Die deutsche Außenpolitik steht im Spannungsfeld zweier Hauptziele: der Erringung der Wiedervereinigung und der Erhaltung des Friedens. Die Wiedervereinigung bedingt eine Veränderung des Status quo in Zentralmitteleuropa, so wie er unter stillschweigender Billigung von Ost und West zur Grundlage der gegenwärtigen detente-Politik geworden ist; die Erhaltung des Friedens bedingt — zumindest nach der sowjetischen Auffassung — die Einzementierung des Status quo und damit zugleich die Verfestigung der deutschen Spaltung. Die Formel „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit" verdeckt lediglich diese Spannung zwischen den beiden großen Zielen der deutschen Außenpolitik, sie löst sie nicht. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen unterliegen dieser außenpolitischen Situation. Für die deutsche Ostpolitik folgt, daß sie eine relativ geringe Bewegungsfreiheit hat.
I. Die Entwicklung in der ersten Jahreshälfte 1964
Das deutsch-sowjetische Verhältnis in der ersten Hälfte des Jahres 1964 entwickelte sich zunächst in den gewohnten Bahnen, das heißt, es entwickelte sich überhaupt nicht. Die allgemeine Atmosphäre war frostig. Hierzu zwei Beispiele: Am
Daneben ging der deutsch-sowjetische Dialog weiter. Am 31. Dezember 1963 hatte Chruschtschow ein betont gemäßigtes Schreiben an Bundeskanzler Erhard gerichtet 1), in dem er ein Abkommen zur friedlichen Regelung territorialer Streitigkeiten zwischen den Staaten anregte. Zur Frage der deutschen Wiedervereinigung bemerkte er, daß „die Frage der Vereinigung selbstverständlich von den Völkern der Staaten selbst und von ihren Regierungen* ohne Einmischung und ohne Druck von außen" gelöst werden müsse. Während die Befassung der „Regierungen" mit diesem Problem dem Ulbricht-Regime allerdings ein klares Mitspracherecht zuzuschanzen bemüht ist, fehlt in diesem Brief noch die später auftauchende Behauptung, daß die Verschiedenheit der sozialen Systeme in beiden Teilen Deutschlands die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts auf die deutsche Frage unmöglich mache.
Bundeskanzler Erhard antwortete am 18. Februar in konziliantem Ton
Die Tass-Erklärung vom 7. März 1964
Auf diesen pathetischen Appell antwortet die Sowjetunion am 7. März mit einer „autorisierten TASS-Erklärung", die in äußerst rüdem Ton den bekannten Katalog sowjetischer Vorwürfe gegen die Bundesrepublik aufführt
Auch der Westen sei mit dem Bestehen zweier deutscher Staaten einverstanden. Die Teilung Deutschlands widerspräche nicht den nationalen Interessen Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten. Was West-Berlin anbetreffe, so habe es nie zum Bestand der Bundesrepublik gehört und „wird niemals zu ihm gehören". Die Note ergeht sich dann in erneuten Vorwürfen des Revanchismus. Die Bundesrepublik wird als „der aggressivste und abenteuerlichste Staat in Europa" bezeichnet, und es wird behauptet, daß die Bundesrepublik den Zugang zu Kernwaffen fordere.
Bundeskanzler Erhard nennt die TASS-Erklärung am 17. März einen „deutlichen Rückfall in die Vulgärpropaganda, die die stalinistische Epoche gekennzeichnet hat". Das „Bulletin" der Bundesregierung widerlegt in einer Stellungnahme vom 10. April 1964 die Behauptung von TASS 4), welche als „propagandistisches Instrument" apostrophiert wird. Die ungezügelte Polemik beweise nur, daß ihr Argumente fehlten. „Man kann eben Politik nicht durch Beschimpfungen ersetzen." Interessant ist an der Stellungnahme, daß sie eine Formulierung enthält, welche die Möglichkeit einer Entschädigung für die Freigabe der sowjetischen Besatzungszone andeutet. „... Vielleicht fürchtet sie (die Sowjetunion), die Freigabe eines Gebietes, in dem der Kommunismus herrscht, werde der Sowjetunion politische und wirtschaftliche Nachteile bringen. Indessen: Solche Befürchtungen sind unserer Ansicht nach grundlos. Das deutsche Volk und jede gesamtdeutsche Regierung wären bestimmt bereit, dafür zu sorgen, daß der Sowjetunion aus der Wiedervereinigung kein Schaden entsteht."
II. Der Beistandspakt zwischen der UdSSR und der SBZ vom 12. Juni 1964
Mit dem Abschluß des Beistandspaktes zwischen der UdSSR 5) und der SBZ vom 12. Juni 1964 treibt die Sowjetunion ihre Bemühungen um die Zementierung des Status quo in Zentralmitteleuropa ein beträchtliches Stück voran. Die Grundsätze der sowjetischen Deutschlandpolitik erfahren nunmehr ihre vertragliche Fixierung 5a). Der Vertrag erweist sich dabei als ein weiterer Versuch, die „DDR" völkerrechtlich aufzuwerten — ein Versuch allerdings, der den Westen in keiner Weise völkerrechtlich bindet 6), über den Vertrag vom 20. September 1955 über die Beziehungen zwischen der „DDR" und der UdSSR geht der Vertrag vom 12. Juni 1964 erheblich hinaus. Der neue Vertrag ist detaillierter. In seinem Mittelpunkt steht die Sicherung der territorialen Integrität der Zone. Das Abkommen von 1955 hatte diese ausgeprägte Tendenz noch nicht. Es enthielt noch einige allgemein gehaltene Bekenntnisse zur Wiedervereinigung
Andererseits steht der Bündnisvertrag von 1964 erheblich hinter den früheren sowjeti-sehen Ankündigungen — im besonderen hinter der sowjetischen Drohung mit einem separaten Friedensvertrag — zurück. Der Vertrag enthält Elemente, die ein gewissermaßen heimliches juristisches Umgehen des angekündigten separaten Friedensvertrages darstellen. Die nunmehr auch urkundlich gewordene Revozierung des Berlin-Ultimatums von 1958 deutet ebenso wie die frühzeitige Unterrichtung der Westmächte auf die Intention der UdSSR, die Spannungen in der deutschen Frage nicht zu verschärfen.
Zur Frage der Zweistaatentheorie
Die in Artikel 7 aufs neue bekräftigte und durch den Vertrag insgesamt weiter realisierte Zweistaatentheorie ist völkerrechtswidrig
Die Völkerrechtswidrigkeit der sowjetischen Zweistaatentheorie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie gegen die Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen — im besonderen gegen das in Artikel 2 Ziffer 7 SVN niedergelegte Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates — verstößt und das Selbstbestimmungsrecht der Völker verletzt. Der SBZ fehlen die notwendigen staats-und völkerrechtlichen Voraussetzungen der Staatlichkeit
Die Bildung eines mitteldeutschen Separatstaates stellt auch eine Verletzung der UNO-Resolution vom 14. Dezember 1960 dar, in der in Ziffer 6 jeder Versuch, „die nationale Einheit und territoriale Integrität eines Landes ganz oder teilweise zu zerbrechen“ (als) „mit den Zielen und Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen unvereinbar" bezeichnet wird
Letztlich ist auch auf den Widerspruch zwischen der Verpflichtung zur „Beseitigung des Kolonialismus" in Artikel 3 des Vertrages und der Zweistaatenthese hinzuweisen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrer Resolution vom 14. Dezember 1960 als kolonialistische Bemühung jeden Versuch bezeichnet, die nationale Einheit und territoriale Integrität eines Landes ganz oder teilweise zu zerstören. In der Konstituierung des sowjetzonalen Separatstaates als einer quasi-sowjetischen Kolonie ist im Widerspruch zu Artikel 3 des Vertrages von 1964 ein Versuch zu sehen, von dem souveränen deutschen Nationalstaat, der ein allgemein anerkanntes Völkerrechtssubjekt ist, einen Teil abzutrennen.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Der Vertrag verstößt schließlich auch gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das von der sowjetischen Völkerrechtspublizistik als ein Völkerrechtsgrundsatz von normativem Charakter angesehen wird
Verzicht auf einen separaten Friedensvertrag Das Abweichen von der sowjetischen Drohung, mit der SBZ einen separaten Friedensvertrag zu schließen, ist im Vertrag von 1964 evident. Dies kommt sowohl in Artikel 9 zum Ausdruck, der das sowjetische Interesse erkennen läßt, die Spannung in Mitteleuropa nicht zu verschärfen, als auch in Artikel 2 Absatz 1, der die SBZ und die Sowjetunion verpflichtet, „für den Abschluß eines deutschen Friedensvertrages und die Normalisierung der Lage in West-Berlin einzutreten"
Begrenzte Fortgeltung des Potsdamer Abkommens?
Artikel 9 bringt zum Ausdruck, daß die Rechte und Pflichten aus dem Potsdamer Abkommen „nicht berührt werden". Diese Formulierung läßt nicht den Schluß zu, daß nach der Auffassung der UdSSR das Potsdamer Abkommen als Ganzes fortbestehe, und im besonderen nicht, daß die Viermächteverpflichtungen aus dem Potsdamer Abkommen hinsichtlich der Einheit Deutschlands weiterhin Gültigkeit haben.
In der sowjetischen Note vom 27. November 1958 hatte die Sowjetunion sehr energisch betont, daß die Westmächte das Potsdamer Abkommen in mehrfacher Hinsicht grob verletzt und dadurch die „Schaffung eines einheitlichen, friedliebenden, demokratischen deutschen Staates" unmöglich gemacht hätten; infolgedessen seien „in Deutschland zwei deutsche Staaten entstanden": „Somit hat die Politik der USA, Großbritanniens und Frankreichs, die auf die Militarisierung Westdeutschlands und seiner Einbeziehung in den Militär-block der Westmächte gerichtet war, auch die Erfüllung derjenigen Bestimmungen des Potsdamer Abkommens vereitelt, welche die Einheit Deutschlands betreffen"
Gegenüber dieser Auffassung ist energisch zu betonen, daß einseitige sowjetische Erklärun-gen die Rechtslage hinsichtlich der aus dem Potsdamer Abkommen fließenden Verpflichtungen über die Einheit Deutschlands natürlich nicht verändern können
Die Garantie der „Staatsgrenzen der DDR"
Artikel 4 des Vertrages bezeichnet „die Unantastbarkeit der Staatsgrenzen der Deutschen Demokratischen Republik" als einen der „Grundfaktoren der europäischen Sicherheit". Er bekräftigt die „feste Entschlossenheit" der Sowjetunion und der SBZ, in Übereinstimmung mit dem Warschauer Pakt die „Unantastbarkeit dieser Grenzen gemeinsam zu gewährleisten". Diese Beteuerungen stehen in Übereinstimmung mit der generellen politischen Tendenz des Vertrages, die darauf hinausläuft, den Status quo in der Deutschland-frage vertraglich zu fixieren, mit anderen Worten, die deutsche Situation im gegenwärtigen Zustand versteinern zu lassen. In diesem Sinne unterstreichen die offiziellen Stellungnahmen in der „DDR"
Die Erklärung der Westmächte vom
Der Status West-Berlins
Artikel 6 bringt die Absicht der beiden Parteien zum Ausdruck, „West-Berlin als selbständige politische Einheit (zu) betrachten". Diese Klausel ist in gewisser Hinsicht an die Adresse einiger Volksdemokratien gerichtet, nämlich Polens, Rumäniens, Ungarns und Bulgariens, die sich in letzter Zeit bereit gefunden hatten, in Handelsverträgen mit der Bundesrepublik der Einbeziehung West-Berlins in den Geltungsbereich dieser Verträge zuzustimmen.
Die Formulierung des Artikels 6 ist allerdings nicht so eindeutig, als daß sich aus ihr nicht die Möglichkeit ergebe, gegebenenfalls beim faktischen Status quo hinsichtlich Berlins stehenzubleiben. Artikel 6 ist sehr vorsichtig und weit gefaßt, wie sich zum Beispiel in der Wahl der Formulierung „West-Berlin als selbständige politische Einheit betrachten“ anstelle von „behandeln" zeigt. Artikel 6 läßt insofern alle Lösungsmöglichkeiten für West-Berlin offen, mit Ausnahme der Inkorporierung West-Berlins in die Bundesrepublik. Er ist ein Musterbeispiel für die sowjetische Kunst, politische Verträge vage zu formulieren — eine Übung, die auch hier der Sowjetunion wieder alle Möglichkeiten einer flexibleren Politik gegenüber West-Berlin offenhält. Im ganzen ist zu sagen, daß die vorsichtige Formulierung des Artikel 6 jedenfalls ein klares Abrücken vom Berlin-Ultimatum von 1958 ausdrückt. Dieser Schluß wird im besonderen auch durch Artikel 2 Absatz 1 unterstützt, der die Sowjetunion und die SBZ verpflichtet, für eine „Normalisierung der Lage in West-Berlin einzutreten".
Gegenüber der eher vagen Formulierung des Artikels 6 ist das Kommunique vom 12. Juni in der Berlin-Frage allerdings viel deutlicher. Hier heißt es: „West-Berlin gehörte niemals und kann niemals zur Bundesrepublik Deutsch-land gehören."
Diese Auffassung, die auch die Auffassung unserer westlichen Verbündeten ist, ist allerdings bereits in der Diskussion um Artikel 6 des sowjetisch-sowjetzonalen Freundschaftsvertrages von der Sowjetunion zurückgewiesen worden. Die Westmächte hatten in ihrer Erklärung vom 26. Juni 1964
Die alliierten Zugangsrechte nach West-Berlin Artikel 9 übernimmt als „zweiseitiges Abkommen" auch das Regierungsabkommen zwischen der Sowjetunion und der „DDR" vom 20. September 1955
„Die Kontrolle des Verkehrs von Truppen-personal und Gütern der in West-Berlin stationierten Garnisionen Frankreichs, Englands und der USA zwischen der deutschen Bundesrepublik und West-Berlin wird gleichzeitig bis zur Vereinbarung eines entsprechenden Abkommens vom Kommando der Gruppe der sowjetischen Truppen in Deutschland ausgeübt". Die sowjetische Verantwortung für den alliierten Berlinverkehr wird also durch den Freundschaftsvertrag von 1964 nicht berührt. Der Erklärung der Westmächte vom 26. Juli 1964, die nochmals ausdrücklich feststellt, daß ein Abkommen, „das die Sowjetunion mit der sogenannten DDR abschließt, die sowjetischen Verpflichtungen oder Verantwortlichkeit aus Abkommen und Abmachungen mit den drei Mächten über Deutschland einschließlich Berlins und des Zugangs Deutscher nicht berühren kann", ist in der Erklärung der Sowjetregierung vom 18. Juli 1964 hinsichtlich der Zugangsrechte nicht widersprochen worden.
III. Der Streit um die MLF
Bei den Moskauer Bedenken gegen die MLF spielte die Beteiligung der Bundesrepublik an dieser interalliierten Streitmacht auch im Jahre 1964 eine besondere Rolle. Die sowjetische Polemik gegen die deutsche Beteiligung erreichte einen Höhepunkt in den sowjetischen Noten an die beteiligten NATO-Mächte vom 11. Juli und in einer ähnlichen Note an die Bundesrepublik vom gleichen Tage
Die sowjetischen Vorwürfe sind in einer Note der Bundesregierung vom 2. September beantwortet worden
IV. Das Passierscheinabkommen vom 24. September 1964
Gegenüber der MLF fand das neue Passierscheinabkommen den Beifall der Sowjetunion, die hierin einen „Beitrag zur Normalisierung der Lage in Deutschland" sehen will. Nach siebenmonatigen zähen Verhandlungen wurde am 24. September mit Zustimmung der Bundesrepublik die neue Passierschein-Vereinbarung zwischen dem West-Berliner Senatsrat Korber und dem Zonenstaatssekretär Wendt unterzeichnet. Senatsrat Korber unterzeichnete wie bereits in der Vereinbarung vom 17. Dezember 1963 mit der Formel „auf Weisung des Chefs der Senatskanzlei, die im Auftrag des regierenden Bürgermeisters von Berlin gegeben wurde", Zonenstaatssekretär Wendt unterschrieb „auf Weisung des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrates der , DDR"'. Das neue Abkommen enthält gegenüber der Vereinbarung vom 17. Dezember 1963 eine Reihe von Verbesserungen, die eine Anerkennung des Zonenregimes ausschließen sollen. Die Beanstandungen gegen die Dezember-Vereinbarungenwaren dreifacher Natur gewesen: 1. Das Protokoll war von Korber als dem Vertreter West-Berlins unterzeichnet und erst später von der Bundesregierung genehmigt worden. An den Verhandlungen hatte der Bund keinen Anteil. Es war deshalb geltend gemacht worden, daß der West-Berliner Senat den Grundsatz der Vertretung Beilins durch die Bundesregierung aufgegeben habe. Damit war zugleich die westdeutsche Auffassung gefährdet, daß West-Berlin ein Teil der Bundesrepublik sei.
2. Es war befürchtet worden, daß die Präsenz sowjetzonaler Postbeamter auf West-Berliner Boden als Agenten der „DDR" die Anerkennung der SBZ durch die West-Berliner Regierung impliziere. 3. Es war beanstandet worden, daß die Antragsformulare die Bezeichnung „Hauptstadt der DDR" enthielten, was als eine Art Anerkennung des Zonenregimes gelten könne.
Das neue Abkommen räumte diese Bedenken größtenteils aus. Im besonderen wurde es im Einvernehmen und in ständiger Unterrichtung des Bundes verhandelt. Das Bundeskabinett billigte den Abschluß vorher, und das Einverständnis wurde vom regierenden Bürgermeister zuvor durch einen Brief Erhards am 23. September 1964 mitgeteilt
Schließlich hat die Bundesregierung noch in einer besonderen Erklärung zum Ausdruck gebracht
Damit scheint der kommunistischen Dreistaatenthese wirksam entgegengetreten worden zu sein.
V. Chruschtschows Fall
Die Hoffnungen auf eine Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen hatten sich in der zweiten Jahreshälfte mit der Erwartung des Besuches Chruschtschows in der Bundesrepublik verbunden. Chruschtschows Sturz dämpfte diese Hoffnungen zunächst. Chruschtschows Auffassung zum Deutschlandproblem scheinen bei seinem Sturz keine besondere Rolle gespielt zu haben, wenn auch der Besuch Adschubejs in der Bundesrepublik unter den Anklagepunkten gegen Chruschtschow auftaucht.
Hierbei handelt es sich aber mehr um den Ablauf dieses Besuches, der Kritik hervorgerufen hat, als um die Generallinie der sowjetischen Deutschlandpolitik. Erinnern wir uns an die Begleitumstände: Chruschtschow zeigte seit längerer Zeit ein deutliches Interesse an einem Besuch in Westdeutschland. Unmittelbar nach der Verabschiedung der Ulbricht-Delegation am Moskauer Flugplatz nach dem Abschluß des sowjetzonalen-sowjetischen Freundschaftsvertrages empfing er den Botschafter der Bundesrepublik, gleichsam als wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß nunmehr auch mit der westdeutschen Seite ein intensiveres Gespräch möglich sei. Diese Tendenz wurde unterstrichen, als Chruschtschow, der anschließend seine Skandinavienreise antrat, beim Passieren der Ostsee ein betont freundliches Telegramm an den Bundeskanzler und an die Bevölkerung Westdeutschlands richtete. Zugleich nahm man sowjetischerseits in Moskau Kontaktfäden auf, um den vorbereitenden Besuch Adschubejs in die Wege zu leiten, wobei man sich einer früheren Einladung Adschubejs durch einige westdeutsche Zeitungen bediente. Von den Sowjets wurde diese Angelegenheit mit allen Anzeichen höchster Eile und besonderer Dringlichkeit betrieben.
Sie führte am 19. Juni zur Übergabe der Einladung in dem Gebäude der „Iswestija". Zuvor schon hatte ein starker Protest gegen eine Verunglimpfung des Bundespräsidenten in der „Iswestija" zu einer mündlichen Entschuldigung sowjetischerseits geführt.
Wie sich das Parteipräsidium in diesem Stadium zum Besuch Adschubejs gestellt hat, ist nicht genau bekannt. Behauptet worden ist, daß die Mehrheit des Präsidiums dem Besuche Adschubejs zugestimmt habe, wenn auch nicht ohne Bedenken gegen die Person des Entsandten
VI. Die sowjetische Deutschlandpolitik nach dem Sturz Chruschtschows
Ein radikaler Kurswechsel in der Deutschland-politik der Sowjetunion fand nach dem Sturz Chruschtschows nicht statt. Kennzeichnend war vielmehr eine weitere allmähliche Abkühlung der gegenseitigen Beziehungen und eine in gewissem Maße bedeutsame Verschärfung der antideutschen Polemik seitens der Sowjetunion. Die sich versteifende Haltung der Sowjetunion in der Deutschlandfrage wurde ergänzt durch die gleichzeitige Verschärfung der Berlin-Situation und durch die weitere Festigung des Status quo in Ostmitteleuropa mittels des neuen polnisch-sowjetischen Freundschafts-und Beistandsvertrages vom 8. April 1965.
Nach dem Sturz Chruschtschows hatte der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik dem Bundeskanzler zwar zunächst noch erklärt, daß sich an der Generallinie der sowje-tischen Politik nichts ändern werde
Verhärtung der sowjetischen Deutschland-politik in der ersten Jahreshälfte 1965 Der Umschwung begann sich indessen schon bald abzuzeichnen. Im November begannen die sowjetischen Gazetten. die Bundesrepublik aufs neue recht frostig zu behandeln, nachdem sie im Anschluß an den Adschubej-Besuch die Polemik deutlich gestoppt und sogar den „Geist von Rapallo" bemüht hatten
Am 19. und 20. Januar 1965 tagte in Warschau der Politische Beratende Ausschuß des War-schauer Paktes. Eines der zentralen Themen der Beratungen war die „Bedrohung durch den westdeutschen Militarismus". Einen Tag vor Beginn der Konferenz, am 18. Januar 1965, hatte die sowjetische Regierung in einer Note an die Bundesregierung gegen angebliche Pläne zur Verlegung von Atomminen an der Zonengrenze und an der Grenze der Bundesrepublik zur Tschechoslowakei protestiert
Mit diesen Noten, die von der Bundesregierung und der amerikanischen Regierung zurückgewiesen wurden
In dem am 27. Januar veröffentlichten Kommunique
Trotz dieser entmutigenden Zeichen ließ es die Bundesrepublik nicht an Versuchen fehlen, das allgemeine politische Klima zu verbessern. So erneuerte der deutsche Botschafter in Moskau am 23. Februar gegenüber Ministerpräsident Kossygin die seinerzeit von Bundeskanzler Erhard an Chruschtschow ergangene Einladung zum Besuch der Bundesrepublik. Nur eine Woche später, am 1. März, griff Kossygin die Bundesrepublik in einer Rede in Leipzig jedoch erneut scharf an. Westdeutschland weiche den Abkommen aus, die zur internationalen Entspannung führten. Die Bundes-regierung wolle mit Kernwaffen einen Druck auf die sozialistischen Länder ausüben, um eine Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu erreichen.
Die Differenzen zwischen Ost und West in der Deutschlandfrage traten im Mai 1965 erneut scharf ins Blickfeld, als sich die Welt anschickte, den 20. Jahrestag des Kriegsendes zu feiern. Während der amerikanische Präsident in seiner Fernsehansprache vom 7. Mai 1965
Die Berlin-Situation in der ersten Jahreshälfte 1965
Gleichzeitig mit dieser sowjetischen Versteifung in der Deutschlandfrage verschärfte sich die Situation in Berlin. Bereits am 25. November 1964 war eine sowjetzonale Anordnung ergangen, derzufolge westliche Besucher der „DDR" und Ost-Berlins pro Tag ihres Aufenthaltes 5 DM-West zum offiziellen Kurs in DM-Ost umtauschen mußten. Die Botschafter der drei Westmächte in der Bundesrepublik protestierten dagegen vergeblich am 7. Dezember 1964 beim sowjetischen Botschafter in Ost-Berlin.
Ende März/Anfang April kam es dann zu erheblichen Spannungen wegen der Sitzung des Deutschen Bundestages in West-Berlin. Am 23. März protestierte die UdSSR in Noten an die drei Westmächte gegen die beabsichtigte Sitzung
werde den drei Westmächten zufallen. Die Sowjetregierung behalte sich Maßnahmen zur Gewährleistung der Unantastbarkeit der Grenzen der „DDR" vor. Diese Drohung setzte die Sowjetunion alsbald in die Tat um. Am 1. April 1965 begannen auf der Autobahn Berlin-Helmstedt starke Verzögerungen in der Abfertigung des Verkehrs durch die „Grenzorgane der DDR". Vom 5. bis zum 11. April fanden Manöver in der Nähe der Zonengrenze statt, an denen Truppen der UdSSR und der „DDR" teilnahmen. In dieser Zeit wurde die Autobahn täglich für mehrere Stunden gesperrt. Am 5. April verhängte die „DDR" ein Durchreiseverbot durch die Zone für Mitglieder des Bundestages. Die Sitzung des Bundestages selbst wurde durch Tiefflüge sowjetischer Düsenjäger über West-Berlin gestört. Demgegenüber unterstrich Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier bei der Eröffnung der Sitzung am 7. April den Rechtsanspruch des Deutschen Bundestages, jederzeit in Berlin zusammenzutreten. Am gleichen Tage protestierten die drei Westmächte in Noten an die Sowjetregierung gegen die Behinderung des Berlin-Verkehrs und wiesen die in der sowjetischen Note vom 23. März wegen der Bundestagssitzung in Berlin erhobenen Beschuldigungen als unberechtigt zurück
Neue Störaktionen gegen West-Berlin zeichnen sich auch seit Mitte Juni 1965 ab. Zu nennen sind hier Truppenmärsche sowjetischer und sowjetzonaler Verbände auf den Zonen-straßen, Lärmszenen sowjetischer Düsenjäger über Berlin, die Verzögerung neuer Passierscheinverhandlungen, Patrouillenflüge sowjetzonaler Hubschrauber im Berliner Luftraum und über der Sektorengrenze, die einseitige Kündigung der Interzonengütertarife seitens der Zonen-Reichsbahn und die Einführung gebührenpflichtiger Schiffspapiere für den Binnenschiffahrtsverkehr nach Berlin. Gegen die Einführung neuer Schiffspapiere durch die Zonenregierung haben die Botschafter der drei Westmächte in der Bundesrepublik am 1. Juli in einer gemeinsamen Erklärung protestiert
zu beseitigen." Art. 7 begrenzt den Verteidigungsfall auf diesen angeblich westdeutschen Gegner und seine Verbündeten. In den Reden Gomulkas und Breschnews anläßlich der Unterzeichnung des Vertrages in Warschau nahm diese angebliche Bedrohung seitens des „westdeutschen Militarismus und Revanchismus" einen breiten Raum ein
Von besonderer Bedeutung ist Art. 5 des Vertrages, der die sowjetische Sicherheitsgarantie für die Oder-Neiße-Linie enthält, wobei präzisiert ist, daß es sich um die Lausitzer Neiße handelt. Diese Grenze ist von Breschnew in seiner Rede vom 8. April als „endgültig und unwiderruflich" bezeichnet worden.
Die Bundesregierung hat demgegenüber in ihrer Erklärung vom 14. April 1965 die Festlegung der „Staatsgrenze" Polens an der Oder-Neiße-Linie zurückgewiesen
darauf aufmerksam gemacht, daß die endgültige Festlegung der deutsch-polnischen Grenze nach dem Potsdamer Abkommen einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten ist und daß nur eine freigewählte, gesamtdeutsche Regierung berufen ist, eine derartige friedensvertragliche Regelung zu treffen. Auch das U. S. State Department hat in einer Erklärung vom 27. April aufs neue den offiziellen Standpunkt der amerikanischen Regierung bekräftigt, demzufolge die Grenzziehung im Westen Polens einer endgültigen Friedensregelung vorbehalten ist
Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß auch der polnisch-sowjetische Vertrag nichts an der völkerrechtlichen Situation der deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße zu ändern vermag. Die polnische Auffassung, derzufolge die deutschen Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie integraler und endgültiger Bestandteil des gegenwärtigen polnischen Staatsgebietes sind
Diese Rechtslage wird von der „sozialistischen" Völkerrechtspublizistik allerdings bestritten
Die Bundesrepublik wird durch die Garantie-erklärung im polnisch-sowjetischen Vertrag nicht verpflichtet. Im Völkerrecht gilt der Satz „pacta tertiis nec prosunt nec nocent"
Polnischen Forderungen an die Adresse der Bundesrepublik, die Oder-Neiße-Linie nunmehr rechtsverbindlich anzuerkennen, ist im übrigen entgegenzuhalten, daß ein solches Ansinnen der von Polen vertretenen und auch im polnisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag wieder zum Ausdruck gekommenen Zweistaaten-These widerspricht. Die Zwei-Staaten-These, die den Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung verneint, und die Aufforderung, eine Grenze anzuerkennen, zu der die Bundesrepublik keine unmittelbare territoriale Beziehung hat, schließen einander aus. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie seitens der Bundesregierung setzt voraus, daß die Vertretungsmacht der Bundesregierung, eine derartige Verzichterklärung für den fortbestehenden gesamtdeutschen Staat gegenüber Polen abzugeben, auch seitens Polens anerkannt wird. Das ist aber nicht der Fall.
Schlußbemerkung Versucht man ein Resümee der deutsch-sowjetischen Beziehungen in den letzten anderthalb Jahren zu ziehen, so ist von der Feststellung auszugehen, daß es der UdSSR weiter gelun-gen ist, den Status quo in Zentralmitteleuropa zu festigen. Im besonderen die allgemeine Aufwertung der „DDR“, die sowjetischen Garantien für die Zonengrenze und die polnische Westgrenze an Oder und Neiße sowie schließlich die erneute Verknüpfung des Ostblocks unter antideutschem Vorzeichen haben herbe Enttäuschungen für die Hoffnung auf eine baldige und gerechte Lösung der deutschen Frage bewirkt. Die westlichen Gegenzüge, die sich in der Regel auf formelle Proteste beschränkten und des Charakters echter Retorsionen ermangelten, vermochten an dieser Entwicklung kaum etwas zu ändern.
Soweit die UdSSR ihre Deutschlandpolitik zu rechtfertigen sucht, operiert sie vorzugsweise mit Argumenten wie : „die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges" und die „Interessen der europäischen Sicherheit". Es sind dies Argumente, die dem Arsenal des klassischen Völkerrechts entstammen und den Ordnungsvorstellungen unseres Zeitalters diametral widersprechen. Aus den traditionellen Konzeptionen der Machtpolitik gewonnen, widersprechen sie allgemeinen Ordnungsgrundsätzen unserer Zeit, wie etwa dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen und dem Annexions-verbot des modernen Völkerrechts sowie auch der Grundkonzeption einer „just legal order tor Europe".
Nun gelten Völkerrecht und internationale Moral sicher nicht sehr viel unter den gegenwärtigen Bedingungen der internationalen Politik. Möglich aber erscheint es, daß sich in der UdSSR vielleicht doch die Vorstellung durchsetzen könnte, den „Interessen der europäischen Sicherheit" sei besser mit einem geeinten Deutschland als mit einem in sich zerrissenen, gefährlichen Unruheherd im Herzen Europas gedient. Die Förderung dieser Einsicht obliegt der deutschen Politik. Daß sie sich bald durchsetzen möge, bleibt unsererseits zu hoffen.