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Umgang mit Deutschen | APuZ 26/1965 | bpb.de

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APuZ 26/1965 Schicksal zweier Völker: Der deutsche Nachbar Von historischen Vorurteilen verschleiert Umgang mit Deutschen

Umgang mit Deutschen

Peter Dürrenmatt

Über den Versuch, Völker zu charakterisieren

Das Folgende ist ein Versuch über die Deutschen. Er muß mit jener paradoxen Feststellung beginnen, mit der jede kollektiv gedachte Äußerung über Völker beginnen muß, daß es nämlich „die Deutschen" nicht gibt. Genauer gesprochen: es gibt sie nur in einem staats-und völkerrechtlichen Sinne, wonach als „Deutscher" bezeichnet wird, wer über einen entsprechenden Paß verfügt, wem also seine Staatszugehörigkeit attestiert ist. Diese Deutschen gibt es. „Der Deutsche" aber, über den im folgenden geschrieben wird, ist etwas anderes als eine staatsrechtlich definierbare Person. Er ist Angehöriger eines Volkes, des deutschen Volkes, und die Frage erhebt sich, ob es eine bestimmte Charakteristik dieses bestimmten Volkes gebe. Wo verläuft zum Beispiel die Grenze zwischen der Behauptung, die Deutschen seien eine Gruppe von Menschen, und in dieser Gruppe lasse ich eine bestimmte Vielfalt von typischen Eigenschaften und Begabungen nachweisen wie in anderen Gruppen auch, die sich Engländer, Franzosen oder Schweizer nennen, und der anderen Feststellung, die Deutschen seien einfach Menschen an sich, gute und schlechte, langweilige und interessante, arbeitsame und faule, lustige und traurige?

Der Versuch, Völker zu charakterisieren, ist immer wieder unternommen worden — er fasziniert. Immer wieder ist es sowohl zu schiefen Verallgemeinerungen wie zu realistischen Einsichten gekommen. Der Versuch scheint mir dann gewagt werden zu dürfen, wenn man sich stets der Grenzen kollektiver Urteile über Völker bewußt ist und sich vor der Versuchung hütet, die Aufzählung bestimmter Völkermerkmale mit einer moralischen Bewertung zu verknüpfen.

Auf diesem Gebiet ist schwer gesündigt worden und wird noch immer viel Unsinn geschrieben. Denken wir nur an die zahlreichen von Überheblichkeit und Hochmut triefenden Urteile der Europäer über die Amerikaner. Gerade für eine Betrachtung der Deutschen gilt das Gebot, sich moralischer Bewertungen zu enthalten, in doppeltem Maße. Die Deutschen haben eine „jüngste Vergangenheit". Mit ihr fertig zu werden, ist ihre Sache. Sache des Betrachters ihrer Wesensart kann nur sein, diese jüngste Vergangenheit miteinzubeziehen, um den Deutschen zu helfen, mit ihr fertig zu werden.

Deutsche Kultur und Sprache

Die Elemente, die untersucht sein wollen, sobald wir ein Volk zu charakterisieren trachten, sind: Sprache und Kultur, die Eigenart der sozialen und politischen Verhältnisse und Einrichtungen, die Schicksalsgemeinschaft der Geschichte, seine Beziehungen innerhalb der Völkergemeinschaft und die Summe aller Lebensgewohnheiten und Lebensinhalte. Geht man von diesem Schema aus, so ergeben sich für die Beurteilung des deutschen Volkes bestimmte Voraussetzungen, die für andere europäische Völker nicht vorhanden sind.

Es gibt zwar eine deutsche Kultur und Sprache, wie es eine englische, französische und italienische gibt; dieser deutschen Kultur und Spra-ehe geht aber die Geschlossenheit etwa der französischen oder italienischen Sprachkultur ab, wohl auch deshalb, weil die Deutschen ein Volk der Mitte sind, von Beginn angesiedelt zwischen dem romanischen und dem slawischen Europa. Der deutschen Sprachkultur hat außerdem von jeher ein die geistigen Maßstäbe und Normen bestimmendes hauptstädtisches Zentrum gefehlt. So weit sich das Deutschtum in der Sprache darstellt, mangelt ihm ein prägender Geist wie der der Französischen Akademie. Die deutsche sprachlich-literarische Kultur ist stets von verschiedenen Kultur-zentren geformt worden und hat zu allen Zeiten weit über einen einzigen staatlich-nationalen Rahmen hinausgereicht.

Soziale und politische Verhältnisse

Was die Eigenart der sozialen und politischen Verhältnisse betrifft, so waren auch sie in Deutschland nicht annähernd so einheitlich wie im übrigen Europa. Die Marke „Junkertum", die man ihr in der neueren Zeit angehängt hat, war nur eine Marke neben anderen. Die jüngste deutsche Geschichte zeigt hinsichtlich ihrer sozialen Entwicklung wohl drei Abschnitte.

Der erste, von der Gründung des Bismarck-Reiches bis zum Ersten Weltkrieg reichend, war die Epoche der großbürgerlichen Gesellschaftskultur, wie sie auch im übrigen Europa herrschte — mit allen Merkmalen auch des Parvenuehaften. Neben dem Junkertum stand hier die Großbourgeoisie, in sich selbst vielfach aufgegliedert. Den Unterbau bildete das aufkommende Proletariat, das aber in Wahrheit viel weniger sozialradikale Züge aufwies, als es die politische Agitation wahrhaben wollte. Die Mehrheit der deutschen Industrie-arbeiterschaft dachte und fühlte kleinbürgerlich. Deshalb gelang es verhältnismäßig mühelos, die Revolution von 1918/1919 aufzufangen und in das System der Weimarer Republik einzubauen. Deshalb spekulierte und appellierte der aufkommende Nationalsozialismus an die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Instinkte der Massen. In dieser Beziehung unterschied sich der sogenannte Durchschnitts-deutsche gar nicht so wesentlich vom Durchschnittsfranzosen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; verschieden waren nur die Inhalte und Ziele des deutschen und des französischen Kleinbürgertums.

Den zweiten Abschnitt in der Entwicklung der gesellschaftlichen Kultur bildeten die Jahre zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Sie verliefen für die Deutschen etwas anders als für die übrigen Europäer: Die Inflation zerstörte oder erschütterte zumindest die wirtschaftlichen Grundlagen des Kleinbürgertums, und der verlorene Krieg mit dem folgenden politischen Umsturz raubte ihm das Gefühl stolzer Geborgenheit im Rahmen eines imposanten Reiches. Am Weimarer Staat haftete der Geruch des Konkurses.

Die dritte Entwicklungsstufe begann 1945. Sie ist in vollem Fluß und läßt sich dadurch charakterisieren, daß die Ereignisse die innere Vielfalt mehr und mehr auflösen und das deutsche Volk unter allen europäischen am entschiedensten den Schritt auf den sogenannten Amerikanismus als Lebensstil hin tun lassen. Die letzten Reste des „Wilheiminismus" sind mit einer Vollständigkeit zusammengebrochen, die kaum mehr Rückstände übriggelassen hat. Deutschland ist zwar ein bürgerliches Land geblieben, aber der bürgerliche Lebensstil dieses heutigen Deutschlands formt sich weniger an der Tradition als vielmehr am amerikanischen „way of life".

Das Verhältnis zur Geschichte

Damit sind wir bereits zu einem grundlegenden Unterschied zwischen dem deutschen und anderen europäischen Völkern vorgestoßen. Er betrifft das Verhältnis zur Geschichte. Alle europäischen Völker machen eine Krise ihres Geschichtsbewußtseins durch. Infolge des Ausmaßes der Katastrophe von 1945 ist aber in Deutschland die Kontinuität eines positiven geschichtlichen Erbes stringent unterbrochen worden, das Gewicht der verhängnisvollen nationalsozialistischen Vergangenheit belastet immer noch das historische und das Gegenwartsbewußtsein der Deutschen. Deutschlands Stellung in der Völkergemeinschaft ist noch keineswegs ausgeglichen.

Schließlich die Summe der Lebensgewohnheiten und Lebensinhalte. Man kann von ihr sagen, daß sie zwar äußerlich intakt geblieben ist — auch nach 1945 ging das Leben weiter; aber sie erhielt ihre besondere Prägung aus dem Moment, in dem die Beziehungen des deutschen Volkes zu seiner bisherigen Geschichte in Frage gestellt wurden, durch das seine Beziehungen zum Verhältnis der drei Zeitgrößen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ganz allgemein berührt worden sind. Das Tempo, die Geschwindigkeit des Über-gangs beherrscht in ausgeprägter Weise die deutsche Gegenwart.

Das deutsche „Wesen“

Gehen wir nun daran, das als „deutsch" begriffene Wesen und seine Inhalte zu umschreiben. Wir können das nicht, indem wir ein Verzeichnis der typischen Eigenschaften „der Deutschen" anlegen, sondern indem wir uns fragen, was für Eigenschaften sich dieses Volk aus den Gegebenheiten seiner Lage, seiner Geschichte und seiner kulturellen Gaben zulegen mußte. Wobei wir uns im klaren sind, daß es sich bei diesen äußeren Gegebenheiten, auf das Ganze betrachtet, um ein eng verflochtenes, ununterbrochenes Geben und Nehmen gehandelt hat; ein jedes Volk lebt in einer bestimmten, vorgefundenen Umwelt und pflegt sie zu verändern, da es sich mit diesen Bedingungen und gegen sie durchsetzen muß, und die so verwandelte Umwelt ändert hernach wiederum die Lebensgewohnheiten des betreffenden Volkes.

Das erste, die Lage: Das deutsche Volk bildete sich nach den ersten Jahrhunderten steter Wanderschaft und innerer Stammeskämpfe im mitteleuropäischen Raum zwischen Elbe, Rhein und Donau. Es ging aus einem typisch kontinentalen Raum hervor; mit dem Meer, der Nordsee, kamen nur die nördlichsten deutschen Stämme in dauernde Berührung. Zwei deutlich verschiedene Landschaftstypen haben dem Charakter der Deutschen ihren Stempel ausgeprägt: die norddeutsche Ebene und die mitteldeutsche Mittelgebirgslandschaft. Jene deutschen Stämme, die von der hochalpinen Landschaft geformt worden sind, haben sich entweder wie die Schweizer im späten Mittelalter vom staatlichen Nationalverband abgelöst oder, wie die Oberbayern, ein ausgeprägtes Eigenleben beibehalten.

Die Einflüsse des Landschafts-und Natur-charakters werden noch deutlicher im Vergleich mit anderen europäischen Völkern und ihrer Wechselbeziehung zu Landschaft und Natur. Ohne die britischen Inseln hätte es kein Britentum gegeben, ohne die Milde und Fruchtbarkeit des in sich geschlossenen französischen Raumes ließe sich vieles am französischen Wesen nicht verstehen.

Da ist zunächst zu sagen, daß die deutsche Landschaft und das ihr eigene Klima von den Menschen ständigen Kampf forderten. Nachdem einmal die Wanderbewegung der deutschen Stämme abgeschlossen und die Aufteilung der Lebensräume sich verfestigt hatte, galt es, durch intensive Arbeit den Boden zu bebauen, die Wälder zu roden und sich, allen Rückschlägen zum Trotz, gegen die Unbilden der Natur zu behaupten. Der Landmann war wirklich der Bauer, das heißt der Mann, der vom Boden nur etwas erhielt, wenn er Mühe und Arbeit auf ihn verwendet, ihn bebaut hatte.

Weder der natürliche Reichtum des französischen Bodens noch die Vorzüge des milden Klimas der Mittelmeerländer sind dem mitteleuropäischen Raum eigen. Aber auch die Ausweichmöglichkeiten auf das Meer, die so entscheidend den Charakter der Briten und der Skandinavier beeinflußt haben, fehlten dem Deutschen. Hier forderte das Land die hartnäckige und zielvolle Arbeit von Generationen am gleichen Platz.

Der Deutsche lernte aus dieser Aufgabe die Notwendigkeit der zähen Leistung und der vorausschauenden Organisation, er lernte die Bedeutung kühner, mit neuen Ideen vorstoßender Einzelner und die Unerläßlichkeit der unaufhörlichen Arbeit schätzen. Vom Zeitalter Karls des Großen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, tausend Jahre lang, war das deutsche Volk überwiegend ein Bauernvolk, erzogen von der Natur seines Landes und der harten Arbeit von Generationen. Die Handwerker und Händler seiner berühmten Städte bildeten eine wirtschaftliche Minderheit. Zwischen 1850 und 1900 ging die Umwandlung dieses schwer arbeitenden Bauernvolkes in ein leistungsbereites Industrievolk vor sich. Das Tempo war übereilt. Unter den großen kontinental-europäischen Völkern hat keines die Umwandlung aus einem Bauern-in ein Industrievolk in ähnlich konzentrierter Weise durchgemacht wie gerade das deutsche.

Von der Realität dieses bedeutsamen Wandels aus stoßen wir dann auch bereits auf bestimmte, unübersehbare Eigenschaften des deutschen Volkscharakters. Von ihnen dürfen wir sagen, sie seien für die Gesamtheit bezeichnend.

Eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Deutschen schlechthin (wie sie sich auch unter deutschstämmigen Menschen jener deutschsprachigen Räume findet, die sich im späten Mittelalter aus dem Reichsverband gelöst haben) ist die Freude an der Leistung und an der Bewährung; damit verwandt ist eine begeisterungsfähige, dem Fernen zugewandte Phanta-sie, genährt aus den irrationalen seelischen Tiefenschichten. Es sind die Wesensmerkmale eines ausgesprochen kontinentalen Volkes, das sich unter harten äußeren Bedingungen behaupten mußte. Aber auch eine andere ty-pische Eigenschaft der Deutschen, ihre Aufgeschlossenheit gegenüber allem Fremden und Neuen, läßt sich letzten Endes aus der Urerfahrung mit der Scholle und dem bindenden Dienst an ihr erklären.

Leistungswille

Gehen wir auf die Einzelheiten ein, greifen wir den Leistungswillen heraus. „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun." Dieses Wort, das Bismarck zugeschrieben wird, hat seinen Vorgänger in einer Formulierung Lessings, der einmal erklärt hat, er, vor die Wahl gestellt, von Gott die volle Wahrheit oder aber das Streben nach Wahrheit zu erhalten, gebe dem Streben den Vorzug. Diese Freude an der reinen Leistung, obendrein an der bedeutenden, hohe Anforderungen stellenden Leistung, hat nicht nur die beeindruckende Kultivierung des spröden deutschen Bodens zustande gebracht. Sie war auch die Voraussetzung dafür, daß das deutsche Volk Spitzenleistungen in den exakten Wissenschaften, der Technik und auf dem Gebiet der Kunst, besonders in der Musik vollbracht hat. Die exakten Wissenschaften sind die Wissenschaften, deren Leistung berechenbar ist. Die Technik setzt den Sinn für Organisation voraus. Die Musik aber ist zugleich die regelfesteste wie dem Grenzenlosen und der absoluten Vollkommenheit am nächsten kommende unter den Künsten.

Das 19. Jahrhundert mit seinem rapiden technischen Aufschwung, seiner Begeisterung für die exakten Wissenschaften und seinem entschiedenen Ja zur Industrialisierung weckte im deutschen Volk Neigungen und Fähigkeiten, die es angesichts der bestimmenden Rolle der Zivilisation in der modernen Welt sofort in die vordersten Reihen unter den europäischen Völkern führen mußte. Es war wohl schicksalhaft, daß der geschichtliche Augenblick der politischen Einigung des deutschen Volkes mit dem Durchbruch des technisch-industriellen Zeitalters zusammenfiel. Der Geist der Zeit prägte zugleich das politische und das nationale Wollen und Denken der Deutschen. Der deutsche Leistungswille ist aus den Kräften des Verstandes allein nicht deutbar. Was hinter ihm wirkt, ist eine rational nicht erklärbare Freude an der organisatorischen Tat, aber auch eine gewisse Bereitschaft, sich organisieren zu lassen.

Der Deutsche ist also keineswegs ein nüchterner, ausschließlich vom Verstand beherrschter Leistungsmensch. Er ist ein Tatmensch, dem die Kräfte des Gemütes und die Tiefen des Gefühls den organisatorischen und schöpferischen Leistungen die Impulse verleihen.

Gemütskraft

Man hat die Deutschen das „Volk der Dichter und Denker" genannt. Genauer müßte man sie eigentlich das Volk der Dichter und Musiker nennen. Beide Künste haben im deutschen Kulturbereich die entscheidenden Antriebe aus der Erlebniskraft des Gemütes erhalten. Kaum etwas anderes ist dafür so bezeichnend wie die Tatsache, daß die deutschen Klassiker innerhalb der europäischen Literatur als Dichter der Gemütskraft empfunden wurden. So hat das dichterische Werk Goethes in Frankreich dazu beigetragen, die Kunstrichtung der Romantik auszulösen. Der verstandesklaren und verstandeskühlen französischen literarischen Klassik erschien die Dichtung des Klassikers Goethe wie aus den grenzenlosen Quellen des Gemütes geschöpft. Die deutsche Sprache bietet sich dem Fremdsprachigen als Sprache des Wörterreichtums, der unendlichen, mit Gemütsakzenten versehenen Nuancen an, zugleich als Sprache, in der sich — weit länger als in den romanischen Ländern — die enge Verbindung zu den Volks-dialekten erhalten hat. Umgekehrt bildet das Abenteuer der nach absoluten Regeln arbeitenden Kunst der Musik für den nach Höchstem strebenden deutschen Leistungswillen eine faszinierende Versuchung.

Die Eigenschaft, eine schöpferische Tat um ihrer selbst willen zu vollbringen, aus dem unwiderstehlichen inneren Impuls heraus, hat das Verhältnis des Deutschen zu seiner jeweiligen Wirklichkeit in besonderer Weise bestimmt. Abermals ziehen wir, um zu verdeutlichen, was wir meinen, den französischen Vergleich heran — wie denn überhaupt in der deutsch-französischen Gegensätzlichkeit, sobald wir sie als eine schöpferische Polarität und nicht als eine künstlich gezüchtete, angeblich natürliche Feindseligkeit betrachten, eine große, kaum ausgeschöpfte Möglichkeit besteht, die beiden Volkscharaktere besser zu verstehen. Der Franzose unterwirft unbedenklich und selbstverständlich die Wirklichkeit, die er antrifft — die politische, soziale, wissenschaftliche —, seinem rationalen, ordnenden und klassifizierenden Willen. Er beherrscht die Wirklichkeit mit der Kraft der Sprache, mit der Klarheit der Latinität. Das zeigt sich überall in Frankreich, vom Schulwesen bis zur Numerierung und Klassifizierung der Straßen. Für ihn ist die Wirklichkeit viel gegenständlicher. Sie fordert ihn heraus.

Anders der Deutsche. Er verliebt sich entweder in sie, oder er haßt sie. Man konnte auch sagen, er reagiere weiblicher auf das Problem der Wirklichkeit als der Franzose. Genauer vielleicht: künstlerischer. Ihm wird — wie dem Bildhauer die Begegnung mit dem Stein-block — die Begegnung mit der Wirklichkeit zur Vision. Doch das gilt nur für den ersten Impuls. Gleich hinterher bricht der männliche Tatwille durch. Die Wirklichkeit wird nun bewertet und hernach einem Schema von Forderungen unterworfen. Sie wird zum Problem. Der Deutsche bezieht die Wirklichkeit sofort in ein bestimmtes Weltbild ein und geht daran, sie diesem möglichst kompromißlos anzupassen. Seine Philosophen sind Philosophen der Idee und der Pflicht zugleich. Seine Durchschnittsmenschen aber sind jene, die den Sandboden der brandenburgischen Mark in Ackerland verwandelt, im 19 Jahrhundert ihre vorbildlichen Großstädte angelegt und im 20. Jahrhundert als die ersten in Europa die großartig geführten Autobahnen gebaut haben. Diese hätten sie — dessen sind wir gewiß — auch ohne Adolf Hitler als erste in der Alten Welt geschaffen. Das Tempo des Wiederaufbaues in Deutschland nach der größten Niederlage der deutschen Geschichte wie auch die Leistungen des sogenannten Wirtschaftswunders sind bezeichnende Ergebnisse bestimmter Stärken des deutschen Volkscharakters.

Verhältnis zur Wirklichkeit

Der Deutsche und die Wirklichkeit: das Thema wäre unerschöpflich. Eine Geschichte des europäischen Geistes könnte als Geschichte der jeweiligen Beziehungen der im Blickfeld stehenden Völker zur gegebenen Wirklichkeit geschrieben werden. Es ergäbe sich, daß sich die europäischen Völker in vornehmlich idealistische und in eher realistische oder, politisch betrachtet, in revolutionäre und in konservative einteilen lassen. Realistischen und konservativen Charakters sind in diesem Sinn etwa die Völker der deutschen Randgebiete, die Niederländer mit ihrer Malerei des 17. Jahrhunderts, oder die Schweizer mit ihren Dichtern Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf; wogegen doch wohl die Romantik als die deutscheste aller deutschen Geistes-bewegungen angesprochen werden darf.

Idealistische Völker finden sich nicht mit der gegebenen Wirklichkeit ab und schließen mit ihr ungern Kompromisse. So auch das deutsche. Dicht nebeneinander liegen im deutschen Charakter der Hang, die Wirklichkeit romantisch zu verklären, und der Wille, sie kämpferisch zu verändern. In der romantischen deutschen Dichtung, bildenden Kunst und Musik, bei Denkern wie Hölderlin oder Nietzsehe schlägt das eine, bei Friedrich Krapp oder Karl Marx das andere durch.

Die gegebene Wirklichkeit kämpferisch erobern: gibt es in unseren Tagen ein bezeichnenderes Beispiel dafür als die Anziehungskraft, die die Eigernordwand auf deutsche Bergsteiger ausübt? Solange der Alpinismus in den Schweizer Alpen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts außer für die Schweizer vornehmlich das Pachtgebiet der Briten geblieben war, galt die Eigernordwand als die respektgebietende Unüberwindliche. Bis in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts der Ansturm deutscher Kletterer begann: ihnen bedeutete die Unüberwindlichkeit eine Herausforderung. Die Unbezwungene mußte bezwungen werden.

Einem Volk, dem die Wirklichkeit vornehmlich Anlaß bietet, sie zu bezwingen, liegt alles, was die Marke „Heldentum" trägt. Uber die wirklich heldenhaften Leistungen der Deutschen als Soldaten ist kein Wort zu verlieren.

Wohl aber ergibt sich, daß dann, wenn das Heldentum zu bewußt gesucht wird und gleichsam zur Lebensform des Alltags erhoben werden soll, der Schritt hinüber zum falschen Heldentum, zum inhumanen Verhalten winzig klein geworden ist. Ich erinnere mich, wenn ich das schreibe, einer kleinen, wie mir aber scheint, bezeichnenden Episode.

Zu Beginn der dreißiger Jahre nahm ich in einer Jachtschule an der Ostsee an einem Lehrgang für Hochseesegeln teil. An einem frischen Märzmorgen übten wir mit kleinen Jollen, in denen vier Mann Platz hatten. Das Übungsgebiet befand sich in einer etwa einen Kilometer langen und breiten Bucht, überquerte ein Boot die Bucht, so gelangte es, etwa zwanzig Meter vom jenseitigen Ufer entfernt, unvermutet in untiefes Wasser und lief Gefahr zu kentern.

Zu viert kreuzten wir an jenem Vormittag in der Bucht auf und ab, nicht besonders aufmerksam; plötzlich war unsere Jolle im flachen Wasser umgefallen. Rasch lief sie voll, während wir im Wasser standen. Als der Älteste der Gruppe schlug ich vor, das Boot an das kaum zwanzig Meter entfernte Ufer zu schieben, dort auszuleeren und vorsichtig wieder flottzumachen.

Ich kam schön an. „Niemals!" lautete die entschiedene Antwort meiner Kameraden. „Jetzt kommt alles darauf an, daß wir einen guten Eindruck machen." Was soviel hieß, daß unsere Jolle nicht an Land, sondern in das offene Wasser geschoben wurde. Sie sollte schwimmend zum jenseitigen, einen Kilometer entfernten Hafen gebracht werden.

Wir wurden bald entdeckt, mit einem Motorboot eingeholt und aufgefischt. Der Wahrheit halber sei hinzugefügt, daß die „Heldentat"

nicht gewürdigt wurde und der Spott über unser Mißgeschick das Lob für unsere Haltung bei weitem überwog. Trotzdem hallt mir jenes „Jetzt kommt alles darauf an, daß wir einen guten Eindruck machen“, immer noch in den Ohren, und die ihm folgende „Flucht nach vorn", in das offene Fahrwasser, empfand ich als falsches Heldentum, meinen nüchternen, unheldischen Rat aber als erzschweizerisch. Hat sich die Versuchung des falschen Heldentums, die Versuchung, gleichsam vor der Geschichte einen „guten Eindruck" zu machen und folglich bis zum sinnlosen Ende auch ohne innere Überzeugung mitzugehen, nicht wiederholt als deutsches Verhängnis erwiesen? Ich denke, wenn ich das sage, etwa an die sinnlose Opferung der deutschen Studentenbataillone vor Langemarck. Jene Elite, die dort im Maschinengewehrfeuer fiel, fehlte fünf Jahre später, als nach dem Zusammenbruch der neue Staat ihrer bedurft hätte. Eine Vereinigung des edelsten Idealismus war falschem Heldentum geopfert worden. An der verpfuschten Weichenstellung der Politik und Strategie vermochte dieses Opfer nichts mehr zu ändern, wogegen die bittere Wirklichkeit des verlorenen Krieges vielleicht durch eine Schicht überdurchschnittlicher Menschen zu gestalten gewesen wäre.

Wird die gegebene Wirklichkeit vornehmlich als Herausforderung gesehen, die angenommen sein will, so ist der Schritt nicht weit, die Welt als ein Kampffeld für den Wettbewerb zwischen den Völkern zu betrachten. So ungefähr sah das Weltbild der meisten europäischen Völker im 19. Jahrhundert aus. Die europäischen Nationen standen sich furchtlos und hochgerüstet gegenüber, vorerst damit beschäftigt, Afrika und Asien zu unterwerfen.

Damals übernahm jener deutsche Schulmeister seine Aufgabe am Volke, der vom Preußentum den Pflichtbegriff als oberstes Leitbegriff übernommen hatte und der bestimmte Tugenden zu ausschließlich deutschen erklärte.

Deutsch war nicht nur die Pflicht, sondern auch die Zähigkeit und die Treue. Von daher blieb dem deutschen Reisenden ein Hang, die Umwelt und die Lebensgewohnheiten der Völker, die er bereiste, mit der heimischen Vollkommenheit zu vergleichen, um daraus erst recht eine Bestätigung für die eigene Unübertrefflichkeit zu gewinnen. Der Umstand, daß das deutsche Volk später als die übrigen Völker Europas seine nationale Einigung gefunden hat, verstärkte diese Neigung zum nationalen Hochgefühl der vorteilhaften Vergleiche. — Es ist bezeichnend für die neue Lage seit 1945, daß in der jungen deutschen Generation diese Eigenschaft viel weniger vorhanden ist.

Mit dem Hang zum bewußten und damit verfälschten Heldentum hängt eine Eigenart zusammen, die der Deutsche selbst als den „tierischen Ernst" bezeichnet. Es wäre aufschlußreich zu untersuchen, seit wann die Redensart vom „tierischen Ernst" in der deutschen Umgangssprache auftaucht. Ihr allgemeiner Gebrauch bedeutet den Beginn einer bedeutsamen Hinwendung zur Selbstkritik. Mit ihr war gewissermaßen das notwendige und, wenn man so sagen kann, entkrampfende Gegenmittel zum bitteren Ernst des deutschen Pflicht-begriffs gefunden. Wir vermuten, Herkunftsort des Wortes vom „tierischen Ernst" sei Berlin; war es doch der Berliner, der während dreizehn Jahren tierisch-ernster nationalsozialistischer Herrschaft unverdrossen in den heilsamen Witz und in die Satire auswich.

Womit eigentlich eine Untersuchung über das Wesen des deutschen Humors fällig würde. Völker und Menschen, die die Wirklichkeit (weil sie sie vornehmlich als kämpferische Aufgabe betrachten) zu ernst nehmen, nehmen auch sich selbst zu ernst und neigen der tragischen Pose zu. Die Geschichte des deutschen literarischen Humors bildet die Ausnahme der Regel vom „tierischen Ernst" der Deutschen; sie lehrt uns, daß der deutsche Humor zahlreiche Beispiele eines milden Lachens über die Begrenztheit alles Menschlichen hervorgebracht hat. Gewiß, in der Geschichte dieses Humors fehlen die grandiosen Satiriker vom Schlage eines Swift. Die Satire tritt, nach den literarischen Fehden der Reformationszeit, erst wieder im späten 19. Jahrhundert auf, in den Kreisen um den damaligen „Simplicissimus".

Wogegen der gütige und überlegene Humor, beruhend auf dem Tiefenblick in die menschliche Unzulänglichkeit, prächtige Blüten hervorgebracht hat: denken wir an Fritz Reuter, an Wilhelm Busch, an Wilhelm Raabe, die drei niederdeutschen Großen. Sie stehen neben zahlreichen Humoristen von mehr regionaler Bedeutung in allen Gauen der deutschen Literatur.

Wir schrieben vorher, das Thema „Der Deutsche und die Wirklichkeit" sei wesentlich. Wie viele Mißverständnisse zwischen den Deutschen und ihren Nachbarn sind doch aus der besonderen Art des Deutschen, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und sich gegen sie einzustellen, entstanden! Ihre Wesensart ist an und für sich weder schlechter noch besser als das Wirklichkeitsgebaren anderer Völker auch.

Und so wie bei den anderen liegt auch bei den Deutschen das Problem darin, daß ihre Stärke — die Freude, durch Leistung die Wirklichkeit zu bezwingen — zugleich ihre Schwäche ist. Wenn doch endlich jene europäische Epoche begänne, da die Verschiedenheiten der Völkertemperamente der Alten Welt den friedlichen, fairen Wettbewerb anregtel

Aufgeschlossenheit gegenüber dem Fremden

Nun noch einmal die Sprache. Die Sprache zählt zu den wesentlichen kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten eines Volkes, ist aber keineswegs die einzige. Wir haben bereits die besondere Beziehung der deutschen sprachlich-literarischen Kultur zu fremdem literarischem Gut erwähnt. Die deutsche Literatur hat zu allen Zeiten freigiebig und interessiert Fremdes in sich ausgenommen und durch zahlreiche Übersetzungen der eigenen Sprache angeglichen. Bedeutende sprachliche Minderheiten deutscher Zunge existieren oder existieren mitten in anderen Kulturen, sei es infolge der politischen Entwicklung, sei es infolge Auswanderung geschlossener Volksgruppen. Die Auswüchse einer fremdenfeindlichen Deutschtümelei sind eben gerade nicht typisch für die kulturelle Gesinnung der Deutschen.

Das Interesse für das Fremde hat sich in den verschiedenen Epochen verschieden geäußert. Im 17. Jahrhundert zum Beispiel hatte in Deutschland die sprachliche Überfremdung Formen angenommen, die lächerlich wirkten und eine fast ebenso lächerlich wirkende Gegenbewegung auslösten. Später wurde die Mittlerrolle der deutschen Übersetzungen aus dem slawischen Kulturkreis für die geistige Entwicklung Europas bedeutsam. Im 18. Jahrhundert wiederum erblühte die literarische Kultur Deutschlands nicht zuletzt auf dem Boden einer vorurteilslosen Aufgeschlossenheit des deutschen kulturellen Strebens gegenüber fremder Anregung. Die französische Klassik regte die deutsche an, und es ist ein Hauptverdienst des deutschen „Sturm und Drang" sowie der Romantik, wenn Shakespeares Größe in Kontinentaleuropa entdeckt wurde. Die Vorliebe des Deutschen für das Fremde, die oft so weit geht, daß der deutsche Partner bei der Begegnung mit einem Fremden sofort versucht, auch die dürftigsten Sprachbrocken an den Mann zu bringen, oder die in der bekannten Fähigkeit ihren Ausdruck findet, daß sich der Deutsche als Auswanderer inmitten eines fremden Volkes ohne Mühe dessen Eigenart anpaßt, ist umgekehrt Ursache für Rückschläge, die man von Zeit zu Zeit beobachten kann. Fremdenfeindliche Strömungen, ein trotziger Hang zur „Deutschtümelei“, wie er auch beim Nationalsozialismus vorhanden war, pflegen sich als plötzliche Reaktionen einzustellen, weil die Freizügigkeit gar zu schrankenlos geworden war. Sie sind nach unserem Dafürhalten für die Mehrheit der Deutschen nicht charakteristisch, sondern von der Agitation bewirkte Ausnahmen.

Auf das Ganze gesehen, ist der Deutsche fremdenfreundlich und darum auch ausgesprochen gastfreundlich. Der Fremde wird in Deutschland nie auf reservierte Ablehnung stoßen, im Süden sogar entgegenkommende Aufgeschlossenheit, im Norden ein höfliches Inter-esse ihm gegenüber antreffen. Das Äquivalent zu dieser Gastfreundlichkeit ist eine ausgesprochene Reisefreudigkeit. Die Deutschen stehen in dieser Hinsicht den Engländern kaum nach, sind aber viel weniger festgelegt in bezug auf die Ziele ihrer Reiselust.

Ist die Sprache ein Element des Zusammenhaltes eines jeden Volkes, so ist die Geschichte die eigentliche, sich schicksalhaft auswirkende Bindung. Die Geschichte belastet die Gegenwart jedes Volkes mit Hypotheken. Diese sind oft untilgbar und so gewichtig, daß sie die Zukunft mitbestimmen. Gewisse, auf der Vergangenheit beruhende Wesenszüge formen den kollektiven Charakter der Völker. Deutsche wie Engländer, Franzosen wie Schweizer sind durch die Wirklichkeit der Geschichte bestimmt.

Tragische Geschichte

Die deutsche Geschichte ist, in der Gänze ihres Verlaufes betrachtet, eine ausgesprochen tragische Geschichte. Was verstehen wir darunter? Es ist das Unzusammenhängende und Gegensätzliche, das diese Geschichte charakterisiert. Die deutsche Geschichte setzt sich aus einander ablösenden Epochen zusammen und unterscheidet sich darin von anderen nationalen Geschichtsabläufen europäischer Völker, die trotz Revolutionen und Bürgerkriegen in sich geschlossener erscheinen als die deutsche historische Entwicklung.

Wir haben soeben beschrieben: Die deutsche Geschichte besteht aus Epochen. Diese sind in sich selbst geschlossen, werden aber nach ihrem Ablauf jeweils von einer meist völlig entgegengesetzt gearteten Epoche abgelöst. Einige Beispiele: Die Geschichte des Hoch-mittelalters endet mit dem Interregnum und der Auflösung der Reichsidee; die Geschichte des Spätmittelalters mündet in die Deutschland zersplitternde Epoche der Reformation, und diese wird vom Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges abgeschlossen. Jetzt entstehen die Einzelstaaten, die, wie Preußen und Österreich, selbständige, oft in Gegensatz zueinander stehende Geschichtsbilder erschaffen und in erster Linie zu europäischen Großmächten werden. In den Freiheitskriegen gegen Napoleon stehen sich die romantischen Hoffnungen der jungen studentischen Generation und die dynamische Machtpolitik der Fürsten in fast brückenlosem Gegensatz gegenüber. Was folgt, sind die politisch farblosen Jahrzehnte des Deutschen Bundes zwischen 1815 und 1870.

Jetzt gründet Bismarck das neue Reich. Aus der Idee des Preußentums wird die politische Generalidee des neuen Kaisertums abgeleitet und oft gewaltsam postuliert. Nach dem Tode des „Eisernen Kanzlers" verspielen Dilettanten sein Erbe. Nach dem Ersten Weltkrieg läßt man den monarchischen Gedanken fallen und erklärt das neue Deutschland zur demokratischen Republik. Gegen sie erhebt sich die nationalsozialistische Bewegung als radikale Negation des Bestehenden. An die Macht gekommen, führt sie Deutschland in eine politische Katastrophe, wie sie kaum je ein anderes Volk in solchem Ausmaß erlebt hat.

Durch sie wird nun auch der territoriale Bestand der einstigen Bismarckschen Gründung in Frage gestellt und der deutsche Volks-körper zerrissen. Zugleich werden mit den überlieferten Werten alle bisherigen Vorgänge der Geschichte fragwürdig: Die neue Epoche knüpft an keine Vergangenheit an, sie trägt nur ihre Belastungen.

Dieser deutsche Geschichtsablauf ist ideologisch kaum zu bewältigen. Das politische Selbstgefühl der europäischen Staaten und Völker nährt sich aber nicht zuletzt daraus, daß diese Völker hinter der Kontinuität ihres Geschichtsablaufes eine Idee sehen. Die englische Geschichte — wieweit zu Recht, wieweit zu Unrecht, lassen wir offen — verkörpert in ihrem gesamten Zusammenhang dem Engländer die in der Geschichte allmählich Gestalt annehmende Idee der freien Selbstverwaltung der Teilgewalten. Die französische Geschichte erscheint dem Franzosen, von Hugo Capet über die Große Revolution bis in unsere Tage, als die trotz allen Rückschlägen logisch fortschreitende, sich auf dem Grundsatz der Zentralisation und des klar gegliederten Staats-aufbaues verwirklichende Idee des Einheitsstaates, in dem Politik und Kultur zwei Ausprägungen des einen Strebens bilden. In diesen beiden nationalen Geschichtsbildern sind dann auch völlig gegensätzliche Vorkommnisse in die gleiche Kette der politischen Leitidee einbezogen worden.

Eine solche — vielleicht ideell konstruierte, aber trotzdem eine politische Realität bildende — logische Einheit und Folgerichtigkeit existiert für die deutsche Geschichte nicht. In ihren Epochen muß gewissermaßen immer wieder von vorn angefangen werden. Am krassesten kommt das in der Gegenwart zum Ausdruck: Der revolutionäre Nihilismus der nationalsozialistischen zwölf Jahre zeigt nicht nur verbrecherische, sondern derart sinnlos wirkende Züge, daß es für jede kommende Generation schwer ist, jene Jahre sinnvoll in den gesamten Ablauf einzugliedern. Abermals mögen Beispiele verdeutlichen, was wir meinen: Napoleon III., der ein Zerstörer gewesen ist, oder Oliver Cromwell, der England zur Republik gemacht hat, stehen trotzdem nicht so völlig außerhalb des übrigen geschichtlichen Bildes wie Adolf Hitler. Napoleon III. oder Oliver Cromwell sind nicht moralische Belastungen für ihre Völker. Hitler wird es immer sein.

Nicht genug damit, ergibt sich für jene, die nach dem Warum dieses jüngsten deutschen Geschichtsablaules fragen, das andere Problem, an welche der vorangegangenen Epochen die deutsche Gegenwartsgeschichte anknüpfen solle. Auch diese Frage stellt sich für kein anderes europäisches Volk gleich radikal und zweifelsvoll. Die zwölf Jahre nationalsozialistischen Regimes möchten manche Deutschen am liebsten als in ihrer Geschichte nicht zählend betrachten, die Republik von Weimar hatte andere Voraussetzungen als die heutige Bundesrepublik, und das Bismarcksche Reich ist seinerseits umstritten.

So meinen wir es, wenn wir sagen, die Formung der deutschen Geschichte in geschlossene Epochen erfülle diese Geschichte mit einer andersgearteten Problematik, als sie die Geschichte anderer europäischer Völker aufweise. Diese Problematik der deutschen Geschichte aber ist tragisch, weil ihr die politische und historische Sinngebung und damit die Erfüllung zu fehlen scheinen. Es ist eine Tragik, die um so spürbarer wird, als der deutsche Raum — der geographische, kulturelle und politische — einen ausgesprochenen Mitte-charakter aufweist: Die Deutschen bilden die Mitte zwischen dem romanischen und dem slawischen Europa. Die deutsche Geschichte scheint hin und her gerissen zwischen diesen beiden Grundrichtungen, ohne daß es gelungen wäre, der Mitte jene Stärke zu geben, deren sie bedurfte, um zu bestehen, eine Stärke indessen, die Vertrauen und nicht Furcht ausströmte.

Die Fragezeichen, die für andere Europäer bei der Betrachtung des Deutschen als politischem Menschen sich stellen, die Beunruhigung und das Mißtrauen, die sie immer wieder ob diesem Nachbarn empfinden (beide existieren übrigens erst seit etwa 100 Jahren, vorher standen die Franzosen in diesem Rufe!), lassen sich im letzten auf die ungelöste und tragische Problematik der deutschen Mitte zurückführen. Sie ist ein Schlüssel zum Verständnis des Deutschen in seinen Beziehungen zur Politik.

Sie zeigt aber auch, weshalb der Europa-gedanke im deutschen Volk Fuß fassen konnte:

In den gesamten Komplex einer europäischen geschichtlichen Besinnung läßt sich die deutsche Frage sinnvoll einordnen.

Die gegenwärtige politische Situation Deutschlands

Die Tragik der deutschen Geschichte findet heute ihren sprechenden Ausdruck in der politischen Situation Deutschlands. Äußerlich betrachtet erscheint diese Situation einfach als Ergebnis des Machteinbruchs der Sowjetunion in Mitteleuropa. Von innen, von Deutschland aus gesehen, bietet sie sich als Folge des gescheiterten Versuches dar, in neuerer Zeit die deutsche Mitte zwischen Slawen und Romanen zu gestalten.

Deutschland hat infolge des Zweiten Weltkrieges seine Randgebiete im Osten verloren, die im Mittelalter aus den Bevölkerungsüberschüssen Mittel-und Süddeutschlands besiedelt worden waren, und das im 19. Jahrhundert von Bismarck geeinte Reich ist in die Bundesrepublik Deutschland und in die unter sowjetischer Kontrolle stehende „Deutsche Demokratische Republik" zerfallen.

Diese Zweiteilung — wenn man Berlins Sonderstellung bedenkt, ist es eigentlich eine Dreiteilung — bildet den Kern der deutschen politischen Problematik; kein anderes europäisches Volk kennt eine ähnlich geartete. Die Deutschen der Sowjetzone stehen nur zu einem verschwindend kleinen Prozentsatz hinter dem Regime von Pankow. Dieses besitzt indessen alle Machtmittel, jede Freiheitsregung augenblicklich im Keim zu ersticken. Zugleich liegt der Lebensstandard der Sowjetzone unter dem der Bundesrepublik. Zahlreiche verwandtschaftliche und menschliche Bande bestehen nach wie vor zwischen den beiden Deutschland. Die Leiden der Menschen in der Sowjetzone belasten das ganze Volk. Sie machen es in Westdeutschland zur Gewissenspflicht, die Deutschen der Sowjetzone nie zu vergessen.

Politisch betrachtet, muß sich indessen aus der Zweiteilung ein Widerstreit ergeben zwischen dem auf den europäischen Zusammenschluß gerichteten, über bloße nationale Kategorien hinaus denkenden Wollen und dem anderen, dessen Anliegen es bleibt, die Wiedervereinigung beider Deutschland voranzutreiben. Dieses Problem wiederum ist nicht einfach ein politisches Sachproblem: Es hebt sich von einem weltanschaulichen Hintergrund ab, dessen Hauptkolorit die Freiheitsfrage bildet. Uns will scheinen, der Nichtdeutsche übersehe leicht, daß sich das politische Freiheitsproblem für die Deutschen heute in einer ebenso absoluten wie unbarmherzigen Form darbietet: Die Entscheidung der Bundesrepublik für das weltpolitische Lager der Freiheit bedeutet zugleich, daß für das erste siebzehn Millionen Deutsche unter der sowjetischen Bevormundung bleiben müssen. Denn die Sowjetunion wird die Zone nur dann freigeben, wenn sie muß oder wenn sie hofft, ihren Einfluß auf Westdeutschland maßgebend verstärken zu können. Die Frage der deutschen Wiedervereinigung setzt im deutschen Volk einen unerschütterlichen Glauben an den Sieg der freiheitlichen Konzeption voraus. Nur er wird auch den Deutschen in der Sowjetzone die Freiheit bringen.

Die Tragik der deutschen Geschichte wird ob dieses Sachverhalts noch vertieft: Der Freiheitsverlust, den zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft das deutsche Volk erleiden ließen, ist durch eine Verzweiflung der großen Massen an den schöpferischen Kräften der Freiheit mitbedingt gewesen. Die Weimarer Demokratie hatte vor der Aufgabe versagt, während den Jahren der Weltwirtschaftskrise Freiheit und soziale Gerechtigkeit (soziale Gerechtigkeit!) miteinander ins Gleichgewicht zu bringen. So siegte schließlich die Tyrannei, die wirtschaftliche Besserstellung versprach. Der Verlust der Freiheit machte sich nicht bezahlt. Es kam zu einem neuen furchtbaren Zusammenbruch, der ein Drittel des Volkes in ärgerer Knechtschaft zurückließ, als der Nationalsozialismus sie bedeutet hatte.

Man könnte sagen, mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges habe die Geschichte das deutsche Volk vor die gewaltige Aufgabe gestellt, in der Bundesrepublik die Freiheit zu gestalten, zugleich aber zu versuchen, aus den Trümmern der alten Mitte und auf den Grundlagen freiheitlicher Überzeugung die deutsche Mitte zwischen dem slawischen und dem romanischen Europa wiederum herzustellen.

Die Bewältigung dieser Aufgabe wird deshalb nicht einfach sein, weil — wir haben es soeben gesehen — den Deutschen noch ein Geschichtsbild fehlt, das den Sinn ihrer nationalen und ihrer europäischen Sendung auf diese Idee der Mitte zwischen den romanischen und den slawischen Völkern gründen wird. Obendrein ist in den vergangenen Jahrzehnten die vernünftige Beziehung des Deutschen zu Politik, das heißt zur Freiheit und Gerechtigkeit in ihren Verbindungen zur Macht, arg gestört worden. Die Deutschen als ein Volk, das auf allen Gebieten eine möglichst vollkommene Lösung erstrebt, war nie ein ausgesprochen politisches Volk. Denn die Politik muß immer wieder mit dem Kompromiß vorliebnehmen. Es kommt kaum von ungefähr, daß der Begriff des Kompromisses den Deutschen so fremd ist, daß sie, um ihn zu umschreiben, zum Fremdwort greifen mußten.

Den deutschen Charakter fasziniert auch in der Politik das Absolute. Die Besten unter den Deutschen haben immer um die Gefahren dieser Faszination gewußt. Sie wird auch für die kommende deutsche Generation ein Problem bleiben.

Das Disziplinierte und Organisierbare trifft vielleicht im deutschen Volk leichter als in anderen europäischen Völkern auf politische Nachgiebigkeit. In seiner politischen Willensbildung einmal zur Masse manipuliert, ist es, weil leicht organisierbar, auch leicht zu beherrschen. Hitler wußte das und nutzte es aus. Indem man das feststellt, sollte man doch nie vergessen, daß noch nicht die Hälfte des Volkes an den Wahlurnen jene Massenorganisierbarkeit mitgemacht hat und daß sie nur erfolgreich werden konnte unter den Vorbedingungen der Wirtschaftskrise, der Inflation und des verletzten Nationalgefühls. Die Organisierbarkeit der Massen findet heute in der Sowjetzone eine wesentlich geringere innere Bereitschaft, ja, stößt bei diesen Menschen auf entschiedene Widerstände, die eindrucksvoll genug sind.

Verhältnis zur politischen Macht

Die gedrängte Übersicht über den Ablauf der deutschen Geschichte macht eine Abstecher zur Frage der Verhältnisse des Deutschen zur politischen Macht unumgänglich. Die Frage der Beziehung der Europäer zur Macht liegt als Problem an und für sich in der Zeit, seit durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges die Alte Welt — im Vergleich zu ihrer einstigen Stellung — auf dem großen Welttheater weitgehend entmachtet worden ist. Der Umstand, daß nicht alle Europäer innerlich bereit sind, die Tatsache dieser Entmachtung unwidersprochen hinzunehmen und die Konsequenzen aus ihr zu ziehen, ändert nichts darin, daß es sich um eine Wahrheit handelt. Aus politischem Blickwinkel betrachtet, bietet sich die Krise des europäischen Lebenswillens weitgehend als eine Krise der Macht dar.

Politische Macht wird in zwei Erscheinungen sichtbar: in der Notwendigkeit für den Staat, Autorität zu besitzen, und in seinem Recht, mit dem Schwert zuschlagen zu dürfen. Die Geschichte wollte es, daß mit keinem anderen europäischen Volk die moderne Krise der Macht eindringlicher durchexerziert worden ist als mit dem deutschen. Es erfuhr die fatale Auswirkung zerstörter Staatsautorität am Schicksal der Weimarer Republik. Gleich anschließend folgte das katastrophale Drama des vollständigen Macht-und Gewaltmißbrauchs. Vorher aber, schon im 19. Jahrhundert, hatte sich das deutsche Volk eine Staatsform gefallen lassen, in der die Grundsätze militärischer Organisation und Gesinnung auf das zivile Beamtentum übertragen worden waren. In zwei verheerenden militärischen Niederlagen und politischen Katastrophen büßte es gründlicher als alle anderen für sein zu blindes Vertrauen der Macht gegenüber.

Entartungen der Macht und Versuche des Machtmißbrauchs hat es zu allen Zeiten und in allen Völkern gegeben; aber die Reaktionen darauf waren verschieden. Entartungen der politischen Macht hatten im 17. Jahrhundert die englische und im 18. Jahrhundert die französische Revolution zur Folge. Die deutschen Revolutionen des 20. Jahrhunderts — jene von 1918— 1920 und die andere von 1933— 1945 — spielten sich entweder ab, nachdem der Macht des Staates von außen her bereits das Rückgrat gebrochen worden war, oder als eine Konterrevolution gewaltgläubiger Nihilisten auf dem Rücken eines durch die Wirklichkeit zermürbten Volkes.

Die Gründe für dieses besondere deutsche Schicksal scheinen mir — freilich ein wenig gedrängt formuliert — in drei bei den Deutschen besonders gelagerten Vorbedingungen zu liegen. Einmal in der Tatsache, daß das deutsche Volk seine politische Einigung in jenem späten 19. Jahrhundert gefunden hat, das an und für sich ein zu selbstsicheres Verhältnis zur Macht entwickelt hatte. Für die Deutschen ging es damals darum, auch in bezug auf die straffe Organisation der staatlichen Macht die anderen zu überbieten.

Das aber mußte ihnen zum Verhängnis werden — und damit komme ich zum zweiten —, weil sich dieses Volk als wesentlich organisierbarer und organisationsfreudiger erwies als andere europäische Völker. Vielleicht eben aus seiner Freude an der hohen Leistung und am Wettbewerb. Sollte der Wettkampf gewonnen werden, so bedurfte es der Disziplin, des persönlichen Verzichtes und der gehorsamen Unterordnung unter das Ganze. Wo die Bereitschaft dazu nicht ganz erfüllt schien, halfen die allgemeine Wehrpflicht und der Korporalstab nach.

War „unten" in den Massen des breiten Volkes die Bereitschaft zur Unterordnung vorhanden — und das ist das dritte —, so bildete das Ergänzungsstück von „oben" die devote Haltung der gelehrten Geister, der Intellektuellen, der politischen Macht gegenüber. Der deutsche Idealismus hat als geistige Bewegung alle denkbaren neuen Aspekte des menschlichen Denkens entwickelt; auf dem Gebiete des Staatsdenkens neigte er zur Überschätzung der Autorität oder erzeugte die Vorstellung eines für den Fortschritt gewissermaßen allein zuständigen Staates, also eine moralische Hegemonie des Staates, wie das in der Hegelschen Philosophie der Fall war. Große deutsche Denker haben keine klare persönliche Beziehung zur Macht gehabt, deshalb fielen Kultur und Politik hier immer wieder auseinander. Das erschütterndste Beispiel dieser Art bietet kein Geringerer als Goethe: Auf was anderes als auf das unsichere Verhältnis zur Macht kann die Begeisterung zurückgeführt werden, die Goethe nach seinem Gespräch mit Napoleon I. für den Korsen erfüllte? Er hielt ihn für einen Einiger Europas, ohne jedes Gefühl, ja ohne politischen Instinkt für die tyrannischen Seiten des napoleonischen Regiments. Goethes brieflicher Bericht über seine Begegnung wirkt geradezu peinlich.

Die Intellektuellen und die Politik

Die Folge der Unsicherheit der Intellektuellen gegenüber der Macht war — wir sagten es soeben — eine Trennung von Geist und Politik, die die deutsche Gesellschaft des 1’ 9. Jahrhunderts weitgehend gekennzeichnet hat. Die Spitzen des deutschen Geisteslebens verhielten sich dem Staate und seinen Willensträgern gegenüber entweder devot oder teilnahmslos, oder sie gerieten (ausnahmsweise!) in die vollständige brückenlose Opposition zu ihnen. Deshalb kann der sichtbare Wandel, der sich in dieser Beziehung im heutigen Deutschland abgespielt hat, nicht übersehen werden: Bundespräsident Heuss war Professor und Schriftsteller von Rang.

Unter dieser These, es seien in Deutschland seit 1870 Geist und Politik mehr und mehr getrennte Wege gegangen, läßt sich manches am schließlichen Aufkommen des Nationalsozialismus verstehen. Es läßt sich daraus sogar der nihilistische Ausklang der nationalsozialistischen Epoche erklären. Der Geist hatte die Republik nicht gestützt und verhielt sich Hitler gegenüber passiv. Dessen Wut auf die Intellektuellen war eine Wut, die sich gleichsam gegen alle und keinen richtete: auffällige oppositionelle Regungen der Intellektuellen waren schon zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ausgeschaltet worden. Hernach rächten sich Hitler und seine Helfershelfer durch abgründigen Hohn auf alles Geistige an der Schwäche des intellektuellen Widerstandes. In der Tat und Wahrheit hat es nie eine echte Polarität zwischen dem nationalsozialistischen Machtanspruch und einem gegen ihn opponierenden Geist gegeben.

Ich schrieb oben, die Intellektuellen seien nur in einzelnen Fällen in Opposition, dann aber in vollständige und brückenlose Opposition getrieben worden. In diesem Zusammenhang ist eine Gestalt als typisch zu erwähnen, die in mancher Hinsicht als extremes Gegenstück zu Hitler erscheint, die aber auch ob der Extremität ihrer eigenen Haltung sich als Warner wirkungslos verbraucht hat. Ich meine die leidenschaftlich umstrittene und tragische Figur des Pädagogen und Publizisten Friedrich Wilhelm Förster. Ich halte ihn in seinen unausgewogenen Beziehungen zum Politischen für bezeichnend für das erwähnte unsichere Verhältnis des deutschen Denkens zur Politik. Aus der bitteren persönlichen Erfahrung mit der das Geistige letzten Endes verachtenden Haltung Wilhelms II. und seiner Kreaturen und der dadurch bedingten vorzeitigen Vernichtung seiner wissenschaftlichen Laufbahn entwickelte sich im Denken Försters eine Kritik am politischen Ungenügen seines Volkes, die sich schließlich in der negierenden leidenschaftlichen Anklage erschöpfte. Alle Sachlichkeit verlassend, nahm bei ihm das Problem die Gestalt an, als ob Machtpolitik in moderner Zeit überhaupt nur von den Deutschen betrieben worden wäre. Er identifizierte das Gute in der Weltgeschichte mit allem, was antideutsch, das Schlechte dagegen mit allem, was irgendein deutscher Staatsmann in der großen Politik je versucht hat. Nicht einmal Gestalten wie Stresemann wurden von diesem vernichtenden Urteil ausgenommen. Mit dem Erfolg, daß das angelsächsische und französische Ausland, das Förster vor der deutschen Unberechenbarkeit warnen wollte, dieser Einseitigkeit nicht glaubte; Franzosen wie Engländer schien es unmöglich, daß sich bei derart subjektiven Verunglimpfungen noch ein Korn Wahrheit finden könnte.

Die Freiheit, die der deutsche Intellektuelle sucht — und daran hat sich nur wenig geändert —, ist die politische Unabhängigkeit. Er wünscht den anständig funktionierenden, von gewissenhaften Fachleuten zuverlässig verwalteten Staat. Dieser soll ihn im übrigen — von einem Minimum unausweichlicher Bürgerpflichten abgesehen — in Ruhe lassen. Brachte England den Staat hervor, dessen Macht durch die freiwillige politische Hingabe einer geschulten Schicht spiel-und regelrecht gehandhabt wird, Frankreich aber den logisch-zentralisierten, bürokratischen, nach außen von Intellektuellen im parlamentarischen Streitgespräch repräsentierten Staat, so blieb bis in die unmittelbare Gegenwart der zuverlässige Beamtenstaat der Fachleute das preußisch-deutsche Ideal. In Zeiten des Staatsnotstandes ist der deutsche Intellektuelle stets bereit gewesen, sich dem Ruf des Staates zu opfern, ohne nach den Zusammenhängen zu fragen. War dagegen der Staatsnotstand nicht gegeben, so wurde das politische Geschäft als garstig und des Intellektuellen unwürdig behandelt.

Ist diese Unsicherheit heute überwunden? Abermals, wenn schon in legaler Form, ist es im neuen Staat die Autorität, die dominiert. Abermals zeigen aber auch gewisse Anzeichen, daß auch bei den Intellektuellen die Hinneigung zu den Extremen — eben das blinde Ja zur Staatsautorität oder das totale Nein zu ihr -— nicht völlig überwunden ist. Wie ja auch in der Gesamterscheinung dieses Volkes zwei bezeichnend deutsche Typen den Zusammenbruch und das Wirtschaftswunder überstanden haben: der vor allem gehorchende Spießer und der demonstrativ „unspießige" Wandervogel.

Und doch, solches will vorerst nicht mehr sagen als etwa die Tatsache, daß es im heutigen Frankreich noch Vertreter des Jakobinertums neben überzeugten Royalisten gibt. Alle Beobachter der deutschen Situation sind sich darin einig, daß die nüchtern und realistisch denkende junge deutsche Nachkriegsgeneration, weil sie kein bloß emotionelles Verhältnis mehr zum Staat und zur Politik hat, auch in ihrem Verhältnis zur Macht sachlich-distanziert geworden ist.

Und so schließlich ein Letztes, das immer eingeschlossen werden muß, so oft wir Europäer uns Gedanken machen über den Umgang mit Deutschen: Ein Drittel dieses Volkes leistet täglich und stündlich seinen dumpfen, entschlossenen und bewundernswerten Widerstand gegenüber dem politischen Totalitarismus in der Sowjetzone. Es ist ein Widerstand, an dem Intellektuelle, Bauern, Arbeiter und Angehörige freier Berufe teilhaben. Tausende, die mit ihrer Kraft am Ende sind, fliehen. Dieser Widerstand von 17 Millionen Deutschen der Sowjetzone ist eine tägliche Mahnung an alle europäischen Völker! Es hat die Fronten radikal verändert, die Europa vor 1945 getrennt haben. Es ist deshalb als großer Aktivposten einzurechnen in die Bilanz der deutschen Werte und Verlustposten der heutigen Situation.

Die deutsche Freiheit war zu allen Zeiten persönlicher Individualismus und Freiheit zur Erhaltung der inneren Vielgestaltigkeit. Der Deutsche gab dem Staat, was des Staates wert war; im übrigen war er auf eine möglichst weiträumige, staatsfreie, individuelle Sphäre erpicht. Nicht nur um seinen Liebhabereien zu frönen, sondern auch um sich in freier Weise mit Gleichgesinnten zu vereinen.

Deutschland ist das Land der Vereine und geselligen Verbindungen. Die größte und bedeutendste Erziehungsbewegung, die es hervorgebracht hat, die um die Jahrhundertwende entstandene Jugendbewegung und die ihr verwandte Gründungsbewegung für Landerziehungsheime, war in der Vielfalt ihrer Ausprägungen zugleich individualistisch wie auf die Bildung kleinerer Gemeinschaften bedacht. Seit den Freiheitskriegen haben in Deutschland die Jugend-und Studentenbünde ihre Bedeutung behalten. Der Nationalsozialismus unterbrach diese Entwicklung durch den Zwang, mit dem er diese deutsche Eigenart „gleichzuschalten" und zu lenken versuchte. Bestimmte Wesenszüge der deutschen Jugendbewegung werden aber wieder in Erscheinung treten, weil sie dem deutschen Charakter eigentümlich sind.

Regionale Unterschiede

Diese deutsche Freiheit als Möglichkeit freier Gemeinschaftsbildung hat bis in die neueste Zeit im inneren Aufbau des Volkes ihre Spuren hinterlassen. Deutschland war das Land der Besonderheiten von Räumen und Landschaften. Die Vorgänge der letzten beiden Jahrzehnte haben diese Wesensart zwar verändert und abgeschwächt, gänzlich verschwunden ist sie nicht.

Die inneren Unterschiede des deutschen Volkes lassen sich nach verschieden Gesichtspunkten charakterisieren. Der Südwesten unterscheidet sich vom Nordosten durch geographisch und geschichtlich bedingte Merkmale, auch wenn sie in formalem Sinn nicht unbedingt eine Entsprechung bedeuten. Immerhin: Die Landschaften der weiten Ebenen sind allein für den nordostdeutschen Raum typisch, wogegen Mittel-und Süddeutschland gekennzeichnet sind durch die großen waldbedeckten Mittelgebirge. Wie denn überhaupt der Wald als bestimmendes und formendes Merkmal in das deutsche Landschaftsbild gehört und es recht eigentlich unterscheidet vom westeuropäischen und mediterranen. Der Wald nimmt, als literarischer Gegenstand, wohl kaum in anderen unter den europäischen Literaturen eine gleich beherrschende Stellung ein wie in der deutschen. Schönste deutsche Lyrik ist Lyrik vom Walde.

Doch wir haben von den Unterschieden gesprochen. Trennt der Landschaftstypus der Ebene den deutschen Süden vom Norden und verbindet sich mit der Trennung zugleich ein Unterschied des Menschenschlages, so war wohl stärker und schicksalhafter die von der Geschichte bedingte Trennung dieser beiden deutschen Gebiete. Wir meinen den bekannten Unterschied zwischen jenem Deutschland, das einst während einiger Generationen zum Römischen Reich gehörte, und dem anderen, das jenseits des römischen Grenzwalles, des sich vom Rhein über den Main zur Donau ziehenden Limes, lag. Im südlichen Teil Deutschlands hat noch vor der Völkerwanderung die römisch-lateinische Kultur gesiegt; im jenseits des Limes gelegenen Teil hat sie sich erst im Mittelalter durchgesetzt, wobei es in den niedersächsischen Gauen nicht ohne schwere und blutige Auseinandersetzungen abgegangen ist. Der Unterschied zwischen diesen beiden Deutschland ist bis in die neueste Zeit lebendig geblieben. Der Norddeutsche ist in den Grundzügen seiner seelischen und charakterlichen Beschaffenheit ein nordischer Mensch, verwandt dem Skandinavier; der Deutsche des Westens, vom Rhein und von der Mosel, aber auch am Main und im eigentlichen Süden, gehört in Struktur und Ausprägung seines Lebensgefühls dem mediterranen Kulturkreis an, auch dort, wo er als Rheinländer, als Schwabe, Alemanne oder Bayer seinem Dasein die typischen Züge der Stammesherkunft oder seiner konfessionellen Tradition verliehen hat.

Um gerade noch auf die konfessionelle Mischung hinzuweisen: Der deutsche Katholizismus, vornehmlich im Westen und im Süden vertreten, ist in seinen kulturellen Ausprägungen ein deutscher Barock-Katholizismus, wogegen sich die nordische Verwandtschaft des protestantischen deutschen Nordens in der Tatsache zeigt, daß das Luthertum zugleich die maßgebende Konfession Skandinaviens ist.

Föderalismus

Die innere Verschiedenheit Deutschlands hat im deutschen Föderalismus ihren faktischen Ausdruck gefunden. Das Wort muß mit einiger Vorsicht angewendet werden, weil es nicht die genau gleiche Bedeutung hat wie etwa in Nordamerika oder in der Schweiz. Es gibt einen deutschen Föderalismus — so wie ihn auch das Ausland sieht —, der nicht viel mehr ist als eine Erinnerung an einstige, dynastisch bedingte Zersplitterung, und andererseits die Reste eines echten, in der geschichtlichen Entwicklung und in bestimmten Eigenarten des überlieferten Stammesbewußtseins ruhenden Föderalismus.

Der von außen her aus bestimmten politischen Erwägungen in die deutschen Verhältnisse hineininterpretierte Föderalismus ist in Deutschland selbst nicht populär. Er hat zuletzt seinen Niederschlag in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gefunden. Die Bundesrepublik bildet ein Konglomerat von Teilen echter föderativer Tradition — wie die Hansestädte Hamburg und Bremen oder das Land Bayern sie aufweisen — und anderen Gebilden, die konstituiert worden sind, nachdem das alte Preußen aufgelöst worden war. Angemessener als das Wort „Föderalismus" wäre für diesen staatsrechtlichen Zustand der Begriff des dezentralisierten Staates. Mit anderen Worten: Es handelt sich hier eher um ein bestimmtes organisatorisches Prinzip, eben das der Dezentralisation, während ein wirklich föderativer Staat aus der Geschichte her-vorzugehen pflegt: Die Teile sind dann älter als das Ganze.

Es gibt nun freilich auch im heutigen Deutschland einen derartigen echten föderativen Unterbau. Wir haben bereits seinen Träger erwähnt: Die in das Mittelalter zurückreichende Tradition selbstbewußter freier Stadtstaaten ist in Hamburg wie in Bremen gleich lebendig geblieben. Es ist eine den angelsächsischen Vorstellungen nahekommende Tradition der Selbstregierung.

Das Gegenstück, freilich auf dem Unterbau der Anhänglichkeit eines ganzen Stammes an das überlieferte Herrscherhaus ruhend, bildet der politische Eigenwille und das Selbständigkeitsstreben Bayerns. Die formenden Kräfte der wittelsbachischen Tradition haben die Regentschaft dieses Fürstenhauses überlebt und das deutsche Bundesland Bayern und seine Hauptstadt München bis in die Gegenwart zum Kern aller innerdeutschen föderalistischen Bestrebungen gemacht.

Weniger greifbar, aber als politische Realität nicht untergegangen, ist der föderalistische Geist des niedersächsischen Welfentums. In ihm decken sich die Erinnerungen an eine fürstliche Dynastie mit der Eigenwilligkeit eines Volksschlages.

Kulturelle Vielheit

Wieder ein anderes Bild bietet die deutsche Vielgestalt in kultureller Hinsicht. Gewiß, die Tatsache, daß das zeitgenössische Deutschland im umfassenden Sinne dieses Wortes keine Hauptstadt hat — Bonn spielt die Rolle einer Verwaltungszentrale —, wirkt sich nachteilig auf das kulturelle Leben aus; Berlin hat ohne Zweifel im alten Reich weitgehend auch die Rolle eines geistigen Mittelpunktes gespielt. Man kann die heutige Lage in dieser Hinsicht aber auch anders sehen: Fiele für Frankreich Paris oder für England London aus, so wären die kulturellen Folgen wahrhaft katastrophal. Die Isolierung Berlins hat für Deutschland keine verhängnisvollen Rückschläge gebracht. Jetzt hat sich eben bewährt, daß es, auch nach 1871, in Deutschland neben Berlin noch andere Städte von großer kultureller Eigenart gegeben hat — Hamburg, Köln, Frankfurt und München etwa, daß Universitätsstädte wie Bonn, Heidelberg, Göttingen, Tübingen — um nur einige zu nennen — in geistiger Hinsicht der Hauptstadt zuzeiten zumindest ebenbürtig waren. Die Blockierung und Halbierung Berlins hat das deutsche Geistesleben vielleicht weniger getroffen als die Bolschewisierung Leipzigs das deutsche Verlagswesen. Der kulturelle deutsche Föderalismus, den auch zwölf Jahre Nationalsozialismus nicht zu zerstören vermochten, gibt der kulturellen Regeneration Deutschlands alle Aussichten. Das darf man sagen, obgleich die Zerstörung alter Stadtbilder und der Schematismus eines fieberhaften Neuaufbaues auch in diesen alten urbanen Kulturzentren manche Verbindung zwischen einst und jetzt zerrissen haben und damit eine wirkliche Voraussetzung aller Kultur fehlt.

Eines ist gewiß: Die vergangenen fünfundzwanzig Jahre haben die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit des deutschen Volkes grundlegend verändert. Die innere Wanderbewegung nahm in Deutschland größeren Umfang an als anderswo. Der Krieg, die Austreibung von dreizehn Millionen Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland, schließlich die Auswanderung aus der Sowjetzone nach dem freien Westdeutschland haben die einstigen Stammesgrenzen fast völlig verwischt. Die Fülle von Typen, wie sie die deutsche Literatur geschaffen hat oder wie sie die Volksphantasie selber hat entstehen lassen — Fritz Reuters „Onkel Bräsig", Theodor Storms norddeutsche Gestalten, „Tünnes und Scheel" in Köln, die Figuren aus dem schwäbisch-alemannischen Volkskreis in Johann Peter Hebels „Schatzkästlein", die oberbayerischen Charaktergestalten und Karikaturen aus dem alten „Simplicissimus“, um einige wenige zu nennen —, finden sich nur mehr in letzten Originalen. Das technische Zeitalter ist im Begriff, aus Bayern, Schwaben, Franken, Hessen, Rheinländern und Niedersachsen „den Deutschen" zu machen. Deutschland erfährt hier ein ähnliches Schicksal, wie es alle europäischen Völker heute erleben; höchstens daß dieser Prozeß sich infolge der militärischen und politischen Katastrophe von 1945 in Deutschland rascher und — vielleicht — „amerikanischer" vollzieht als anderswo. Das vielgestaltige Deutschland von einst erscheint heute zunächst als ein dreigeteiltes: das Deutschland der Bundesrepublik, das Deutschland der Sowjetzone und das Deutschland der Stadt Berlin.

Huldigung an Berlin

Tatsächlich: Berlin gebührt in unserer Darstellung ein besonderer Platz und Hinweis. Berlin ist innerhalb des heutigen Deutschland ein Fall für sich. Diese Stadt war einst, vor allem in den Jahrzehnten zwischen 1871 und 1939, für viele Ausländer, vor allem aber für jene, die Deutschland schlecht und Berlin nur oberflächlich kannten, so etwas wie das städtisch organisierte Wahrzeichen des selbstbewußten und betonten Preußentums. Heute ist es ein starkes Symbol der freien Welt.

Der Krieg hat Berlin unerhörte Wunden geschlagen. Das Kriegsende riß die Stadt durch die drei Besatzungssektoren des Westens und jenen des Ostens entzwei, hob ihre haupt-städtischen Privilegien auf und schuf einen großstädtischen Raum, in dem sich die freie Welt und die Welt des Sowjetkommunismus in besonders eindrucksvoller Weise und von Spannung erfüllter Atmosphäre gegenüberstehen. Der Süden und der Westen der Stadt, zwei Drittel ihres Gebietes, bilden das freie Berlin, der Rest gehört der sowjetischen Zone an. Jeder fremde Besucher Berlins hat auf seinem Boden die auf der Welt einzig bestehende Möglichkeit, das Aussehen zweier sozialer Lebensformen und zweier politischer Systeme zu studieren, das Wiederaufbauwerk im freien Teil der Stadt mit dem gespenstisch anmutenden „Wiederaufbau" im Sowjetsektor zu vergleichen. Berlin ist nicht nur eine vorgeschobene Stellung der freien Welt mitten in der „Deutschen Demokratischen Republik"

und im kommunistischen Block, sondern zugleich eine Taucherglocke, ein Beobachtungsposten an der Küste des Sowjetmeeres.

Der verstorbene Regierende Bürgermeister des freien Berlin Otto Suhr bemerkte einmal in einem Gespräch dem Schreibenden gegenüber, der ausgeprägte und hervorstechende Charakter des Berliners, die sprichwörtliche Aufgewecktheit und die Humorbegabtheit dieses besonderen unter den Typen des deutschen Volkes, rühre aus der starken Mischung der Berliner Bevölkerung her. In dieser Mischung repräsentierte der Berliner das deutsche Volk schlechthin. Von dem Augenblick an, da Berlin Reichshauptstadt geworden war, übte es eine starke Anziehungskraft aus. Es gewann seine hauptstädtische Stellung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Industrialisierung durchsetzte und eine starke deutsche Binnenwanderung anhob. Damals, so sagte Suhr, seien die aufgeschlossenen, unternehmungslustigen Elemente aus dem ganzen Reichsgebiet nach der rasch aufstrebenden Kapitale gezogen. Es seien nicht die schlechtesten, sondern die besten Elemente des deutschen Volkes gewesen, die sich Berlin zugewandt hätten. So sei die Stadt zum Schmelztiegel der guten Eigenschaften der Deutschen geworden, ähnlich wie einzelne deutsche Auswandererzentren der Neuen Welt, und so könne es nicht wundernehmen, daß „der Berliner" zum ebenso hervorstechenden wie sympathischen Menschentyp geworden sei.

Das Urteil stammt gewiß von einem Manne, der selbst Zuzügler in Berlin und seiner Stadt besonders gewogen war. Wohl ist dieses Urteil vereinfachend, doch nicht schief. Es eröffnet einem manche Zugänge zum Verständnis des berlinischen Charakters, dessen Merkmale unbekümmerte Aufgeschlossenheit, Sinn für Humor und Satire und eine untertänigem Gebaren abholde Lebensart sind. Die Berliner, die auch unter dem nationalsozialistischen Regime eigenwillig und unerschrocken geblieben sind, haben das schwere Schicksal ihrer Stadt mit einer Lebenskraft und einem Lebenswillen gemeistert, die in unserem, dem Defätismus so nahestehenden Zeitalter einzigartig und eine eigentliche Hoffnung sind. Als die Russen bald nach dem Krieg versuchten, den Westen zum Verzicht auf seine Besatzungsrechte in Berlin zu bringen, entschloß sich der damalige Kommandant des amerikanischen Sektors, General Lucius D. Clay, nicht zuletzt deshalb zum Widerstand und zur Errichtung der Luftbrücke, weil ihn die Widerstandsbereitschaft der Berliner Bevölkerung beeindruckte. Diese Bevölkerung, die von Anfang an gegenüber der fremden Besatzung eine von jedem Ressentiment freie Haltung eingenommen hatte, konnte man unmöglich im Stich lassen. So haben die wehrlosen Berliner damals durch ihre Haltung in entscheidender Weise ihre Freiheit selber mitgerettet.

Wer je in den Nachkriegsjahren Berlin besuchte, konnte nicht unberührt bleiben von der Besonderheit der dortigen Atmosphäre.

Wir haben soeben erwähnt, daß es im freien Berlin zwischen Amerikanern, Engländern und Franzosen auf der einen, der Bevölkerung auf der anderen Seite fast vom Beginn der Besetzung an ein stilles Einvernehmen gab. Die Besetzenden waren zugleich als Befreier akzeptiert worden, und die Befreier erkannten die Berliner bald eher als Gleichgestellte an denn als Unterworfene. Beide Teile waren sich dessen bewußt, daß sie sich „im selben Boot" befanden. In dieser Hinsicht war Berlin dem übrigen Westdeutschland voraus. Es gewann einen Vorsprung an innerer Selbständigkeit, die in dieser exponierten Stadt besonders beeindrucken muß. Der halb gelassene Humor, die stets zum Angriff bereite Satire — Eigenschaften, die sich die Berliner in ihrer Mehrheit auch dem Naziregime gegenüber bewahrt hatten — befähigen sie, mit ihrer seltsamen, oft unwirklich anmutenden Lage überlegen fertig zu werden.

Berlin ist freilich nicht mehr das alte Berlin.

Jeder, der die Stadt vor dreißig Jahren gekannt und geliebt hat, wird nicht ohne Wehmut den Unterschied vom Damals zum Heute feststellen. Es ist keine Hauptstadt mehr, sondern ein demonstrativ vorgeschobenes Bollwerk. Daß aber seine Menschen diese Vorpostenrolle selbstverständlich und ohne jedes Pathos spielen, daß sie die gleichen angeregten, allen Zeitströmungen mit Interesse begegnenden Menschen geblieben sind, macht die Atmosphäre der heutigen, schwer um ihre Existenz kämpfenden Stadt so eindrucksvoll und anregend zugleich. Ich glaube, daß Otto Suhr mit seiner Charakteristik der Menschen dieser Stadt recht gehabt hat. Im Gesamtbild des heutigen Deutschland verkörpert Berlin etwas Eigenes — im geteilten Deutschland wie im freien Europa überhaupt! Zugleich ist der vorwärtsweisende Geist dieser Stadt ein gutes Zeichen für die Entwicklung der deutschen Zukunftskräfte.

Aufgaben der Deutschen

Im letzten bleibt uns die Richtung der europäischen und der Weltgeschichte verborgen. Alles, was wir über das Wesen einzelner Völker auszusagen vermögen, nimmt sich aphoristisch aus. Im Hinblick auf das deutsche Volk dürfte nur eines gewiß sein: Es sieht sich in eine schwere politische Realität hineingestellt, die es bewältigen muß. Es wird, genausowenig wie andere Völker auch, bei der Lösung seiner Aufgabe nicht aus seiner Haut heraus können. Das heißt aber nicht, daß es, geformt von den Schlägen seiner bisherigen Geschichte, die Lösungen nicht mit besseren Mitteln versuchen und finden wird. Denn die Völker wandeln sich stärker, als sie selbst es wahrhaben wollen. Wie verschieden ist doch das Urteil, das in den einzelnen Epochen der Geschichte über die einzelnen Völker gefällt wirdl Die Realität bestimmter nationaler Fragen wird nie aus dem geschichtsbewußten europäischen Kontinent verschwinden. Entscheidend bleibt nur, daß die Völker Europas erkennen, wie relativ die Bedeutung allen nationalen Fühlens geworden ist angesichts der Tatsache, daß die Sowjetunion in Mitteleuropa steht. Diese Tatsache fordert wahrhaft gebieterisch, daß die Europäer willens seien, einander zur Lösung ihrer Einzelfragen beizustehen. Die Deutschen haben als zweigeteiltes Volk eine größere Aufgabe zu bewältigen als andere Europäer. Sie stehen bereits mitten in dieser Aufgabe, während sich ihr neuer Staat noch keineswegs konsolidiert hat und die für ein kleines Verhältnis zur Geschichte nötige Bewältigung der zwölf Jahre Nationalzosialismus erst in den Anfängen steckt. Das deutsche Volk muß lernen, auf lange Sicht an sich und seine Einheit zu glauben, ohne einer Neuauflage eines schwärmerischen Nationalismus zu verfallen und dabei kurzfristig, von Tag zu Tag, mit Kompromissen weiterzukommen. Es wird zugleich seine Fähigkeit beweisen müssen, seine Lage zwischen dem romanischen und dem slawischen Europa mit föderativen Mitteln und ohne Gewalttätigkeit zu meistern. Eine ungeheure Aufgabe I Sie setzt die Wiedergeburt eines starken Lebensgefühls voraus. Das „Wirtschaftswunder", so wichtig es als eine seiner Voraussetzungen gewesen sein mag, reicht für die Wiedergeburt des Lebenswillens allein niemals aus. Sie muß aus dem Geistigen kommen, aus der europäischen Grundfrage! Wie halten wir in dieser Zeit stand? Das ist die Frage des Zeitalters.

In seinem Gedicht „Grenzen der Menschheit", dieser klassischen Darstellung der beiden in sich selbst ruhenden Welten, derjenigen des Menschen und derjenigen der Götter, hatte Goethe dem Menschen empfohlen, mit „markigen Knochen auf der wohlgegründeten Erde" zu stehen. Und er hatte hinzugefügt:

Was unterscheidet Götter von Menschen? Daß viele Wellen Vor jenen wandeln, Ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle, Verschlingt die Welle, Und wir versinken.

Dieses Versinken hatte indessen für ihn nichts Furchtbares an sich. Der Sinn des begrenzten menschlichen Daseins war ihm nicht fragwürdig. Deshalb schloß sein Gedicht mit den Worten:

Ein kleiner Ring Begrenzt unser Leben, Und viele Geschlechter Reihen sich dauernd An ihres Daseins Unendliche Kette.

Das war die eine Seite. In der popularisierten Vergröberung ergab sich aus ihr die robuste, verhärtete Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts; für sie galt nur mehr die Sicherheit und Festigkeit der „wohlgegründeten Erde“ und der „markigen Knochen". Ausdruck der anderen Weitsicht und damit einer anderen deutschen und romantischen Gesinnung war „Hyperions Schicksalslied" von Hölderlin. Auch darin wird die Welt der Götter der Welt der Sterblichen gegenübergestellt. Auch darin wird gesagt, wie die einen, die Himmlischen, „schicksalslos, wie der schlafende Säugling" atmen. Vom Menschen aber heißt es:

Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahrlang ins Ungewisse hinab.

Darf man nicht sagen, in diesen beiden dichterischen Visionen vom Wesen des Menschen sei die ungeheure Spanne vorausgesehen und dargestellt, die das deutsche Lebensgefühl innerhalb der letzten hundert Jahre erfahren hat? Ich kenne keinen anderen dichterischen Ausdruck dieses ungeheuren Wandels vom festen zum problematischen Lebensgefühl. Mit Bezug auf die Zukunft wird es bedeutsam sein, nach welcher Richtung sich das Lebensgefühl bewegen wird. Wohl kaum zurück zu Goethes „wohlgegründeter Erde"; dafür ist in Wissenschaft und Wirklichkeit zuviel passiert. Dann also zu Hölderlins hoffnungslosem Dahinfallen, „wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, jahrlang ins Ungewisse hinab"? Manche behaupten das, oft nicht ohne den Anflug eines wollüstigen Heroismus.

Man könnte nun natürlich sagen, der dritte Weg sei jener, den etwa die Kunst von Günther Grass vorzeichnet, der Weg also über den völlig desillusionierten, an den Rand des Zynismus vorgedrungenen und zugleich vordergründigen Realismus. Daß das ein „Weg" ist, kann nicht bestritten werden; wohin er aber führt, lassen wir offen. Wir halten es nicht für unmöglich, daß auch diese Straßen begangen werden müssen, damit sich der deutsche Geist selbst wieder findet — desillusioniert und trotzdem lebensbejahend.

Sichwiederfinden heißt nämlich heute — und zwar für jedes europäische Volk! — zum Leben und zu den anderen finden. Eine in nationalen Kategorien handelnde Restauration des machtbetonten Europas aus den Zeiten vor 1914 vollendete den Totentanz, der 1914 begonnen hatte. Europa braucht eine neue Beziehung zur Macht, aber eine vergeistigte, eine, die der Gewalttat abgeschworen hat, eine, die selbst neue Mitte sein will. Ohne den Beitrag der Deutschen wird es dabei nicht gehen. Mehr noch: In dieser Möglichkeit liegt die Zukunft des ganzen deutschen Geistes — auch jenes, der durch Staatsgrenzen getrennt bleibt.

Fussnoten

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Peter Dürrenmatt, Publizist, geboren 29. August 1904 in Herzogenbuchsee, Kanton Bern, Studium in Genf und Bern, 1930— 1934 Lehrer und Schulleiter in Deutschland, 1934 bis 1943 im Redaktionsstab der „Schweizerischen Politischen Korrespondenz", 1943 der „Basler Nachrichten", seit 1949 deren Chefredakteur, 1959 Abgeordneter im Schweizerischen Nationalrat. Buch-Veröffentlichungen u. a.: Zerfall und Wiederaufbau der Politik, Bern 1951; Schweizergeschichte, Bern 1957; Die Welt zwischen Krieg und Frieden, Bern; Europa will leben, Bern; Fünfzig Jahre Weltgeschichte, Bern; Schweiz, in der Reihe: Geistige Länderkunde, Nürnberg; In die Zeit gesprochen (Vortrags-sammlung), Zürich (in Vorbereitung).