschiedenes entwickeln und diese dann sehr rasch zerbrechen. Wollen wir also wissen, was Demokratie eigentlich ist, müssen wir nach einem Begriff suchen, der über die Form hinausgeht. Dafür bietet sich der englische Begriff government an.

Demokratie: der Typ eines politischen Regimes In der englisch-amerikanischen Tradition, der die Welt die moderne Demokratie verdankt, ist Demokratie ein Typ von government. Was dies bedeutet, kann nicht mit einem einzigen deutschen Wort ausgedrückt werden. Government bedeutet nämlich mehr als Regierung oder als Herrschaft; unter government ist sowohl der Regierungsbereich als auch die Regierungsgewalt zu verstehen, aber auch die Leitung und die Kontrolle. Government umfaßt somit den gesamten Bereich politischen Geschehens in einem Gemeinwesen. Zum government gehören Prinzipien, nach denen die politische Gesellschaft gestaltet wird, gehören die politischen Institutionen, deren Amtsinhaber, das Handeln und Verhalten der Amtsinhaber, die Rechtsnormen, innerhalb deren sich das politische Geschehen vollzieht, die politisch-sozialen Verhaltensweisen der Bürger, der Prozeß, in dem politische Entscheidungen entstehen und in dem sie durchgesetzt werden. Wenn wir nun schon für das englische Wort government keinen rein deutschen Begriff finden können, so soll wenigstens ein Lehnwort, das sich in der deutschen Umgangssprache schon seit langem eingebürgert hat, als adäquater Ausdruck vorgeschlagen werden: das Regime. Dieser Ausdruck mag bei manchem Leser unangenehme Assoziationen hervorrufen. Doch er scheint am sachgerechtesten die Bedeutung des englischen government wiederzugeben. Erfaßt doch der Begriff Regime sowohl alle politischen Institutionen und deren Leitung durch die Amtsinhaber als auch die gesamte politische Ordnung und die politische Verhaltensweise. Begreift man Demokratie als einen politischen Regimetyp, so kann man schon sprachlich zum Ausdruck bringen, daß Demokratie nicht auf das Machtproblem oder die Technik des Machterwerbs, nicht auf die Mehrheitsentscheidung, nicht auf Institutionensysteme oder soziale Befunde, wie den Pluralismus, beschränkt ist. Das demokratische Regime umfaßt die gesamte politische Existenzweise eines Volkes.

Haben wir somit für das methodologische Problem einen Lösungsvorschlag unterbreitet, so müssen wir jetzt fragen, ob das demokratische Regime ein für alle Mal unwiderruflich definiert werden kann. Gibt es ein einmaliges Modell des demokratischen Regimes, das Richtschnur für politisches Handeln und Verhalten, Maßstab , für die Beurteilung politischer Phänomene sein kann?

Die permanente Wandlung des demokratischen Regimes Die Völker stehen im Prozeß der Geschichte und sind somit dauernden Veränderungen unterworfen. Ihre Regime sind zeitlich begrenzt und stehen ebenfalls im Zyklus der Veränderungen. Während aber gewisse Regimetypen durch die innergesellschaftlichen Veränderungen und die außergesellschaftlichen Anforderungen der Zeit zusammenbrechen, zeichnet sich das demokratische Regime durch seine Dynamik und Anpassungsfähigkeit aus. Es allein ist offen für die zahlreichen permanenten Veränderungen in der politischen Gesellschaft, ist in der Lage, solchen Veränderungen gerecht zu werden, ohne dabei selbst in eine Krise zu geraten. Das impliziert jedoch auch, daß das demokratische Regime nicht ein für alle Mal auf ein starres Modell festgelegt wird, daß seine Institutionen nicht unabänderlich sind, daß in ihm nicht unter allen Umständen an tradierten Rechtsnormen oder überkommenen Verhaltensweisen festgehalten werden muß, wenn sie sich durch die historischen Veränderungen als hinfällig erwiesen haben. Aus solchem Anpassungsvermögen und solcher Offenheit folgt jedoch auch, daß das demokratische Regime von denen, die in ihm leben, stets erneut über- wenn nicht gar in Frage gestellt werden muß. Jede Generation muß die Demokratie neu durchdenken; muß untersuchen, inwieweit die Prinzipien ihres Regimes noch Geltung haben oder ob sie vielleicht zu leeren Formeln herabgesunken sind; muß prüfen, ob die Institutionen und Organisationsweisen ihrer demokratischen Ordnung noch funktionieren und den Anforderungen der Bürger an eine „gute Politik“ noch gerecht werden. Diese Aufgabe hat der vor einiger Zeit verstorbene deutsch-amerikanische Politik-Wissenschaftler Sigmund Neumann treffend formuliert, als er sagte: „Jede Generation muß ihre eigenen fruchtbaren Wege der Erfüllung finden und damit die Probleme der Welt, des Staates und des Menschen erneut in Angriff nehmen."

In der nachfolgenden Darstellung soll zum demokratischen Regime der Bundesrepublik kritisch und prüfend Stellung genommen werden. Zunächst sollen die Prinzipien des demokratischen Regimes behandelt und gefragt werden, inwieweit diese Prinzipien bei uns beachtet oder vernachlässigt weiden. Von solcher Grundlegung her werden die Grund-prüft, rechte, das Bundesverfassungsgericht, Probieme des Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung als Strukturelemente der modernen Demokratie dargestellt werden. In Abschnitten über die Parteiendemokratie und das Wahlsystem sollen die Fragen beantwortet werden, die die fortschreitende Egalisierung des demokratischen Regimes und die immer stärker werdende Komplizierung der Lebensverhältnisse mit sich gebracht haben.

Die Betrachtungen können weder vollständig sein in dem Sinne, daß sie eine perfekte Lehre des demokratischen Regimes oder eine durchgängige analytische Beurteilung des Funktionierens dieses Regimes in der Bundesrepublik bieten, noch können sie die zahlreichen Probleme, die angeschnitten werden, erschöpfend behandeln. Es soll nur der Versuch unternommen werden, unter den Aspekten einer Theorie der Demokratie, wie sie in der Politischen Wissenschaft erarbeitet wurde, das eigene politische Regime, das unser aller Schicksal ist, punktuell zu sichten und gegebenenfalls einen kleinen Beitrag zu seiner Stabilisierung zu leisten.

1. Die Prinzipien des demokratischen Regimes

Unter drei Gesichtspunkten sollen die Prinzipien des demokratischen Regimes betrachtet werden:

a) unter dem Aspekt der zivilisatorischen Voraussetzungen, b) unter dem Aspekt des politischen Selbstverständnisses, c) unter dem Aspekt der geistigen Gemeinsamkeit. a) Die zivilisatorischen Voraussetzungen der Demokratie Soll ein demokratisches Regime voll funktionieren, so müssen bestimmte zivilisatorische Voraussetzungen gegeben sein. Deren wichtigste sind: allgemeiner Alphabetismus, Zivilisationssättigungsgrad, Kommunikationsmöglichkeit. In der Bundesrepublik sind diese zivilisatorischen Voraussetzungen nur teilweise erfüllt, zum Teil sind sie im Entstehen, zu einem kleineren Teil müssen sie erst noch geschaffen werden.

In der Bundesrepublik kennen wir so gut wie keinen Analphabetismus mehr, versteht man darunter die Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einigermaßen lesen, schreiben und rechnen kann. Doch erfüllen solche Minimalkenntnisse noch nicht die Voraussetzungen eines allgemeinen Alphabetismus. Dieser erfordert vielmehr noch bestimmte Kenntnisse über die politische Ordnung, ihre Institutionen und den politischen Prozeß, die Fähigkeit, politische Grundprobleme zu erkennen und sich für politische Fragen — in vereinfachter Form dargeboten — in einer bestimmten Weise entscheiden zu können. Alphabetismus bedeutet, ein Gespür für politische Wahrhaftigkeit und Lüge zu haben, rational motiviertes politisches Handeln von irrational motiviertem politischen Handeln unterscheiden zu können. Derartige Fähigkeiten gründen in langen geistigen und politischen Traditionen und beruhen auf einem gut ausgebauten politischen Bildungssystem. Insofern aber, als geistige und politische Tradition für die jeweils lebenden Generationen immer ein Geschenk ist, ist der derzeitigen politischen Gesellschaft der Bundesrepublik dieses Geschenk versagt geblieben. Wird doch unsere Geschichte dadurch charakterisiert, daß es ihr an demokratischer Tradition mangelt. Unsere Geschichte hat weder einen revolutionären noch einen evolutionären demokratischen Durchbruch aufzuweisen. Wohl gibt es auch bei uns bemerkenswerte Ansätze dafür, doch bleiben sie stets infolge widriger innerer oder äußerer Umstände in den Anfängen stecken.

Das demokratische Regime der Bundesrepublik beruht zunächst nicht auf eigener politischer Leistung, sondern ist das Werk der westlichen Alliierten. Erst das Ende des totalitären Regimes der Nationalsozialisten vor 20 Jahren eröffnete die Chancen für eine demokratische Ordnung. Im Bemühen, diese Chancen zu nutzen, wird das Problem der mangelnden Tradition und damit das des Analphabetismus sehr deutlich. Wurde und wird doch in weiten Kreisen der bundesrepublikanischen Bevölkerung der 8. Mai 1945 als „Zusammenbruch", als „Niederlage", als „Schmach" empfunden und nicht als Tag einer neuen Freiheit, als Ende eines verbrecherischen Regimes, als Beginn einer guten Ordnung. Die Fehlbeurteilung des 8. Mai 1945, das widerstreitende Verhältnis zu den Männern und Frauen des Widerstandes gegen das Nazi-Regime zeigen, daß noch erhebliche Bestände von Analphabetismus in der Bundesrepublik vorhanden sind. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit der noch vorhandene Analphabetismus durch politische Bildung wirkungsvoll vermindert werden kann. Bekanntlich sind die institutionellen Anstrengungen in diesem Bereich bei uns gewaltig. Vielleicht weniger aus dem klaren Wissen heraus, daß die Voraussetzung des Alphabetismus eine conditio sine qua non des funktionierenden demokratischen Regimes ist, als aus dem Bemühen, den westlichen, insbesondere den amerikanischen und englischen Verbündeten (und ehemaligen Demokratieinitiatoren) zu gefallen. Doch bleibt trotz des gewaltigen politischen Bildungsapparates offen, inwieweit dieser die fehlende geistig-politische Tradition ersetzen kann, inwieweit nicht häufig eine Fehlbildung durch Wissensüberfütterung erzielt wird, als daß man auf eine Bildung des politischen Habitus, der demokratischen Bürgertugenden hinarbeitet. Ich würde deshalb sagen, daß schon die erste Voraussetzung des demokratischen Regimes, der Alphabetismus, in der Bundesrepublik nicht hinreichend erfüllt ist und daß Anlaß besteht, auf Abhilfe zu sinnen.

Die Voraussetzung des Zivilisationssättigungsgrades bedeutet, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einmal auf Grund ihrer formalen Bildung (Auswirkung des Alphabetismus) und zum anderen auf Grund der Freisetzung von persönlichen Kräften in der Lage und willens ist, sich an den Entscheidungen über die politische Ordnung zu beteiligen.

Eine politische Gesellschaft hat den Zivilisationssättigungsgrad dann erreicht, wenn die Bürger sich nicht mehr in einem dumpfen Untertanendasein willig unter die Entscheidungsakte der Obrigkeit beugen (mag diese auch noch so gut für ihre Untertanen sorgen), sondern den Anspruch erheben, an den politischen Geschäften beteiligt zu werden. Der Zivilisationssättigungsgrad ist dann gegeben, wenn der auf den Bürgern lastende Existenz-druck so gemildert ist, daß sie Zeit, Interesse und persönlichen Einsatz für das Gemeinwesen zu leisten in der Lage sind. Deshalb schließt der Zivilisationssättigungsgrad stets den wirtschaftlichen und sozialen Sättigungsgrad ein.

Die Freisetzung der persönlichen Kräfte setzt daher ihrerseits eine Minimalisierung der Armut und einen sozialen Ausgleich voraus.

Die Voraussetzung des Zivilisationssättigungsgrades ist in der Bundesrepublik nur bedingt gegeben. Zwar ist hier eine gewisse allgemeine Einkommenshöhe erreicht, zwar lassen die Arbeits-und Existenzbedingungen einen kleinen Raum persönlicher Freiheit, zwar sind die sozialen Gegensätze nicht mehr von der Intention der gegenseitigen Verneinung bestimmt, sondern werden vom Willen zur Spannungsminderung und zum Ausgleich getragen.

Doch ist die Einkommensschwankung noch gewaltig; einer kleinen Schicht von wirklich Reichen steht die große Zahl der geringen Einkommen und die Masse der Vermögens-losen gegenüber; die Sorge um einen hinlänglichen Lebensstandard lastet auf den meisten und nimmt all ihre Kräfte in Anspruch.

Immer noch lastet der soziale Druck auf der Mehrzahl der Bürger, wenn vielleicht auch nicht mehr so evident wie in früheren Zeiten.

Zu diesen Mängeln tritt die geringe Anteilnahme der Bürger am politischen Geschäft. Der aufmerksame Beobachter kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß viele Bürger der Bundesrepublik sich bisher noch immer nicht der tradierten deutschen Untertanenmentalität entledigen konnten. Noch immer überlassen wir die Sorgen für unsere politische — und leider oft auch wirtschaftliche, soziale und geistige — Existenz der „Obrigkeit", dem „Staat", den „Behörden". Die meisten Menschen stellen ihre eigenen Angelegenheiten in den Mittelpunkt ihres Daseins. Ihre Arbeit, ihr beruflicher Erfolg, ihr Einkommen, ihre Vergnügungen bilden das Zentrum ihres Denkens und Handelns; für die res publica, für die öffentlichen Dinge bleiben so wenig, ja häufig überhaupt keine Kräfte übrig. Solche Haltung wurde und wird begünstigt durch die Erfahrungen mit dem totalitären Nazi-Regime und dessen Folgen in Entnazifizierung und Reeducation sowie durch das Verhalten vieler Amtsinhaber politischer Institutionen, die schon auf Anfragen und Anregungen eines Bürgers ablehnend reagieren und die Kritik aus der Bürgerschaft nicht selten als persönliche Verunglimpfung empfinden. So muß gesagt werden, daß auch die zweite Voraussetzung eines funktionierenden demokratischen Regimes, der Zivilisationssättigungsgrad, in der Bundesrepublik noch nicht hinreichend erfüllt ist.

Eine andere Voraussetzung ist die der Kommunikationsmöglichkeit. Setzt doch die funktionierende Demokratie in der industriellen Großgesellschaft voraus, daß die Gesamt-gesellschaft in jeglicher Hinsicht überschaubar ist, daß Regierende und Regierte, die zahlreichen Gruppen und Gruppierungen in ständiger Kommunikation miteinander sind. Nur die ständige Information über alle politisch relevanten Vorgänge, die permanente Debatte und Auseinandersetzung über die Folgen bisherigen und die Gestaltung künftigen politischen Handelns ermöglicht ein funktionierendes demokratisches Regime. Demokratie ist daher in der modernen Großgesellschaft nur möglich, wenn die Kommunikationsmittel Presse, Rundfunk und Fernsehen in ausreichendem Maße in freier Konkurrenz vorhanden sind und wenn die diese Institutionen leitenden und verwaltenden Personen sich ihrer Funktionen in bezug auf die demokratische Ordnung bewußt sind.

In der Bundesrepublik sind die Kommunikationsmöglichkeiten von den Einrichtungen her als ausgezeichnet zu bezeichnen. Sie sind sehr zahlreich und die Bürger partizipieren an ihnen in starkem Maße. Die Informationsmöglichkeiten sind sowohl auf Seiten des Bürgers als auch auf Seiten der politischen Amtsinhaber gut, so daß in institutioneller Hinsicht diese Voraussetzung bei uns voll gegeben sein dürfte. Es ist allerdings eine andere Frage, inwieweit von diesen Einrichtungen sowohl von den Aktiv-als auch von den Passivbeteiligten sachgerecht Gebrauch gemacht wird. Doch die Behandlung dieses Problems würde den Rahmen unserer Betrachtung sprengen und muß deshalb unterbleiben. b) Das politische Selbstverständnis im demokratischen Regime Im folgenden wollen wir nach den tragenden politischen Prinzipien des demokratischen Regimes fragen. Dazu ist erforderlich, einen Blick auf die Geschichte jener Länder zu werfen, in denen die moderne Demokratie geistig vorbereitet und zum ersten Male als konkretes politisches Regime institutionell verwirklicht worden ist: England und Nordamerika.

Ein erstes Dokument der geistigen Entwicklung finden wir im Prolog zu Wyclifs Bibelübersetzung aus dem Jahre 1334. Es lautet: „This Bible is for the Government of the People, by the People, and for the People."

Das zweite Dokument dieser Art sind die Kernsätze der von Thomas Jefferson formulierten amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind-, daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; daß, wann immer irgendeine Regierung sich als diesen Zielen abträglich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint.“

Das dritte Dokument ist aus der Rede, die Abraham Lincoln am 19. November 1863 anläßlich der Einweihung des Gefallenendenkmals auf dem Schlachtfeld von Gettysburg gehalten hat. Die entscheidenden Sätze dieser Rede lauten: „Wir können diesen Boden nicht weihen. Er ist geweiht — von den Tapferen, im Leben und im Tod, die hier gekämpft haben. Die Welt wird sich nicht lange erinnern, was wir hier gesagt haben, doch kann sie niemals vergessen, was diese hier taten. Für uns Lebende bleibt nur die Verpflichtung für das unvollendete Werk, das die, die hier kämpften, so edel vorangetrieben haben. Uns steht nur zu, uns der großen Aufgabe zu verpflichten, die noch vor uns liegt — daß diese Toten unsere Hingabe an die Sache stärken, für die im letzten vollen Maße sie sich gegeben haben — daß, kraft unserer Entschlossenheit, diese Toten nicht umsonst gestorben sind, daß diese Nation unter Gott wieder-geboren werde in Freiheit, und daß das Regime des Volkes, durch das Volk, für das Volk nicht vergehe von der Erde.“

Lincoln verwendete die Wyclifsche Formel und dokumentierte damit den geistig-politischen Traditionsbereich der westlichen Demokratie, wie er in fünf Jahrhunderten politischen Denkens und Handelns gewachsen ist. Aus ihnen können wir fünf Prinzipien der freiheitlichen Demokratie entnehmen, die auch für das demokratische Regime der Bundesrepublik, ja gerade für dieses, Geltung haben. 1. Das anthropologische Prinzip:

Es besagt, daß der Mensch als letzte „ontische" Einheit erkannt und anerkannt ist. Früher waren „letzte" ontische Einheiten soziale Gebilde, wie Völker, Reiche, Stämme. Der Mensch ist als höchstes Gut und gleichzeitig als Maßstab allen Handelns anerkannt. Jedoch nicht ein beliebiger Mensch oder eine beliebige Vorstellung vom Menschen, sondern die Erfahrung repräsentativer Menschlichkeit, wie sie in der klassischen Philosophie, der jüdischen und christlichen Offenbarung gewonnen wurde. Es ist die Erfahrung des Menschen als eines vernunftbegabten Wesens, das erkenntnis-, unterscheidungs-und handlungsfähig ist, eines Wesens, der transzendenten Erfahrung fähig, das sich vollendet in Gott, als dessen Abbild es sich versteht. 2. Das Glücksstreben:

Ziel politischer Ordnung kann nur sein, den Menschen, die in ihr Leben, das „gute Leben" im aristotelischen Sinne, das „Streben nach Glück" im Verständnis der amerikanischen Gründungsväter zu ermöglichen, über das, was „Glück" ist, hat aber jeder Mensch selbst zu entscheiden — soweit er das „Glücksstreben" seiner Mitmenschen durch sein eigenes Streben nicht behindert. Das demokratische Regime hat seinen Bürgern bei diesem Streben behilflich zu sein. Das aber bedeutet, daß ein wahres demokratisches Regime sich ausschließlich auf seine Angelegenheiten, auf die Förderung des „Glücks" seiner Bürger zu beschränken hat und somit zum Beispiel unvereinbar ist mit imperialistischer Außenpolitik. 3. Das Prinzip der Selbstentscheidung:

Im demokratischen Regime versteht sich die politische Gesellschaft als ihr eigener Repräsentant. Sie entscheidet als Gesamtheit über die Art und Weise ihrer politischen Existenz. Sie gestaltet ihre politische Ordnung durch die freie Entscheidung aller Bürger, die sich ihrerseits an der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung dieser Ordnung beteiligen. 4. Das Prinzip des Konstitutionalismus:

Sind die Bürger als Gesamtheit ihr eigener Repräsentant, so bedeutet dies dennoch nicht, daß sie völlig willkürlich über ihre politische Ordnung entscheiden und sie dadurch unter Umständen zerstören können. Demokratische Ordnung liegt nur dann vor, wenn die Bürger sich selbst durch Rechtsnormen binden, die Prinzipien ihrer politischen Ordnung in gewissen unabänderlichen Rechtsnormen festlegen und rechtliche Verfahrensweisen bestimmen, durch die die Entscheidungen der Bürger über ihre politische Ordnung ermittelt werden. 5. Das Prinzip des Institutionalismus:

Auch wenn alle Bürger berufen sind, über die Art und Weise ihrer politischen Existenz selbst zu entscheiden, so ist solche Entscheidung aus zahlreichen Gründen nur periodisch und in bestimmten Fällen möglich. Die Bürger sind in ihrer Gesamtheit zwar potentielle Repräsentanten, aber nur selten auch aktuelle Repräsentanten. Die Bürger errichten vielmehr kraft ihrer Repräsentationspotenz Institutionen und übertragen ihre Repräsentationspotenz auf die Amtsinhaber dieser Institutionen. Die Amtsinhaber werden entweder direkt (Wahlen)

oder indirekt (durch andere, direkt bestimmte Amtsinhaber) von den Bürgern bestimmt. Die Amtsinhaber üben ihre Herrschaft im Namen des Volkes aus. Ihre Herrschaft ist abgeleitete und niemals originäre Herrschaft; sie muß ständig der politischen Gesellschaft verantwortet werden. Die Herrschaft ist funktional und zeitlich begrenzt; sie ist nach Zeitablauf der politischen Gesellschaft zurückzugeben. Diese entscheidet dann in der Aktualisierung ihrer Repräsentationspotenz darüber, ob die bisherigen Amtsinhaber auch in Zukunft die Herrschaft ausüben oder ob sie von anderen Amtsinhabern abgelöst werden sollen. Diese fünf Prinzipien, die selbstverständlich noch weiter differenziert werden können (und unten auch noch weiter differenziert werden), sind der Kernbestand der westlichen Demokratie, zu der auch die Bundesrepublik sich zählt. Der kritische Beobachter unseres politischen Lebens kann jedoch immer wieder eine reservierte, ja häufig ablehnende Haltung gegenüber diesen aus der englisch-amerikani-sehen Tradition gewonnenen Prinzipien als zu „angelsächsisch", um nicht zu sagen fremdländisch, feststellen. Die nationale Eitelkeit läßt es häufig nicht zu, anzuerkennen, daß die Deutschen so gut wie keine demokratischen Prinzipien entwickelt haben und deshalb dringend auf Anleihen bei befreundeten Völkern angewiesen sind. Oder man kann eine trotzige Hinneigung zu der aus der französischen Tradition entstandenen Demokratie Rousseauscher Prägung erleben, die keine Selbstbindung der Gesellschaft kennt und sowohl dem Konstitutionalismus als auch dem Institutionalismus nur geringen Raum gibt. Meistens übersehen die Verfechter solcher Demokratieauffassung, daß deren konsequente Folgen entweder Anarchie oder Diktatur sind. Es kann weiterhin festgestellt werden — und das hängt mit dem zusammen, was über den Analphabetismus und den Zivilisationssättigungsgrad gesagt wurde —, daß die Bürger der Bundesrepublik sich ihres Status als potentielle Repräsentanten weitgehend nicht bewußt sind. Sie scheinen sich nicht im klaren darüber zu sein, daß sie es sind, die primär über die politische Ordnung, über ihre politische Existenz und die der Gesamtgesellschaft zu entscheiden haben. Es fehlt noch die bewußte demokratische Haltung des Bürgers. Dem entspricht, daß die Amtsinhaber sehr häufig nicht von dem Bewußtsein getragen sind, daß sie ihr Amt durch Auftrag des Bürgers ausüben, daß sie abgeleitete und nicht originäre Herrschaft innehaben, daß sie das „Glück" der Bürger im Auge haben sollen und nicht das „Glück" ihrer Partei, einer ihr nahe-stehenden Gruppe oder Kirche oder das ihres Standes, daß sie um des Bürgers willen dieses Amt ausüben und nicht um des Ansehens der Institution willen. Vielen Amtsinhabern in der Bundesrepublik ermangelt es am demokratischen Habitus — was nicht allzu verwunderlich sein dürfte, da die Amtsinhaber ja auch Teil der Gesellschaft sind. So müssen Bürger und Amtsinhaber mit diesen Prinzipien und ihrer Transformation in konkrete Handlungsund Verhaltensweisen noch intensiver vertraut werden. Die Prinzipien müssen zum unabdingbaren Bestand des Bürgerwissens werden, soll unser demokratisches Regime gefestigter werden. c) Die geistige Gemeinsamkeit der Demokratie Eine letzte Frage sei hier angeschnitten, nämlich die: Was hält unsere demokratische Ordnung zusammen? Man kann dieser Frage im Alltag sehr häufig begegnen, wenngleich auch in vulgarisierter Form. Sie lautet dann: „Was haben wir im Westen dem Osten entgegenzusetzen?", „Was ist die Ideologie des Westens?", „Hat der Westen eine Idee?" Solche Fragen zeigen, die Menschen haben irgendwie ein Gespür dafür, daß eine politische Gesellschaft mehr ist als ein Konsumverband, mehr als ein Zusammenschluß gegen innere und äußere Feinde, mehr als ein Rechtsverband. Und das wiederum beweist, daß es um den politischen Habitus unserer Bürger gar nicht so aussichtslos bestellt sein kann. Zeigen sie doch durch solche Fragen, daß sie ein Existenzproblem der politischen Gesellschaft mindestens intuitiv erahnen — ein Problem, das schon Aristoteles und nach ihm immer wieder politische Theoretiker von Rang beschäftigte.

Aristoteles stieß in seiner Nikomachischen Ethik auf dieses Problem, als er fragte, was denn eigentlich die Polis zusammenhalte. Seine Antwort lautete: Die Philia Politike, die politische Freundschaft als die Homonoia, die gemeinsame Teilhabe aller Bürger der Polis am göttlichen Nous. Einige Jahrhunderte später griff Augustinus das Problem in seinem Werk „De civitate dei" wieder auf, als er sich mit dem genus civile des Varro befaßte. Varro hatte in seinem Werk Antiquitates (um 47 v. Chr.) drei Arten von Theologie unterschieden, von denen er eine als die „zivile", als die Theologie der Völker bezeichnete. Augustinus änderte die Varronischen Typen ab und machte aus dem genus civile des Varro die „theologia civilis", die „Ziviltheologie". Sie sollte den gemeinsamen Glauben einer politischen Gesellschaft, verbindlich für alle ihre Glieder, bezeichnen, einen Glauben, der die Substanz jeder politischen Gesellschaft ist, der Glaube, der sie zusammenhält. Dieser Glaube, der zum Beispiel für das alte Israel das Bewußtsein des auserwählten Volkes unter Gott war, war für Augustinus die Offenbarung in Christus, so daß bei ihm die „theologia supranaturalis“, die „übernatürliche Theologie", und die „Ziviltheologie" zusammenfielen. Und einige Jahrhunderte lang war das in Europa ja auch tatsächlich der Fall. Mit der Reduzierung der christlichen Offenbarung auf die Kirchengemeinden und der Verbannung der übernatürlichen Theologie aus dem politischen Bereich wurde das Problem der Ziviltheologie nicht erledigt — konnte nicht erledigt werden, weil es ein konstantes Problem aller politischen Gesellschaften ist. Diejenigen politischen Gesellschaften, die das Christentum oder — wie zum Beispiel islamische Länder, wo der Islam bis in die Gegenwart die Ziviltheologie bildet — eine andere Religion ausmerzten oder bis zur sozialen Unwirksamkeit dezimierten, ersetzten die alte Ziviltheologie durch eine Ideologie, zum Beispiel die des Kommunismus, des Faschismus, des Nationalsozialismus oder des Fidelismus. Der Glaube an die Klasse, die Nation, die Rasse oder an den Führer, seine Bewegung und seine Mission wurde zur neuen Substanz, die die politische Gesellschaft zusammenhält. Wie aber steht es in der Demokratie damit?

Das demokratische Regime ist gekennzeichnet durch die Freiheit. Das bedeutet zum Beispiel für die Bundesrepublik, daß es eben keinen gemeinsamen religiösen Glauben gibt, daß die politische Gesellschaft und ihre Amtsinhaber keine Befugnis haben, über Glaubensdinge verbindliche Entscheidungen zu fällen, daß Gläubige und Nicht-Gläubige dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben. Inwieweit läßt daher die Demokratie so etwas wie eine Ziviltheologie überhaupt zu? Verhindert nicht die Grundforderung der Demokratie, die Fieiheit, daß sich eine geistige Gemeinsamkeit bilden kann? Ist recht verstandene Demokratie nicht insofern etwas Absurdes, als sie frei von jeglicher Ideologie — weder für, noch gegen etwas — ist, als man mit ihr keine Schlachten führen, geschweige denn gewinnen kann, als ihr Dogmen und Doktrinen zuwiderlaufen? All diese Fragen sind äußerst komplex und können hier nur angedeutet werden. Wie immer man aber auch die Fragestellungen formulieren und die Probleme differenzieren mag, sicher ist, daß auch das demokratische Regime nicht auf eine geistige Substanz, die die politische Gesellschaft „zusammenhält", verzichten kann, will sie sich nicht selbst aufgeben. Auch ein demokratisches Regime bedarf eines Consensus omnium, einer Übereinstimmung in Grundsatzfragen, einer geistigen Gemeinsamkeit. Treffend hat dies Lord Balfour formuliert, als er sagte: „Unser politisches System setzt ein Volk voraus, das in seinen Grundüberzeugungen einig ist. Denn deshalb können wir uns es leisten, uns untereinander zu streiten." Was aber ist nun die geistige Gemeinsamkeit, das „Minimumdogma" im Sinne von Spinoza, im demokratischen Regime der Bundesrepublik?

Insoweit, als eine gemeinsame Glaubenshaltung nicht mehr vorhanden ist, kann die geistige Gemeinsamkeit nicht mehr im transzendenten Bereich gesucht werden. Sie kann nur noch immanent gewonnen werden, und da bieten sich der Konstitutionalismus und der Institutionalismus als eine säkularisierte Zivil-theologie an. Die Verfassung, ihre Prinzipien und Institutionen sind zum Surrogat einer im transzendenten Glauben begründeten Zivil-theologie geworden. Für die Bundesrepublik ist dies der Verfassungsgrundsatz von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als der Zusammenfassung der in Art. 1 und 20 GG normierten Prinzipien, die nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich sind. Dem Bundesverfassungsgericht kommt das Verdienst zu, den Grundsatz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung konkretisiert und präzisiert zu haben. Sie ist danach eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt-und 'Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition (BVerfGE Bd. 2, S. 1).

Diese Gemeinsamkeit, für alle Bürger unseres Gemeinwesens verbindlich, ist durch eine Anzahl Rechtsnormen gesichert (Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 Abs. 2, Art. 61, Art. 98 Abs. 2 GG; §§ 80, 81, 84, 90a, 91— 93 StGB; § 50 Abs. 1 Ziff. 2 VGO). Solche Sicherungen sind jedoch nur äußerlich — sie können und dürfen die Freiheit des Denkens nicht beschränken. Auch können sie die Substanz unserer politischen Ordnung nur vor politischen Angriffen im öffentlichen Bereich schützen. Sie stellen aber keinen Schutz gegen eine innere Aushöhlung unserer politischen Substanz dar. Für die Erhaltung unseres demokratischen Regimes ist vielmehr entscheidend, daß die überwältigende Mehrheit des Volkes diese Ord-nung innerlich als ihre Ordnung bejaht, bereit ist, an ihrer Aulrechterhaltung mitzuwirken und entschlossen ist, sie gegebenenfalls zu verteidigen. Wenn das der Fall ist, verfügen wir über „etwas", das unsere politische Gesell-schaft „zusammenhält". Dann vermögen selbst einige notorische Narren und etliche „linke" und „rechte" Extremisten — die es in jeder Gesellschaft gibt — unser demokratisches Regime nicht zu stören.

2. Die Grundrechte im demokratischen Regime

Seitdem sich Menschen in der Ordnung politischer Gesellschaften zusammengefunden haben, gibt es das Spannungsverhältnis zwischen der Existenz des Einzelmenschen und der Existenz der politischen Gesellschaft. Dies ist eine Konstante aller politischen Ordnungsversuche im Laufe der Geschichte und hatte zahlreiche Bemühungen, seiner Herr zu werden, zur Folge. Zwei Grundtypen solchen Bemühens sind, das Spannungsverhältnis zugunsten des Einzelmenschen oder zugunsten der politischen Gesellschaft aufzulösen. Im ersten Fall ordnet man die politische Gesellschaft absolut dem Einzelmenschen unter, was sehr bald zu anarchischen Zuständen oder gar zur Auflösung der Gesellschaft führt. Im zweiten Fall wird die politische Gesellschaft dem Einzelmenschen total übergeordnet, was dessen Gefährdung und die Errichtung eines autoritären, wenn nicht gar totalitären Regimes zur Folge hat. Es ist die Leistung demokratischen Denkens, erkannt zu haben, daß die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Mensch und Gesellschaft zu keiner befriedigenden Lösung führen kann, sondern daß das Spannungsverhältnis erhalten bleiben muß; denn der Mensch als rationales Wesen im Sinne der aristotelischen Philosophie, als Abbild Gottes im Sinne der jüdisch-christlichen Offenbarung, ist Person. Daraus resultiert sein Anspruch, seine personale Würde zu respektieren, ihm einen unantastbaren Bereich personaler Freiheit einzuräumen, alles, was Menschenantlitz trägt, gleich zu behandeln, und ihm die Güter zu gewähren, deren er bedarf, um seine Existenz zu sichern. Andererseits muß die politische Gesellschaft besorgt sein, sich nicht ad absurdum zu führen, ihre Existenz und Ordnung aufrechtzuerhalten, um eben ihren Gliedern ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Diesen beiden Ansprüchen gerecht zu werden und die Spannung zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft zu mindern, hat das demokratische Regime als Auswirkung des konstitutionellen Prinzips Rechtsinstitute geschaffen, die einerseits die personale Sphäre des einzelnen gegenüber der Gesellschaft sichern und andererseits den Anspruch der Gesellschaft gegenüber dem einzelnen festlegen.

Die politische Ordnung der Bundesrepublik ist dadurch ausgezeichnet, daß unsere Verfassung diesen Spannungsbereich in einem vorbildlichen Grundrechtskatalog geregelt hat. Ausgehend vom Menschenbild des demokratischen Regimes (Art. 1 Abs. 1 GG) hat der Verfassungsgesetzgeber die Güter des Lebens, der Freiheit, der Gleichheit und des Eigentums vielfältig gesichert. Mit verfassungsrechtlichen Mitteln wurde ein personaler Bereich abgegrenzt, der Eingriffen von Amtsinhabern der Regierung, der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit verschlossen bleibt. Nur in Ausnahmefällen sind geringfügige Einschränkungen zugunsten der Gesamtgesellschaft möglich. Die verfassungsrechtlichen Normen sollen jedoch mehr sein als Schutzbereich. Sie sollen auch Richtlinien für das politische Handeln von Regierung und Parlament sein, sie sollen die Entscheidungen der Amtsinhaber in bezug auf die Bürger gestalten. Nur wenn die Güter des Lebens, der Freiheit, der Gleichheit und des Eigentums immer wieder neu der politischen Entscheidung zugrunde gelegt werden, nur wenn sie stets erneut den veränderten Lebensumständen angepaßt werden, wird das demokratische Regime seinem Ziel näher-kommen: dem einzelnen das „gute Leben" zu ermöglichen.

Im folgenden wollen wir einen Blick auf die grundrechtlich gesicherten Güter werfen und nach ihrer Realisierung als Kriterium des funktionierenden demokratischen Regimes fragen. a) Leben:

Das Grundgesetz schützt das Leben des einzelnen Bürgers in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und in Art. 102. Das Leben ist das höchste Gut demokratischer Ordnung. Deshalb hat jeder Bürger ein unabdingbares Recht auf Leben, in das weder politische Institutionen noch Mitbürger eingreifen dürfen. Daher steht dem „Staat" — das Verständnis vom Menschen ernst genommen — auch kein Recht zu, das Leben eines Menschen in einem gerichtlichen Verfahren durch Todesurteil und Hinrichtung zu nehmen.

Das Menschenbild des demokratischen Regimes schließt die Todesstrafe aus. Die „staatliche Gewalt" ist vielmehr verpflichtet, das Leben des Bürgers durch entsprechende Schutzmaßnahmen zu sichern, sei es durch entsprechend rationelle Organisation der Polizei im Innern, sei es durch entsprechende militärische Sicherung nach außen. Während offensichtlich der letztere Schutz in der Bundesrepublik als einigermaßen zufriedenstellend bezeichnet werden kann, liegt der Schutz vor Angriffen gegen das Leben im Innern zuweilen noch sehr im argen. Das liegt nicht nur an der unzureichenden Organisation und personellen Unterbesetzung des Polizeidienstes (sowie der ungenügenden Besoldung), sondern dürfte vor allem in der Auffassung der Sicherungsverwaltung von ihrer Schutzfunktion liegen. Diese hat ein Staatsanwalt eines Verwaltungsgerichtshofs am klarsten ausgesprochen, als er in einem Verwaltungsstreitverfahren ausführte, die „staatliche Gewalt"

sei nicht dazu da, das Leben des einzelnen Bürgers zu schützen, sondern die „Ordnung"

aufrechtzuerhalten. Nur insoweit durch Mord oder Totschlag diese „Ordnung" gestört werde, habe die „staatliche Gewalt" einzugreifen.

Eine schlimmere Verkennung der Funktionen „staatlichen" Handelns dürfte kaum mehr möglich sein — es sei denn in einem totalitären Regime.

Jedoch ist es mit dem Schutz des Lebens allein nicht getan. Das Leben der Bürger muß auch erhalten werden. Daraus ergeben sich zum Beispiel weittragende Folgen für den Bereich der Gesundheitspolitik, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Aber auch zum Beispiel für die Straßenverkehrs-politik — man denke an die ca. 16 000 Verkehrstoten pro Jahr in der Bundesrepublik. Ein anderes Problem, das damit zusammenhängt, ist: wenn das Leben das höchste Gut ist, genügt es dann, ein beliebiges Leben zu garantieren und zu schützen oder sollte es nicht auch ein „lebenswertes" Leben sein? Genügt es, für ein Dahinvegetieren Sorge zu tragen oder muß für die Gestaltungsmöglichkeit des individuellen Lebens mehr geleistet werden? Auf diese Frage soll bei der Behandlung der Freiheit und des Eigentums näher eingegangen werden. b) Freiheit:

Die Freiheit ist das umfassendste und komplexeste Gut des Menschen im demokratischen Regime. Das zeigt sich schon darin, daß in unserer Verfassung in einer ganzen Reihe von Grundrechtsartikeln der Komplex der Freiheit behandelt ist: Art. 2 Abs. 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (Glaubens-, Gewissens-und Bekenntnisfreiheit), Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungs-und Pressefreiheit), Art. 5 Abs. 3 GG (Freiheit der Wissenschaft und der Kunst), Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit), Art. 9 Abs. 1 GG (Vereinigungsfreiheit), Art. 9 Abs. 3 GG (Koalitionsfreiheit), Art. 10 GG (Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnis), Art. 11 GG (Freizügigkeit), Art. 12 Abs. 1 GG (Freiheit der Berufswahl). Mit diesen Verfassungsnormen, die noch durch die Art. 101, 103 und 104 GG als Sicherung in gerichtlichen Verfahren ergänzt werden, ist dem einzelnen Bürger in der Bundesrepublik ein Bereich persönlicher Freiheit eingeräumt, wie ihn nicht viele Verfassungen der westlichen Welt gewähren. Der einzelne entscheidet frei über sein Leben — ob er leben will oder ob er sein Leben durch eigene Entscheidung beenden will, ob er die in ihm liegenden Anlagen entwickeln will oder nicht; er entscheidet frei darüber, wie er seine persönliche Existenz nach seinem eigenen Entwurf gestalten möchte. Deshalb gibt es in der Bundesrepublik keine zwangsweise Eingruppierung in Berufe oder Schichten, kein Aussperren von Bildungsmöglichkeiten, keine Uniformierung der Menschen und ihres Lebensstiles oder ihrer Lebensgewohnheiten.

Aber ist es mit dieser negativen Umschreibung des Freiheitsbereiches getan? Erfordert nicht die Garantie der persönlichen Entfaltung des Menschen, daß man diesem Menschen auch alle Chancen, sich zu entfalten, einräumt?

Was nützt ein noch so schöner Art. 2 Abs. 1 GG, wenn es jungen Menschen auf Grund der tatsächlichen Bildungsmöglichkeiten verwehrt wird, auch nur einen geringen Teil ihrer Anlagen zu entfalten? Die verfassungsrechtliche Garantie der Entfaltung der Person verlangt, daß Regierung, Parlament und Verwaltung sich unablässig darum bemühen, dem einzelnen die persönlichen Mittel zu ermöglichen und die öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, um dieses Grundrecht auch verwirklichen zu können. Und das scheint gegenwärtig in der Bundesrepublik keineswegs immer der Fall zu sein — wie gerade die vor kurzem angelaufene Debatte um den „Bildungsnotstand" zu zeigen vermag. c) Eigentum:

Besser steht es da mit einer anderen notwendigen Folge der personalen Freiheit, nämlich der Freiheit von Not und Furcht. Dieses Er-fordernis ergänzt die verfassungsrechtliche Garantie auf Leben. Leben in Freiheit ist nur dann sinnvoll, wenn es nicht beherrscht wird von Existenzangst um das tägliche Brot, um den Arbeitsplatz, um die Sicherung des Alters, um die Behausung. Daher gehört der Schutz des Eigentums, der Schutz der Wohnung, mit in diese Betrachtung.

Leben in Freiheit ist nur dann gewährleistet, wenn dem einzelnen eine bestimmte persönliche Habe zusteht, mit deren Hilfe er seine persönliche Existenz gestalten kann. Dazu gehört in erster Linie eine adäquate Behausung — was mehr ist als 10 qm pro Person, nicht aber unbedingt Luxusvillen für alleinstehende Ehepaare oder Zweit-und Drittwohnungen sein müssen. Was den Umfang persönlicher Habe betrifft, so kann man darüber verschiedener Ansicht sein. Fest dürfte stehen, daß die Beseitigung jeglichen Eigentums genauso dem anthropologischen Prinzip des demokratischen Regimes widerspricht wie die schrankenlosen Ausweitungen persönlichen Eigentums. Wenn deshalb Art. 14 Abs. 2 GG bestimmt, daß Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll, dann ist damit das ausgedrückt, was Art. 20 Abs. 1 GG präziser formuliert, daß die Bundesrepublik eine soziale Demokratie ist. Im folgenden aber noch einige Überlegungen zur Freiheitsproblematik.

Zur Freiheit der Person gehört die Freiheit, auf Grund eigener Überlegung zu handeln, was dann jeweils zu konkretisieren ist als Freiheit der Berufswahl, als Freizügigkeit, als Vereinigungsfreiheit, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Es gehört dazu die Freiheit, sich zu einem transzendenten Glauben und zu einer religiösen Gemeinschaft zu bekennen oder eine solche Haltung für die eigene Person abzulehnen. Freiheit der Person umfaßt auch die Freiheit, eigene Vorstellungen über politische Ordnung zu entwickeln und diese öffentlich zu verkünden, dafür zu werben und politische Aktionen zu initieren — allerdings nur soweit, als sie nicht den Prinzipien des demokratischen Regimes zuwiderlaufen. Mit dem letztgenannten Freiheitsbereich wird der Schritt von der nach innen gerichteten Freiheit zu der nach außen gerichteten Freiheit getan. Die Freiheit des politischen Denkens und Handelns, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit der Kommunikationsmittel sind als Konkretisierung der persönlichen Freiheit wesentliche Bestandteile des demokratischen Regimes. Hängt dessen Existenz und Bestand doch in erheblichem Maße von der selbst gewollten Mitwirkung der Bürger, sei es als einzelne, sei es als Gruppen, ab. Das demokratische Regime lebt aus der freien Auseinandersetzung der Meinungen über den besten Weg, den Menschen das „gute Leben" zu ermöglichen. Es regeneriert sich ständig aus der unerbittlichen Kritik an Fehlhaltungen und Fehlentscheidungen der politischen Amtsinhaber. Wie labil unsere Demokratie noch ist, zeigt sich an der allgemeinen Unsicherheit von Amtsinhabern, Kommunikationsmitteln und Bürgern gegenüber der richtigen Funktion der Freiheit. Die meisten Amtsinhaber, von Kabinettsmitgliedern und Abgeordneten über Verwaltungsbeamte und Richter bis zu Lehrern aller Schulgattungen, sind allergisch gegen öffentlich — ja sogar zuweilen gegen privat — geäußerte Kritik. Allzu rasch wittern sie darin eine „Zersetzung des Staates". Damit zeigen sie, daß sie noch immer nicht verstanden haben, was das Amt im demokratischen Regime bedeutet: eine von der Gesamtgesellschaft anvertraute öffentliche Aufgabe zur Mehrung des gemeinen Wohles, der Gesamtgesellschaft verantwortlich, von ihr permanent kontrolliert, bei Mißbrauch, ja schon bei dauernder Fehlleistung zurückzugeben. Radikale Kritik, die zuweilen auch zersetzend sein muß — nämlich die Mißstände zersetzend —, ist das Salz der Demokratie; diese kennt keine Tabus.

Aber auch bei den Kommunikationsmitteln begegnet uns Mißverständnis der Freiheit, und zwar in einem doppelten Sinne. Einmal dadurch, daß eine Reihe von Kommunikationsmitteln, in erster Linie Presseerzeugnisse und Filme, die Freiheit als unbegrenzt verstehen und aus solchem falschen Verständnis heraus unabdingbare Bestandteile des demokratischen Regimes, insbesondere in bezug auf die menschliche Person, in Frage stellen. Zum anderen dadurch, daß eine Anzahl von Kommunikationsmittel, in erster Linie Rundfunk und Fernsehen, ihre Funktion als Kritiker nicht immer wahrnehmen. Sie spüren den Verfalls-erscheinungen in der Demokratie oder den mangelnden Voraussetzungen des demokratischen Regimes zu wenig nach oder publizieren sie nicht, wenn sie sie aufgespürt haben, entzünden somit keine öffentliche Debatte und tragen damit zu wenig zur Beseitigung von öffentlichen Übelständen bei. Das Mißverständnis der Freiheit im ersten Falle ist nicht dadurch zu heilen, daß man die Freiheit der Kommunikationsmittel durch Androhung von Sanktionen beseitigt, wie das zuweilen von demokratiefremden Politikern und Wissen-schaftlern gefordert wird. Hier hilft nur, ebenso wie im zweiten Fall, die Selbstbesinnung der Zuständigen auf ihre Funktionen in der demokratischen Gesellschaft. d) Gleichheit:

Unsere Verfassung bestimmt in Art. 3, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, daß Männer und Frauen gleichberechtigt sind, daß niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf.

Dadurch soll die natürliche Ungleichheit der Menschen korrigiert werden, soll verhindert werden, daß sich einzelne oder Gruppen über andere einzelne oder Gruppen auf Grund einer besseren Selbsteinschätzung erheben, daß einzelne oder Gruppen auf Grund bestimmter Merkmale von der Gestaltung des demokratischen Regimes ausgeschlossen werden. Die verfassungsrechtliche Gleichheit stellt die wichtigste Auswirkung des demokratischen Menschenbildes dar, wonach alles, was Menschenantlitz trägt, die gleichen Ansprüche und Verpflichtungen hat. Je mehr dies erkannt und verwirklicht ist, desto mehr ist eine politische Gesellschaft demokratisiert. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß Gleichheit eine formalisierte Gleichheit ist und eben wegen der natürlichen Ungleichheit keine substantielle. Die formalisierte Gleichheit bedeutet, daß jeder, soweit er volljährig ist und nicht bestimmte, genau abgegrenzte Hinderungsgründe vorliegen, über das gleiche Wahlrecht verfügt, unabhängig von seiner Intelligenz, seinem Charakter, seiner Ausbildung, seinen politischen Interessen. Sie bedeutet, daß allen Menschen, weil sie eben nicht alle unter den gleichen äußeren Bedingungen geboren werden, die gleichen Startchancen und Entfaltungsbedingungen eingeräumt werden. Somit sind Privilegien kraft Erbes mit dem demokratischen Regime unvereinbar. Gleichheit bedeutet ferner, daß derjenige, der auf Grund unglücklicher Umstände in seinem persönlichen Status benachteiligt ist, Umstände, die er nicht zu verantworten hat (Kriegseinwirkung, Vertreibung, Unglücksfall etc.), einen Anspruch an die Gesellschaft erheben kann, diese Benachteiligung zu beseitigen und durch spezielle Maßnahmen einen Ausgleich für konkrete Ungleichheit zu leisten. Gleichheit erfordert, daß alle Institutionen, insbesondere Verwaltungsbehörden und Gerichte, selbstverständlich aber auch der Gesetzgeber, gleich gelagerte Fälle gleich behandeln und ohne Ansehen der Person entscheiden. Der Verfassungsgrundsatz der Gleichheit ist ebenso wie die schon genannten des Lebens, der Freiheit und des Eigentums eine Aufforderung an Regierung und Parlament, Chancengleichheit für alle die Bereiche zu gewähren, die nicht nur von der Eigenleistung des einzelnen abhängen. Insoweit diese jedoch durch die zunehmende allgemeine Interdependenz mehr und mehr eingeschränkt wird, ist das Problem der Chancengleichheit, des Willkürverbots, der zulässigen Differenzierung zum Lebens-problem unserer Demokratie geworden — ohne von den politischen Amtsinhabern immer erkannt, geschweige denn in politisches Handeln umgesetzt worden zu sein.

Demokratische Gleichheit manifestiert sich auch in dem Anspruch des Bürgers, nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung, unabhängig von seiner politischen Haltung, seinem religiösen Bekenntnis, seiner sozialen Gruppenzugehörigkeit, Zugang zu jedem öffentlichen Amt zu haben, wie dies als Konkretisierung des Art. 3 GG in Art. 33 Abs. 2 und 3 GG ausdrücklich festgelegt ist.

Nun ist aber allgemein bekannt, daß in der Bundesrepublik gegen kein Grundrecht so permanent verstoßen wird wie gegen diesen Anspruch. Nicht die sachliche Tüchtigkeit und die persönliche Integrität als die zwei Merkmale, die die Gleichheit differenzieren, entscheiden oft darüber, ob jemand mit einem öffentlichen Amt, sei es in der Regierung oder Verwaltung, sei es im Unterrichtsbereich, betraut wird. Vielmehr spielen Konfessionszugehörigkeit, Parteimitgliedschaft, landsmannschaftliche Zugehörigkeit, Verbindung zu einem Interessenverband die entscheidende Rolle. Ministerien im Bund und in den Ländern werden „gleichgeschaltet", indem eine zielstrebige Personalpolitik sukzessive alle nicht der jeweiligen Regierungspartei zumindest „nahestehende" Personen abschiebt und sie durch „zuverlässige" Personen ersetzt. Kommunalverwaltungen, besonders die der Großstädte, sind nicht selten Zufluchtsorte für zu kurz gekommene Parteimitglieder. Nun kann man natürlich darüber diskutieren, inwieweit eine Regierung, will sie wirksam Politik treiben, nicht darauf angewiesen ist, einen geschlossenen Mitarbeiterstab zu haben, der ihr nicht nur in formaler Loyalität verbunden ist, sondern der sich ihren Intentionen innerlich verbunden fühlt, der sich mit ihren Zielsetzungen prinzipiell identisch erklärt. Es wäre an der Zeit, das Tabu von der „parteipoliti-sehen Neutralität der Beamtenschaft", wie sie von den Beamtengesetzen konzipiert wurde und wie sie auch von einem Teil der Beamten noch vertreten wird, zu brechen. Damit würde auch der Mantel des Schweigens von der parteipolitisch verpflichteten Beamtenschaft, wie sie weitgehend die Ministerialbürokratie und die großen Kommunen beherrscht, weggezogen. Die dadurch auftretenden Fragen und Probleme sollten öffentlich diskutiert werden, und es sollte nach neuen Lösungen, die den Anforderungen des Parteienstaates entsprechen, gesucht werden. Jedenfalls wäre es an der Zeit, die Fiktion des gleichen Zugangs zu den öffentlichen Ämtern für den Bereich der Ministerialverwaltung und der großen Kommunalverwaltungen aufzugeben und die Einrichtung des „politischen Beamten", wie sie für die Spitzenbeamten der Ministerien schon besteht, weiter auszudehnen. Ganz anders ist jedoch die Situation für den Bereich der mittleren und unteren Verwaltung und insbesondere für den Unterrichtsbereich (von der Volksschule über die Höhere Schule bis zur Hochschule) sowie für die öffentlichen Dienstleistungsbetriebe zu beurteilen. Hier dürfen die dauernden Verstöße gegen Art. 33 Abs. 2 und 3 GG nicht länger hingenommen werden, soll nicht ein Grundbestand unserer demokratischen Ordnung in Frage gestellt werden.

Freiheit und Gleichheit sind, wie wir gesehen haben, die konstituierenden Prinzipien unseres demokratischen Regimes. In dem Maße, in dem sie mehr und mehr realisiert werden, wächst die Stabilität des Regimes. Der Realisierung sind jedoch insoweit Grenzen gesetzt, als Freiheit und Gleichheit sich widersprechende Grundrechte sind. Während die Gleichheit der Freiheit bedarf, um immer mehr verwirklicht zu werden, bedarf die Freiheit nicht unbedingt der Gleichheit; während die Freiheit zum Kampf um die Gleichheit verwendet wird und wurde, ist dies nicht umkehrbar. Vielmehr kann die Gleichheit zum Kampf gegen die Freiheit benutzt werden. Je mehr nämlich die Egalisierung einer politischen Gesellschaft fortschreitet, desto geringer wird der Freiheitsbereich für den mit allen Ansprüchen auf Gleichberechtigung und Gleich-behandlung ausgestatteten Bürger. Je weniger die Gleichheit in einer politischen Gesellschaft realisiert ist, um so höher ist das Maß der Freiheit für einzelne — nicht jedoch für alle. Die dialektische Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit droht auch in der Bundesrepublik zugunsten der Gleichheit und zuungunsten der Freiheit zusammenzubrechen. Das Spannungsverhältnis muß aber, soll die demokratische Ordnung Bestand haben, aufrechterhalten bleiben. Es wird deshalb die große Aufgabe für das zukünftige politische Handeln von Regierung und Parlament, Verwaltung und Gerichtsbarkeit, Parteien und pluralistischen Gruppen sein, den Bürgern eine politische Existenz zu sichern, in der Freiheit und Gleichheit in der Weise miteinander verbunden werden, daß die Freiheit ihre Grenze an der Gleichheit findet und die Gleichheit auf politischem, ökonomischem, sozialem und kulturellem Gebiet nicht die politische Freiheit ausschließt.

3. Das Bundesverfassungsgericht als Vollendung der Demokratie

Auch das demokratische Regime ist gegen Zerstörung von innen heraus, durch Mißbrauch des übertragenen Amtes der Amtsinhaber und Fehlhaltungen der Bürger, nicht geschützt. Ja, es ist ein Regimetyp, der relativ labil und immer wieder erneut gefährdet ist. Die Sorge, dieses politische Regime zu erhalten, sollte die Grundsorge aller Bürger und aller Amtsinhaber sein. Die politische Wachsamkeit sollte zum Charakteristikum des demokratischen Bürgers und des demokratischen Amtsinhabers werden. Nun ist es leider mit der demokratischen Wachsamkeit politischer Gesellschaften nicht immer zum besten bestellt, und gerade wir Deutschen verfügen in dieser Beziehung über die schlechtesten Erfahrungen.

Es ist daher fraglich, ob man sich auf die Wachheit der Bürger und auf ihre Bereitschaft, das demokratische Regime zu verteidigen, stets verlassen kann. Dies dürfte nicht der Fall sein. Es bedarf eines institutioneilen Systems, das die Erhaltung der demokraOrdnung zu garantieren versucht. Seine wichtigsten Kennzeichen sind, daß die vom Volk übertragene Herrschaft von verschiedenen Institutionen ausgeübt wird, die voneinander relativ unabhängig sind, die sich aber gegenseitig beeinflussen und kontrollieren, um so einen Mißbrauch des Amtes zu verhindern. Seitdem jedoch — wie unten noch ausführlich darzulegen sein wird — der Parteienstaat sich mehr und mehr ausgebreitet hat, ist diese Sicherung durch Funktionentrennung nur beschränkt wirksam. Es bedarf deshalb in diesem System institutioneller Sicherungen einer besonderen, von Parteien und pluralistischen Gruppen relativ unabhängigen, im institutionellen System relativ eigenständigen Instition, die sich die Bewahrung und Verteidigung des demokratischen Regimes zur besonderen Aufgabe gemacht hat. Eine solche Institution ist in der Bundesrepublik das Bundesverfassungsgericht. Seine Einrichtung und seine Befugnisse sind im Grundgesetz (Art. 18, 21 Abs. 2, 41 Abs. 2, 61, 84 Abs. 4, 92, 93, 94, 98 Abs. 2 und 5, 99, 100, 126, 137 Abs. 3) und im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) sowie in Spezialvorschriften einer Reihe anderer Gesetze geregelt.

Das Bundesverfassungsgericht ist eine der kühnsten Konstruktionen der Schöpfer der neuen demokratischen Ordnung im freien Teil Deutschlands. Es bildet den krönenden Abschluß des rechtsstaatlichen demokratischen Regimes. Ist es doch die Institution, durch die die Selbstbindung der politischen Gesellschaft im Recht, besonders im Verfassungsrecht, erst richtig durchgesetzt werden kann. Erst durch das Bundesverfassungsgericht wird es dem Bürger ermöglicht, seinen personalen Bereich gegenüber den Ansprüchen der Gesellschaft und ihrer politischen Institutionen auch wirklich zu bewahren und somit als Person und Bürger im demokratischen Regime zu leben; erst das Verfassungsgericht ermöglicht die Kontrolle der Tätigkeit von Regierung und Parlament auf Übereinstimmung mit den ihnen von der Verfassung eingeräumten Kompetenzen; erst das Bundesverfassungsgericht läßt das Miteinander von Zentralstaat, Gliedstaaten und kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften, wie es die föderative Demokratie vorsieht, adäquat funktionieren, weil es Macht-ausdehnung des einen Gliedes zuungunsten des anderen verhindert und immer wieder das föderative Räderwerk kreisen läßt. Fragen wir deshalb, wie das Bundesverfassungsgericht in unserem demokratischen Regime fungiert und welche Stellung es im institutioneilen System der Bundesrepublik einnimmt.

Aus dem Selbstverständnis der Verfassungsrichter sollen dann einige der wichtigsten Funktionen des Bundesverfassungsgerichts herausgearbeitet werden. Es sind die Funktionen des Hüters der Verfassung, des Interpreten der Verfassung und des Integrationsfaktors. Das Bundesverfassungsgericht ist Hüter der Verfassung Der Topos eines „Hüters der Verfassung" ist alt. Er ist in der politischen Theorie zum erstenmal bei James Harrington und Emmanuel Joseph Sieyes festzustellen. In der deutschen Verfassungstheorie tritt er Ende der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts auf, als sich zwei brillante Vertreter des Verfassungsrechts, Hans Kelsen und Carl Schmitt, darüber streiten, wer im damaligen Regime als Hüter der Verfassung bezeichnet werden könne. Während Schmitt diese Funktion dem Reichspräsidenten zugewiesen wissen will und davor warnt, ein Verfassungsgericht damit zu betrauen, vertritt Kelsen die Ansicht, daß ausschließlich ein unabhängiges Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung fungieren könne.

Obwohl weder der Reichspräsident noch der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich (als Verfassungsgericht der Weimarer Republik)

die Demokratie retten konnten, waren sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates und sind sich auch die Bundesverfassungsrichter darüber im klaren, daß in erster Linie — wenn auch nicht ausschließlich — das Bundesverfassungsgericht zum Hüter der Verfassung berufen sei. Dabei fällt jedoch auf, daß niemals genau ausgesprochen wird, was exakt unter dem Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung" zu verstehen ist. Ich möchte deshalb auf Grund meiner eigenen Untersuchungen den Topos in drei Einzelfunktionen auflösen, nämlich das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Grundrechte gegenüber Verwaltung und Gerichtsbarkeit, als Hüter der Grundrechte gegenüber dem Gesetzgeber, als Hüter der Demokratie.

Die dem Bürger gewährten Grundrechte, wie wir sie oben skizzierten, bleiben eine bloße Zierde der Verfassung, wenn er sie nicht gegen Ein-und Übergriffe von Verwaltung und Justiz durchsetzen kann. Sie werden erst dann zu wesentlichen Bestandteilen des Regimes, wenn von Verfassungs wegen solche Durchsetzungsmöglichkeiten geschaffen sind, wie das in Art. 19 Abs. 4 GG der Fall ist. Danach kann jeder Bürger, der sich durch die sogenannte „öffentliche Gewalt" in seinen Grundrechten verletzt glaubt, den Rechtsweg beschreiten. Das funktionierende demokratische Regime zeigt sich auch daran, inwieweit die Gerichte den Bürgern zu ihren grundrechtlich gesicherten Ansprüchen verhelfen. In der Bundesrepublik funktioniert dies im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgezeichnet. Bei ihr hat der Bürger, der im modernen Verwaltungs-staat tagtäglich von Entscheidungen der Verwaltung (Polizei, Finanzamt, Schule, Post, Bau-sachen, Rentenversorgung etc.) betroffen wird, in der allgemeinen und besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit (Arbeits-, Sozial-und Finanzgerichtsbarkeit) einen äußerst kritischen, an der Würde des Menschen orientierten Wahrer seiner demokratischen Grundrechte gefunden. Anders sieht es bei der sogenannten ordentlichen Gerichtsbarkeit, den Zivil-und Strafgerichten aus. Obwohl nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG subsidiär als Hüter der Grundrechte berufen, waren und sind sie häufig nicht in der Lage, den personalen Bereich des Bürgers zu schützen. Im Gegenteil: Zivil-und Strafgerichte verletzen nicht selten die von der Verfassung garantierten Grundrechte. Und hier trat das Bundesverfassunggericht als Hüter der Grundrechte in Aktion. Es befreite Bürger aus unzulässiger Unterbringung in einer Heil-und Pflegeanstalt, in Sicherungsverwahrung oder in Untersuchungshaft. Es hob in zahlreichen Fällen strafrechtliche Verurteilungen auf, weil den Verurteilten das rechtliche Gehör nicht gewährt worden war oder weil sie ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden waren. Es verhinderte die Vollstrekkung von Strafurteilen sowjetzonaler Gerichte, weil diese Urteile der rechtsstaatlichen Demokratie Hohn sprachen. Es beseitigte Strafurteile, die die Meinungs-und Pressefreiheit unberücksichtigt gelassen hatten, und stellte das Verhältnis von grundrechtlich geschützter Meinungsfreiheit und strafrechtlich geschützter Privatsphäre dabei klar. Eingriffe in Eigentum und Berufsfreiheit wurden von ihm ebenso für nichtig erklärt wie geplante Auslieferungen von früheren deutschen Staatsangehörigen oder politischen Flüchtlingen an fremde Staaten.

Das Bundesverfassungsgericht hat aber die Grundrechte nicht nur gegenüber Gerichten — u. a. auch gegenüber dem Bundesgerichtshof — zu schützen, sondern auch, was für die demokratische Ordnung der Bundesrepublik noch bedeutsamer ist, gegenüber dem Gesetzgeber. Dieser ist in der voll realisierten Demokratie, wie Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG bestimmen, an die verfassungsmäßige Ordnung, insbesondere an die Grundrechte gebunden. Im Unterschied zur Demokratie der Weimarer Verfassung laufen die Grundrechte unseres demokratischen Regimes nicht „leer“, so daß der Gesetzgeber auch mit verfassungsändernder Mehrheit eine ihm entgegenstehende verfassungsrechtliche Schranke nicht überwinden kann. Der Gesetzgeber kann prinzipiell ein Grundrecht in seinem sachlichen Gehalt nicht einschränken. Vielmehr sind die Grundrechte unmittelbar geltendes Recht, das auch den Gesetzgeber bindet. Offensichtlich wurde diese Bindung von unseren Gesetzgebern im Bund und in den Ländern nicht immer beachtet, denn das Bundesverfassungsgericht hob eine ganze Reihe von Gesetzesnormen auf, die die Sphäre persönlicher Lebensgestaltung antasteten oder die über das zulässige Maß des Eingriffs hinausgingen. Von den zahlreichen Nichtigkeitserklärungen seien hier nur drei, weil für die gesamtgesellschaftliche Ordnung besonders relevant, erwähnt: die Nichtigkeitserklärung der §§ 1628 und 1629 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches, die bestimmten, daß in der Sorge für die Person und das Vermögen des Kindes dem Vater die Letzt-entscheidung zukommt, wenn die Eltern sich nicht einigen können, und daß dem Vater die Vertretung des Kindes zusteht (BVerfGE Bd. 10, S. 59— 88). Dadurch wurde die in Art. 3 Abs. 2 GG vorbereitete Gleichberechtigung von Mann und Frau ein wesentliches Stück ihrer Verwirklichung nähergebracht. Eine andere Nichtigkeitserklärung war die des § 368a Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung, der die Zulassung der Arzte und Zahnärzte im Zulassungsbereich der RVO-Kassen beschränkte (BVerfGE Bd. 11, S. 30— 49; Bd. 12, S. 144— 151). Damit wurden jahrzehntealte Privilegien und wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeiten beseitigt, ohne daß die ärztliche Versorgung der Bevölkerung — wie zunächst propagiert worden war — substantiell gemindert worden wäre. Eine weitere Nichtigkeitsentscheidung war die von Art. 3 Abs. 1 des Bayerischen Apothekengesetzes, wonach die für eine neu zu errichtenden Apotheke erforderliche Betriebserlaubnis nur bei Vorliegen eines Bedürfnisses gewährt wurde (BVerfGE Bd. 7, S. 377— 444). Auch hier beseitigte das Bundesverfassungsgericht durch Konkretisierung des Art. 12 Abs. 1 GG eine seit urdenklichen Zeiten bestehende Ungleichheit und Benachteiligung. Diese Beispiele, die sich noch beträchtlich erweitern ließen, vermögen zu zeigen, wie das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber in seine Schranken gewiesen hat.

Als letzte Differenzierung der Funktion „Hüter der Verfassung" ergibt sich, daß das Bundesverfassungsgericht auf Grund der ihm durch Art. 18 Satz 2 und Art. 21 Abs. 2 GG zugewiesenen Kompetenzen Hüter der Demokratie ist. Danach ist es berufen, Einzelpersonen und politische Parteien, die die freiheitliche demokratische Grundordnung durch politisches Han-dein — also nicht nur theoretisch — beseitigen und durch einen anderen Regimetyp ersetzen wollen, von ihrer Teilnahme am politischen Prozeß auszuschalten. Insofern, als dieser Prozeß heute so gut wie ausschließlich von den politischen Parteien gestaltet wird (es ist kein Zufall, daß vor dem Bundesverfassungsgericht erst ein Verfahren wegen Verwirkung der Grundrechte lief, das zudem noch eingestellt wurde, also ohne Entscheidung endete), richtet sich diese Funktion primär gegen Parteien, die die obersten Grundsätze der freiheitlichen Demokratie nicht mehr anerkennen, die sich also außerhalb der für alle verbindlichen geistigen Gemeinsamkeit stellen. Für solche Parteien gilt der Grundsatz: „keine unbedingte Freiheit für die Feinde der Freiheit", denn unser Regime ist eine „streitbare Demokratie". Um aber bei der Ausschaltung militanter Demokratie-gegner jeglichen Mißbrauch auszuschließen, ist dafür ein bestimmtes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht garantiert. Auch ihren Feinden muß die Demokratie — soll sie sich nicht selbst untreu werden — ausschließlich mit rechtsstaatlich-demokratischen Mitteln begegnen. Deshalb ist für die Eliminierung verfassungswidriger Parteien nur das Bundesverfassungsgericht zuständig, so daß ein rechtswidriges Einschreiten von Exekutiv-oder Legislativorganen gegen mißliebige politische Gegner verhindert ist.

Zweimal hat das Bundesverfassungsgericht bisher politische Parteien auf Antrag der Bundesregierung aus dem politischen Prozeß ausgeschaltet. Am 23. Oktober 1952 (BVerfGE Bd. 2, S. 1— 79) erklärte es die Sozialistische Reichspartei (SRP) und am 17. August 1956 (BVerfGE Bd. 5, S. 85— 393) die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) für verfassungswidrig und löste sie auf. In der SRP erblickte das Bundesverfassungsgericht eine Nachfolgeorganisation der NSDAP, die durch Programm und politische Aktivität die Prinzipien des demokratischen Regimes bekämpfte. Die KPD, die ebenfalls nach Programm und politischer Aktivität in prinzipiellem Widerspruch zur demokratischen Ordnung der Bundesrepublik stand, wollte nach dem Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts nicht nur unser Regime überhaupt beseitigen und statt dessen ein totalitäres Regime errichten, sondern darüber hinaus die Bundesrepublik in Abhängigkeit eines fremden Staates bringen. Während die Entscheidung über die SRP in der Bundesrepublik allgemein akzeptiert wurde, stieß das Urteil über die KPD auf weitverbreitete Kritik. Einmal meldete man juristische Bedenken gegen die weitgehend philosophisch-theoretische und sozio-politische Begründung des Urteils an, zum anderen befürchtete man, eine kommunistische Partei im Untergrund sei gefährlicher als eine in aller Öffentlichkeit legal operierende Partei. Dazu ist zu bemerken, daß das Bundesverfassungsgericht, das ja als Gericht nicht von sich aus gegen die KPD tätig geworden ist, den Antrag der Bundesregierung auf seine Zulässigkeit und Begründetheit prüfen mußte. Daß es bei dieser Prüfung in erster Linie mit politischen Doktrinen, Parteiprogrammen, aktivem Handeln der Partei konfrontiert wurde und diese Materialien justiziabel machen mußte, lag in der Natur des Gegenstandes begründet und kann nicht den Verfassungsrichtern angelastet werden. Diese konnten auf Grund sorgfältiger Prüfung der Tatbestände und ihrer Subsumtion unter die Verfassungsnormen nicht anders entscheiden als dem Antrag der Bundesregierung stattgeben, hätten sie nicht gegen ihre Verantwortung als Hüter der Demokratie verstoßen wollen.

Das Bundesverfassungsgericht ist Interpret der Verfassung Die Verfassung als rechtliche Manifestation des Selbstverständnisses einer politischen Gesellschaft über die Art und Weise ihrer politischen Existenz kann wegen ihrer historischen Situationsgebundenheit nur prinzipielle und deshalb auch nur allgemein formulierte Normen enthalten. Denn eine Verfassung kann nicht ein vielbändiges Werk sein, in dem alle jeweils möglichen Eventualitäten, die verfassungsrechtlich relevant sein könnten, geregelt sind. Eine Verfassung sollte möglichst kurz, übersichtlich und knapp in ihren Formulierungen sein. Daher müssen die Verfassungsrechts-normen in weit höherem Maße als die Gesetzes-oder gar Verordnungsnormen abstrakt und darum auch interpretationsfähiger sein. Weil die politische Gesellschaft nicht statisch ist, sondern permanenten Veränderungen unterliegt, muß, soll nicht zwischen der soziologisch-politischen Situation der Gesellschaft und der Verfassung allmählich ein unüberbrückbarer Widerspruch entstehen, für die Anwendung der Verfassungsrechtsnormen ein Spielraum bestehen. Das heißt, die Verfassung als die Grundlage des politischen Regimes muß interpretiert und gegebenenfalls fortentwikkelt werden. In diese Aufgabe teilen sich die Rechtswissenschaft, die politische Praxis und das Bundesverfassungsgericht. Letzteres ist zur Interpretation der Verfassungsrechtsnormen deshalb besonders berufen, weil es mit letzter rechtlicher Verbindlichkeit das bestehende Verfassungsrecht verdeutlicht und die Verfassung fortentwickelt. Anders als die Interpretation und Fortentwicklung durch Rechtswissenschaft und politische Praxis ist die des Bundesverfassungsgerichts für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, für alle Gerichte und Behörden verbindlich.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner umfassenden Rechtsprechung zu den Grundrechten, zu den Prinzipien des Art. 20 GG, zu den Kompetenzabgrenzungen der Verfassungsorgane, zum Verhältnis zwischen Bund und Ländern die Verfassungsnormen unseres Grundgesetzes interpretiert, ihren Zweck verdeutlicht, Fehlverständnisse beseitigt und neue gesellschaftliche Entwicklungen mit den Verfassungsnormen bzw. umgekehrt in Einklang gebracht. So hat es das bundesstaatliche Prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG durch seine Entscheidungen über die Bundestreue und das bundesfreundliche Verhalten verdeutlicht. Der Art. 12 Abs. 1 GG über die Freiheit der Berufswahl und die Regelung der Berufsausübung erhielten durch die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte „Stufenlehre" der gesetzlichen Regelung der Berufsausübung eine völlig neue Dimension. Den politischen Parteien wurde durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung der ihnen theoretisch und verfassungsrechtlich adäquate Platz in unserem Regime zugewiesen. Das Wahlrecht zu den parlamentarischen Körperschaften wurde durch die Interpretation der Verfassungsnormen von den allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen erheblich beeinflußt. Sorgfältig steckte das Bundesverfassungsgericht die Grenzen des politischen Handelns von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat ab, indem es die dafür verbindlichen Kompetenznormen auslegte und bei Übergriffen der Amtsinhaber diese in ihre Kompetenzbereiche zurückwies. So wurde das Bundesverfassungsgericht in den 14 Jahren seiner Tätigkeit zu der wichtigsten Institution für die Verfassungsrechtsordnung. Seine jeweils letztverbindlichen Entscheidungen, die die Rechtswissenschaft und teilweise auch die politische Praxis ganz in ihren Bann geschlagen haben, haben das demokratische Regime der Bundesrepublik wohl am stärksten mitgeprägt. Das Bundesverfassungsgericht ist auf dem besten Wege, die politische Institution für die Bundesrepublik zu werden, die der Supreme Court für die Vereinigten Staaten geworden ist, seitdem im Jahre 1803 der Chief Justice Marshall das richterliche Prüfungsrecht gegenüber den Akten der Gesetzgebung und der Exekutive für das Gericht in Anspruch nahm. Von diesem Gericht sagte sein ehemaliger Chief Justice Hughes: „Wir leben unter einer Verfassung; aber die Verfassung ist das, was die Richter darüber sagen." Und noch treffender drückte sich der kürzlich verstorbene Richter Frankfurter aus: „Der Supreme Court ist die Verfassung." Dasselbe dürfte ohne Übertreibung in Zukunft vom Bundesverfassungsgericht gesagt werden können.

Das Bundesverfassungsgericht ist Integrationsfaktor Eine politische Gesellschaft wird dauernd von zentrifugalen Kräften bedroht. Stets ist sie in Gefahr, in divergierende Schichten, Gruppen und ihre einzelnen Glieder auseinanderzufallen, nur noch als formale Einheit durch Rechtsnormen und Androhung schwerer Sanktionen zusammengehalten. Das mag in einem autoritären Regime noch angehen, ist jedoch völlig unangebracht für ein demokratisches Regime.

In ihm müssen sich alle verantwortlichen Kräfte stets erneut um die „Integration" der politischen Gesellschaft bemühen. Das Bundesverfassungsgericht war sich von Beginn seiner Tätigkeit an bewußt, daß seine rechtsprechende Funktion stets auch integrierende Funktion ist. Die Verfassungsrichter sahen es stets als ihre Aufgabe an, an der Integration unserer politischen Gesellschaft mitzuwirken. Als wichtigste integrierende Beiträge des Bundesverfassungsgerichtes sind zu nennen: die von ihm geleistete Aufstellung eines Minimalkataloges der geistigen Gemeinsamkeit in unserem politischen Regime; die verfassungsrechtliche Aufwertung der politischen Parteien und die Herausarbeitung der Konzeption des Parteien-staates als einer neuen Variante des demokratischen Regimes; seine ausgleichende Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen Bund und Ländern, durch die den unitaristischen, die Substanz der Bundesländer aushöhlenden Tendenzen des Bundes ein Riegel vorgeschoben und die föderative Ordnung der Bundesrepublik substantiiert wurde; seine Entscheidungen zum prozessualen Schutz in Rechtsstreitigkeiten. Besonders hervorgehoben werden muß in diesem Zusammenhang das Institut der Verfassungsbeschwerde, durch das jedermann, wenn er sich durch die „öffentliche Gewalt" in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen Rechte verletzt fühlt, sich an das Bundesver-fassungsgericht wenden kann (§ 90 BVerfGG). Seitdem das Gericht seine Tätigkeit am 28. September 1951 ausgenommen hat, sind über 10 000 Verfassungsbeschwerden bei ihm eingegangen. Wenngleich von diesen nur etwa 1, 2 % erfolgreich waren, wenngleich sich darunter auch zahlreiche querulatorische Beschwerden befanden, so kann doch die integrierende Wirkung dieses Instituts und die der damit zusammenhängenden Rechtsprechung des Gerichts nicht hoch genug eingeschätzt werden. Abgesehen davon, daß durch die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nicht wenige Bürger zu ihren von der Verfassung gewährleisteten demokratischen Rechten gelangten, ist der edukatorische Effekt von allergrößter Bedeutung. Ist doch damit gewährleistet, daß der Bürger nicht einer „Obrigkeit" hilflos ausgeliefert ist, sondern als Mit-Träger des demokratischen Gemeinwesens seinen Status und seine Ansprüche auch gegen Maßnahmen und Verhaltensweisen der politischen Institutionen durchsetzen kann. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Verfassungsbeschwerden, besonders in den Fällen, in denen es negativ entschied, erheblich das Verhalten und die innere Organisation der anderen politischen Institutionen beeinflußt und so zu deren Demokratisierung beigetragen hat.

Das Bundesverfassungsgericht:

Gericht und Verfassungsorgan Aus den genanten Funktionen des Bundesverfassungsgerichts, besonders aus seiner Funktion als Integrationsfaktor, ergibt sich sein Status im institutionellen System der Bundesrepublik. Das Bundesverfassungsgericht ist das höchste Gericht, gleichzeitig ist es Verfassungsorgan, das gleichberechtigt neben den übrigen Verfassungsorganen, wie Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, steht. Sein Präsident ist deshalb Repräsentant eines Verfassungsorgans, seine Richter haben eine verfassungsrechtliche Stellung sui generis, weder sind sie einem Minister unterstellt noch an die Weisungen ihres Präsidenten gebunden. Dies war nicht immer so. Das Bundesverfassungsgericht mußte seinen Status als Verfassungsorgan erst in hartem Ringen mit der Bundesregierung und dem Bundestag gegen erhebliche Widerstände durchsetzen. Und obgleich dies mittlerweile selbstverständlich geworden ist, scheint es im politischen Bewußtsein der Bürger noch nicht so verbreitet zu sein, welche Bedeutung dieser Institution zukommt. Aber erst wenn dies der Fall ist, wenn der „Durchschnittsbürger" die Rolle dieses Gerichts in unserem demokratischen Regime erkannt hat, wird es als dessen wahrer Hüter gesichert sein. Denn das Bundesverfassungsgericht, das selbst „machtlos" ist, das darauf angewiesen ist, daß seine Entscheidungen, besonders diejenigen, die sich gegen mit eigener Macht ausgestattete Institutionen richten, akzeptiert werden, ist auf das Vertrauen der Gesamtgesellschaft angewiesen. Nur dann wird es als Vollendung der rechtsstaatlichen Demokratie wirken können, wenn es im Herzen der Bürger lebt.

4. Die föderative Demokratie

Das demokratische Regime der Bundesrepublik ist föderativer Art, es baut sich von unten nach oben auf, kennt deshalb keine geschlossene, zentralistische, sondern eine gegliederte, föderative Herrschaftsorganisation. In Art. 20 Abs. 1 und in Art. 28 Abs. 1 und 2 GG ist verfassungsrechtlich normiert, daß die bundes-republikanische Ordnung eine föderative Ordnung ist, deren Bestandteile der Bund als der Zentralstaat, die Länder als die Gliedstaaten und die Gemeinden als die untersten politischen Teileinheiten sind. Durch Art. 79 Abs. 3 GG ist die bundesstaatliche Struktur (nicht jedoch das Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung und auch nicht auf Erhalt der derzeit bestehenden Länder) als unabänderlich normiert. Welche Bedeutung kommt solcher föderativen Strukturierung des demokratischen Regimes zu?

Der Zweck der föderativen Demokratie Der kanadische Theoretiker der föderativen Ordnung Edward McWhinney hat am klarsten deren Ordnungsaspekt ausgedrückt, als er sagte, der Föderalismus sei eines der wirksamsten verfügbaren Instrumente, um überhaupt zu gewährleisten, daß die allgemein als gültig und richtig anerkannten Forderungen der sozialen Demokratie mit der Herrschaft des Rechts in Einklang gebracht werden. Wörtlich führt McWhinney aus: „Darüber hinaus bietet der Föderalismus anregende und lohnende Möglichkeiten, die Forderungen auf kulturelle Verschiedenartigkeit und geistiges Experimentieren zu erfüllen und zu einem Zeitpunkt zu unterstützen, wo durch einen Druck der allgemeinen Massennachrichtenmittel eine kulturelle Gleichförmigkeit und Eintönigkeit zu entstehen droht." Eine so betrachtete föderative Ordnung bietet die Chance, daß der Bürger näher an die organisierte politische Gesellschaft, ihre Institutionen und deren Amtsinhaber heranrücken kann. In einer föderativen Demokratie ist der Bürger nicht so absolut dem anonymen Entscheidungshandeln einer fernen Institution, zu der er ohne jede Beziehung ist, ausgesetzt wie in einem zentralistisch gestalteten Gemeinwesen. Vielmehr hat er die Möglichkeit, das politische Handeln der Amtsträger bewußter zu erfassen, bewußter daran Anteil zu nehmen und bewußter zu versuchen, darauf Einfluß zu nehmen.

Das Gesamte der politischen Gesellschaft kann von den Bürgern — weil gegliedert und nicht kompakt — leichter erfaßt werden. Im Föderalismus besteht ferner die Möglichkeit, die Bereiche staatlicher Tätigkeit, die sich gerade in unseren Tagen in einem fortwährenden Expansionsprozeß befinden, aufzugliedern und reversibler zu machen. Aber nicht nur der einzelne kann hier den Institutionen näher-rücken, auch die staatliche Herrschaftsausübung kann den Menschen und Dingen näher-rücken. Auf diese Weise kann erreicht werden, daß auch eine hochkomplizierte politische Gesellschaft der Gegenwart noch einigermaßen überschaubar und verstehbar bleibt. Gleichzeitig bedeutet Föderalismus stets auch Beschränkung und Hemmung der Herrschaftsausübung. Tritt doch hier neben die horizontale Gewaltentrennung die vertikale — territoriale — Gewaltentrennung. Dadurch wird eine zusätzliche Kontrolle der politischen Institutionen ermöglicht. Das System der „balance of powers" und der „checks and balances" wird in der föderativen Ordnung verstärkt. Ein föderativ aufgebautes politisches Regime wird dem Schutz des Bürgers, der Förderung seiner freien Existenz unter gleichen Bedingungen mehr gerecht als ein zentralistisch aufgebautes. Zwar ist die föderative Ordnung keine unabdingbare Voraussetzung der Demokratie, doch wird das demokratische Regime, das föderativ gestaltet ist, dem Ziel der Demokratie mehr entsprechen als ein zentralistisch gestaltetes, in dem alle Herrschaft einheitlich von zentralen Institutionen ausgeübt wird.

Ist die föderative Demokratie überholt?

Doch der föderativen Demokratie droht schon leit langem der Todesstoß. Schon im Jahre 1939 verkündete der große Theoretiker des englischen Sozialismus Harold L. Laski: „Das Zeitalter des Föderalismus ist vorbei." Damit gab er einem schon länger schwelenden Unbehagen Ausdruck, das in der Ansicht gipfelte, das bundesstaatliche System habe sich als Mittel innenpolitischer Ordnung überholt und der Bundesstaat sei ein Anachronismus. Und in der Tat begegnen wir heute allenthalben einer immer stärker werdenden anti-föderativen Bewegung und können einen Trend zur Vereinheitlichung feststellen. So ist der Kreis der Aufgaben, die ihrer Sachnatur nach noch in den unteren politischen Teileinheiten, wie Ländern und Gemeinden, erfüllt werden können, immer mehr zusammengeschmolzen. Das zwingende Gewicht der Technik, der Wirtschaft und des Verkehrs verlangen einheitliche Regelung, Organisation und Leitung. Die gewachsenen Verflechtungen und Interdependenzen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens wie die gestiegenen Planungs-, Lenkungsund Verteilungsaufgaben verlangen Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit. Konrad Hesse hat diesen Trend klassisch formuliert, wenn er sagt: „Der Sozialstaat verlangt nach Unitarisierung."

Der „unitarische Föderalismus" der Bundesrepublik Wie steht es nun mit der föderativen Demokratie in der Bundesrepublik? Kann unser institutionelles System gerechterweise noch als föderativ bezeichnet werden oder wurde es durch den Trend zur Vereinheitlichung schon so ausgehöhlt, daß wir zwar noch eine Fassade des Föderalismus, bestehend aus den formalen Gebilden „Länder" und „Gemeinden", haben, in Wahrheit aber zentralistisch regiert werden? Ist die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und deren Zusammenwirken, ist die Selbstverwaltung der Gemeinden noch substantiell föderativ? Der schon erwähnte Konrad Hesse hat in einer scharfsichtigen Analyse den Begriff des „unitarischen Bundesstaates" geprägt und gezeigt, daß in der Bundesrepublik eine zunehmende Konzentration staatlicher Aufgaben beim Bund zuungunsten der Länder festzustellen ist. Sowohl im Bereich der konkurrierenden (Art. 72, 74 GG) als auch der Rahmen-Gesetzgebung (Art. 75 GG) seien in der Regel nicht die Länder, sondern der Bund tätig geworden oder sei die Landesgesetzgebung weitgehend geschrumpft. In der Rechtsprechung sei die Hoheit der Länder weitgehend eingeengt worden, die bundeseigene Verwaltung sei in immer stärkerem Ausbau begriffen, der Einfluß des Bundes auf die Landesverwaltung nehme ständig zu.

Auf dieser Linie der Unitarisierung liegt auch die Selbstkoordinierung zwischen dem Bund und den Ländern sowie den Ländern untereinander, die bis jetzt über 420 Staatsverträge und Verwaltungsabkommen hervorgebracht hat. Da die meisten dieser Vereinbarungen zwischen den Ländern in den Bereichen erfolgt sind, in denen die Länder ausschließlich zuständig sind, kann daraus der starke Trend zur Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit am besten ersehen werden. Dadurch wird die politische Substanz der Länder mehr und mehr ausgehöhlt und die Freiheit des Landesgesetz-gebers insoweit immer stärker beschnitten, als er durch die Selbstkoordinierung der Länderregierungen präjudiziert wird. So muß man feststellen, daß in der Bundesrepublik die sachliche Unitarisierung weitgehend vollzogen ist. Jedoch muß man auch sagen, worauf mit Recht Konrad Hesse hingewiesen hat, daß das eine Erscheinung ist, die aus der Notwendigkeit der Zeit resultiert und daß es vergebens sein dürfte, sie aufhalten zu wollen. Unter dieser Entwicklung leidet auch der Bundesrat, der als Repräsentationsorgan der Länder ein Verfassungsorgan des Bundes ist. Zu oft opfert er sachlich berechtigte Länder-interessen der Neigung zu einem bequemen Konformismus oder nimmt erkannte Fehler und Mängel eines vom Bundestag beschlossenen Gesetzes hin. Immer häufiger wird auch bei ihm die Tendenz spürbar, das natürliche und notwendige Spannungsverhältnis zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten nicht aus-zutragen und nach außen nicht in Erscheinung treten zu lassen, obgleich die föderative Demokratie dieses Spannungsverhältnisses als eines belebenden Elements bedarf. Andererseits darf jedoch nicht vergessen werden, daß im Bundesrat der Bundesregierung eine weitere Kontrollinstitution neben der des Bundestages — die im Parteienstaat kaum mehr wirksam ist — entstanden ist. Kann sich der Bundesrat doch der Ministerialbürokratie der Länder bedienen, wodurch er Bundesregierung und Bundestag nicht nur als politisches, sondern noch mehr als administratives Element gegenübertritt. Wenn man dabei bedenkt, daß derjenige, der heute den administrativen Apparat beherrscht, auch weitgehend die politische Entscheidung beherrscht, so kann man ermessen, daß der Bundesrat, aller Unitarisierung zum Trotz, ein wesentlicher Faktor im institutioneilen System der Bundesrepublik ist.

Die freie Gemeinde in der föderativen Demokratie Föderative Demokratie bedeutet jedoch nicht nur Kompetenzverteilung auf Bund und Länder, sondern auch Selbstentscheidung und Selbstverwaltung der Gemeinden. In einer alten Verfassung ist zu lesen: „Die freie Gemeinde ist die Grundlage des freien Staates“.

Das bedeutet, nur die freie, in demokratischer Weise geordnete und geführte Gemeinde läßt eine freiheitliche Demokratie zu. Die „allzuständige" Gemeinde ist die kleinste politische Teileinheit unseres demokratischen Regimes, in der der Bürger aufgerufen ist, sich an der Gestaltung seiner unmittelbaren politischen Umwelt zu beteiligen. Die Gemeinde ist der Bereich, der für den Bürger noch am überschaubarsten ist, in dem seine unmittelbaren Existenzprobleme entschieden werden, an deren Lösung er indirekt oder direkt in einem ihm sonst verwehrten Maße teilnehmen kann.

Ist doch die Gemeinde und der Gemeindeverband (Landkreis) in unseren Tagen der politische Körper geworden, der gewissermaßen an vorderster Front in der Sorge für den Menschen steht. Es sind die Gemeinden und Gemeindeverbände, die heute vor allem die „Daseinsvorsorge" zu leisten haben. Sie müssen die gemeindlichen Verkehrsprobleme bewältigen, Krankenhäuser und Kindergärten unterhalten, Schulen aller Art, Altersheime und Sportanlagen bauen. Die Gemeinden sind für die Energieversorgung (Elektrizität, Gas, Wasser, Heizung) ebenso verantwortlich wie für die Abwasser-oder Müllbeseitigung. Darüber hinaus müssen sie als unterste Verwaltungsbehörden noch staatliche Verwaltungstätigkeit leisten. So erfährt der Bürger nicht nur in der Gemeinde politische Gesellschaft t am unmittelbarsten, sondern seine persönliche Existenz hängt in erster Linie vom Funktionieren der gemeindlichen Selbstverwaltung, das aber heißt vom Funktionieren der Demokratie auf der untersten politischen Ebene ab. Damit aber ist eines der schwierigsten Probleme im demokratischen Regime der Bundesrepublik angeschnitten.

Nicht etwa, daß die Gemeindebürger kein Interesse an der kommunalen Demokratie hätten — im Gegenteil. Die Anteilnahme der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten ihrer Gemeinden oder Gemeindeverbände ist weitaus lebhafter als die an den Angelegenheiten in den Ländern oder gar im Bund. Die Schwierigkeiten für die gemeindliche Demokratie sind institutioneller Art. Sie bestehen zum einen darin, daß den Gemeinden zwar ve’aissungsrechtlich die sogenannte „Allzuständigkeit" garantiert ist und damit all die oben erwähnten Aufgaben der Daseinsvorsorge übertragen sind, daß ihnen jedoch die dafür erforderlichen Finanzquellen nicht erschlossen wurden. So fehlen derzeit den westdeutschen Gemeinden ca. 157 Milliarden DM, um nur die dringendsten Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge erfüllen zu können. Fast alle Gemeinden sind bis an die zulässige Grenze verschuldet, und ständig wird ihnen durch die allgemeine Finanzpolitik ihr Steueraufkommen beschnitten. Die Folge ist, daß die Gemeinde mehr und mehr auf Zuschüsse des Bundes und ihrer Länder angewiesen sind. Dadurch aber wird die gemeindliche Demokratie nicht gefördert, sondern beschränkt, nach dem alten Sprichwort: „Wer bezahlt, schafft an." Die Bürger und ihre Repräsentanten in den Gemeinderäten sind in ihrer demokratischen Selbstentscheidung durch schlechte Finanzlage oder durch Auflagen von Seiten der Geldgeber erheblich beschnitten. So droht die freie demokratische Gemeinde in der Bundesrepublik zur bloßen Vollzugsbehörde des Bundes oder des Landes herabzusinken, wenn nicht umgehend die Finanzordnung der Bundesrepublik zugunsten der Gemeinden radikal umgestaltet wird.

Die andere Schwierigkeit ist in der totalen Interdependenz alles gegenwärtigen politischen Geschehens begründet. Trifft nämlich eine Gemeinde heute irgendeine Entscheidung, zum Beispiel in bezug auf den Straßenverkehr oder die Energieversorgung oder die Bildungseinrichtungen, dann werden dadurch nicht nur ihre eigenen Bürger, sondern auch die Bürger der umliegenden Gemeinden, ja unter Umständen auch die der benachbarten Gemeindeverbände betroffen. Große Projekte und Entscheidungen von weittragender Bedeutung gehen heute eigentlich schon über die Kompetenz einer Gemeinde hinaus. Der Zusammenarbeit, der Koordination langfristiger Pläne, der gemeinsamen Entscheidung mehrerer Gemeinden oder Gemeindeverbänden stehen aber immer noch erhebliche institutioneile und rechtliche Hindernisse entgegen. Man muß fragen, inwieweit die gemeindliche Selbstverwaltung in ihren überlieferten Grenzen den Erfordernissen der industriellen Groß-gesellschaftan die „Daseinsvorsorge" noch gerecht werden kann. Ist die „Allzuständigkeit" der Gemeinde heute noch gerechtfertigt oder müssen für den Aufbau der Demokratie von unten nach oben neue Formen und Strukturen gefunden werden? Die demokratische Organisation einer politischen Gesellschaft soll ja nicht starr sein, sondern — wie oben ausgeführt — sich den Veränderungen in der Gesellschaft anpassen. Wenn also die tradierte Organisationsweise der kommunalen Selbstverwaltung obsolet geworden ist, so müssen Bürger und Amtsinhaber sich um neue Organisationstypen bemühen. Als solcher bietet sich zum Beispiel die Region an. Sie könnte der künftige Organisationstypus demokratischer Selbstverwaltung werden. In diesem Zusammenhang kann nicht weiter auf das Problem der Region eingegangen werden. Doch sei eines noch bemerkt: Soll auch in Zukunft das demokratische Regime in der Bundesrepublik sinnvoll von unten nach oben gestaltet werden, so muß der Raumordnung und der Landesplanung eine weit größere Aufmerksamkeit gewidmet werden, als dies bisher der Fall ist. Sind das doch die Instrumente, mit deren Hilfe die alte Idee der demokratischen Selbstverwaltung in neue Formen gegossen und dadurch auch mit neuer Substanz angefüllt werden kann.

Der „neue Föderalismus"

Welche Chancen unser demokratisches Regime in der Zukunft haben wird, hängt mit davon ab, welche Chancen der föderativen Ordnung in der Bundesrepublik eingeräumt werden. Zwar ist — wie schon erwähnt — die Demokratie nicht unbedingt an den Föderalismus gebunden. Doch eine föderativ gegliederte politische Gesellschaft intensiviert den demokratischen Prozeß, eröffnet den Bürgern größere Möglichkeiten, sich am politischen Geschehen zu beteiligen, läßt das partei-politische Kräfteverhältnis ausgeglichener werden. Unter Umständen ist die föderative Demokratie auch eine ausgeglichenere Demokratie, eine stabilere Demokratie als die unitarische, da sie einen einheitlichen, in sich geschlosseneren Machtblock politischer Institutionen verhindert. Besonders aber kann eine föderative Demokratie ein „modernes" politisches Regime in dem Sinne sein, als durch den Wettbewerb zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eine Erstarrung des politischen Prozesses verhindert werden kann. Die die politische Gesellschaft bedrängenden Probleme können von der partiellen politischen Einheit aufgegriffen und Lösungen zugeführt, mindestens aber immer wieder in die öffentliche Debatte gebracht werden. Es wäre somit kurzsichtig, der föderativen politischen Ordnung in der Bundesrepublik den Abgesang zu singen. Solche Töne gefährden die demokratische Ordnung. Was not tut ist vielmehr, einen „neuen Föderalismus" theoretisch zu entwickeln und institutionell durchzusetzen. Dieser muß sich mit den Problemen der überlieferten Gemeinde-, Landkreis-, Bezirks-und gegebenenfalls auch Ländergrenzen befassen; er muß die Bildungsprobleme in den Mittelpunkt der zu erledigenden Aufgaben stellen und eine Konzeption für die institutioneile Koordination der Bildungspolitik zwischen Bund und Ländern entwerfen; in ihm muß die bisherige Dreigliedrigkeit Bund-Länder-Gemeinden umgewandelt werden in die neue Dreigliedrigkeit Bund-Länder-Regionen oder gar in eine Viergliedrigkeit, die die europäische Gemeinschaft einbezieht. Der „neue Föderalismus" muß einerseits die herkömmlichen Verschiedenheiten berücksichtigen, er muß andererseits notwendige Vereinheitlichungen durchsetzen; er muß ausgleichen und fördern, hegen und ändern; er muß neue Dimensionen des politischen Handelns eröffnen.

5. Die Parteiendemokratie

Unser demokratisches Regime ist ein parteien-staatliches Regime. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einer seiner ersten Entscheidungen präzise umrissen, wenn es sagt: „In der Demokratie von heute haben die Parteien allein die Möglichkeit, die Wähler zu politisch aktionsfähigen Gruppen zusammenzuschließen. Sie erscheinen geradezu als das Sprachrohr, dessen sich das mündig gewordene Volk bedient, um sich artikuliert äußern und politische Entscheidungen fällen zu können. Sie sind die . letzten Kreationsorgane aller anderen Organe ..., ohne deren Zwischenschaltung die amorphe Volksmasse gar nicht imstande wäre, die Organe der Staatsgewalt aus sich zu entlassen'(Gustav Radbruch). Heute ist jede Demokratie zwangsläufig ein Parteien-staat, da eine Verfassung, . welche alle Inhaber oberster Gesetzgebungs-und Regierungsgewalt aus Wahlen des Volkes oder Wahlen oder sonstigen Bestimmungsbefugnissenvolksgewählter Staatsorgane hervorgehen läßt, nicht zum Leben erweckt und nicht am Leben erhalten werden kann, wenn sich nicht frei aus der Gesellschaft irgendwelche Gruppen bilden, die ihre Häupter als Bewerber um die verschiedenen Wahlämter (Parlamentsmitglieder, Präsidenten, Minister und dergleichen) präsentieren'(Richard Thoma)" (BVerfGE Bd. 1, S. 224).

Die Väter unserer Verfassung, die von den Parteien der damaligen Landtage in den Parlamentarischen Rat entsandten Abgeordneten, waren sich der neuen Realitäten bewußt, als sie die politischen Parteien in Art. 21 GG zu einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben. Sie legten in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG fest: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." Sie beabsichtigen mit dieser Bestimmung, die in der Weimarer Verfassung zwischen der politischen Wirklichkeit und dem geschriebenen Verfassungsrecht bestehenden Spannungen zu beheben. Das Bundesverfassungsgericht interpretiert diesen Vorgang folgendermaßen: „Dadurch ist von Bundes wegen der moderne demokratische Parteienstaat legalisiert; die Parteien sind in die Verfassung eingebaut. Ein solcher Einbau enthält die Anerkennung, daß die Parteien nicht nur politisch und soziologisch, sondern auch rechtlich relevante Organisationen sind. Sie sind zu integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaus und des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens geworden. Sie stehen daher nicht wie andere soziale Gebilde nur in einer verfassungsmäßig gesicherten Position dem Staat gegenüber ... Die politischen Parteien nehmen in der heutigen Form der Demokratie eine Sonderstellung ein. Sie können und müssen als Faktoren-des Verfassungslebens anerkannt werden, da sie in dessen innerem Bereich stehen, während das gleiche für Gemeinden, Kirchen usw., die dem Staate allenfalls mit verfassungsmäßig gesicherten Rechten gegenüberstehen können, nicht behauptet werden kann" (BVerfGE Bd. 1, S. 225, 227).

Damit wurde vom Bundesverfassungsgericht eine Entwicklung bestätigt, die um die Jahrhundertwende begonnen hat, durch den Art. 21 GG eine verfassungsrechtliche Stütze erhielt und die heute unser überkommenes demokratisches Institutionensystem weitgehend überholt hat: die Entwicklung der Partteiendemokratie als einer neuen Art des demokratischen Regimes. Die Strukturverschiedenheit zwischen Parteiendemokratie und liberal-repräsentativer Demokratie In dem überlieferten institutioneilen System der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie, wie sie auch der Konzeption unseres Grundgesetzes zugrunde liegt, ist das Parlament das zentrale Verfassungsorgan. In ihm manifestiert sich die Gesellschaft als politische Einheit. Als Gesetzgebungsorgan handelt es repräsentativ für das Volk, seine Entscheidungen — frei und unabhängig, nur auf Grund eigener politischer Einsicht getroffen — sind verbindlich für alle Bürger. Als Kreationsorgan beruft es die Regierung und kann ihr das Mißtrauen aussprechen. Als Kontrollorgan überwacht es den Vollzug der Gesetzgebungsakte durch die Regierung und kontrolliert das übrige Regierungshandeln. Die Regierung kann nach dieser institutioneilen Regelung bei mangelndem Vertrauen das Parlament auflösen und die Wählerschaft als Schiedsrichter entscheiden lassen. Die Idee dieses Systems ist, daß zwei politische Institutionen, die einerseits voneinander abhängig sind, andererseits ihre Herrschaft getrennt, jedoch unter gegenseitiger Kontrolle ausüben, zusammen das Räderwerk der demokratischen Regierung bilden, das jedoch nur kreist, wenn Regierung und Parlament ihre Funktionen sachgerecht erfüllen. Im Bonner Grundgesetz ist dieses System schon durch den Art. 67, wonach der Bundestag den amtierenden Bundeskanzler das Mißtrauen nur durch Mehrheitswahl eines Nachfolgers aussprechen kann (sog. konstruktives Mißtrauensvotum), und durch Art. 68, der das Auflösungsrecht des Regierungschefs beschneidet, erheblich beeinträchtigt. Aber diese institutionelle Beeinträchtigung ist von geringer Bedeutung im Vergleich zu der strukturellen Umschichtung, die dieses System durch die politischen Parteien erfahren hat.

Das Parlament setzt sich nicht mehr aus unabhängigen, nur ihrem Gewissen unterworfenen, weisungsfreien Abgeordneten zusammen, wie es Art. 38 Abs. 1 Satz 2 unserer Verfassung postuliert, sondern ist die Wirkstätte der politischen Parteien geworden. Sie entscheiden heute ausschließlich darüber, wer in das Parlament einzieht. Hat doch die Konkretisierung des Art. 21 GG durch das Bundeswahlgesetz den politischen Parteien ein Quasimonopol bei der Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen und ein absolutes Monopol für die Listen-nominierung in den Ländern gewährt. Die politischen Parteien, die schon im Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzten Wahl mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, sind vom Unterschriftenquorum befreit, das noch nicht parlamentarisch vertretene Parteien ebenso wie parteifreie Kandidaten erbringen müssen (§§ 19, 21 BWG). Nur die Parteien können überhaupt Landeslisten aufstellen (§ 28 BWG), und deshalb nehmen auch nur sie am — für das Endergebnis entscheidenden — Verhältnisausgleich der Landes-listen teil. So haben die politischen Parteien fast das alleinige Präsentationsrecht für die Parlamentswahlen. In der politischen Wirklichkeit führt kein Weg mehr in das Parlament, es sei denn über eine politische Partei.

Das Parlament selbst wird getragen von den Fraktionen als den parlamentarischen Handlungseinheiten der Parteien. Die Parlamentsfraktionen besetzen aus ihren Reihen die parlamentarischen Ämter (Präsident, Vizepräsident, Schriftführer), sie entscheiden über die Zusammensetzung und den Vorsitz der Ausschüsse. Die Fraktionen und ihre Vorsitzenden sind es, die die Parlamentsfunktionen in Wahrheit ausüben. Sie entscheiden, ob ein Gesetzentwurf der Regierung oder des Bundesrates ernsthaft beraten wird, sie bringen die „Gesetzentwürfe aus der Mitte des Parlaments" ein (auch wenn ein einzelner Abgeordneter mit Unterstützung anderer Abgeordneter einen Gesetzentwurf einbringt, so geschieht dies doch nur mit Billigung seiner Fraktion), sie verabschieden die Gesetze und sie entscheiden über Anfragen an die Regierung. Es sind die Fraktionen der Mehrheitsparteien, die jeweils den Bundeskanzler kreieren, nachdem dieser in der Regel schon lange vor den Bundestagswahlen von den Partei-gremien bestimmt worden ist. Der Wahlakt im Plenum des Bundestags ist dann nur noch ein Akklamationsvorgang. Dasselbe dürfte gelten — was bisher noch nicht der Fall war — für die Abberufung der Regierung. Nicht mehr das Parlament als Gegenspieler des Kanzlers und seiner Minister entscheiden heute über deren Ablösung, sondern die Mehrheitspartei bzw. Mehrheitsparteien und ihre Fraktionen. Die alte institutioneile Gruppierung Parlament-Regierung ist nur noch formaler Art. Die neue reale Gruppierung heißt: Regierung und Mehrheitspartei(en) gegen Oppositionspartei(en). Es dürfte daher auch einleuchten, daß der einzelne Abgeordnete, der schon sein Mandat der Partei verdankt, streng an die Fraktion gebunden ist. Will die Fraktion wirksam handeln, so kann sie gar nicht zulassen, daß Abgeordnete als „unabhängige Repräsentanten des ganzen Volkes" im Parlament agieren.

Nicht daß jetzt etwa der Abgeordnete zum Befehlsempfänger der Fraktionsführung herab-sinken muß; nur kann er ohne die Fraktion seine Initiative und Aktivität nicht mehr im Parlament einsetzen. Diese sind aus dem Plenum in die Fraktionen verlagert. Dort kann der Abgeordnete seine Argumente vortragen, dort finden die Auseinandersetzungen um die künftige Marschrichtung der Fraktionen statt, dort werden die Kompromisse zwischen den divergierenden Gruppen geschlossen. Ziel ist dabei stets, als möglichst geschlossene Handlungseinheit aufzutreten. Um dies zu erreichen, nicht -bedarf es unbedingt eines „Frak tionszwanges" im verfassungsrechtlichen Sinne. Parteiloyalität und politische Vernunft erreichen in der Regel mehr als juristische Normen der Fraktionsgeschäftsordnungen (die übrigens einen „Fraktionszwang" nicht kennen). Im Parlament treten dann in der Regel die geschlossenen Blöcke der Fraktionen auf, die — auf Außenwerbung gerichtet — ihre gegenseitigen Ansichten verkünden, ohne Absicht — wie noch im klassischen Parlamentarismus — den Gegner rational zu überzeugen und für die eigenen Ansichten zu gewinnen. Somit muß festgestellt werden, daß das von unserer Verfassung konzipierte institutioneile System der liberal-parlamentarischen Demokratie, wie es sich besonders in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG manifestiert, durch die politische Realität der Parteiendemokratie, wie sie sich in Art. 21 GG manifestiert, teilweise aufgehoben worden ist. Das heißt, die zwischen den sich widersprechenden Strukturprinzipien des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und des Art. 21 Abs. 1 GG bestehende Spannung wurde zugunsten des Parteienstaates abgebaut. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt, als es in seinem Verbotsurteil gegen die SRP erklärte, daß die Bundestags-und Landtagsmandate der Abgeordneten, die auf Grund von Wahlvorschlägen der SRP gewählt wurden oder zur Zeit der Urteilsverkündung der SRP angehörten, ersatzlos fortfallen. Damit hat es sich an der Vorstellung vom Abgeordneten als Exponent einer konkreten Partei-organisation und nicht am Gedanken des Verbots des imperativen Mandats orientiert. Der Bundesgesetzgeber hat dieser Entscheidung Rechnung getragen, als er im Bundeswahl-gesetz von 1956 in § 49 die Folgen des Partei-verbots im Sinne der SRP-Entscheidung und damit der parteienstaatlichen Demokratie geregelt hat.

Die Auswirkungen der Parteiendemokratie Die künftige Problematik für unser demokratisches Regime wird sein, wie man die Struktur der Parteiendemokratie in die von der Verfassung vorgeschriebene Struktur der liberal-parlamentarischen Demokratie mehr und mehr einfügen kann. Das Bundesverfassungsgericht ist hier — wie oben schon angedeutet — mutig vorangegangen, als es den politischen Parteien den Status eines aktiv-legitimierten Verfassungsorgans für Verfassungsstreitigkeiten zubilligte (BVerfGE Bd. 4, S. 27— 31), als es in einer umfangreichen Rechtsprechung den Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit konkretisierte und als es erklärte, -eine finan zielle Unterstützung der politischen Parteien aus staatlichen Haushaltsmitteln sei prinzipiell mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Parteien seien nämlich vor allem Wahlvorbereitungsorganisationen, somit komme ihnen eine entscheidende Rolle bei der Durchführung einer öffentlichen Aufgabe zu (BVerfGE Bd. 8, S. 63;

Bd. 11, S. 242).

Auch im Selbstverständnis der meisten parteipolitischen Amtsinhaber in den Regierungen und Parlamenten des Bundes und der Länder sowie dem der Parteiführer tritt die Parteien-demokratie immer stärker zuungunsten der liberal-parlamentarischen Demokratie hervor.

Die großen Parteien der Bundesrepublik sind sich nämlich seit etwa Ende der fünfziger Jahre ihrer Funktionen in der Parteiendemokratie mehr und mehr bewußt geworden. Sie warfen ihren ideologischen und weltanschaulichen Ballast über Bord und wandelten sich von der Interessenpartei zur „offenen Volkspartei". Sie sind weithin offen geworden für alle Berufsstände und Interessenlagen, für alle Bekenntnisse einschließlich der Nicht-Gläubigen, für alle Altersgruppen der Aktivbürgerschaft. Sie sind sich klar darüber geworden, daß sie als Auffangorganisationen der divergierenden, ja oft gegensätzlichen Interessenverbände zu fungieren haben. Es ist ihnen gelungen, aus den unzähligen politischen Vorstellungen, Wünschen und Forderungen der Bürger, aus den sachlichen Notwendigkeiten, die ebenfalls nicht immer in Einklang miteinander zu bringen waren, Regierungs-und Alternativprogramme zu entwickeln und auf deren Grundlage als Regierung und Opposition mehr oder weniger wirksam politisch zu handeln.

Nicht hinreichend jedoch wurden sich bisher die großen politischen Parteien bewußt, daß sie auf Grund ihres Präsentations-und Kreationsrechts die Verpflichtung haben, für ein entsprechendes personelles Reservoir zu sorgen, aus dem sie die erforderlichen Amtsinhaber für Regierung, Parlament und Verwaltung nehmen können. Sind doch unsere politischen Parteien noch immer keine Mitgliederparteien, sondern Wählerparteien, so daß das deutsche Parteiensystem durch die Divergenz zwischen Parteianhängern und Parteimitgliedern gekennzeichnet ist, wie einige Zahlen zu zeigen vermögen. Bei der Bundestagswahl 1961 wurden 29, 36 Millionen Stimmen abgegeben; zur selben Zeit waren aber nur etwa 1 Million Bundesbürger Mitglied einer politischen Partei der Bundesrepublik.

Im einzelnen ergaben sich für das Jahr 1961 folgende Relationen zwischen Mitgliedern und Wählern der vier im Bundestag vertretenen Parteien:

SPD: 11 427 355 Stimmen — ca. 650 000 Mitgl.

CDU: 11 283 901 Stimmen — ca.

250 000 Mitgl.

FDP: 4 028 766 Stimmen — ca. 80 000 Mitgl.

CSU: 3 014 471 Stimmen — ca. 70 000 Mitgl.

Von den wahlberechtigten Bürgern sind somit höchstens 3 0/0 Mitglied in einer politischen Partei. Von diesen drei Prozent nehmen wiederum höchstens ein Prozent am aktiven Parteileben teil. Das hat für die Parteiendemokratie zwei bedenkliche Auswirkungen: zum einen wird der politische Prozeß unseres demokratischen Regimes von einer verschwindenden Minderheit gestaltet, während die überwältigende Mehrheit sich mit periodischen Entscheidungen begnügt, zum anderen ist das personelle Reservoir der deutschen politischen Parteien für ihre mannigfaltigen Aufgaben viel zu gering. Hinzu kommt, daß unsere politischen Parteien im Innern häufig verhärtet sind, so daß sowohl der Anreiz auf Außen-stehende als auch der Aufstieg der politisch Begabten innerhalb der Partei erschwert werden. Die „innerparteiliche Demokratie" der Parteien der Bundesrepublik läßt noch zahlreiche Wünsche offen und entspricht noch nicht den Erfordernissen des Parteienstaates.

Nicht gerecht werden dem Parteienstaat die Staats-und Verfassungsrechtslage sowie einige Vertreter der politischen Wissenschaft. Die Rechtswissenschaftler kommen aus ihrer je und je tradierten Normbindung heraus mit der Parteiendemokratie weitgehend noch nicht zurecht. Für manche von ihnen sind die Parteien immer noch privatrechtliche Gebilde, die das Volk mediatisieren und den „Staat" aufzulösen versuchen. Entschlossen halten sie an dem aus dem 19. Jahrhundert überlieferten institutioneilen System unseres Grundgesetzes fest und wollen nicht wahrhaben, daß die Verfassungspraxis längst über sie hinweg-gegangen ist. Aber auch politische Wissenschaftler, deren Forschungsgegenstand doch die politische Realität sein sollte, können sich zuweilen nicht von dem tradierten parlamentarischen Repräsentativsystem trennen, statt daß sie versuchen, aus der neuen Realität und den essentiellen demokratischen Prinzipien eine kritische Theorie des Parteienstaates zu entwickeln, wie es mit Erfolg — wenn auch noch nicht bis zur letzten Konsequenz durchgeführt — Gerhard Leibholz getan hat. Hier liegen vor der Rechtswissenschaft, besonders der Verfassungslehre, und vor der Politischen Wissenschaft, besonders vor der Regimelehre, nicht zu unterschätzende Aufgaben.

Die Zukunft der Parteiendemokratie Zusammenfassend können wir feststellen, daß in der Parteiendemokratie die politischen Parteien zu den zentralen politischen Institutionen geworden sind. Sie verfügen über die entscheidende Macht, die Verfassungsorgane und damit den staatlichen Apparat funktionieren und den politischen Existenzprozeß kontinuierlich fortschreiten zu lassen. Von ihren politischen Konzeptionen, ihren führenden Persönlichkeiten, ihrem politischen Handeln und Verhalten hängt heute weitgehend das Funktionieren unseres demokratischen Regimes ab. Es ist daher eine Existenzfrage unserer politischen Gesellschaft, ob die politischen Parteien ihre Aufgaben sachgerecht erfüllen und die ihnen zur Verfügung stehende ungeheure Macht weise gebrauchen. Sind es doch heute vor allem die politischen Parteien, die die demokratische Ordnung gefährden und gegebenenfalls auch zerstören können.

Deshalb muß die Wachsamkeit der Aktiv-bürgerschaft sich auch auf die Parteien und deren Vertreter in Parlament, Regierung und Verwaltung richten. Die Parteien brauchen nämlich noch lange nicht verfassungswidrig im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG zu sein, um die freiheitliche Demokratie zu pervertieren. So können sie zum Beispiel als Regierungsparteien an Stelle des Gemeinwohls das Wohl der Partei oder einer von ihr begünstigten Gruppe setzen; als Oppositionspartei können sie ihre Aufgabe, die Regierungsparteien zu kontrollieren und Alternativkonzeptionen zum Regierungshandeln anzubieten, vernachlässigen; so können die großen Parteien der Bundesrepublik eine sogenannte große Koalition bilden, in denen es keinen wirksamen Gegenpol einer politischen Partei mehr gibt und auf diese Weise ihre Herrschaft unkontrolliert auf lange Zeit festigen, so daß der Wahlakt zur Farce wird. Solche und ähnliche Verhaltensweisen wären der Beginn der Perversion der Parteiendemokratie. Das Selbstverständnis unserer politischen Parteien und ihrer Führer sollte Garantie dafür sein, daß dieser Zustand nicht eintritt. Kann man sich aber auf diese Garantie verlassen? Um so wichtiger ist es, daß die Kommunikationsmittel, die Wissenschaft, die pluralistischen Gruppen, ja letztlich alle Aktivbürger die politischen Parteien als die neuen Machtträger einer stetigen Prüfung in bezug auf ihr demokratisches Handeln und Verhalten unterziehen.

6. Das Wahlsystem

Im demokratischen Regime manifestiert sich der Status des Bürgers als des ursprünglichen Herrschaftsträgers vor allem im Wahlrecht.

Dieses kann er auf dreifache Weise verwirklichen: als Nominationsrecht, als Auswahl-recht und als passives Wahlrecht. Durch das Nominationsrecht kann er aus dem Kreise seiner Mitbürger Personen als Kandidaten für das Parlament vorschlagen. Dieses Recht ist in der Parteiendemokratie zwar auf die Mitglieder von politischen Parteien beschränkt, wird jedoch dadurch nicht prinzipiell beeinträchtigt, da es jedem Bürger freisteht, einer politischen Partei beizutreten oder die politische Partei zu wechseln. Im Auswahlrecht kann sich der Bürger für die von den politischen Parteien nominierten Kandidaten entscheiden. Auch dies ist im Parteienstaat beschränkter als in der liberal-parlamentarischen Demokratie. Es ist jedoch nicht, wie die Gegner des Parteienstaates immer erneut klar machen wollen, zu einer reinen Akklamation herabgesunken, Niemand wird nämlich bestreiten können, daß eine Entscheidungsmöglichkeit zwischen zwei oder mehreren Parteien eine Realisierung des Auswahlrechts bedeutet. Durch das passive Wahlrecht kann sich der Bürger, soweit er die wenigen Voraussetzungen dafür erfüllt (25 Jahre, mindestenz ein Jahr deutscher Staatsangehöriger, vom aktiven Wahlrecht nicht ausgeschlossen, kein Ruhen des Wahlrechts, Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter), grundsätzlich der Wählerschaft als Kandidat präsentieren. Wie oben schon gezeigt, ist auch dieses Recht in der Parteiendemokratie erheblich eingeschränkt. Nur als Mitglied einer politischen Partei kann der Bürger sein passives Wahlrecht verwirklichen.

Aus den Einschränkungen des Wahlrechts des Bürgers in der Parteiendemokratie wird deutlich, daß die jeweilige Struktur des demokratischen Regimes und die Gestaltung des Wahl-systems wesentlich zusammengehören. Beide bedingen einander und hängen voneinander ab. Doch dürfte es übertrieben sein, zu behaupten, durch eine bestimmte Gestaltung des Wahlsystems könne die demokratische Struktur einer politischen Gesellschaft in einem bestimmten Sinne verändert und bestimmte Fehlentwicklungen verhindert werden. In erster Linie nämlich ist das Wahlsystem ein Ausfluß der jeweiligen demokratischen Struktur und nicht umgekehrt, wobei begrenzte Einwirkungen des Wahlsytems auf die Struktur nicht ausgeschlossen werden können. Aus solcher Interdependenz folgen auch die Kriterien für ein Wahlsystem, die nicht theoretisch-abstrakt nach politischen Wunschvorstellungen in wissenschaftlichen Instituten entwickelt werden können. In der Parteiendemokratie sollen die Parlamentswahlen einige politische Parteien als handlungsfähige Einheiten in das Parlament bringen. Das konkrete Wahlsystem soll diesen Zweck fördern.

Das Wahlsystem für den Deutschen Bundestag Die wahlrechtlichen Grundlagen für die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind das Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 in der Fassung vom 14. Februar 1964. Das Wahlsystem ist demnach in einem einfachen Gesetz geregelt und nicht in der Verfassung. Das Grundgesetz hat nur die allgemeinen Prinzipien, daß die Wahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein müssen, für das Wahlgesetz (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) festgelegt, nicht jedoch über die Art des Wahl-systems entschieden, wie etwa die Weimarer Reichsverfassung, die in Art. 22 Abs. 1 Satz 2 bestimmte, daß die Abgeordneten des Reichstags nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden, über die Lösung im Grundgesetz kann man streiten. Doch wenn man bedenkt, daß die Verfassung die Kreation der Amtsinhaber der übrigen Verfassungsorgane, des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Bundesminister, der Mitglieder des Bundesrates, der Bundesverfas-sungsrichter genau vorschreibt, muß man fragen, warum die Kreation der Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht von der Verfassung vorgeschrieben ist. Allgemein ist anerkannt, daß die Kreation der Amtsinhaber von Verfassungsorganen eine von der Verfassung zu regelnde Rechtsmaterie ist. Diese wissenschaftliche Übereinstimmung ist nicht überall verwirklicht, jedoch sollte grundsätzlich die Bestellung der Parlamentarier durch die Wähler der Disposition der jeweils herrschenden Parteien entzogen sein. Ist doch bei nicht \ erfassungsrechtlicher Regelung des Wahlsystems die Gefahr nicht auszuschalten, daß die Mehrheitspartei oder Mehrheitsparteien ihren Vorsprung durch Manipulation des Wahlrechts für die Zukunft absichern. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rats sahen dieses Problem, konnten sich jedoch nicht entschließen, einen bestimmten Wahlmodus verfassungsrechtlich festzulegen. Die unsichere Zukunft der Demokratie in Deutschland, die verworrene außenpolitische Situation, die parteipolitische Konfusion, das alles bewog sie, so wenig wie möglich Wahlfragen endgültig zu entscheiden. Da sich inzwischen die Bundesrepublik politisch konsolidiert hat, wäre es an der Zeit, daß der 5. Deutsche Bundestag sich zu einer verfassungsrechtlichen Normierung des Wahlsystems entschließt.

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in 248 Wahlkreisen nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt (§ 1 BWG). 248 Abgeordnete werden in direkter Wahl in den einzelnen Wahlkreisen nach dem Grundsatz der relativen Mehrheitswahl mit der soge-nannten Erststimme gewählt; 248 Abgeordnete werden in den Bundesländern auf Landeslisten nach dem Grundsatz der Verhältniswahl mit der sogenannten Zweitstimme gewählt; 22 Abgeordnete entsendet Berlin; sie werden vom Berliner Abgeordnetenhaus nominiert und sind im Bundestag nicht stimmberechtigt. Trotz der Direktwahl von fast 50 °/o der Abgeordneten ist das Wahlrecht ein Verhältniswahl-system, denn über die Sitzverteilung an die einzelnen Parteien entscheiden nicht die gewonnenen Direktmandate (§ 5 BWG), sondern die für die Parteilisten abgegeben Zweitstimmen (§ 6 BWG).

Mehrheitswahlsystem oder Verhältnis-wahlsystem? Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag ist von den Gegnern des Verhältniswahlsystems seit langem heftigen Angriffen ausgesetzt, mit dem Ziel, es durch das Mehrheitswahlsystem zu ersetzen. Die Befürworter dieses Wahl-systems orientieren sich dabei fast ausschließlich an der politischen Struktur der beiden ältesten und kontinuierlich entwickelten Demokratien: England und Vereinigte Staaten von Amerika. Sie argumentieren, das Mehrheitswahlsystem würde das Zwei-Parteien-System erheblich begünstigen; in jedem Wahlkreis könnten nämlich jeweils höchstens zwei Kandidaten mit einer ernsthaften Erfolgschance rechnen, so daß die kleineren Parteien sich entweder zu einer großen Partei zusammenschließen oder in einer großen Partei aufgehen würden. Das Mehrheitswahlsystem bringe im Gesamtergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit einer einzigen Partei die Mehrheit der Mandate, wodurch die Regierungsbildung gesichert sei. Auf diese Weise würde ein klarer Regierungskurs ermöglicht, die Regierung sei stabil, die vor der Wahi propagierte Gesetzgebung könne durchgeführt werden. Das Mehrheitswahlsystem begünstige die Chance des Machtwechsels, es ermögliche eine geschlossene Opposition, der Wähler erhalte eine wirkliche Alternative und Auswahlmöglichkeit geboten, sein Wille werde in späteren Koalitionsverhandlungen nicht verfälscht. So trage das Mehrheitswahlsystem zur Stabilität des demokratischen Regimes bei, verringere die Gefahr des Totalitarismus, neugegründete Parteien hätten es schwer, Erfolge zu erringen, die im Parlament vertretenen Parteien wären gezwungen, rationale Politik zu treiben, um die „Mitte“ zu pendeln, sich mehr und mehr anzugleichen. Demgegenüber wiege der Vorwurf der „Ungerechtigkeit“, daß nämlich der für die erfolglosen Kandidaten abgegebene Stimmenanteil ersatzlos wegfalle, leicht.

Der kleine Naditeil würde durch die großen Vorteile leicht ausgeglichen.

Die Verfechter solcher Gedankengänge fordern immer wieder mit Nadidruck, auch die Bundesrepublik müsse das Mehrheitswahlrecht — gegebenenfalls mit kleinen Variationen, wie der einer Bundesliste — einführen. Sie malen alle vermeintlichen Nachteile des Verhältniswahlsystems und die angeblich dadurch verursachten Miseren übertrieben aus. Sie erblicken im Mehrheitswahlsystem das Heil für unser demokratisches Regime, erwarten davon die Lösung aller strukturellen Probleme. Ihrer Ansicht nach würde dadurch die Demokratie in der Bundesrepublik für immer gesichert sein. Bleibe jedoch das Verhältniswahlsystem, so argumentieren sie, so sei die Wiederholung der politischen Vorgänge von 1933, wenn vielleicht mit anderen Vorzeichen, vorauszusagen. Müßig, darauf hinzuweisen, wie einseitig eine solche Auffassung ist. Ein Wahlsystem ist ein Instrument, um die Amtsinhaber des Parlaments zu ermitteln, aber nicht mehr. Vor allem ist es kein Heilmittel für ein labiles demokratisches Regime. Wir haben oben zu zeigen versucht, wie vielfältig die Voraussetzungen der Demokratie sind, wie kompliziert das institutioneile System ist, welche Anforderungen an Bürger und Amtsinhaber gestellt werden müssen, damit das demokratische Regime funktioniert. Man kann diese Komplexität nicht auf die Frage nach dem Wahlsystem reduzieren. Deshalb ist Theodor Heuss voll zuzustimmen, der sich im Parlamentarischen Rat mit großem Ernst dagegen gewandt hat, im Mehrheitswahlrecht die Patentlösung für alle Probleme zu erblicken. Heuss sah zu Recht das englische und amerikanische Zweiparteiensystem in historischen, nicht in wahlrechts-technischen Ursachen begründet. Er warnte vor der „Ersatzreligion" des Wahlrechtsdogmatismus und wies darauf hin, daß das Mehrheitswahlrecht unter Umständen gerade die Wahl von Persönlichkeiten, besonders von Frauen erschwere.

Mit dem Gesagten sollen bestimmte Vorteile des Mehrheitswahlsystems keineswegs geleugnet werden. Das offene Problem ist nur — und dem scheinen seine Befürworter noch nicht nachgegangen zu sein —, ob erstens das Mehrheitswahlsystem nicht primär in der englisch-amerikanischen Tradition verwurzelt ist und deshalb kaum mit dem dortigen Erfolg auf deutsche Verhältnisse übertragen werden kann und ob es zweitens nicht wesentlich mit dem liberal-repräsentativen Parlamentarismus verbunden ist und der Parteiendemokratie nicht gerecht wird. Die jüngsten Entwicklungen in England scheinen gerade das letztere zu bestätigen. So ist bekanntlich die Mehrheit der Labour-Party unter Premier-Minister 'Wilson äußerst gering, eine Abstimmungsniederlage im Unterhaus ist jederzeit möglich, so daß von stabiler Regierung keine Rede sein kann. Die liberale Partei — als dritte Partei — hat gegenüber den vorletzten Unterhaus-wahlen Stimmen und Sitze gewonnen, sie kann gegebenenfalls das Zünglein an der Waage sein und das Programm der Regierungspartei unter Umständen beschneiden. Die Nachwahl für den ersten Außenminister der Labourregierung, Gordon Walker, war alles andere als ein Argument für das Mehrheitswahlsystem. Hätte es in England so etwas wie eine Liste als Ergänzung des dortigen Mehrheitswahlrechts gegeben, hätte der Außenminister nicht wie ein Hausierer von Ort zu Ort ziehen müssen, um dann doch die Wahl gegen einen unbekannten, politisch nicht ausgewiesenen Kandidaten der Konservativen zu verlieren, eines Kandidaten, der eben nicht wegen seiner Persönlichkeit, sondern wegen seiner Parteizugehörigkeit gewählt wurde. Mögen diese Beispiele noch Einzelfälle sein, so dürfte doch deutlich werden, daß im Parteienstaat das Mehrheitswahlsystem nicht mehr die Prioriät in Anspruch nehmen kann wie in der liberal-parlamentarischen Demokratie.

In der Parteiendemokratie entscheiden sich die Wähler zwischen den politischen Parteien und den von ihnen präsentierten Personen und nicht mehr zwischen Einzelpersönlichkeiten wie in der früheren Honoratiorendemokratie. Die Wahl ist eine plebiszitäre Entscheidung der Aktivbürgerschaft zwischen den von den Parteien benannten Kandidaten und zwischen den von diesen unterstützten Partei-programmen. Das Verhältniswahlsystem wird dieser neuen politischen Situation gerechter als das Mehrheitswahlsystem, insbesondere wenn es — wie das Bundeswahlgesetz — Elemente des letzteren Systems mit einbezieht.

Doch darf man bei diesem Moment nicht übersehen, daß auch hier die Direktkandidaten als Parteikandidaten gewählt werden. Die Listen-wahl bietet zwei Vorteile: sie ermöglicht erstens die parteiinterne Auswahl von Personen, auf die die Parlamentsfraktion, will sie politisch wirksam werden, nicht verzichten kann, weil sie adäquat die soziale Struktur der Gesellschaft widerspiegelt, was beim Mehrheitswahlrecht nicht gegeben ist; zweitens gibt die Listenwahl die Möglichkeit, die proportionale Anteilnahme der Parteien an der politischen Gesellschaft sachgerecht auszudrücken. Das bedeutet nicht, daß jede politische Ansicht in der Gesellschaft durch eine Partei im Parlament vertreten sein muß; solches begrenztes Denken widerspricht der Idee der handlungsfähigen Demokratie in der industriellen Massengesellschaft. Es bedeutet, daß die in der Gesellschaft verwurzelten Parteien — und das werden stets nur wenige Parteien sein — einen adäquaten Anteil der Parlamentssitze erhalten.

Die Gegner des Verhältniswahlsystems bauschen dessen negative Folgen auf. Das moderne Verhältniswahlsystem mit seinen schwierigen Zulassungsvoraussetzungen, seinen Sperrklauseln beim Verhältnisausgleich und seinen Grundmandatsklauseln, die gegebenenfalls verstärkt werden können, bietet mindestens die gleichen Sicherungen gegen Extremparteien, gegen Splittergruppen und instabile Regierungen. Natürlich lassen sich beim gegenwärtigen Bundeswahlrecht noch Verbesserungen anbringen; man kann an die Einführung des Grabensystems denken (dieses System ist wahltechnisch dem derzeitigen Bundestagswahlsystem völlig gleich, unterscheidet sich von ihm jedoch in der Berechnung der Sitze. Die Ergebnisse der Mehrheitswahl im Einerwahlkreis sind nämlich ohne Einfluß auf die Ergebnisse der Verhältniswahl und umgekehrt. Ein Teil der Parlamentarier würden dann nach dem Mehrheitswahlsystem, ein anderer Teil nach dem Verhältniswahl-system gewählt.), oder freie Listen einführen (wie in Bayern) oder an Nachwahlen beim Wegfall des Direktkandidaten im Wahlkreis denken. Grundsätzlich dürfte aber das gegenwärtige Wahlrecht zum Deutschen Bundestag seinen Zweck in unserer Parteiendemokratie sachgerecht erfüllen.

Blicken wir am Schluß unserer Betrachtungen auf die zahlreichen Probleme zurück, die wir angeschnitten haben, so können wir feststellen: das demokratische Regime ist der komplizierteste, schwierigste, gleichzeitig gegen Störungen anfälligste und gefährdetste Regimetyp, den Menschen im Laufe der Geschichte geschaffen haben; es ist aber auch das kunstvollste und wunderbarste politische Gebilde, das Menschen je ersonnen haben; ist die Demokratie doch das politische Regime, das dem Menschen allein die volle Aktualisierung seines Wesens ermöglicht. Es sollte daher das vitale Interesse aller Menschen sein, die — wie die Bürger der Bundesrepublik — das Glück haben, in ihm zu leben, sich um seinen Bestand und um seine kontinuierliche Weiterentwicklung zu sorgen.

Fussnoten

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HeinzLaufer. Dr. jur. utr.; geb. 22. April 1933 in Würzburg; nach dem Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie und Politischen Wissenschaft juristische Staatsprüfung und Promotion; von 1958 bis 1964 Assistent an den Universitäten Würzburg und München; derzeit Lehrbeauftragter für Politische Wissenschaft an der Universität München und Dozent an der Hochschule für Politische Wissenschaften in München; seine Hauptarbeitsgebiete innerhalb der Politischen Wissenschaft sind Regimelehre (government) und Politische Theorie; gegenwärtig arbeitet er an einer größeren Studie über das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozeß. Veröffentlichungen u. a.: Das Kriterium politischen Handelns, 1961; homo homini homo, 1962; Die freiheitliche Demokratie, 1964; Die Schiedsgerichtsbarkeit der deutschen Parteien, 1965.