Nach einem Vortrag, der am 28. Juni 1965 auf der Tagung über „Stand und Problematik der Erforschung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Dortmund gehalten wurde.
Was ist Zeitgeschichte, was ist Widerstand?
In einem grundlegenden Aufsatz zur Einleitung der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" hat Hans Rothfels im Jahre 1953 Zeitgeschichte als die „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung"
Eines der Themen der Zeitgeschichte, dem speziell und unter ganz besonderen Bedingungen die deutsche Forschung ihre Aufmerksamkeit zu schenken hat, ist der Widerstand. Was aber ist Widerstand? Vom historischen Blickwinkel her können wir darunter jede Handlung sehen, die darauf gerichtet war, dem totalitären Staat in den Arm zu fallen,sei es, um die eigene oder die Gruppenexistenz zu behaupten oder um Unrecht im kleinen wie im großen zu verhüten, die sich darum bemühte, eine Staatsordnung zu erhalten oder vorzubereiten, die den Prinzipien des nationalsozialistischen Staates widersprach oder die danach strebte, die bestehenden Machtverhältnisse durch Propaganda oder mit den Mitteln der Gewalt zu ändern. Im allgemeinen verbindet sich mit dem Begriff „Widerstand im totalitären Staat" die Vorstellung, daß diese Handlungen unter bewußter Inkaufnahme der Gefahr von persönlichen Nachteilen, von Maßregelungen, Inhaftierungen oder gar der Todesstrafe, begangen wurden. Bloße Unzufriedenheit und daraus resultierende Affekthandlungen, die unter Umständen auch schwerste Bestrafungen nach sich ziehen konnten, werden schwerlich als Widerstand bezeichnet werden können.
In der Literatur lassen sich deutlich einige Schwerpunkte erkennen. Der Kirchenkampf nimmt als Versuch der Selbstbehauptung der Gruppenexistenz mit starker Ausstrahlungskraft einen besonderen Platz ein. Repräsentativ für die Bestrebungen nach Vorbereitung einer neuen Ordnung ist das Wirken des „Kreisauer Kreises". Den Versuchen einer Änderung der staatlichen Verhältnisse durch propagandistische Konspiration und Sabotage, wie sie die illegale sozialistische Bewegung
Ausländischer und deutscher Widerstand
Stillschweigend haben wir bisher vorausgesetzt, daß der deutsche Widerstand eine besondere Stellung innerhalb der Zeitgeschichte einnehme. Ist das berechtigt? Ein Blick auf das Ausland macht uns die besondere Stellung der deutschen Auflehnung gegen den Nationalsozialismus deutlich. In den besetzten Ländern und Gebieten bedeutete Widerstand die Fortsetzung der nationalen Politik. Lediglich Mittel und Methoden waren den besonderen Bedingungen der Okkupation angepaßt worden. Die Aktivisten des Widerstandes handelten dort in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der Mehrheit ihrer Landsleute und im Bewußtsein ungebrochener nationaler Tradition. Dementsprechend ist Widerstandsforschung im Ausland die Beschäftigung mit einem, zwar mit speziellen Aspekten behafteten, im ganzen aber kontinuierlich sich einordnenden Teil der Zeitgeschichte. Anders in Deutschland. Hier richtete sich die Erhebung gegen die eigene, vielleicht sogar selbst mitgewählte Staatsgewalt. Im Gegensatz zum Ausland konnte die kleine Zahl von Aktivisten nicht oder doch nur sehr begrenzt auf Resonanz und eventuell Unterstützung in der Bevölkerung bauen. Die um Erhaltung überkommener Werte von hohem Rang bemühten Widerständler mußten, um ihrem Ziele näher zu kommen, mit Traditionen ihres Volkes, ihres Standes bewußt brechen. Innerhalb der deutschen Zeitgeschichte hat also der Widerstand eine so selbständige Stellung, daß eine Hervorhebung in der Forschung durchaus gerechtfertigt ist, nicht aber eine Trennung. Von einigen Ausnahmen abgesehen war Widerstand weniger Aktion als Reaktion, die Antwort einer Minderheit auf die Herausforderung des totalitären Weltanschauungsstaates. Dessen Charakter zu erfassen ist eine der wesentlichen Aufgaben der Zeit-geschichte, innerhalb derer die Widerstands-forschung spezielle Probleme behandeln und Fragen von allgemeiner Bedeutung stellen darf. *
Die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945
Eine Betrachtung der Widerstandsliteratur ist nicht möglich ohne einen Blick auf die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft seit 1945. In den ersten Jahren nach Kriegsende war deutschen Historikern eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen der Zeitgeschichte nahezu unmöglich. Die wichtigsten Quellen zur politischen Geschichte waren, soweit sie überhaupt erhalten geblieben waren, von den Besatzungsmächten beschlagnahmt, und sie wurden für Prozeßzwecke ausgewertet. Die einzigen Deutschen, die Zugang zu diesen Materialien hatten, waren die Verteidiger, die ihrerseits zur Entlastung ihrer Mandanten durch Vernehmungen und Umfragen neue Quellen schufen. Anklage-und Verteidigungsdokumente berührten selbstverständlich nur diejenigen Themen, die Gegenstand der Gerichtsverhandlungen waren: Außenpolitik, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die unter Anklage gestellten Organisationen. Die spätere Veröffentlichung der Nürnberger Dokumente gab erstmals der deutschen Zeitgeschichtsforschung Quellen in die Hand — Quellen allerdings, die wegen ihrer Prozeßbezogenheit lückenhaft sein mußten und gerade für das Thema „Widerstand in Deutschland" nicht sonderlich aufschlußreich waren. Bevor die deutsche Zeitgeschichtsforschung Zugang zu deutschen Staats-und Parteiakten erhielt — dies vielfach auf dem Umweg über ausländische Publikationen —, war sie weitgehend auf die eigene Erinnerung angewiesen. Daß auch ohne alle Hilfsmittel die jüngste deutsche Vergangenheit treffend analysiert werden konnte, zeigte der greise Meinecke, der — durch Evakuierung von seiner Bibliothek getrennt — in ein Schulheft, das er in Ermangelung eines Tisches auf den Knien hielt, sein großartiges Buch „Die deutsche Katastrophe"
Es liegt auf der Hand, daß bei einer derartigen Zusammensetzung der Autorenschaft in Presse, Publizistik und Wissenschaft der Schwerpunkt des Interesses auf dem Komplex Verfolgung und Widerstand lag. Neben Erlebnisberichten und von Angehörigen oder Freunden verfaßten Gedächtnisschriften traten hier bereits sehr früh auf gesicherter Quellengrundlage basierende Darstellungen in Erscheinung, ergänzt durch Dokumenten-publikationen.
Dies war möglich, weil erhaltene Privatsammlungen oder Archive einzelner Organisationen, z. B.der Kirchen, nicht der Beschlagnahme durch die Besatzungsmächte verfallen waren. Wie stark diese Schwerpunktbildung war, zeigt ein Blick in die „Bibliographie für Zeitgeschichte" für die Jahre 1945— 1950
genannt sind, enthält die Rubrik „Verfolgung und Widerstand" 681, also beinahe zwei Drittel. Diese Konzentration hatte ihre Ursache sicher nicht allein in dem anfangs begrenzten publikationsfähigen Personenkreis und in der Quellenlage. Von den Besatzungsmächten scheint nach anfänglichem Zögern
Innerhalb der uns interessierenden Literatur-gattung ist noch eine thematische Klassifizie-rung vorzunehmen. Bisher hatten wir immer von „Verfolgung und Widerstand" gesprochen und dabei vorausgesetzt, daß es sich hier um zwei zusammengehörige Komplexe handele. Das ist auch der Fall. Dennoch ist eine Differenzierung nicht nur erlaubt, sondern geboten. Es hat Verfolgungen gegeben, die weder die Folge von Widerstandshandlungen waren noch solche hervorriefen. Das ist bei der Zigeunervernichtung der Fall und — von Ausnahmen abgesehen — bei der Judenverfolgung. Der Widerstand von Deutschen dagegen entzündete sich außer bei extremen weltanschaulichen Gegnern, wie ernsten Bibelforschern und radikalen Kommunisten, im allgemeinen an der Gewaltpolitik des Dritten Reiches, und er führte, wenn er erkannt wurde, unweigerlich zu neuen Verfolgungsmaßnahmen. Dennoch ist auch hier eine getrennte Betrachtung der aus freiem Willen vollzogenen Widerstandshandlungen und des Schicksals der dadurch oder ohne eigenes Zutun Verfolgten durchaus zulässig. Am Rande sei vermerkt, daß auch in den Konzentrationslagern die Eigeninitiative mit dem Ziel des Widerstandes nicht unterdrückt werden konnte. Dies fand allerdings unter so besonderen Bedingungen statt, daß die Behandlung dieses Komplexes im Zusammenhang mit dem Konzentrationslagerthema gerechtfertigt ist.
Durch die Intensität ihrer Behandlung in der Literatur ragen vier Komplexe hervor. Und hier hat es einige recht interessante Schwerpunktverschiebungen gegeben, die wir an der Bibliographie für Zeitgeschichte
Historische Qualifikationskriterien
Selbstverständlich ist Geist nicht statistisch meßbar. Nach den Erfordernissen historischer Forschung müssen wir Qualifikationskriterien suchen, ohne daß wir damit ein Urteil öber die Qualität der Einzelpublikation zu fällen brauchen. Die Erlebnisberichte, wie erwähnt in den ersten Jahren nach 1945 zwangsläufig die dominierende Gattung, sind dahingehend zu überprüfen, inwieweit sie typisch für das Geschehen der Zeit oder das Schicksal bestimmter Personengruppen sind. Aus der Summe der Einzelanalysen lassen sich Kriterien erarbeiten, die zu durchaus zuverlässigen Beurteilungsmaßstäben führen 11). Eine andere Gattung von Beiträgen, die uns seit 1946 regelmäßig begegnen, sind Schriften der Ehrung und Würdigung. Im allgemeinen werden sie zur Tatsachenkenntnis nicht allzuviel beitragen. Ihr Wert liegt vielmehr in der geistigen Verarbeitung und in dem erzieherischen Aspekt* 12). Unter diesem Vorzeichen aber ist ein mehr oder weniger starkes Maß an Idealisierung und Harmonisierung zu erwarten. Bei aller Ehrfurcht vor dem Gegenstand der Würdigung muß der um differenzierte Tatsachenkenntnis bemühte Historiker hierin einen Mangel sehen. Dokumentationen sind selbstverständlich die wertvollste Grundlage für die Forschung. Mit dem Tagebuch Ulrich v. Hassells
Fragestellungen der Widerstandsforschung
Eine erste Gesamtanalyse des deutschen Widerstandes versuchte noch in der Emigration Hans Rothfels mit seinem zuerst in englischer Sprache erschienenen Werk „The German Opposition against Hitler"
Lücken in der Zeitgeschichtsforschung
Von besonderer Wichtigkeit ist die Kenntnis der Initiatoren der Gewaltherrschaft und ihrer Helfershelfer, der Motive und Methoden ihres Handelns, der Organisationsformen, mit denen sie ihr Werk ausführten. Über all das wissen wir bisher nicht viel. Was war, was wollte und wie arbeitete die Gestapo? Zwei Ausländer, Crankshaw und Delarue
ihrem Abschluß. Verfasser ist ein Israeli. Über die übrigen Organisatoren des Terrors sind unsere Kenntnisse über den Stand der einschlägigen Nürnberger Prozesse nicht wesentlich hinausgewachsen. Lediglich Adolf Eichmanns Prozeß hat für den Teilbereich der Judenverfolgung auch hinsichtlich der Planenden zu intensiverer Beschäftigung geführt. Die bedeutendste dieser Veröffentlichungen ist die des früheren Nürnberger Anklägers Robert W. M. Kempner
Nicht besser als mit der SS steht es mit der Erforschung der NSDAP und ihrer Gliederungen. Das gleiche gilt für den Staat und seine Organe. Lediglich für die Zeit bis Mitte 1934 hat das Sammelwerk von Bracher, Sauer und Schulz
Rechtsprechung geraten ist. Erzeugnisse der Literatur erhalten für die Justiz unter Umständen den Rang von Beweismitteln; die historische Kenntnis wird für Sachverständigengutachten genutzt. Andererseits liefern die Strafprozesse der Geschichtsschreibung nicht nur Anregungen, sondern auch Quellen von hohem Rang, die auch für die Widerstands-forschung von erheblicher Bedeutung sein können.
Folgen für die Widerstandsforschung
Daß die erwähnte Forschungslücke auch Auswirkungen auf die Betrachtung und Einschätzung des Widerstandes selbst hervorrufen kann, sei an einem Beispiel gezeigt: dem Kirchenkampf. Wenn man die — meist von Beteiligten oder pietätvoll Engagierten geschriebene — Literatur zu diesem Thema überblickt, dann gewinnt man den Eindruck, als sei Antichristentum einer der feststehenden Bestandteile der nationalsozialistischen Weltanschauung, der Programmpunkt vom „positiven Christentum" bloße Tarnung gewesen. In keinem der einschlägigen Werke von kirchlicher Seite ist auf die von der Partei geförderte Kircheneintrittsbewegung des Jahres 1933, auf die Massentrauungen der gleichen Zeit hingewiesen worden, nirgends ist die Taufstatistik bemüht worden (in Berlin sind 1933 mehr Menschen getauft worden als Lebendgeborene registriert wurden), keine Hinweise finden wir darauf, daß die Nationalsozialisten die obligatorische Teilnahme am Religionsunterricht verfügten
Der Mensch im totalitären Staat
Das Beispiel des Kirchenkampfes macht deutlich, daß Widerstand eine besondere Verhaltensweise ist, die in einem bestimmten Verhältnis zu den sich wandelnden und entwik-kelnden Tendenzen des totalitären Staates steht. Die gleiche Beobachtung machen wir bei der verhältnismäßig intensiv erforschten Vorgeschichte des 20. Juli, und auch bei anderen Gruppen begegnen wir dieser Erscheinung. Es haben hier Entwicklungen stattgefunden von dem Willen zu vorbehaltloser oder reservierter Anpassung über Kritik, Konspiration bis hin zu dem Entschluß, entweder die eigene Position mit allen Mitteln, auch mit illegalen, gegen den Machtanspruch des Staates zu verteidigen (so beim Kirchenkampf) oder die bestehende Herrschaftsord-nung gewaltsam zu beseitigen (20. Juli). Diese Entwicklungsskala deutet auf den bereits erwähnten, bisher außerhalb der Widerstands-forschung viel zu wenig beachteten Problemkreis des Verhaltens der Menschen im totalitären Staat hin. Formen, die für viele Widerständler Durchgangsstationen zu späterer Entschlossenheit waren, sind in sehr verschiedenen Abstufungen und Schattierungen bei weiten Teilen des deutschen Volkes, fanatische Nationalsozialisten und träge Mitläufer ausgenommen, konstant oder zeitweilig vorhanden gewesen. Bereits geleistete Vorarbeiten der Widerstandsforschung bieten einen geeigneten Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen.
„Widerstand“ im Ausland und in Deutschland
Trotz ihrer Zugehörigkeit zur Zeitgeschichte hat die deutsche Widerstandsforschung eine durchaus eigenständige Stellung, sowohl nach innen als auch nach außen.
Was wußte man im Ausland über den deutschen Widerstand? Die sichtbaren Erscheinungen der Vorkriegszeit waren aufmerksam beobachtet worden. Insbesondere das Wirken und die Verhaftung Niemöllers scheinen einen tiefen Eindruck hinterlassen zu haben. Demgegenüber blieben im Ausland — wie ja auch in Deutschland — Streben und Märtyrertum von Angehörigen sozialistischer Gruppen oder anderer, kleinerer Kreise weitgehend unbekannt. Es ist nicht verwunderlich, daß sich unter dem Eindruck des Krieges mit all sei-seinen entfesselten Leidenschaften eine Vorstellung von deutsch gleich nationalsozialistisch festsetzte. Diese Einstellung macht es verständlich, daß der 20. Juli und seine Motivierung, Zielsetzung und Bedeutung völlig verkannt wurden. Die offiziellen Verlautbarungen aus Berlin schienen die ausländischen
Klischeevorstellungen geradezu zu bestätigen.
Der deutsche Widerstand blieb auch nach Kriegsende vorerst uninteressant. Hans Rothfels’ Buch
Die Herausforderung des Widerstandes
Dort ist auf den Widerstand sehr bald nach 1945 und mit großer Intensität hingewiesen worden, und das aus guten Gründen. In dem opfervollen Kampf einiger Weniger um Erhaltung oder Wiederherstellung einer rechtsstaatlichen Ordnung kann insbesondere der heranwachsenden Generation ein Ideal nahe-gebracht werden. In diesem Zusammenhang hat die — nach den strengen Maßstäben historischer Forschung nicht gerade ergiebige — Heldenverehrung durchaus ihren Sinn. Diese war außerdem geeignet, das durch den Zusammenbruch von 1945 zutiefst verletzte nationale Selbstbewußtsein wieder zu stärken und an die Stelle der bisherigen, zerstörten Leitbilder neue Ideale zu präsentieren.
In dieser starken Betonung des Widerstandes, die dadurch noch verstärkt wird, daß in anderen Bereichen der Zeitgeschichte der Anteil der populären und damit allgemein zugänglichen Literatur weit geringer ist als auf dem Gebiete des Widerstandes, liegt die Gefahr, daß dieser bis zu einem gewissen Grade zum Alibi wird. Die ganz überwiegende Masse der Deutschen gehörte nicht zum „anderen Deutschland", sondern sie marschierte, gläubig, träge, gehorsam oder murrend, aber sie marschierte!
Dieses Phänomen bedarf der Klärung — nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern in strenger historischer Wissenschaftlichkeit. Hier ist die Zeitgeschichte herausgefordert. Die Widerstandsforschung hat in ihr einen festen Platz, und von dieser sind bereits Probleme angeschnitten, Fragen aufgeworfen und Methoden angewandt worden, die eben in diese Richtung zielen.