Die politische Pädagogik gehört in den weiten Bereich jener Mittel der Menschenführung, mit deren Hilfe jede politische Ordnung sich selbst zu erhalten trachtet. Sieht man näher zu, so gruppieren diese Mittel sich um zwei Schwerpunkte. Nämlich: Zwang und Zustimmung. Denn der Bestand einer politischen Ordnung ist seit jeher gesichert worden, indem ihre Anforderungen und Ansprüche an den einzelnen Menschen und an die Teilgruppen in ihr zwangsweise durchgesetzt wurden oder Zustimmung fanden. Die Tatsache, daß zur politischen Ordnung das Anwenden von Zwang gehört, wird zwar von der Erfahrung bestätigt; denn es gibt, soweit wir in die Geschichte hineinsehen, keine politische Ordnung, die sich auf die Dauer gehalten hätte, ohne über die Mittel zu verfügen, ihren Bestand zu erzwingen, und zwar nach innen und nach außen. Diese Tatsache enthält aber vor allem die Ursache dafür, daß dem Verhältnis der einzelnen Menschen und der Teilgruppen innerhalb einer Gesellschaft zur politischen Ordnung nicht selten ein Unbehagen von beachtlicher Stärke anhaftet.
Denn verstandesmäßig ist zwar leicht einzusehen, daß der Zerfall einer politischen Ordnung einen Wertverlust mit sich bringt, den alle verspüren, die bis dahin an der Gesamtleistung, die aus einer politischen Ordnung hervorgeht, wie selbstverständlich teilhatten. Es ist auch verstandesmäßig einzusehen, daß die Gesamtleistung der politischen Ordnung nicht zustande kommt, ohne daß Abgaben und Dienstleistungen der einzelnen und der Teilgruppen sie erbringen. Doch wer sie erbringt, für den bedeuten sie Abgabe, Verzicht, vielleicht sogar ein großes Opfer. Darin gleicht die politische Ordnung mit ihren Anforderungen und Ansprüchen andern sozialen Gruppen, die nicht bestehen können, außer sie auferlegen ihren Angehörigen Leistungen, die Abgabe, Verzicht und Opfer sind. Das gilt so für die Familie auf ihre Art wie auf andere für Vereinigungen und Verbände, in denen sich Menschen zu einer Gruppe zusammenschließen.
Bei dem Beitrag dieser Ausgabe handelt es sich um das Schlußkapitel des demnächst erscheinenden Buches „Unterwerfung durch Erziehung. Zur politischen Pädagogik im sowjetisch besetzten Deutschland“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages v. Hase & Koehler, Mainz.
Und auch in ihnen wird ein Zustand der Zwiespältigkeit wirksam, der das Verhältnis des einzelnen Menschen zur sozialen Gruppe, wie ihn Arthur Schopenhauer in seiner ironischen Manier folgendermaßen geschildert hat
Die Erfahrung bestätigt, daß der Mensch auf einer gewissen geschichtlichen Entwicklungsstufe in sich das Verlangen nach dem Zusammensein mit andern mit ähnlicher Stärke verspürt wie das Verlangen, zuzeiten allein zu sein. Daher empfindet er den Entzug des Zusammenlebens mit andern so als Minderung seines Daseins wie etwa den Zwang zu dauerndem Zusammensein mit andern. Und beides ist ja auch als Form der Strafe wirksam gemacht worden. Es versteht sich beinahe von selbst, daß Schopenhauer dem, der „viel eigene, innere Wärme hat", empfiehlt, „aus der Gesellschaft wegzubleiben", um keine Beschwerde zu geben, „noch zu empfangen". Das ist allerdings ein Rat, der sich im sozialen Kontakt einigermaßen verwirklichen läßt, zumal dort, wo der Zusammenschluß mit anderen Sympathie oder individuelles Interesse zum Motiv hat. Anders steht es mit der politischen Ordnung; denn sie dient zwar auch dem individuellen und sozialen Interesse, aber sie tut es mittelbar, da sie ihrem Wesen nach auf das Gesamtinteresse aller und des Ganzen zielt.
Und auch wenn sie im ausgleichenden Verfahren des Kompromisses Verhältnisse der „mittleren Entfernung" zu schaffen trachtet, kann sie doch denen, die zu ihr gehören, nicht gestatten, nach Gefallen lieber aus der Gesellschaft wegzubleiben. Vielmehr erzwingt sie ein bestimmtes Maß ihrer Anforderungen und Ansprüche.
Eine Antwort auf das Unbehagen, das dem Politischen dergestalt anhaftet, sind die politischen Utopien, deren Kennzeichen es ist, daß in ihnen der Zwang fehlt, der vom Politischen ausgeht. Untersucht man, wie es kommt, daß sie ohne Zwang auskommen, so stellt sich heraus, daß die Menschen als einzelne und die Gesellschaft im ganzen in einem Zustand sind, aus dem eine unbedingte Zustimmung zu den Anforderungen und Ansprüchen der politischen Ordnung hervorgeht. Jeder einzelne ist ganz und ohne Vorbehalt sowohl animal rationale, also ganz vernünftig, wie animal sociale et politicum, also ganz soziales und politisches Lebewesen. Die Menschen in der Wirklichkeit und außerhalb dieser politischen Utopien sehen allerdings anders aus. Sie sind ebenso irrational wie rational, und sie sind so individualistisch wie sozial und politisch orientiert. Und zwischen alledem gibt es immer von neuem Konflikte und Kollisionen.
Das heißt: wer die Verantwortung hat für den Bestand einer politischen Ordnung, darf mit Zustimmung zu ihr aus rationalen und sozialen Motiven rechnen, kann aber auf den Gebrauch von Zwangsmitteln nicht grundsätzlich verzichten. Die politische Ordnung ist darin einer Betriebsordnung vergleichbar, wie sie die Verkehrsordnung darstellt. Es ist nicht schwer einzusehen, daß der Leistungszuwachs der Motorisierung hinfällig wäre, ja in Chaos und Katastrophe umschlüge, würde man auf eine Verkehrsordnung verzichten. Ebenso versteht es sich, daß Verkehrsteilnehmer sie aus rationalen oder sozialen Motiven innehalten. Verließe man sich aber auf diese Motive allein und verzichtete auf Strafandrohung und Strafverhängung, verließe sich also auf die Zustimmung und verzichtete auf Zwang, dann wäre das Ende unschwer abzusehen. Das Zwangs-erlebnis wird für den am heftigsten sein, der den stärksten Wagen fährt und dem es an rationalen oder sozialen Motiven fehlt, die Verkehrsordnung innezuhalten.
Diese Lage hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der des Menschen der neuzeitlichen Leistungsgesellschaft und seiner Einstellung zur politischen Ordnung. Für den modernen Menschen ist das selbstverständliche Verfügen über einen weiten Lebensbereich, der frei ist von Abhängigkeit und dem Anspruch anderer an ihn, zur zweiten Natur geworden. Er durchläuft lebens-geschichtlich neben der physiologischen Pubertät einen Prozeß der Individuation, der mit seinen Äußerungen und Verhaltensweisen als ein generelles und normales Symptom gewertet wird. Tatsächlich ist er als generelles Symptom der späte Ausdruck der neuzeitlichen Lebensform und Lebensführung, der die individuelle Existenz zur zweiten Natur geworden ist. Diese individuelle Emanzipation führt im Verhältnis zur politischen Ordnung ebenso zur naiven Negation des Politischen überhaupt, weil es Anforderungen und Ansprüche stellt, die nicht mit den Interessen der individuellen Existenz zusammenfallen; wie sie zum andern die seelische Voraussetzung für den Anspruch und die Bereitschaft des einzelnen ist, die Anforderungen und Ansprüche der politischen Ordnung aus eigenem Urteil und eigener Entscheidung auf sich zu nehmen. Die naive Negation des Politischen fällt nicht selten mit der Selbsttäuschung zusammen, Freiheit sei als politische Vokabel dasselbe wie der Anspruch auf radikale individuelle Emanzipation. Wer Freiheit als politische Vokabel so versteht, dem wird der freiheitliche Rechtsstaat im Handumdrehn zur Zwangs-ordnung voll von Zwangserlebnissen, und er ist außerstande, ihn vom totalitären Staat zu unterscheiden. Denn sie gleichen einander darin, daß sie Zwang anwenden, um die politische Ordnung aufrechtzuerhalten; aber sie unterscheiden sich voneinander dadurch, wie sie Zwang anwenden.
Zustimmung durch Meinungs-oder Urteilsbildung
Die Zustimmung ersetzt also nicht den Zwang einfachhin, sondern sie tritt unter bestimmten Bedingungen an seine Stelle. Das geschieht, wie etwa das Beispiel der Verkehrsordnung zeigt, dadurch, daß rationale oder soziale Motive als Beweggründe und Antriebskräfte wirksam werden und dazu führen, daß die Anforderungen und Ansprüche, die diese Ordnung stellt, aus eigenem Urteil und eigener Entscheidung erfüllt werden. Die innere Zustimmung mancht den Zwang von außen überflüssig. Die Frage ist, auf welchem Wege man dahin kommt, daß einzelne oder ganze Gruppen auf diese Weise zustimmen. Es sind zwei Wege, die dahin führen, und wir gehen sie außerhalb des Politischen fast täglich, wenn wir von jemand etwas wollen, wozu wir ihn nicht zwingen wollen oder nicht zwingen können. Dann bleibt uns nur, ihn zu überreden oder zu überzeugen. Gelingt es uns, ihn zu überreden oder zu überzeugen, dann haben wir seine Zustimmung.
Freilich besteht zwischen diesen beiden Haupt-formen, die Zustimmung zu gewinnen, ein wesentlicher Unterschied. Wer auf Grund des überredens zustimmt, hält etwas für das Rechte oder das Richtige, weil es ihm eindrucksvoll als das Rechte oder Richtige hingestellt worden ist. Er kommt zu der Ansicht oder Meinung, es sei das Rechte oder das Richtige. Er hält also etwas für wahr auf Grund der Art, wie es ihm gesagt worden ist, oder auch auf Grund der Autorität dessen, der es ihm gesagt hat. Dagegen ist er nicht imstande, selbst zu prüfen, ob das Gesagte tatsächlich das Rechte oder das Richtige ist. Hier hängt alles davon ab, daß dem Autorität zukommt, dem Glauben geschenkt wird.
Etwas anderes ist es, wenn jemand sich davon überzeugt, daß etwas das Rechte oder das Richtige ist. Er ist imstande, aus eigener Einsicht und aus eigenem Urteil seine Entscheidung zu treffen. Der Ausgangspunkt kann auch hier ein Für-recht-oder Für-richtig-Halten sein; aber auf diese autoritative Phase muß ein Prüfen folgen; das zur eigenen Einsicht und zum eigenen Urteil führt. Lebensgeschichtlich folgen diese beiden Grundformen aufeinander als natürlicher Ausdruck des Kindes-alters, dem die Reifestufe folgt. Die entscheidende Voraussetzung ist jedoch dort, wo eine Entscheidung aus eigener Einsicht und eigenem Urteil getroffen werden soll, ein entsprechendes Wissen und zugleich die Bereitschaft und Fähigkeit, methodisch zu fragen und zu zweifeln. Das Musterbild für diese Form der Urteilsbildung ist die wissenschaftliche Denkweise. Wägt man die beiden Hauptmittel, Zustimmung zu gewinnen, gegeneinander ab, so wird wohl niemand zögern, stünde es frei, über sie zu verfügen, der Urteilsbildung den Vorzug zu geben vor der Meinungsbildung. Und doch gilt für das Politische, wie für unser Lebensverhalten überhaupt, daß der Häufigkeit nach die Meinungsbildung bei weitem das Übergewicht hat der Urteilsbildung gegenüber. Die Ursache dafür ist leicht einzusehen: Wer eine Aussage oder einen Sachverhalt aus eigener Einsicht beurteilen will, muß dafür bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Ein bestimmtes Sachwissen ist die eine Bedingung, und die andere ist die geistige Bereitschaft zu Frage und Zweifel. Beides sich anzueignen, kostet Kraft und Zeit, über beides jedoch verfügen wir nur in den Grenzen des Menschlichen. Mit der Politik, die uns alle angeht, steht es dabei nicht anders wie mit der Technik, von der wir alle Gebrauch machen. Es ist nicht auszudenken, was einträte, würde allen, die sich heute wie selbstverständlich technischer Geräte bedienen, zur Bedingung gemacht, sie sollten Struktur und Funktion der Apparate sachkundig beurteilen, von denen sie täglich Gebrauch machen. Tatsächlich bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sich auf den Sachverstand und die Vertrauenswürdigkeit anderer zu verlassen. Wir stehen und fallen im Politischen, wie auch in andern Lebensbereichen sonst, mit dieser Vertrauensbildung. Die Gefahren, die dieser Tatsache innewohnen, hat schon Platon beim Namen genannt, wenn er gegen die Meinung bildende Redekunst der Sophisten die Wahrheitsfindung des Sokrates stellt. Im Politischen kommt alles darauf an, dieser Gefahr realistisch Rechnung zu tragen, also innerhalb der politischen Ordnung durch Einrichtungen und Regelungen dafür zu sorgen, daß durch Konkurrenz und Kritik dem Mißbrauch der Meinungsbildung Grenzen gesetzt und jede Möglichkeit der Urteilsbildung gefördert wird. • Der freiheitliche Rechtsstaat in der Gestalt der parlamentarischen Demokratie kennt in dieser Sache grundsätzlich nur ein Vertrauen mit Vorbehalt. Darin unterscheidet sie sich wesentlich vom totalen Staat, der von den Menschen geistig, seelisch und sittlich eine Zustimmung fordert, die ein Vertrauen ohne Vorbehalt voraussetzt. Damit ist zugleich der Punkt erreicht, wo die Erziehung in der Form der politischen Pädagogik in den Blick kommt. Wie die politische Propaganda und die kommerzielle Reklame sehr deutlich zeigen, liegt ihre Stärke und Schwäche darin, daß sie schnell wirken, aber in ihrer Wirkung ohne Tiefe und Dauer sind. Sollten sie das Fundament abgeben für die Bereitschaft zu Leistungen, die Verzicht und Opfer in sich schließen, so würden sie sich als wenig tragfähig erweisen. Das gilt um so mehr, je schwerer Verzicht und Opfer sind, die zugemutet werden. Dazu bedarf es gewisser Grundeinstellungen, die schwerer seelischer und sittlicher Belastung standhalten. Ihnen eignet vor allem dann Dauer und Tiefe, wenn sie auf das Wertgefühl eines Menschen oder einer Menschengruppe gegründet sind. Zugleich gewinnen sie dadurch so sehr an Gewicht, daß sie Verzicht und Opfer aufwiegen und zur letzten Selbstentäußerung befähigen.
Erziehung als Gesinnungsund Gewissensbildung
Wiederum lassen sich zwei Hauptformen unterscheiden, in denen sich diese auf das Wertgefühl gegründeten Grundeinstellungen und Grundhaltungen darstellen. Sie sind die Wirkung einer Erziehung, die als Gesinnungsund. als Gewissensbildung bezeichnet werden kann. In der Erziehung als Gesinnungsbildung werden die Regelungen und Einrichtungen einer politischen Ordnung wie diese selbst als Ganzes mit ihren Anforderungen und Ansprüchen verwandelt in Gegenstände der Wertschätzung, die vorzugsweise gefühlsmäßig angeeignet werden. Frühzeitige Gewöhnung und ungebrochene Gesittung spielen die größte Rolle, wenn politische und soziale Traditionen und Konventionen zum inneren Richtmaß des Handelns von einzelnen Menschen und von ganzen Gruppen werden sollen.
Erwartungen und Vorstellungen, die mit dem Ganzen der politischen Ordnung Zusammenhängen, und vor allem der weite Bereich der Bilder haben sich dabei seit jeher als wirksam erwiesen. Das seelische Kernstück der Gesinnungsbildung ist die Steigerung des Selbstgefühls der einzelnen und von Teilgruppen durch die Teilhabe am Ganzen der politischen Ordnung. Aus dem Erlebnis dieses gesteigerten Selbstgefühls geht die Bereitschaft hervor, die Anforderungen und Ansprüche der politischen Ordnung anzunehmen, wie sie die vielfältigen Formen des nationalen und nationalistischen Patriotismus bekunden. Damit deutet sich auch die Gefahr an, die mit der Erziehung als Gesinnungsbildung auftreten kann; ihre Nähe zu einem gedankenlosen Gefühlsüberschwang, der bei gegebener Gelegenheit die seelischen Begleiterscheinungen heraufbeschwören kann, wie sie in der soge-nannten Massenpsychologie beschrieben worden sind. Diese Gesinnungsbildung ist dann die erzieherische Entsprechung zu einer Meinungsbildung, die als politische Propaganda unsachlich und maßlos zur Selbstüberschätzung des eigenen Volkes und Staates und der Verachtung der andern, ja ihrer Verketzerung und Verteufelung das Wort redet.
Eine solche Gesinnungsbildung zielt auf die vorbehaltlose Bereitschaft zur Selbstentäußerung zugunsten der politischen Ordnung; sie verträgt sich deshalb nicht mit der Erziehung als Gewissensbildung. Denn weder das vor-christliche Gewissen des Sokrates noch das christliche des Thomas Morus läßt eine unbedingte Unterwerfung unter das Politische zu, sondern behält dem einzelnen Menschen Entscheidungen vor, die dem Politischen entzogen sind. Eine politische Ordnung, die dem Menschen die unbedingte Unterwerfung abverlangt, hält darum den Menschen des Gewissens für ihren gefährlichsten Gegenspieler.
Wird das Politische dagegen verstanden als ein Bereich, dem die Mittel der Macht zugehören, aber auch als einem Bereich des Menschseins die Gefährdung und Gefährlichkeit alles Menschlichen, dann gehört es zu den Zielen einer realistischen und humanen Politik, Menschen heranzubilden, die dem Politischen gegenüber die Bereitschaft und den Mut zum Ja und Nein haben. Die Erziehung als Gewissensbildung entspricht einer Form der politischen Ordnung, die sich, wie der freiheitliche Rechtsstaat, selbst im Namen des Gewissens gesetzliche Grenzen der Zwangs-anwendung setzt. Der freiheitliche Rechtsstaat erstrebt keine unbedingte Unterwerfung unter das Politische, weder durch Zwang noch durch Zustimmung
Totalitäre Praktiken: Erziehung der Gefühle und Erziehung zurWissenschaftlichkeit
überblickt man die Praktiken der politischen Pädagogik, wie sie im sowjetisch besetzten Deutschland seit anderthalb Jahrzehnten angewandt werden, so lassen sie sich in zwei Hauptgruppen einordnen. Sie dienen, nach dem Sprachgebrauch der am sowjetischen Modell orientierten Pädagogen, der „Erziehung der Gefühle" und der „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit“. Die „Erziehung der Gefühle" vollzieht sich vor allem im Kindergarten und in der Jugendgruppe. Die Schule leistet ihren Beitrag zur „Erziehung der Gefühle" im „erziehenden Unterricht". Da der Kindergarten und die Jugendgruppe mitsamt dem Kinder-und Jugendbuch, den Kinder-und Jugendzeitschriften wie den Schulbüchern für das gesamte Unterrichtswesen ein Monopol des kommunistisch regierten Staates sind, hat die „Erziehung der Gefühle" ihre gemeinsame geistige Grundlage in allen pädagogischen Institutionen im Marxismus-Leninismus. Die „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" hat ihren Schwerpunkt in der Schule, die im Fach Staatsbürgerkunde und in den übrigen Unterrichtsfächern unter dem Unterrichtsprinzip der „Wissenschaftlichkeit" Wissen aus dem Gebiet des Marxismus-Leninismus vermittelt.
Die Frage stellt sich, welcher der Grundformen der politischen Pädagogik die „Erziehung der Gefühle" und die „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" zuzurechnen ist. Gehören sie in den Bereich der Meinungs-, der Gesinnungs-, der Urteils-oder der Gewissensbildung?
Der nächste Weg zum wissenschaftlichen Verständnis alles dessen, was in dieser politi-sehen Pädagogik mit der „Erziehung der Gefühle" zusammenhängt, führt über die Tatsache, daß in ihr immer wieder die Namen /. P. Pawlow und A. S. Makarenko auftauchen. Die Erwähnung dieser beiden Namen führt nämlich, geht man den Spuren der Berufung auf sie nach, an den Punkt, an dem sichtbar wird, auf welche Weise die psychologischen und pädagogischen Praktiken der „Erziehung der Gefühle" und der „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" der Aufgabe dienen, die Menschen im kommunistischen Machtbereich zur politischen Ordnung des totalitären Staats ins Verhältnis der Zustimmung zu setzen.
Pawlows Hundeversuch
Pawlow ist im Jahre 1904 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden, und der Teil seiner Forschungen, den er mit dem Begrilf der „bedingten Reflexe" überschrieben hat, ist wissenschaftsgeschichtlich dem Forschungsgebiet zuzurechnen, das um die Jahrhundertwende immer intensiver in das Zeichen der Frage trat, wie es zu erklären ist, daß Handlungen und Äußerungen der Menschen von Antriebskräften bestimmt werden, die nicht im Bereich des Bewußtseins liegen. Es entsprach der Psychologie dieser Zeit, daß sie in der nächsten Nähe zur Physiologie und Neurologie stand und die experimentelle Methode nach dem Modell der Naturwissenschaften bevorzugte. Ihr Ziel war es, wie in den Naturwissenschaften, Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens aufzudecken und sie in die „Technik" von Praktiken einer angewandten Psychologie umzusetzen. Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen, und die Praktiken dieser angewandten Psychologie sind inzwischen zum festen Bestandteil der Medizin und Pädagogik wie der kommerziellen Reklame und politischen Propaganda geworden. Bekannter als der Name Pawlows sind in der westlichen Welt die Namen Freuds, Jungs, Adlers und McDougalls. Aufs Ganze gesehen ist ihrer Forschung in dieser Sache die Tatsache gemeinsam, daß die Erkenntnisse und Ergebnisse ihrer Forschung die wissenschaftliche Voraussetzung für Methoden der Menschenführung enthalten, die Antriebskräfte des Handelns in Rechnung stellen, die nicht im Bewußtseinsbereich der Persönlichkeit liegen. Ins Politische gewendet heißt das: wenn sich Gesetzmäßigkeiten dieser Art auffinden lassen, die in Methoden der Menschenführung umsetzbar sind, dann ergibt sich die Möglichkeit, Menschen politisch zu führen, ohne daß ihnen diese Führung, die eine Lenkung von außen ist, zu Bewußtsein kommt. Es versteht sich, daß in diesem Fall jedes Zwangserlebnis wegfällt, da der Antrieb zum Handeln ja aus dem eigenen Inneren kommt. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt den bekannten Hundeversuch, den Pawlow in vielen Variationen durchgeführt hat, so ist an ihm einiges erkennbar, das in Hinsicht auf die Anwendbarkeit in psychologischen Praktiken der Menschenführung Aufmerksamkeit verdient.
Die Grundtatsachen des Versuchs sind: einmal die Tatsache, daß der hungrige Hund, wenn ihm Futter vorgelegt wird, eine spontane Reaktion zeigt; nämlich eine intensive Speichel-absonderung. Zum andern zeigt sich, daß bei entsprechender Wiederholung des Vorgangs, wird dieser jedesmal von einem Ton-oder Lichtzeichen begleitet, beim Hund die Speichelabsonderung auch dann eintritt, wenn nur das Zeichen gegeben wird und kein Futter vorgelegt wird. Aus einer natürlichen Verhaltensweise, die spontan eine Lebensfunktion wie die Nahrungsaufnahme begleitet, ist eine gelenkte und von außen mitbestimmte Art des Verhaltens geworden. Ist diese planmäßig herbeigeführte Veränderung des Verhaltens dauerhaft, dann ist sie auch von pädagogischem Interesse; denn es handelt sich dann um ein pädagogisches Dressat, durch das ein Verhalten in einer spezifischen Situation zum charakterlichen Habitus, also zur „zweiten Natur" wird. Ein so zur zweiten Natur gewordenes Verhalten stellt sich erlebnishaft leicht als das Natürliche und Normale dar, kann zumindest ohne großes inneres Widerstreben dazu erklärt werden. Von einem gewissen Punkt der Aneignung an, wenn der Vollzug automatisiert ist, haftet dem pädagogischen Dressat der Charakter des Spontanen an.
Anwendung auf den Menschen: pädagogisches Dressat
Der Weg zur Anwendung des Pawlowschen Experiments mit dem Hund auf den Menschen zeichnet sich ab, denkt man daran, daß eine große Zahl von Verhaltensweisen, die der Mensch sich in der frühen Kindheit aneignet, solche pädagogischen Dressate sind. Wie sehr sie mit Tiefenschichten der Persönlichkeit verbunden sind, zeigt allein das Beispiel der Reinlichkeitserziehung in der frühen Kindheit und ihre Bedeutung für die Diagnose und Therapie leib-seelischer Störungen im späteren Lebensalter. Noch mehr gilt das für die Erlebnisse und Erfahrungen im Bereich der mitmenschlichen Beziehungen, zumal zu den Eltern und Geschwistern. Sie werden nicht selten auf eine Weise, die beinahe schicksalhaft zu nennen ist, Bestandteil der Persönlichkeit.
Voraussetzung der Wirkung dieser Erlebnisse und Erfahrungen der frühen Kindheit ist ein Verhältnis des Kindes zu seiner Umwelt, das an Intensität dem Verlangen des hungrigen Hundes nach Futter nicht nachsteht, aber weit über dieses vitale Interesse hinausreicht ins eigentlich Menschliche. Wie weit der Umkreis der humanen Interessen ist, lassen die modernen Methoden der kommerziellen Reklame erkennen. Das Plakat an der Litfaßsäule, das an heißen Sommertagen für ein Getränk wirbt, setzt als Situation objektiv den sinkenden Flüssigkeitsspiegel und subjektiv das Durst-gefühl im Betrachter des Plakats voraus, und es sucht durch ein Bild seine Vorstellungen auf das angebotene Getränk zu lenken.
Die modernen Methoden der kommerziellen Reklame verraten aber auch, wie sehr sie mit dem eigentlichen Menschlichen rechnen, das sie als Antriebskraft in ihren Dienst zu nehmen versuchen. Wer einige Sendungen der Werbung im Fernsehen aufmerksam betrachtet, wird das Entscheidende unschwer erkennen. Wird etwa empfohlen, einen Gegenstand, ein Getränk, eine Rauchware oder ein Gerät zu erwerben, so wird zumeist im Zuschauer die Erwartung erweckt, der Ankauf des Empfohlenen, was es auch sei, werde ihm einen Wertzuwachs erbringen, der nicht in der Sprache selbst liegt. Die Werbung dieser Art rechnet mit einem Grundverlangen des Menschen, das vielleicht das wesentliche Verlangen überhaupt ist, das den Menschen in seinen Erwartungen und Wünschen kennzeichnet, nämlich dem Verlangen des Menschen, Wert zu haben und in seinem Wert zu wachsen. Fast immer ist es ein Wertzuwachs, der in Aussicht gestellt wird, erwirbt man den angepriesenen Gegenstand. Man wird nach dem Erwerb der Ware gesünder, klüger, schöner, eindrucksvoller sein, oder wenigstens scheinen, es zu sein.
Die Nähe der Werbung zum Hundeversuch Pawlows, wenn sie uns dazu drängt, uns etwas Eßbares oder Trinkbares vorzustellen, auch der sexuellen Imagination im Dienste der kommerziellen Reklame, ist offenkundig.
Eine Übersetzung ins wesentlich Menschliche ist es, wenn nach dem Modell des Pawlowschen Experiments das Verlangen des kindlichen und jugendlichen Menschen nach Achtung und Anerkennung in den Dienst der politischen Pädagogik und Propaganda gestellt wird.
Das geschieht, wenn im Kindergarten das Verlangen des Kindes nach Geborgenheit und Geordnetheit und sein Verlangen nach der Selbstbestätigung im Spiel mit andern und in der schöpferischen Wiedergabe der Welt beim Malen und Zeichnen in Zusammenhang gebracht wird mit politischen Symbolen und Idolen. Das geschieht zudem, wenn das Verlangen des Kindes nach dem Zusammensein mit Gleichaltrigen und nach ihrer Anerkennung in den Dienst der politischen Pädagogik gestellt wird. Die staatliche Monopolisierung der Jugendgruppe ist der Versuch, sich des Kindes seelisch zu bemächtigen, wenn es die ersten Schritte tut, um die Grenzen des Lebens in der Familie zu überschreiten. Das ereignet sich um das fünfte Lebensjahr, und es ist eine Tatsache, die zu diesem Wendepunkt des kindlichen Lebensalters nicht minder gehört wie der Zahnwechsel und der Gestaltwandel, in dem sich das kindliche Körperbild verändert. Die Mütter sind es zumeist zuerst, die, oft nicht ohne Erstaunen oder Erschrecken, das Weglaufen des Kindes feststellen und sein Widerstreben spüren, wenn sie es aus einer Spielgruppe fortholen. Die Anerkennung in der Gruppe der Gleichaltrigen ist von da an eine Form des kindlichen Verhaltens, die zu dem Verlangen, in der Familie Aufmerksamkeit und Anerkennung zu finden, in Konkurrenz tritt
Die Jugendbewegung wäre niemals entstanden als eine Form des organisierten juvenilen Protests gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, hätte sie nicht zur seelischen Voraussetzung das Verlangen des kindlichen und jugendlichen Menschen nach der Anerken-nung in der Gruppe der Gleichaltrigen. Schon an der Jugendbewegung ist als ein charakteristisches Element die Verfestigung und Pflege des juvenilen Protests in Gehaben, Kleidung und Kunstgewerbe zu beobachten. Das Jungsein als Nein-Sagen wird Selbstwert. Die monopolisierte Jugendgruppe des Kommunismus, wie auch des Nationalsozialismus, hat diese psychische Situation planmäßig in den Dienst der politischen Pädagogik gestellt. Was der Verachtung und Vernichtung wert ist, wird zum „Alten" erklärt und zum Jungen, dem die Zukunft gehört, in einen gleichsam natürlichen Gegensatz gebracht. Eben zu diesem Schema politischer Typik gehört es, wenn in der Literatur und im Film die Gestalt des alten Menschen vorzugsweise dazu dient, Haltungen des Religiösen, Asozialen und politisch Reaktionären darzustellen. Sie sind sozial und politisch machtlos und eignen sich deshalb ohne Risiko dazu, die propagandistische und pädagogische Funktion als Popanz oder Sündenbock zu übernehmen. Sie dienen, wie andere zur Karikatur gemachte Gruppen, dazu, die Konservierung des juvenilen Protests über das Jugendalter hinaus zu bewirken.
Die Kunst dieser politischen Pädagogik besteht darin, im Kindergarten und in der Jugendgruppe des Schulalters Erlebnisse zu vermitteln, in denen der Sympathie zur politischen Ordnung des Kommunismus eine ebenso naive Antipathie gegen die freie Welt entspricht. Es liegt im Wesen der politischen Pädagogik als „Erziehung der Gefühle", daß sie dabei nicht in erster Linie an das Denken und Wollen appelliert. Ein bezeichnendes Beispiel, das als Modellfall zum Verständnis der politischen Pädagogik in der Jugendgruppe des Schulalters dienen kann, waren die Ferien-lager im sowjetisch besetzten Deutschland im Jahre 1956. An ihnen nahmen in größerer Zahl auch Kinder aus der Bundesrepublik teil. In diesem Jahr wurde nun im kommunistischen Machtbereich die Erinnerung an die kommunistischen Spanienkämpfer gefeiert. In den Ferienlagern war eine Woche dieser Erinnerung gewidmet. Sie setzte ein mit dem Singen von Liedern zu Ehren der kommunistischen Spanienkämpfer und dem Erzählen ihrer Taten am Lagerfeuer. Dann wurden die Kinder in Gruppen eingeteilt, die mit den Namen kommunistischer Spanienkämpfer benannt wurden. Eine davon war die Thälmann-Brigade, und ihr wurden mit Vorzug Kinder aus der Bundesrepublik zugeteilt. Sie wurde durch besondere Aufgaben, die man ihr erteilte, zu der bevorzugten Gruppe des Lagers, zu der die andern Gruppen ins Verhältnis des Wettbewerbs traten. In den nächsten Tagen erhielten die Kinder Material von ihren „Patenbetrieben", und sie fingen an Pistolen, Gewehre, Kanonen zu basteln. Zugleich wurde ein Geländespiel in Form eines Gefechts zwischen Kommunisten und Faschisten vorbereitet. Planskizzen lagen vor, „subversive" Tätigkeit und militärische Spähtrupptätigkeit bereiteten das Geländespiel vor. Der Kampf endete als Höhepunkt des Ganzen mit einem Sieg der Kommunisten über die Faschisten. Wer, wie das ein Reporter einer in der Bundesrepublik erscheinenden Tageszeitung getan hat, die Kinder, die in einem Sonderzug zurückkamen, daraufhin befragte, was sie denn von Marx, Lenin und Stalin wüßten, konnte, wie es geschehen ist, frohlockend feststellen, sie hätten dazu kaum etwas zu sagen gewußt. Er konnte sich auch damit beruhigen, daß sie kleine Geschenke mitbrachten und recht gesund und munter wirkten. Auch er ist dem Irrtum erlegen, daß „Erziehung der Gefühle" zu verwechseln sei mit Schulung. Anders sieht sich dieselbe Situation an, stellt man sich vor, daß ein Junge, der in diesem Ferienlager der „Thälmann-Brigade" angehörte, in seiner Schulklasse oder sonst irgendwo wieder den Namen Thälmann hört, der ja die Idealfigur der „Thälmann-Pioniere" ist.
Es steht außer Frage, daß der Name Thälmann für ihn einen ganz anderen Gefühlston hat als für alle anderen Kinder neben ihm, die nicht im Ferienlager und in der „Thälmann-Brigade"
waren. Die „Erziehung der Gefühle" ist nicht mit Schulung zu verwechseln, sondern ihr Ziel ist es, unbewußte Spuren im Gefühlsbereich, vor allem im Bereich der Wertgefühle, zu hinterlassen. Was im Kindergarten beginnt, wenn das Vertrauensverhältnis des Kindes in Beziehung gebracht wird zu Symbolen, Personen und Institutionen des Politischen, das setzt die Jugendgruppe planmäßig fort.
Makarenkos Kollektivpädagogik
Die seelische Tiefenwirkung dieser „Erziehung der Gefühle" kann erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn man sie zu den Tatsachen ins Verhältnis setzt, die A. S. Makarenko haben zum Klassiker der kommunisti-sehen Pädagogik werden lassen. Entscheidend ist, daß die pädagogische Situation, die in einer pädagogischen Institution Gestalt zu geben versucht hat, die Erziehung von asozialen und kriminellen Jugendlichen gewesen ist. Er hat selbst beschrieben, wie er die Jugendlichen durch einen ersten Gewaltakt überwältigt hat, und der Erfolg, den er dabei gehabt hat, hat ihn dazu gebracht, daraus seine „Explosions-und Schockmethode" zu entwikkeln. Das Kernstück dieses Verfahrens ist die seelische Überwältigung des einzelnen Jugendlichen durch eine kollektive Situation. Ihr folgt die Unterwerfung des jungen Menschen unter eine lückenlos durchgeplante Form des Zusammenlebens und des Zusammenleistens. Was immer sich durch tatsächliche Leistung oder die Anerkennung durch die Gruppe an Wertgefühl im einzelnen Jugendlichen entwickelt, wird streng und unentwegt gerichtet auf das Ganze des „Kollektivs". Motive und Impulse der individuellen Existenz werden dagegen vedächtigt und geächtet. Daran ist nicht zu zweifeln, daß es zu Leistungen und ihrem emotionalen Reflex in den Erlebnissen des einzelnen kommt; aber sie werden systematisch und rigoros gemessen am Maßstab der kollektiven Existenz, die zur absoluten Norm erhoben ist.
In ihrer Spiegelung im Denken westlicher Pädagogen hat diese Kollektivpädagogik seltsame Deutungen gefunden, die nur zu verstehen sind, vergegenwärtigt man sich die politische Indifferenz, deren sich eine bestimmte Richtung der Erziehungswissenschaft selbst rühmt. Wehrlosigkeit gegen jede totale Politik ist die Kehrseite dieser Ahnungslosigkeit. Am schwersten fällt es den Vertretern dieser „reinen" Erziehungswissenschaft die Tatsache ernst zu nehmen, die für Makarenko selbst das Ernsteste war, das er von einem bestimmten Zeitpunkt an zu betonen liebte; nämlich die Entsprechung seiner pädagogischen Ideen und Praktiken zu den Ideen und Praktiken der Politik Stalins. Was bietet es schon an Neuem, wenn Makarenko zu Gorki in Beziehung gesetzt wird, wie er es selbst getan hat; und wen überrascht es, daß von Gorki zu Tolstoi hin nicht nur persönliche, sondern auch ideelle Kontakte bestehen. Demgegenüber unterschätzen, wie sich Makarenko zu Stalin in Beziehung gesetzt hat, heißt ihn jedoch selbst unernst nehmen. Die Lobredner Makarenkos versäumen zudem, endlich einmal zu erklären, was eigentlich Makarenko unserem Wissen vom Erziehen hinzugefügt hat, das wir ohne ihn nicht wüßten.
Nimmt man ihn ernst, wie er sich selbst ernst genommen hat, dann muß man vom System seiner Kollektivpädagogik sprechen, mit dem er versucht hat, eine Sozialpädagogik der Asozialen und Kriminellen ins Politische zu übertragen. Und diese Pädagogik ist in ihrer Praxis psychologisch überhaupt nicht darzustellen, rechnet man ihr den Zwang nicht zu, der über Makarenkos Erziehungsanstalten gelegen hat. Sie waren in Wahrheit erzieherische Zwangsanstalten, in denen jeder Versuch, Impulse und Motive der individuellen Existenz als einen Bereich von Eigenwert und Eigen-recht geltend zu machen, als Verstoß gegen den Höchstwert der kollektiven Existenz galt. Makarenko hat es zwar meisterhaft verstanden, diese Nichtachtung der individuellen Existenz und den aus ihr hervorgehenden natürlichen Selbsthaß mitsamt den Erlebnissen der Ohnmacht seiner Zöglinge gegenüber der Ordnung nach außen zu wenden, auf Sündenböcke zu lenken; aber das macht ihn nicht zum großen Sozialpädagogen, sondern nur zu dem, was er selbst sein wollte, zum pädagogischen Diktator, der sich selbst in Entsprechung sieht zum politischen Diktator. Der lückenlose geplante Zwang vollendet, was die innere Zustimmung nicht erbringt, einen Zustand der unbedingten Unterwerfung des einzelnen Menschen unter die Ansprüche und Anforderungen eines Ganzen, das zum Höchstwert erklärt wird.
Wer sich allerdings auf den Standpunkt stellt, daß ein Untersuchungsrichter, Kommissar der Geheimpolizei, Staatsdiener irgendwelcher Art, der seine individuelle Asozialität und Kriminalität in eine kollektiv orientierte Aggressivität zugunsten eines totalitären Staates und einer totalitären Partei in der Form Stalinscher Disziplin umwandelt, eine kollektive Pädagogik rechtfertigt, der mag sich damit beruhigen, daß ein Zögling Makarenkos, wenn er nicht dem „pädagogischen Risiko" vorher zum Opfer gefallen ist, allerdings gegen diesen Staat und diese Partei nicht mehr straffällig wird, und zwar aus innerer Zustimmung. Tatsächlich legt die Pädagogik Makarenkos für den Bereich der „Erziehung der Gefühle" über die Umsetzung der Pawlowsehen Experimente in eine Pädagogik der Dressate hinaus in aller Klarheit bloß, daß es eine Erziehung ist, die nicht zur Wirkung kommt, zumal als „Erziehung zum Haß", ohne die planmäßige Verwandlung der Gesellschaft ins Gefängnis. Der Zwang ist der Antrieb, der die Zustimmung zur politischen Ordnung des Kommunismus und zugleich den Haß gegen die freie Welt in diesem Zusammenspiel von Psychologie und Pädagogik zur „zweiten Natur" werden läßt
Eine Spielart der Gesinnungsbildung
überträgt man dieses psychologische Schema auf die pädagogischen Dressate nach dem experimentellen Modell Pawlows und der Kollektivpädagogik Makarenkos auf die „Erziehung der Gefühle", wie sie die kommunistische Pädagogik ausübt, dann steht außer Frage, daß diese Form der Pädagogik tatsächlich im letzten ihren Antrieb darin hat, die Angst vor der Aggression der äußeren Autorität zu verwandeln, wie Freud sagt, zu verinnerlichen, in die Angst vor der Aggression der inneren Autorität. Es gibt keine genauere Erklärung des psychologischen Prozesses, den diese „Erziehung der Gefühle" darstellt, als sie Freud mit seiner Beschreibung der Entstehung des „Über-Ichs" gegeben hat. Denn eben das ist der Vorgang, in dem durch Erziehung die Wirkung des äußeren Zwangs in die innere Zustimmung aus Angst vor dem Zwang übersetzt wird.
Fragt man sich allerdings, ob das, wie Freud selbst sagt, ein Vorgang der Gewissensbildung ist, dann ist der Einwand wohl nicht zu vermeiden, daß Freud den Begriff des Gewissens in einem engen Sinn verwendet hat. Denn Sokrates und Morus — um nur zwei Namen zu nennen, denen niemand den Ehrentitel, sie seien Menschen des Gewissens gewesen, abstreiten wird — sind mit dem Gewissensbegriff von Sigmund Freud nicht zu bestimmen.
Ihr Kennzeichen ist vielmehr, daß sie unter Berufung auf eine innere Stimme, mit Freud zu sprechen, also ihr Über-Ich, sich dem widersetzten, was den Menschen ihrer Umwelt in der überwältigenden Mehrzahl eine innere Stimme sagte, die tatsächlich das Uber-Ich in Gestalt der verinnerlichten Angst vor der äußeren Aggression zur Angst vor der inneren Aggression sein mochte, wenn es nicht einfach die „Angst vor der äußeren Aggression" war, die seit jeher ein vornehmes Mittel der politischen Praxis ist. Freuds „Uber-Ich", auch wenn er es Gewissen nennt, entspricht der Begriff der Gesinnung, wie er vorhin verwendet worden ist. Gesinnung ist danach, auch als Angst vor der äußeren Aggression, die verinnerlicht worden ist, die vorbehaltlose Annahme einer kollektiven Norm als Maßstab fürs Handeln. Diese vorbehaltlose Annahme der kollektiven Norm als Maßstab fürs Handeln ist das Ziel der „Erziehung der Gefühle", und sie ist zugleich das reine Gegenteil der Gewissensbildung, zu der es gehört, daß sie eben nicht zur vorbehaltlosen Annahme kollektiver Normen führt, sondern sich selbst einem Maßstab zuordnet, dem auch das kollektive Existieren der Menschen unterstellt wird. Wo ein solcher Maßstab fehlt, der das Ganze wie den einzelnen sich unterstellt, kann nicht von Gewissen gesprochen werden, sondern nur von Gesinnung. Denn es liegt im Wesen des Gewissens, daß es nicht einfachhin eine kollektive Norm als letzte Richtschnur anerkennt. Das gehört zur humanen Tradition Europas, ja es ist einer ihrer Angel-punkte, seitdem in der „Antigone" des Sophokles ein schwaches Mädchen sich gegen den Machthaber und die von ihm geforderte und angeordnete Staatsgesinnung gestellt hat. Das Gewissen wird an dieser Grenze in der Bereitschaft und dem Mut zum Nein-Sagen sichtbar, und gibt dem letzten Opfer Sinn. Dagegen hat die Gesinnung ihren Schwerpunkt im Ja-Sagen zu dem, was der Staat oder die Gesellschaft fordern, einem Ja-Sagen, das nicht erzwungen ist, sondern aus Zustimmung kommt
Erziehung zu Liebe und Haß
Da das Ziel der „Erziehung der Gefühle" im kommunistischen Machtbereich die „grenzenlose Ergebenheit" gegenüber dem „Staat der Arbeiter und Bauern und der Partei der Werktätigen" ist, ist sie als Form der politischen Pädagogik eine Spielart der Gesinnungsbildung, die planmäßig darauf ausgeht, mit Hilfe psychologischer und pädagogischer Praktiken die Angst vor dem äußeren Zwang zu verwandeln in eine innere Zustimmung, deren Grundlage ein Ja-Sagen ist, das ebenso aus dem Erlebnisbereich der Wertgefühle wie aus der Verinnerlichung der äußeren Aggression in eine innere Aggression kommt, der Feinde als Ziel des Hasses zugeordnet werden. Sie ist, wie sie sich selbst nennt, im wahren Sinne des Wortes, als „sozialistischer Patriotismus", Erziehung zur Liebe und zum Haß.
Zwar wirkt es wie ein Wortspiel, wenn von kommunistischen Pädagogen Liebe und Haß, die diesen „sozialistischen Patriotismus" ausmachen, gleichgesetzt worden sind. Und doch ist daran etwas Wahres; denn die Hingabe derer, die seit dem Jahre 1917 in der Welt Menschen verhört, verfolgt und vernichtet haben, war wohl bei vielen von ihnen eine Hingabe an den Kommunismus, in der, um noch einmal mit Freud zu reden, die Angst vor der Aggression der inneren Autorität die Triebkraft ist. Eine solche „Liebe" ist allerdings im letzten Haß, der tiefe Haß der Ohnmächtigen, deren Wille zur Vernichtung auf andere gerichtet ist. Dieser Haß hat keine Wahl, er mordet entweder andere oder sich selbst. Darin liegt auch die Erklärung dafür, eine jedenfalls, daß den Anklägern und Ver-
hörern dieser Art der Inhalt der Anklage nebensächlich ist. Sie sind imstande, jeden anzuklagen, und sie haben keine inneren Schwierigkeiten im Verfahren der Anklage das Thema und die Tonart zu wechseln wie Schauspieler, die zum hundertsten Male routiniert ihre Rolle spielen. Im letzten geht es ihnen nicht um Recht oder Unrecht, um Wahrheit oder Unwahrheit, sondern um die Rache am andern für die eigene Ohnmacht. Der Haß ist der Antrieb, und die justizförmige oder fabrikmäßige Disziplinierung verwandelt ihn ins Zeugnis der vorbehaltlosen Hingabe an den Staat und die Partei. Für diesen Akt werden alle hergebrachten Ausdrücke für die Hingabe verwendbar, wie etwa Liebe und Treue. Das Gefährliche ist, daß, wer bis an diesem Punkt eines solchen disziplinierten Akts gegangen ist, für sich die Anerkennung der redlichen Selbstlosigkeit beansprucht. Die Welt, in der wir leben, ist redselig, und sie ist ungenau im Ausdruck; aber die Übernahme der Gleichzetzung von Liebe und Haß in den Sprachgebrauch ist lebensgefährlich.
Was ist kommunistische Erziehung zur Wissenschaftlichkeit?
Was hat es nun mit der „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" auf sich — ist sie nicht ihrem Wesen nach Urteilsbildung? Hat sie nicht ihre frühe und zugleich vollendete Form in Europa im sokratischen Dialog, der ein Gespräch ist, in dem die Gesprächspartner miteinander nach der Wahrheit suchen, weil sie überzeugt sind, noch nicht in ihrem Besitz zu sein, die Liebe, sie zu finden, jedoch jeden beseelt? Die Liebe zur Wahrheit darum alle antreibt, das für wahr Gehaltene grundsätzlich in Frage zu stellen und anzuzweifeln, bis
Gewißheit sichtbar wird und feste Form gewinnt, eingezeichnet ins Wirkliche?
Wie sich die „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit", von der die kommunistischen Pädagogen erklären, sie sei die wichtigste Aufgabe ihres Unterrichts, zu diesem Verfahren der Urteilsbildung verhält, beginnt sich abzuzeichnen mit dem Anspruch der Kommunisten, sie verfügten über das einzige Verfahren, über Ge-* schichte und Gesellschaft wissenschaftlich zu denken. Sie verstehen unter diesem Verfahren die Lehre des Marxismus-Leninismus. Die Eigenart dieser Lehre wird sichtbar, vergegenwärtigt man sich, wie sie geschichtlich entstanden ist.
Im Jahre 1917 fanden in Rußland am 25. November die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung statt, aus der die rechtmäßige Regierung hervorgehen sollte. Es waren das die letzten allgemeinen, geheimen und freien Wahlen, die in Rußland stattgefunden haben. An der Wahl beteiligten sich 36 Millionen Menschen, und die Partei der Sozialrevolutionäre erhielt 21 Millionen Stimmen. Die Bolschewisten erreichten nur 9 Millionen Stimmen. Als die Konstituierende Versammlung am 5. Januar 1918 zusammentreten wollte, wurde sie von den Bolschewisten mit Waffengewalt an der Ausübung ihrer Funktion gehindert
„Diktatur des Proletariats" zog. Die Gegner wie die Anderesdenkenden jeder Art ließen sich damit zu „Klassenfeinden" erklären, und ihre Entmachtung und Entrechtung unter schwerster Gewaltanwendung wurde zum „Klassenkampf".
Wer seitdem zum Leninisten wird, indem er diese Gleichsetzung annimmt, sieht zugleich als Anhänger dieser Rechtfertigungslehre, die sich irreführend Marxismus-Leninismus nennt, die politische Praxis Lenins und der Leninisten als gerechtfertigt an. Terror, der im Namen des Marxismus-Leninismus gegen Gegner und Andersdenkende geübt wird, ist für sie legitim als „Klassenkampf". Das hat auch Chruschtschow ausdrücklich anerkannt, als er die Übergriffe Stalins in den Prozessen gegen alte Kommunisten tadelte. Auf diesem Argument steht auch die Rechtfertigung der terroristischen Politik der SED im sowjetisch besetzten Deutschland, vor allem auch ihr Anspruch, die deutsche Wiedervereinigung setze die Unterwerfung der Bundesrepublik unter die politische Ordnung des sowjetisch besetzten Deutschland voraus. Denn die politische Ordnung kommunistisch regierten der „sozialistischen Staaten" wird verstanden als Stufe der fortschrittlichsten Entwicklung der Weltgeschichte, der gegenüber alle bisherige Geschichte nur „Vorgeschichte" ist. Sie ist, eben auf Grund ihrer Gleichsetzung mit Marx’ „Diktatur des Proletariats", Übergang zur Vollendung der Menschheit in der „klassenlosen Gesellschaft".
Der Historische Materialismus ist keine Wissensehalt
Wer also dieser Lehre zustimmt, stimmt der politischen Ordnung zu, die sie rechtfertigt; und das macht verständlich, daß im sowjetisch besetzten Deutschland der Marxismus-Leninismus vom fünften Schuljahr an unter dem Namen der Staatsbürgerkunde Unterrichtsfach ist und daß er als Pflichtfach unter dem Namen der Gesellschaftswissenschaft zum Studium jeder Art an den Hochschulen und Universitäten gehört. Es kommt hinzu, daß unter dem Begriff der „Wissenschaftlichkeit" jedes andere Fach von ihm mitbestimmt wird. Versteht man diese planmäßige, der Altersstufe ange-paßte Vermittlung von Kenntnissen im Marxismuß-Leninismus als ein geistiges Teilstück der politischen Pädagogik des Kommunismus, die darauf zielt, Zustimmung zur politischen Ordnung zu bewirken, dann hat das Interesse der SED und der von ihr bestimmten Regierung über diesen Teil Deutschlands an der politischen Pädagogik nichts Erstaunliches oder gar Rätselhaftes an sich. Denn je mehr es gelingt, auf diesem Wege Wirkungen zu erzielen, desto geringer wird der innere Wunsch gegen die von den Kommunisten geschaffene und beherrschte politische Ordnung.
Wendet man sich freilich dem Anspruch zu, der Marxismus-Leninismus sei eine Wissenschaft von der Geschichte und Gesellschaft, ja er sei die einzige wissenschaftliche Lehre von Geschichte und Gesellschaft, so sind diesem Anspruch gegenüber aus mehr als einem Grund Zweifel anzumelden. Lind mit diesen Zweifeln stellen sich Bedenken dagegen ein, daß es sich mit der „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" selbst überhaupt um einen Vorgang der Urteilsbildung handelt.
Erste Zweifel und Bedenken ruft schon das geistige Grundgefüge dieser Lehre hervor. Denn seine Bedeutung als Rechtfertigungslehre beruht auf der Voraussetzung, daß die Weltgeschichte ein einheitliches Ganzes ist, das sich stufenweise auf ein Endziel der Vollendung hin entwickelt. Das ist eine Annahme, die als Behauptung nicht zu beweisen ist. Marx und Engels haben sie unbesehen von Hegel übernommen, der sie selbst nicht bewiesen hat. Für ihn war es ein selbstverständlicher Gedanke, daß in der Wirklichkeit der Natur und der Geschichte eine Grundkraft wirksam ist, die er Weltgeist nennt. Der Weltgeist ist für ihn eine göttliche Grundkraft, die er sich nicht scheut, mit dem christlichen Schöpfergott in Vergleich zu setzen. Geschichte im großen als das Geschehen, in dem der Weltgeist fortschreitend sich selbst erkennt und verwirklicht, birgt in sich eine geistig-göttliche Gesetzlichkeit. Das sind Gedanken, die nicht auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhen; sondern es sind säkulare Reflexe einer gnostischen Theogonie. Marx und Engels haben zwar den religiösen Charakter dieser Lehre festgestellt, und sie haben alles daran gesetzt, an die Stelle dieser Theologie nach dem Vorbild und Vorgang Ludwig Feuerbachs eine Anthropologie zu setzen. Sie haben aber von Hegel das entscheidende Merkmal dieser gnostischen Theogonie, nämlich die unbeweisbare Annahme übernommen, daß die Weltgeschichte eine große Ganzheit sei, in der es mit Notwendigkeit auf ein Endziel der Vollendung zugeht. Sie haben vor allem auch die Denkform des dialektischen Schemas, nach dem das Negative selbst letzte Antriebskraft zur Vollendung hin ist, unbewiesen mitübernommen.
Nichtwissenschaftlichkeit macht daher den geistigen Kern der Lehre von Geschichte und Gesellschaft aus, die Marx und Engels im Historischen Materialismus entwickelt haben.
Dieser nichtwissenschaftliche Kern des Historischen Materialismus, herkommend aus der gnostischen Theogonie Hegels, ist die Ursache dafür, daß aus ihm ein System utopischer Spekulation, versetzt mit psychologischen Reflexionen, hat abgeleitet werden können
Marx und Engels haben diese Elemente einer gnostischen Theogonie nicht aufgeben können, weil mit ihr ein Bestandteil ihres Geschichtsdenkens zusammenhängt, von dem sie gemeint haben, es sei ihre eigentliche Leistung, durch die sie Hegel in seinem Geschichtsdenken übertrafen. Denn Hegel nahm zwar, wie vor ihm auch Fichte, einen weltgeschichtlichen Gesamtplan an, eben aus der gnostischen Prämisse seines Geschichtsdenkens heraus; aber er zog seiner Erkennbarkeit durch das menschliche Denken eine genaue Grenze. Diese Grenzlinie ist mit Nachdruck gezogen in der Vorrede der „Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821)" mit den Worten: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." Dem entspricht es, wenn Hegel in der Einleitung zu seiner „Philosophie der Weltgeschichte (1822/23)" entschieden in Abrede stellt, daß aus der Geschichte für das Handeln in der Gegenwart gelernt werden könnte: „Man verweist Regenten, Staatsmänner, Völker vornehmlich an die Belehrung durch die Erfahrung der Geschichte. Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, dieaus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben. Jede Zeit hat so eigentümliche Umstände, ist ein so individueller Zustand, daß in ihm aus ihm selbst entschieden werden muß, und allein entschieden werden kann. Im Gedränge der Weltbegebenheiten hilft nicht ein allgemeiner Grundsatz, nicht das Erinnern an ähnliche Verhältnisse, denn so etwas, wie eine fahle Erinnerung, hat keine Kraft gegen die Lebendigkeit und Freiheit der Gegenwart." Das Handeln in der Gegenwart kann danach seine Richtschnur nicht im Denken auf geschichtlicher Grundlage finden. Der Grund dafür liegt für Hegel einmal im Gebundensein des Geschichtsdenkens an das schon Geschehene und zum andern in der Eigenart des Handelns in der Gegenwart, das in der Zuständigkeit eigener Entscheidungen liegt. Hegel sieht also die Weltgeschichte im ganzen unter einem ins Weltliche umgesetzten escha-tologischen Aspekt, läßt aber für das Handeln in der Gegenwart eine daraus abgeleitete politische Prognose nicht zu.
Wissenschaftliche Prognosen sind nur mit dem Gewißheitsgrad der Wahrscheinlichkeit möglich
Man kann sich daher auf Hegel nicht berufen, wenn man für die politische Praxis eine weltgeschichtliche Gesetzlichkeit in Anspruch nehmen will, also auf das, was er einen „allgemeinen Grundsatz" nennt. Denn für die politische Praxis verweist er auf die eigene Entscheidung. Marx und Engels haben Hegels säkularisierten eschatologischen Aspekt, unter dem die Weltgeschichte auf ein Endziel der Vollendung zugeht, in ihr Geschichtsdenken übernommen; und sie haben zudem gemeint, sie hätten den Schlüssel zum „Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft" gefunden in der „Entwicklungsgeschichte der Arbeit". Ihre politische Theorie des Historischen Materialismus beruht auf dem Gedanken, daß die Geschichte des Menschen ihrem Wesen nach „Produktion der materiellen Existenz" sei und vorangetrieben werde durch die Fort-entwicklung der Arbeitsmittel. Sogar der Kampf um den Besitz dieser Arbeitsmittel, um das „Privateigentum an den Produktionsmitteln", treibt als „Klassenkampf" noch die Entwicklung der Weltgeschichte vorwärts, weil er ohne Wissen und Willen der Herrschenden und Besitzenden der Steigerung der ökonomischen Produktivität dient. Die Entsprechung zu diesem Primat des ökonomisch-politischen Prozesses für die Definition der Geschichte liegt in der Abwertung des Rechts, der Sitte, der Wahrheit, der Kunst und des Religiösen, die insgesamt als ideologischer Reflex der „realen Basis" des ökonomisch-politischen Prozesses verstanden werden. Wer dieses Verhältnis der „realen Basis" zum Bereich des Normativen ernst nimmt, spricht dem Bereich des Normativen jedes Eigenrecht ab. Die Folge davon ist, daß der Nutzwert fürs Ökonomisch-Politische zum Maßstab fürs Menschsein in allen seinen Bereichen erklärt wird. Hätten Marx und Engels und die Anhänger des Historischen Materialismus es dabei belassen, ökonomisch-politischen Elementen großes Gewicht in der Geschichte zuzusprechen und darauf den Anspruch auf eine wissenschaftliche Vorhersage zu gründen, so wäre dem nichts entgegenzuhalten. Denn man muß nicht Anhänger des Historischen Materialismus sein, um Methoden der wissenschaftlichen Vorhersage für den Bereich des Politischen und Ökonomischen in Gebrauch zu nehmen. Das geschieht heute in der Demoskopie und soziologischen Statistik ohne jeden Zusammenhang mit politischen Ideen und Theorien.
Diese Form der Prognose hätte auch nichts überraschendes an sich, träte sie im Zusammenhang mit der politischen Theorie des Marxismus-Leninismus auf. Im Gegenteil: man könnte das nur begrüßen; denn es wäre ein großer Schritt hin zur Versachlichung der politischen Praxis des Kommunismus. Bisher ist allerdings von einem solchen Schritt nicht die Rede; vielmehr gehört es zur Eigenart des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit, den der Marxismus-Leninismus erhebt, daß er sich weigert, den Begriff der Wissenschaftlichkeit in dieser Richtung wahr zu machen. Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache, daß jede tatsächliche wissenschaftliche Vorhersage, in welchem Feld sie auch getätigt wird, für sich nur ein Gewißheitsgrad der Wahrscheinlichkeit beansprucht. Denn überall, wo von einem bekannten Teilbereich auf ein nicht bekanntes Ganzes geschlossen werden muß, zumal auf ein Ganzes, das sich aus einer Anzahl labiler Faktoren zusammensetzt, ist ein anderer Gewißheitsgrad als der der Wahrscheinlichkeit nicht erreichbar. Das gilt grundsätzlich etwa so für die wissenschaftlichen Vorhersagen in der Mechanik wie in der Meteorologie. Es leuchtet ein, daß, je weiter sich die Vorhersagen in Raum und Zeit hineinstrecken, ihnen um so mehr das Risiko der Fehlvorhersage anhaftet. Daher ist die bekannte Fehlvorhersage eines führenden demoskopischen Instituts anläßlich eines solchen politischen Ereignisses wie der amerikanischen Präsidentenwahl nicht als Einwand gegen die Demoskopie als wissenschaftliches Verfahren zu verwenden, sondern sie ist ein Hinweis darauf, daß wissenschaftliche Vorhersagen als politische Prognosen nur den Gewißheitsgrad der Wahrscheinlichkeit haben. Wer also über gesellschaftliche Entwicklungen in die Tiefe der Weltgeschichte hinein vorhersagen will, und zwar auf wissenschaftlicher Grundlage, der kann für seine Vorhersage nur den Gewißheitsgrad der Wahrscheinlichkeit geltend machen.
Marxismus-Leninismus beansprucht Unfehlbarkeit
Wer sich jedoch mit der Sprechweise und dem Anspruch der Anhänger des Marxismus-Leninismus bekannt macht, stößt unvermeidlich auf die Tatsache, daß sie zwar einerseits ihre Denkweise wissenschaftlich nennen, für ihre Aussagen aber nicht den Gewißheitsgrad der Wahrscheinlichkeit, sondern der Unfehlbarkeit in Anspruch nehmen. Denn nur der Anspruch auf den Gewißheitsgrad der Unfehlbarkeit ermächtigt sie dazu, alles gewaltsam niederzuzwingen, was sich ihnen nicht unterwirft. Fragt man sich, wie es zu diesem uneigentlichen Sprachgebrauch im Umgang mit dem Begriff der Wissenschaft im kommunistischen Machtbereich gekommen ist, so weist einen Weg eben die Abhandlung, in der Friedrich Engels für den Historischen Materialismus den Rang der Wissenschaftlichkeit gegenüber Hegel und Feuerbach behauptet hat. In „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ kommt er auf zwei Möglichkeiten zu sprechen, die Philosophie Hegels auszulegen. Man könnte sie verstehen als ein in sich geschlossenes absolutes System oder als eine „dialektische, alles Dogmatische auflösende Methode". Die erste Auslegung habe zur politischen Konsequenz den Konservatismus; die zweite dagegen sei revolutionären Charakters und löse „alle Vorstellungen von endgültiger absoluter Wahrheit und ihr entsprechenden absoluten Menschheitszuständen" auf. Engels weist Hegel selbst die erste Auffassung als vorherrschend zu, beansprucht dagegen für Marx und sich die volle Einsicht in die Bedeutung der zweiten. Merkmal der dialektischen Philosophie, wie sie Engels darstellt, sei es vor allem, daß sie keine „Sammlung fertiger dogmatischer Sätze" ist, sondern ihren Schwerpunkt hat im „Prozeß des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niedern zu immer hohem Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aber jemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann, wo ihr nichts mehr übrigbleibt, als die Hände in den Schoß zu legen und die gewonnene absolute Wahrheit anzustaunenK Und wie auf dem Gebiet der philosophischen, so auf dem Gebiet jeder anderen Erkenntnis und auf dem des praktischen Handelns".
Wendet man von diesem Gedanken aus den Blick wieder auf den Marxismus-Leninismus und seinen Anspruch, die einzige wissenschaftliche Lehre von Geschichte und Gesellschaft zu sein, und stellt ihm gegenüber die Frage, ob er im Sinne der Unterscheidung, die Engels getroffen hat, dogmatisch Aussagen im System betont oder sich selbst versteht als relative Position innerhalb eines Ganzen von „geschichtlichen Zuständen", die sich darstellen als „vergängliche Stufen im endlosen Entwicklungsgang der menschlichen Gesellschaft vom Niedern zum Hohem", dann ist die Antwort eindeutig und zugleich durchaus zwiespältig. Denn auf die freie Welt hin wendet der Marxismus-Lenininsmus mit allem Nachdruck die Maxime an, mit der Engels die dialektische Methode Hegels charakterisiert hat: „Der Satz von der Vernünftigkeit alles Wirklichen löst sich nach allen Regeln der Hegeischen Denkmethode auf in den andern: Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht." In dieser Wendung nach außen hat der Marxismus-Leninismus, mit Engels zu reden, „revolutionären Charakter".
Wissenschaftlichkeit ist Parteilichkeit
Doch im Verhältnis zu sich selbst entspricht er genau dem, was Engels über die konservative Interpretation der Hegeischen Philosophie sagt, die gewisse Aussagen dogmatisch absolut setzt. Denn es gehört zum Anspruch des Marxismus-Leninismus, die einzige wissenschaftliche Lehre von Geschichte und Gesellschaft zu sein, daß er über eine Anzahl von Grundaussagen über Gesellschaft und Geschichte Frageverbot verhängt und den Ver16 stoß dagegen mit sozialer und politischer Deklassierung ahndet
In Wahrheit vollzieht sich damit aufs genaueste ein Vorgang, von dem gesagt worden ist, daß er das eigentliche Wesen der politischen Ideologie ausmacht
Der Marxismus-Leninismus ist damit das genaue Gegenbild der wissenschaftlichen Denkweise; in ihm ist vielmehr — seitdem Lenin seine eigene terroristische Politik mit Marx'Begriff der „Diktatur des Proletariats" identifiziert hat und diese Identifizierung zusammen mit einer Anzahl geschichtlicher und gesellschaftlicher Grundaussagen zum politischen Dogma erklärt worden ist, das unter Frageverbot steht und politisch sanktioniert ist — eine politische Ideologie wirksam, die dem wissenschaftlichen Verfahren des Fragens und Zweifelns grundsätzlich entzogen ist.
Eine Abart der Meinungsbildung
Damit ist auch die Frage beantwortet, was eigentlich die „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" als Form der politischen Pädagogik darstellt. Sie ist unter dem Namen der Urteilsbildung durch wissenschaftliches Denken tatsächlich eine gefährliche Abart jener Meinungsbildung, die durch geistige Vereinfachung schwerwiegende Vorurteile schafft. Ihre Scheinwissenschaftlichkeit führt gerade den irre, der denken möchte und bereit ist, die Anstrengung des Denkens auf sich zu nehmen. Das Frageverbot und die politische Rationierung der Information verhindern die Urteilsbildung. Der Zwang zur Annahme gewisser Grundaussagen über Gesellschaft und Geschichte unter dem Namen des „Marxismus-Leninismus" schließt einen Glaubensanspruch und ein Für-wahr-Halten auf Autorität hin in sich, der dem Wesen des wissenschaftlichen Denkens widerspricht und der formal dem Glaubensakt im Bereich einer Offenbarungsreligion ähnlich ist. Damit wird der innere Widerspruch dieser politischen Ideologie noch einmal voll sichtbar; denn sie erhebt den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit für ihre Aussagen, läßt aber die kritische Methode der Wissenschaft nicht zu; verachtet andererseits die Offenbarungsreligionen als Ausdruck nicht-wissenschaftlichen Aberglaubens, erhebt indessen selbst einen Glaubensanspruch wie eine Offenbarungsreligion und zugleich den Anspruch, Wissenschaft zu sein.
Wenn Engels von einer dogmatischen Interpretation Hegels, die konservativen Charakter hat, spricht, so trifft diese Charakteristik aufs genaueste zu auf die politische Dogmatik des Marxismus-Leninismus. Zusammen mit der Politik des Terrors, den er als politische Ideologie legitimiert, dient er dazu, den kommunistischen Machtbereich zu konservieren. Der Preis, der für dieses Konservieren gezahlt wird, ist eine geistige Verengung und Vereinfachung, wie sie die „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" bewirkt. Es ist ein Preis, nicht geringer als ihn die „Erziehung der Gefühle" fordert, die mit ihrem Ziel, einen Menschen der „grenzenlosen Ergebenheit" gegenüber dem Kommunismus heranzubilden, darauf hinausläuft, pädagogisch und politisch einen infantilen Habitus zu prägen. Auch sie ist dazu nur imstande, solange ihr die Politik des Terrors zu Hilfe kommt, indem sie die Menschen daran hindert, sich offenen Auges und Geistes ein eigenes Urteil von der Welt, wie sie wirklich ist, zu bilden.
Trügt nicht alles, so werden allerdings die nächsten Jahre das Dilemma noch verschärfen, das sich im kommunistischen Machtbereich abzuzeichnen beginnt. Ein Dilemma, das darin liegt, daß auch die Sowjetunion in ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung an dem Punkt angekommen ist, wo sie sich zunehmend in die Gestalt der neuzeitlichen Leistungsgesellschaft verwandelt. Da sie selbst sich zudem aus der politischen Ideologie des Marxismus-Leninismus heraus zur freien Welt in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis sieht, das sie zum Wettbewerb zwingt, kann sie auf die Dauer weder politisch noch pädagogisch einen Menschen von infantilem Habitus zum Idealtypus erklären. Und sie ist ebenso dazu genötigt, weite Bereiche der Wissenschaft, auf deren Ergebnissen die neuzeitliche Leistungsgesellschaft beruht, von jedem Frageverbot freizuhalten. Denn was fürs Politische stabilisierend wirken soll, käme hier einer Stagnation gleich. Diskussionen, die sich bis in die Sphäre des Offiziellen erstrecken, deuten an, daß es nicht mehr gelingt, die Arbeit der Wissenschaft im geistigen Zwangsbereich der politischen Ideologie des Marxismus-Leninismus zu halten.
Politik des Terrors im Hintergrund
Allerdings darf dieser Blick in die Zukunft nicht hinwegtäuschen über die Tatsachen in der Gegenwart. Denn es ist nicht so, daß die sowjetische Partei-und Staatsführung das für sie Gefährliche dieser Entwicklung nicht in Rechnung stellt. Der Umbau des Unterrichtswesens, den Chruschtschow selbst 1958 eingeleitet und begründet hat, war ein entschlossener Versuch, das in der gesellschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion hervortretende Dilemma politisch aufzulösen
Die Wirklichkeit, mit der zu rechnen ist, ist eine politische Situation, in der die politische Pädagogik, sowohl als „Erziehung der Gefühle" wie als „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit", einer Politik des durch eine Ideologie legitimierten Terrors planvoll entspricht. Was heißt es dann, daß diese Form der politischen Pädagogik ihrem Prinzip und ihren Praktiken nach der Urteils-und Gewissensbildung entgegenwirkt und sie durch pädagogische Surrogate zu ersetzen sucht? Und zwar so, daß hinter dieser Pädagogik der Surrogate* eine Politik des Terrors steht, die mit der Drohung der sozialen und politischen Deklassierung den geistigen und seelischen Widerspruch und Widerstand niederzuhalten sucht? Die Antwort auf diese Frage ist nur unter Vorbehalt zu geben; aber ohne den Versuch, diese Frage zu beantworten, ist die andere Frage nach dem Zusammenwirken dieser politischen Pädagogik mit der Politik des Terrors auf eine realistische Manier nicht zu beantworten.
Der kürzeste Weg, um zur Antwort zu kommen, findet sich in den Gedankengängen, die Machiavelli im siebzehnten Kapitel des „Principe" vorgelegt hat. Er stellt darin die Frage, ob es für einen Machthaber, der sich der Herrschaft aus eigener Kraft bemächtigt hat, besser ist, gefürchtet oder geliebt zu werden. Und er zögert nicht, sich für die Furcht zu entscheiden. Grund dafür ist vor allem seine pessimistische Anthropologie, deren Grundgedanke in der Annahme liegt, daß alle Menschen böse und töricht sind
Die politische Praxis, die Machiavelli empfiehlt, ist also die Institutionalisierung der Furcht durch die Justiz und das Tarnen des Terrors durch die Fassade der Legalität. Denkt man an die politische Funktion der Justiz im kommunistischen Machtbereich und vor allem an die geschichtlichen Beispiele der bekannten Schauprozesse, dann hat man Vorgänge vor Augen, die der politischen Theorie des Machiavelli entsprechen.
Angst als Dauerzustand
Tiefer läßt jedoch in das Zusammenwirken des politischen Terrors und der politischen Pädagogik im kommunistischen Machtbereich die psychologische Theorie hineinsehen, die Sigmund Freud über die Entstehung der Angst entwickelt hat. Löst man diese Theorie ab von der Trieblehre, mit der sie von Freud auf Grund des spezifischen Fallmaterials verknüpft worden ist, dem er in seinen Behandlungen begegnete, dann eröffnet sie Einsichten, die in den Stand setzen, einer komplizierten Situation mit einer differenzierten Methode zu entsprechen.
Freud ging davon aus, daß das Wesen des Menschen im Verlangen nach Lust zu sehen sei
Ausgabe der individuellen zugunsten der kollektiven Existenz
Wendet man diese Überlegungen auf die Tatsachen an, die sich bei der Untersuchung der politischen Pädagogik im sowjetisch besetzten Deutschland ergeben haben, so ist noch einmal anzuknüpfen an die Feststellung, daß diese politische Pädagogik unter dem Namen der „Erziehung der Gefühle" und der „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" die Urteils-und Gewissensbildung ersetzt durch eine Mei-nungsund Gesinnungsbildung, die hinzielt auf die unbedingte Unterwerfung unter die Ansprüche und Zumutungen der kommunistischen Partei-und Staatsführung. Und es ist noch einmal daran zu erinnern, daß diese politische Pädagogik ihr Ziel zu erreichen versucht mit Hilfe einer Politik des Terrors. Das Ziel ist also nicht, den Menschen zu zwingen zum Triebverzicht, so sehr auch das sich mit-einstellen mag im Zusammenhang der Gebote und Verbote einer totalitären Herrschaftsordnung, wie das Beispiel des Nationalsozialismus und Kommunismus zeigt. Die politische Pädagogik im kommunistischen Machtbereich denkt dem Menschen in ihrem Zusammenwirken mit der Politik des Terrors viel mehr zu als einen Triebverzicht. Sie zielt darauf, ihn bereit zu machen für den Verzicht auf sein Selbstsein. Er soll als „neuer Mensch", als Mensch der „grenzenlosen Ergebenheit" fähig und bereit sein, ohne Vorbehalt seine individuelle und personale Existenz aufzugeben zugunsten der kollektiven Existenz innerhalb der politischen Ordnung des kommunistisch regierten Staates. Um das zu erreichen, sind neben den Praktiken der politischen Pädagogik Methoden entwickelt worden, die direkt zur Destruktion der personalen Existenz führen, wie das System der Verhöre und Vernehmungen von Gefangenen oder der Prozeß der „Kritik und Selbstkritik". Sie zielen auf den Erwachsenen, den sie in einen Zustand versetzen, in dem er auf eine Lebensstufe zurückgeworfen wird, die lebensgeschichtlich etwa mit dem dritten Lebensjahr zu Ende geht. Denn mit diesem Zeitpunkt setzt beim Kind die Neigung und der Wille ein zum Ich-und zum Nein-Sagen. Dieses Ich-und Nein-Sagen ist der unmittelbare Ausdruck der frühesten Form individueller und personaler Existenz. Die Anwendung von Methoden des politischen Terrors, die dem Menschen in Gefangenschaft das physische und psychische Substrat dieses Ich-und Nein-Sagens rauben, werfen ihn zurück in eine Form infantiler Existenz und versuchen auf längere Dauer diesen Zustand zu verfestigen zum infantilen Habitus. Die politische Pädagogik im kommunistischen Machtbereich ist auf dasselbe Ziel gerichtet, nur entbehren ihre Praktiken der offenen Gewaltsamkeit und Grausamkeit, mit der jene Methoden den Menschen in Erfahrungen und Erlebnissen der äußeren und inneren Hilflosigkeit hineintreiben und die Destruktion der individuellen und personalen Existenz anstreben. Der Verzicht auf das eigene Urteil und die eigene Entscheidung ist jedoch ein Verzicht auf das Eigenrecht und den Eigenraum zum Selbstsein, das die individuelle und personale Existenz ausmacht. Das Unsichtbare und Schleichende dieses seelischen und geistigen Vorgangs darf über seine Gefährlichkeit nicht hinwegtäuschen. Denn dieser Verzicht bewirkt mehr, als es sich beim Triebverzicht, von dem Freud spricht, jemals denken läßt: Angst, die den Menschen von innen her überfällt, und überwältigt, wenn sie übermächtig wird.
Auswege aus der Angst
Die Tatsache dieser Angst ist es, ohne die jede Betrachtung einer totalitären Herrschaftsordnung unvollständig ist. Die Herrschaftsordnungen des Nationalsozialismus und des Kommunismus haben in ihr die eigentliche letzte Gemeinsamkeit. Denn sie haben, wie sie als geschichtliche Erscheinungen vor uns stehen, alles daran gesetzt, zugunsten einer kollektiven Definition des Menschen seine individuelle und personale Existenz zu verhindern und zu vernichten. Der Terror der Politik und die Praktiken der politischen Pädagogik wirken zusammen, um den Menschen in einen Zustand zu versetzen, in dem die Furcht vor der Gefahr von außen sich verbindet mit der von innen aufsteigenden Angst, die aus der Zerstörung des Menschseins als seelisches und geistiges Selbstsein hervorgeht
Andere, denen der Weg der Flucht ins Ungewisse verwehrt war, haben selbst den Tod gewählt, weil ihnen das Leben als eine Daseinsform unwert und unerträglich war, in der sie ihr eigenes Menschsein als Selbstsein oder das nächster Menschen, die ihrem Schutz und ihrer Hilfe anvertraut waren, nicht mehr zu wahren vermochten.
Eine große Gruppe ist die, zu der jene Menschen gehören, die, unter welchen Umständen auch immer sie leben, ob unter einer totalitären Herrschaft oder im freiheitlichen Rechtsstaat, ihr Dasein führen als Flucht vor sich selbst in Lebensformen der Selbsttäuschung und Anpassung. Ihnen gelingt die Unterwerfung unter die Zumutungen des totalitären Staates am leichtesten, wenn ihnen nur genug Annehmlichkeiten zuteil werden, die Erlebnisse einfacher Selbstbestätigung vermitteln.
In ihrer Sicht ist das Entscheidende, das ihnen den totalitären Staat überhaupt fraglich macht, die Einschränkung jener Annehmlichkeiten, und sie glauben gern daran, daß die Aufhebung dieser Beschränkungen zusammenfällt mit dem Aufhören des Verwerflichen an dieser Herrschaftsordnung.
Die Erfahrung hat gelehrt, daß es dazu andere Auswege aus der Angst gibt, mit denen zu rechnen ist, wenn eine solche totalitäre Herrschaftsordnung sich die Menschen zu unterwerfen versucht. Nicht jeder dieser Wege steht jedem offen, sondern es bedarf jeweils bestimmter Voraussetzungen, wird einer von ihnen eingeschlagen. Diese Feststellung ist nicht nebensächlich; denn sie spielt in der gegenseitigen, vielleicht nachträglichen Bewertung des Verhaltens anderer eine große Rolle. Wer seiner Natur nach eine gewisse Neigung hat, sich von seinen inneren Spannungen zu entlasten durch eine affektive Aktivität, die nicht zögert, sich etwa heroischen Illusionen hinzugeben, der wird nicht zögern, auch wenn es ihm nicht an der Fähigkeit zur intellektuellen Kritik fehlt, Angebote des totalitären Staates anzunehmen, die ihn für schwierige und gefährliche Aktionen in den Dienst nehmen. Das wird ihm um so leichter fallen, wenn er in einem Lebensalter ist, das danach verlangt, sich durch Leistungen zu beweisen und zu bestätigen. Betätigung und Bestätigung dieser Art bringt es mit sich, daß die Aufmerksamkeit für alles zurücktritt, das außerhalb dieses Bereiches liegt. Sogar das Unmenschliche verliert an Gewicht, wenn es nicht in den eigenen Lebensbereich eindringt. Bereiche wie die des Militärischen und der Bürokratie kommen dem noch in ihrer Eigengesetzlichkeit entgegen durch ihre Einschätzung des Befehls und der Weisung. Würde einem Menschen endlich, nachdem er sich in einen solchen Bereich der Betätigung und Bestätigung geflüchtet hat, entgegengehalten werden, er handle in Wahrheit aus Angst, so hätte er dafür kein Verständnis. Denn es fiele ihm zuletzt ein, daß es eine Flucht nach vorn gibt, die ihre Ursache in der Angst hat, so sehr sie auch den Anschein des Muts und der Tugend erweckt.
Wem diese Disposition zur affektiven Aktivität fehlt, dem eröffnet sich vielleicht eine sublimere Form der Flucht. Steht ihm der Zugang zum Schaffen und Gestalten im weiten Feld des Kulturellen offen, so wird er sich mit einer Intensität dahin drängen, die ihn Leistungen hervorbringen läßt, die um ihrer selbst willen hohe Anerkennung verdienen.
Sein Schaffen und die Anerkennung seiner Leistung werden ihn keinen Augenblick einen Gedanken daran verschwenden lassen, Angst könnte es sein, die ihn antreibt, Angst vor allen Gelegenheiten und Gedanken, die ihm Gefahr brächten oder die eigene Hilflosigkeit bloßlegten. Und wenn eines Tages zwischen Emigranten, die ins Exil gegangen sind, und ihm, der dageblieben ist, der Streit darüber ausbräche, was sein Schaffen und die Anerkennung dafür eigentlich wert seien, dann kommt vielleicht die Wendung von der „inneren Emigration" ins Gespräch. Und diese Wendung enthält Wahrheit, mehr als die meisten meinen, denn es handelte sich tatsächlich um eine Flucht vor der Gefahr; allerdings nicht nur vor der äußeren, sichtbaren, die dem Furcht erregte, der sie vorher erkannte und ihn zur Flucht ins Exil trieb, sondern Flucht vor der Angst um den Verlust des Selbstseins, die im eigenen Innern drohte.
Ein anderer Ausweg ist noch zu nennen, den manche wählen, denen die erwähnten Wege versagt sind, der aber im ganzen der Erfahrung nach recht häufig beschritten wird. In strikter Konsequenz ist er indessen wohl als der Weg der Flucht vor der Angst nur für den gangbar, dessen Charakter und Lebensführung eine rationale Dominante aufweist. Der Spielraum allerdings, in dem sich das Rationalisieren der realen Situation und des Zustands der Angst ereignen kann, ist groß. Begleiterscheinungen oder Einzelpersonen der totalitären Herrschaftsordnung werden der Kritik oder der Ironie überantwortet. Mißerfolge wie auch Übergriffe gegen einzelne oder Teilgruppen werden nicht von der Struktur des Systems her verstanden, sondern als Einzelfälle erklärt, die Anlaß und Ursache in sich selbst haben. Die nichteingestandene Angst verleitet dazu, Andeutungen und Anschuldigungen geheimer Gruppen von Feinden und Verschwörern ernst zu nehmen. Die Angst verwandelt sich damit in Furcht vor einer Gefahr, die ferner liegt und deren Abwehr wahrscheinlich gelingt. Die Partei-und Staatsführung kommt dieser Fluchtform vor der Angst entgegen, indem sie von Zeit zu Zeit eine planvolle „Treibjagd auf Sündenböcke" veranstaltet. Das gibt ihr Gelegenheit, nicht nur die gegen sich selbst angestaute Feindseligkeit auf andere abzulenken, sondern sich in denen Bundesgenossen zu machen, die äußerlich oder innerlich mitschuldig geworden sind. Nationalsozialismus und Kommunismus haben sich dieser Methode der Verdächtigung und der Verfolgung von einzelnen und von Gruppen bedient, und sie darf seitdem zu den typischen Symptomen des Totalitarismus gerechnet werden.
Die Tatsache, daß zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus ein deutlicher Unterschied besteht, betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt ihres Verhältnisses zum Rationalen, ist mehr als einmal betont worden. Dieser Unterschied ist nicht schwer zu erkennen, erinnert man sich der Feindseligkeit in den Äußerungen des Nationalsozialismus allem Geistigen gegenüber. Allerdings darf darüber nicht verkannt werden, daß auch der Kommunismus marxistisch-leninistischer Prägung dem Bereich des Geistigen keinen Eigenwert zuerkennt. Das Geistige ist für ihn grundsätzlich Begleiterscheinung des ökonomisch-politischen Prozesses, als den er die Geschichte versteht. Und tatsächlich dient es der kommunistischen Partei-und Staatsführung jeweils als Mittel dazu, ihre politischen Interessen und Tendenzen durchzusetzen. Der instrumentale Charakter, der diese politische Theorie zur Ideologie macht, ist schon im Zusammenhang mit der „Erziehung zur Wissenschaftlichkeit" zutage getreten. Ihr kommt jedoch eine besondere Bedeutung zu als einer spezifischen Form der Flucht vor der Angst, die der Anspruch der totalitären Herrschaftsordnung auf unbedingten Selbstverzicht auslöst. Selbstverständlich bleibt dieser Zusammenhang gerade dem verwehrt, der diesen Fluchtweg einschlägt. Denn er hat das Leugnen der Angst als Ursache seines Verhaltens mit allen gemeinsam, die ihrer charakterologischen Dominante entsprechend den Weg gesucht und gefunden haben, sich mit der realen Situation des politischen Terrors und dem Zustand der Angst abzufinden. Sein Weg ist nur ein anderer, weil seine charakterologische Struktur ihn fähig und geneigt macht, seine äußere Lage und seinen inneren Zustand zu rationalisieren.
Annahme der Ideologie bietet Chance der Rationalisierung
Das beste Beispiel für diese Form der Flucht ins Rationalisieren bietet die Äußerung eines kommunistischen Autors, der schreibt
Dieser Text fügt sich in die bisherigen Überlegungen bruchlos ein. Er schildert eine Situation, deren Kennzeichen es ist, daß sie den Menschen das Bewußtsein vermittelt, schutzlos ausgeliefert zu sein. Die Frage ist nur, ob solche Situationen nur das zaristische Rußland oder faschistische Staaten geschaffen haben, oder ob nicht der politische Terror in kommunistischen Staaten allen Andersdenkenden, die sich nicht unterwerfen, dasselbe Bewußtsein der Schutzlosigkeit und Hilflosigkeit vermittelt. Und die andere Frage ist, ob es nicht Autoren wie die von ihm erwähnten des zaristischen Rußland auch, wie etwa Pasternak, im kommunistisch regierten Rußland gibt.
Denn es sind Autoren der „inneren Emigration" von der Art, wie sie wahrscheinlich in jeder politischen Situation sich finden, die den Zustand der Angst bewirkt, von dem hier die Rede ist. Und ist es denn ausgemacht, daß das Gefühl der Ohnmacht, von dem der Autor spricht, nur Fatalismus und die Vision einer Welt der finsteren Absurditäten aufzwingt?
Muß man sich nicht wenigstens die beiden Urformen des Verhaltens geängsteter Lebewesen auch für den Menschen gegenwärtig halten: den Totstellreflex und den Bewegungssturm, in denen sich Angst entlädt? Wer sagt uns also, ob hinter dem Literaten und dem Aktivisten des kommunistischen Machtbereichs nicht ein Geängsteter sich verbirgt, der nur diesen Ausweg hat, seiner Angst zu entgehen?
Da der Autor nur einen Weg kennt, den er empfiehlt, und er diese Empfehlung nicht so einfach geben könnte, stellte er sie nicht jenen von ihm negierten Reaktionen gegenüber wie das Weiß dem Schwarz, kommt ihm die Frage nicht von ferne in den Blick, ob nicht auch der von ihm vorgeschlagene Weg ein Ausweg ist. Zwar nicht der des Ästheten oder Aktivisten, wohl aber der Ausweg des Rationalisten. Er empfiehlt nämlich als Mittel, um dem Bewußtsein der Sinnlosigkeit des Lebens entgegenzuwirken, die Rationalisierung der Geschichte, wie sie totalitär der Kommunismus leistet. Die Wirkung dieser Rationalisierung der Geschichte wird so beschrieben
Eine genauere Darstellung des Versuchs, die reale Situation der Hilflosigkeit und der bis zum Erlebnis der Sinnlosigkeit gehenden Entwertung des Menschseins unter dem politischen Terror der totalitären Herrschaftsordnung aufzuheben durch ihre Rationalisierung, ist nicht zu denken. In dieser Äußerung zeichnet sich der Unterschied zwischen dem totalitären Nationalsozialismus und dem totalitären Kommunismus in dieser Sache aufs klarste ab; denn jener konnte von sich aus zur Entlastung der Versklavten in diesem Feld der Ausflüchte nur die spontane und situative Rationalisierung zulassen, dieser aber hält seinerseits ein komplettes System für die Rationalisierung der realen Situation bereit, die er selbst durch den politischen Terror schafft. Das System ist die politische Ideologie des Marxismus-Leninismus, die unter dem Anspruch auf ihre angebliche Wissenschaftlichkeit in Aussicht stellt, den Gang der Geschichte als Gegenwart und Zukunft durchschaubar zu machen. Da diese Ideologie im Gang der Geschichte und dem ihm innewohnenden Gesetz den einzelnen Menschen nicht kennt, weder in der Lebensform der individuellen, geschweige denn der personalen Existenz, deutet sie den Verlust und Verzicht auf das Menschsein als Selbstsein und in dasjenige tugendhafte Verhalten, auf dem die Verheißung einer zukünftigen Vollendung ruht. Die Selbstäußerung ohne Vorbehalt wird in der Gestalt der Hingabe an die politische Ordnung des Kommunismus zugleich zur Sinn-deutung und Sinnerfüllung des Menschsein überhaupt.
Die Ideologie des Marxismus-Leninismus erweist sich damit als eine rationale Variante der Tagträume und Wunschbilder, mit deren Hilfe sich die Menschen in der Geschichte seit jeher aus einer für sie unerträglichen Gegenwart hinübergeflüchtet haben in eine bessere Welt der Zukunft. Der Marxismus-Leninismus sucht seinen utopischen Charakter zwar zu verdecken durch seinen ausschließenden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Zu dem Nachweis seiner Nichtwissenschaftlichkeit ist nichts mehr hinzuzufügen, und er ist jedem, der gewohnt ist, wissenschaftlich zu denken, ohne Schwierigkeit einsichtig zu machen
Wer also abschätzen will, welche Wirkungen den Praktiken der politischen Pädagogik im sowjetisch besetzten Deutschland wohl zuzurechnen sind, hat darum der Tatsache Rechnung zu tragen, daß diese politische Pädagogik Teil einer Politik des Terrors ist. Denn solange das der Fall ist, wirkt sie nicht allein aus sich und durch ihre pädagogischen Praktiken, sondern hat teil an den Methoden einer Politik, die nicht davor zurückschreckt, gerechtfertigt vor sich selbst durch die Ideologie des Marxismus-Leninismus, dem Menschen den Verlust und Verzicht seiner individuellen und personalen Existenz zuzumuten und aufzuzwingen.