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Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Verständigung | APuZ 22/1965 | bpb.de

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APuZ 22/1965 Imprssum Zur Neuverteilung politischer Macht in der heutigen Welt Kulturelle Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums in der zweiten Jahrhunderthälfte Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Verständigung

Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Verständigung

Pietro Quaroni

Als man im Herbst des Jahres 1946 an mich herantrat, um mit mir über die Schaffung eines Zentrums für die Internationale Versöhnung zu sprechen, erschien dieser Gedanke in seinen Zielen beschränkt, aber mehr als zweckmäßig, ja in Anbetracht der damaligen Lage geradezu notwendig.

Die Kampfhandlungen waren zwar beendet, aber dafür war der Krieg auf psychologischem Gebiet in vollem Gang. Wir Italiener waren „Mitkämpfer". Ich muß gestehen, daß es mir bis heute, vom juristischen wie vom politischen Standpunkt aus gesehen, nicht gelungen ist zu verstehen, was „Mitkämpfer" bedeutet. Vom praktischen Standpunkt aus weiß ich, daß es für uns bedeutete, die Nicht-Erwünschten zu sein.

Die europäischen Nationen waren tief gespalten; Italien war von den Alliierten besetzt; in Deutschland galt noch in vollem Maße die „non-fraternisation"; alle Begierden waren entfesselt. Praktisch hatte Italien keinen Nachbarn, der nicht Gelüste auf Teile seines Territoriums hegte. Was die Grenzen Deutschlands betrifft, so ist es wohl besser darüber zu schweigen. Aber auch zwischen den Verbündeten stand der Kampf um die Vormachtstellung auf des Messers Schneide. Nur die Amerikaner bemühten sich, allerdings ohne besonderen Erfolg, eine gewisse ausgleichende Stellung zu wahren.

Wie konnte man sich aus dieser Lage des Kampfes aller gegen alle befreien? Wie eine Atmosphäre erträglichen Zusammenlebens zwischen den Ländern Europas neu schaffen? Es waren harte und schwere Jahre. Das Frankreich Robert Schumans weigerte sich, seine Besatzungszone in Deutschland mit der englisch-amerikanischen Doppelzone zu vereinen, und rechnete fest darauf, sich in den endgültigen Besitz des Saarbeckens zu setzen. Der Kampf um Italiens Kolonien war in vollem Gang — Kampf gegen uns, gewiß; aber mehr noch Kampf zwischen den Siegern. Nicht weniger hart war der Kampf um Vorherrschaft und Einfluß im Nahen Osten zwischen Engländern und Franzosen und in Südostasien zwischen Engländern, Franzosen und Holländern.

Rasche Überwindung der Kriegsspychose

Im Herbst 1946 wurde ich zum Botschafter in Paris ernannt. Paris ist immer ein begehrter Posten gewesen, und dennoch fragte ich mich, besonders nach den Erfahrungen der vergangenen Monate, die ich in Paris bei der Friedenskonferenz gemacht hatte, wie viele Jahre notwendig sein würden, um zwischen uns und den Franzosen wieder normale Beziehungen herzustellen. Ich erinnere mich, daß nach dem Ersten Weltkrieg — und noch im Jahr 1930 — man keinen deutschen Diplomaten zu einem Abendessen mit einem Diplomaten der Entente einladen konnte, ohne vorher die Erlaubnis des letzteren einzuholen.

Tatsächlich ist diese vergiftete Atmosphäre unerwartet schnell überwunden worden; nicht nur zwischen Frankreich und Italien, sondern auch zwischen Frankreich und Deutschland und in ganz Europa.

Den Zustand des besiegten Feindes überwindet man in Wirklichkeit erst an dem Tag, an dem man Verbündeter der Sieger wird. Im Jahr 1949, kaum zwei Jahre nach Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Italien, trat Italien dem Atlantischen Bündnis bei. Deutschland ist wenig später gefolgt.

Aber diese so rasche Überwindung der Kriegspsychose war nicht nur die Folge eines unvorhergesehenen Sieges der Vernunft bei den Regierungen und den Völkern Europas; es haben viele äußere Elemente, wie die gemeinsame Not und die gemeinsame Angst, dazu beigetragen: Im Juni 1947 hing die Möglichkeit für Frankreich und Italien, ihre elenden Brotrationen bis zur nächsten Ernte beizuhalten, von einigen Schiffen ab, die im Hafen von New-York vor Anker lagen und um die wir uns stritten, obwohl keiner von uns beiden das nötige Geld zur Bezahlung hatte.

Hat Stalin jemals wirklich im Ernst an eine Eroberung Westeuropas mit militärischen Mitteln gedacht? Wir werden es nie erfahren. Auch wenn sich eines Tages die russischen Archive für die Geschichtsforschung öffnen, werden wir keine Antwort finden. Diktatoren haben nicht die Gewohnheit, ihre wahren Gedanken zu Papier zu bringen.

Es muß um der Gerechtigkeit willen gesagt werden, daß die kommunistische Lehre nie eine Verbreitung des Kommunismus durch Waffengewalt vorgesehen hat. Aber Lehre und Absichten einmal dahingestellt. Wir sagen im Vaterunser: „Führe uns nicht in Versuchung." Das ist ein äußerst weiser Grundsatz. Nun, nach der überstürzten Demobilisierung der amerikanischen Truppen konnte die Versuchung sehr groß sein.

Es war — glaube ich — Ende 1947, als Marschall Montgomery gefragt wurde, ob er glaube, daß die Sowjets die Atombombe hätten. Seinem Stil treu bleibend antwortete der Marschall: „Ich weiß nicht, ob die Russen die Atombombe haben, aber ich weiß, daß sie keine Fahrräder haben; hätten sie Fahrräder, dann wären sie schon in Brest."

In Wirklichkeit war die militärische Lage noch Ende 1947 die folgende: Die Sowjetunion hatte in Ost-Deutschland 27 Divisionen in voller Kriegsausrüstung stehen, die, auf telefonische Order von Moskau, in Marsch gesetzt werden konnten. Diese Order war unvorhersehbar und unkontrollierbar. Diesen Divisionen standen auf westlicher Seite, wenn man die vielen nur auf dem Papier aufgeführten Divisionen nicht zählt, nur eineinhalb kampfbereite Divisionen gegenüber.

Kriege zwischen europäischen Staaten sind undenkbar geworden

Was aber mehr als alles andere die politischen und psychologischen Beziehungen zwischen den europäischen Mächten gewandelt hat, war die sich langsam anbahnende Einsicht, daß ein Krieg zwischen ihnen nicht mehr möglich war.

Die Europäer haben viele große Qualitäten; sie sind aber auch die kriegslüsternste Rasse auf Erden gewesen. Die europäische Geschichte ist nach dem Ende der Pax Romana nichts als die Geschichte des Krieges aller gegen alle. Folglich waren die Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern Europas stets von dem Gedanken an den Krieg beherrscht — eine Einstellung, die noch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren lebendig war.

Zwischen Italien und Frankreich wurde über den Grenzverlauf diskutiert — höchst unerfreuliche Verhandlungen, bei denen es um beherrschende Positionen und mögliche Stellungen für Kanonen und Maschinengewehre ging. Die Italiener konnten keine großen Ansprüche stellen. Der Friedensvertrag hatte ihnen zwar Zähne und Krallen genommen, aber ihre Einstellung war dieselbe geblieben: hartnäckig widersetzten sie sich damals dem Bau eines Tunnels durch den Montblanc, denn er hätte den französischen Panzern den Weg zum Aostatal geöffnet.

Aber die gemeinsame Not, die gemeinsame Gefahr und, wenn man will, auch eine richtige Bewertung der tatsächlichen Lage haben langsam die Regierenden und die Völker — und hier muß ich der Wahrheit zuliebe hinzufügen: die Völker viel früher als die Regierenden — davon überzeugt, daß der Krieg zwischen den europäischen Staaten nicht mehr möglich, ja nicht mehr denkbar war. Nachdem dieses Prinzip einmal anerkannt war, ergab sich sehr rasch daraus die Entwicklung der Beziehungen.

Dieser Stand der Dinge ist noch immer gültig. Die Hauptmächte des heutigen Europa sind weder groß noch klein genüg, um gegeneinander Krieg zu führen, auch wenn sie Lust dazu hätten.

All dies ist vielversprechend und ermutigend, obwohl man nicht vergessen sollte, daß diese neue psychologische Situation in den Beziehungen zwischen den europäischen Mächten noch sehr zerbrechlich ist. Wir haben ein Beispiel vor Augen: Zypern.

Ein Konflikt, im Grunde mehr gefühlsbedingt als greifbar — weder Griechenland noch die Türkei wären mächtiger oder reicher, wenn sie die ganze Insel oder Teile davon anektieren könnten —, hat es in kurzer Zeit fertig-gebracht, ein Werk der Versöhnung zu zerstören, an dem die beiden Regierungen nach den Weisungen der zwei großen Persönlichkeiten Kemal Atatürk und Venizelos gearbeitet hatten.

Unter diesem Vorbehalt können wir aber sagen, daß die internationale Verständigung in Europa Fortschritte erzielt hat, die man ohne Übertreibung als unerwartet bezeichnen darf.

Sind es dauerhafte Fortschritte? Auf dieses Argument werde ich zurückkommen. Leider ist Europa nicht mehr das Kommandozentrum, nicht mehr Schiedsrichter über die letzten Entscheidungen in der Außenpolitik, wie es das über drei Jahrhunderte hindurch gewesen war. In diesem Sinn hat Europa einen steilen Sturz erlebt.

Vor 50 Jahren, im Juli 1914, waren sechs europäische Staaten in die Krise verwickelt, die zum Ersten Weltkrieg führte. Doch keiner der politischen Führer dieser damals ausschlaggebenden sechs Mächte hat sich bemüht zu erfahren, wie sich möglicherweise die Vereinigten Staaten verhalten könnten. Man sprach über die mögliche Haltung Griechenlands oder Bulgariens, aber nicht über die der Vereinigten Staaten. Das heißt mit anderen Worten, vor 50 Jahren war es möglich, sich in einen Krieg zu stürzen, der das Antlitz der Welt verändern konnte — und er hat es getan —, ohne sich um die Haltung der Vereinigten Staaten zu kümmern.

Die Kuba-Krise gehört der unmittelbaren Vergangenheit an. Während dieser Krise durften die europäischen Mächte, ganz gleich ob es sich um England oder Luxemburg handelte, nichts anderes tun als den Atem anhalten. Die Entscheidung „Krieg oder Frieden" lag einzig und allein in den Händen Washingtons und Moskaus.

Hätte diese europäische Versöhnung vor 1914 stattgefunden, dann hätte sie der Welt eine lange Friedensperiode sichern können. Heute stellt sie nur die — wenigstens relative — Befriedung eines gewiß wichtigen, jedoch nicht entscheidenden Teiles der Welt dar.

Der Traum der russisch-amerikanischen Zusammenarbeit

Wenn wir uns nun von Europa zur übrigen Welt hinwenden, dann ist das Bild, das sich uns bietet, weit weniger positiv.

Auch der Zweite Weltkrieg sollte ein Krieg sein, der dem Krieg ein Ende setzte. Und auch während des Zweiten Weltkrieges gab es Menschen, viele Menschen, die daran glaubten. Ich habe nicht die Ehre gehabt, Roosevelt persönlich zu kennen. Ich erkühne mich daher nicht, Vermutungen über das, was er wirklich dachte, zu äußern. Man kann nur anerkennen, daß er eine Weltordnung vor sich sah, die auf der Zusammenarbeit zwischen Rußland und Amerika gründete, mit einem kleinen, mehr formalen als wesentlichen Beitrag Englands, Frankreichs und Chinas. Es war die Bestimmung der Vereinten Nationen, das ausführende Organ dieser Zusammenarbeit zu werden.

Hat Roosevelt im Ernst an die Möglichkeit dieser Zusammenarbeit geglaubt? Mit welchen Mitteln, auf welchen Wegen dachte er sie zu verwirklichen? Wir werden es nie erfahren. Es bleibt nur die Tatsache, daß die Beziehungen zwischen Rußland und Amerika, kaum daß die Waffen niedergelegt waren, sich rasch verschlechterten; statt der Versöhnung haben wir den „Kalten Krieg" gehabt.

Die Annahme, es könne zu einer russisch-amerikanischen Zusammenarbeit kommen, beruhte auf einem Mißverständnis. Auf der einen wie auf der anderen Seite sprach man von Demokratie und Freiheit; aber mit den gleichen Worten meinte man in Moskau und in Washington radikal verschiedene Dinge.

Gewiß, es gab zwischen beiden einen Kampf um die Macht; aber die grundlegende Meinungsverschiedenheit lag auf der ideologischen Ebene. Washington hatte keine Sympathien für den Kommunismus, doch war es bereit, ihn leben zu lassen und auch mit '. hm zu leben. Moskau hingegen war nicht bereit zuzugeben, daß auch der Kapitalismus das Recht habe, seine Tage in Ruhe zu verbringen. Es ist heute schwer zu sagen, ob durch eine andere Politik in Teheran und Jalta oder durch eine andere Führung der militärischen Operationen die Trennungslinie zwischen der demokratischen und der kommunistischen Welt in Europa anders hätte gezogen werden können. Vor allem ist der Streit darüber nutzlos. Was geschehen ist, ist geschehen. Die ameri-kanische Politik ist gewiß nicht frei von Fehlern gewesen; es wäre aber gut, auch heute nicht zu vergessen, daß wir es den Vereinigten Staaten und allein den Vereinigten Staaten verdanken, wenn wir heute, in einem freien und demokratischen Land und in eine freie und demokratische westliche Welt eingegliedert, miteinander reden können.

Nachdem der Traum von der Zusammenarbeit ausgeträumt war, hat sich die amerikanische Politik ein grundlegendes Ziel gesetzt: die Sowjets innerhalb der Grenzen zu halten, die sie bei Kriegsende erreicht hatten. Eine Politik, die sich ein wenig empirisch entwickelte.

Ihre erste Willenskundgebung war das offene Eingreifen Trumans zur Unterstützung Griechenlands, als dieses Land teils von inneren, teils von äußeren Erschütterungen bedroht war, und der Türkei, der eine greifbare, äußere Gefahr drohte. Der zweite Akt war der Marshall-Plan. Glücklicherweise ist das Erinnerungsvermögen der Menschen kurz. Wir haben den Zustand der Verzweiflung, in dem sich noch in den Jahren 1946 und 1947 die wichtigsten Staaten Europas befanden, ganz gleich ob sie Sieger oder Besiegte waren, so gut wie vergessen.

Amerika hat Europa gerettet

Die wirtschaftliche Unsicherheit des nächsten Tages, die Unmöglichkeit, auch nur die geringsten so notwendigen Hilfsquellen zu finden, nicht etwa um wiederaufbauen, sondern um weiter leben zu können, diese Unmöglichkeit lähmte den Willen und die Tatkraft. Der Marshall-Plan war wahrscheinlich die umfassendste Hilfe, die je ein Land anderen Ländern gegeben hat. Seine Wirkung ist durch den psychologischen Effekt noch verdoppelt worden. Die Völker Europas haben die Fähigkeit zu handeln wiedergefunden. Der Wiederaufbau Europas ist ein wahres Wunder gewesen und war die Voraussetzung für so viele weitere einzelne und kollektive Wunder.

Wäre Europa ohne diese amerikanische Hilfe kommunistisch Es mit geworden? ist schwer, einem klaren Ja oder Nein zu antworten. Wenn man aber davon ausgeht, daß die Verzweiflung in der Not der Nährboden für den Kommunismus ist, dann muß man zugeben, daß über den wirtschaftlichen Wiederaufbau hinaus auch die demokratische Festigung Westeuropas allein dem Marshall-Plan zu verdanken ist.

Aber auch diese wirtschaftliche und politische Stabilisierung wäre nur relativ geblieben, wäre nicht das Problem der militärischen Sicherheit gelöst worden. Auch das haben wir vergessen. Aber die Angst, eines Morgens aufzuwachen und in Paris oder Rom sowjetischen Panzern in den Straßen zu begegnen, war ein Alptraum, der auf ganz Westeuropa lastete. Der Atlantik-Pakt hat ihn vertrieben. Dieses Bündnis ist nie ein militärischer Pakt mit aggressivem Charakter gewesen. Der Zweck des Atlantik-Paktes ging nie weiter, als eine genügend große westliche Streitmacht zu schaffen, um einen unvorhergesehenen Angriff aus dem Osten so lange aufzufangen, bis den amerikanischen Streitkräften die nötige Zeit zum Aufmarsch gegeben war.

Bestand die Gefahr wirklich? Noch einmal muß gesagt werden, wir wissen es nicht und werden es nie wissen. Es steht aber außer Zweifel, daß das Gefühl des Vertrauens in den europäischen Ländern ohne den Atlantik-Pakt nicht das wäre, was es heute ist.

Ich habe eben von der amerikanischen Politik gesprochen, ohne Dulles'Theorie des „rolling back" auch nur zu erwähnen. Es war eine sehr verlockende Theorie, die aber in Wirklichkeit nur auf dem Papier existierte. Eigentlich mußte das „rolling back" Krieg bedeuten. Auf amerikanischer Seite hat niemand in wirklich verantwortlicher Stellung je ernstlich an einen Präventivkrieg gedacht.

Möglichkeiten und Grenzen der Koexistenz

Heutzutage ist der Kalte Krieg eine Erinnerung. Er ist durch die Koexistenz ersetzt worden. Die Koexistenz ist nicht ein bloßes Wort. Heute können wir sagen, daß sie eine Reali-tät ist; allerdings unter der Bedingung, daß man die Koexistenz in den Grenzen, in denen sie in meisterhafter Weise von Chruschtschow festgelegt worden war, versteht: als einen Kampf zwischen zwei sich widersprechenden Auffassungen über die Struktur der Gesellschaft, ein Kampf, der mit allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen, nur nicht mit militärischen Mitteln geführt wird.

Mit anderen Worten, Koexistenz bedeutet noch nicht, daß die kommunistische Welt der Auffassung ist, die kapitalistische Welt habe das Recht zu leben und zu überleben, in Frieden gelassen zu werden genau wie jede andere soziale Struktur. Ich nenne unsere westliche Welt weiter kapitalistisch und folge damit der marxistischen Phraseologie. Natürlich kann diese Bezeichnung der westlichen Welt heute nur unter Vorbehalt verwendet werden.

Im Anfang bedeutete Koexistenz nur, daß die östliche Seite die Aufgabe, den Kapitalismus zu begraben, diesem selbst und seinen eigenen inneren Grundsätzen überließ; daß sie sich darauf beschränkte, diesen Auflösungsprozeß mit mehr oder weniger diskreten Mitteln, ausgenommen mit militärischen, zu fördern.

Heute sind wir schon in einem fortgeschrittenen Stadium. Vielleicht wird der Historiker der Zukunft — ich gehe von der Annahme aus, daß es einen Historiker der Zukunft geben wird, und das heißt, daß ich begründete Hoffnung habe, daß die sich gegenüberstehenden zwei Welten es vorziehen, nicht in einem grandiosen atomaren Feuerwerk unterzugehen — die Kuba-Krise als eines der entscheidendsten Daten der Geschichte anführen.

Die Kuba-Krise hat eine Entwicklung zur Reife gebracht, die sich schon seit einiger Zeit anbahnte. Die zwei Großmächte, die wahrhaft einzigen Großmächte, Rußland und die Vereinigten Staaten, sind zu dem Schluß gekommen, daß es in Anbetracht der Zerstörungskapazität ihrer Atomwaffen, in Anbetracht des gleichwertigen Standes der atomaren Rüstung in beiden Lagern nicht mehr zulässig sei, den Krieg als ein anwendbares Mittel zur Lösung internationaler Probleme zu betrachten.

Das ist zumindest eine logische Schlußfolgerung. Wenn man anfängt, in Begriffen von 100 Millionen Toten auf beiden Seiten in den ersten Stunden des Konflikts zu sprechen — zu diesem Zweck wurde auch eine neue, erstaunliche Maßeinheit geprägt, der Megatod, der dem Tod von einer Million Menschen gleichkommt —, dann befinden wir uns nicht mehr auf dem Felde der Realität, sondern treten in eine apokalyptische Atmosphäre ein.

Revolution in den internationalen Beziehungen

Es ist hinzuzufügen, daß wir uns damit der größten Revolution in den internationalen Beziehungen gegenübergestellt sehen. Die Geschichte der Menschheit ist. uns seit etwa 7000 Jahren bekannt. Während dieser 7000 Jahre hat man immer vom Frieden gesprochen, aber man hat immer an den Krieg als Mittel, ich wage zu sagen ein normales Mittel, gedacht, um gewisse Fragen zu klären. Heute hingegen muß man den Krieg ausschließen. Das verlangt eine völlige Revision der ganzen Auffassung von der internationalen Politik. Bis heute haben nach meinem Eindruck weder Rußland noch Amerika die nötigen Folgerungen aus diesem neuen Stand der Dinge gezogen. Langsam fangen sie an es zu tun; aber sie sind erst am Anfang. Die europäischen Mächte sind noch beträchtlich hinter ihnen in dieser Anpassung des Denkens und politischen Handelns an die neuen Umstände zurück. Das ist unerfreulich, aber nicht schwerwiegend, da wir ja keine Entscheidungen mehr zu fällen haben.

Können wir also daraus den Schluß ziehen, daß der Krieg, zumindest der totale Krieg, zwischen den Großmächten nicht mehr in Frage kommt? Ich würde es nicht wagen, dies endgültig zu behaupten. Schließlich muß man der menschlichen Dummheit, die grenzenlos ist, einen gewissen Spielraum lassen. Schon vor zwei Jahrhunderten sagte Voltaire, die menschliche Dummheit sei das einzige, was uns eine blasse Idee des Unendlichen geben könne.

Was man aber wohl sagen kann, ohne Gefahr zu laufen, sich von der Wirklichkeit zu entfernen, ist, daß ohne die vorhandene Atomwaffe der dritte Weltkrieg schon vor einiger Zeit ausgebrochen wäre.

Ein noch unbeständiges Gleichgewicht

Die Beziehungen zwischen den europäischen Mächten begannen sich an dem Tag auf eine vernünftige Grundlage zu stellen, an dem sie zu der Erkenntnis kamen, daß sie keinen Krieg mehr gegeneinander fuhren konnten. Heute müssen sich auch die zwei Super-Großmächte mit dieser Erkenntnis abfinden. Vielleicht kann dies auf die Dauer auch zu einer grundlegenden Änderung in ihren Beziehungen führen.

Ich habe mich darauf beschränkt, das Wort „kann" zu gebrauchen; denn dieser Zustand der Koexistenz, der weder festliegt noch festzulegen ist, beruht ausschließlich auf dem Gleichgewicht der Macht oder dem Gleichgewicht der Zerstörung zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland. Es ist noch ein unbeständiges Gleichgewicht. Würde aus einer gewissen Nachlässigkeit auf der Seite des einen oder des anderen, oder als Folge einer immerhin möglichen wissenschaftlichen Entdeckung dieses Gleichgewicht gestört werden, dann würde sich die Kriegsgefahr von neuem in ihrem ganzen tragischen Ausmaß erheben.

Es ist unwahrscheinlich, daß die europäischen Mächte die Freiheit, Krieg zu führen, wiedergewinnen werden. Daß Rußland und Amerika sie wiedererlangen, kann man bei dem heutigen Stand der Dinge nicht ausschließen. Es ist also nicht die Vernunft, die zu einer Änderung der Beziehungen zwischen den zwei Großmächten und folglich zwischen den zwei Gruppen, die sich mehr oder weniger um sie geschart haben, geführt hat. Nur die innere Dialektik der Entwicklung dieser neuen Waffe, die sozusagen aus eigener Kraft ihre Weiterentwicklung verfolgt, hat die einen wie die anderen unversehens vor eine neue Realität gestellt.

Vielleicht wird mit der Zeit diese neue Wirklichkeit eine auch psychologische Rückwirkung auf die Beziehungen zwischen Ost und West haben. Wir müssen es wünschen und wir müssen dafür arbeiten. Vergessen wir aber nicht, daß sie noch nicht eingetreten ist.

Mein begrenzter Optimismus hinsichtlich der Zukunft der Beziehungen zwischen Rußland und Amerika ist auch durch Wechsel in der sowjetischen Führung nicht beeinträchtigt worden. Es ist zu früh, irgendein Urteil zu wagen. Halten wir uns nur gegenwärtig, daß in der sowjetischen Führungsspitze ein Kampf von Persönlichkeiten um die Macht im Gange ist. Alle sind abwechselnd hart und weich gewesen, je nachdem wie es dem Ziel dieses Kampfes diente.

Chruschtschow verkörperte für uns die Entspannung. Vergessen wir jedoch nicht, daß seine Politik zu Anfang aggressiver, gefährlicher und rücksichtsloser war als die Politik Stalins. Chruschtschow war der Mann des gewaltsamen Einbruchs Rußlands in den Mittleren Osten, des Berliner Ultimatums im Jahr 1958, des Schuhs im Palast der Vereinten Nationen. Er änderte sich nach Kuba, als er — am Rand des Abgrundes — der Wirklichkeit ins Auge sah und sie hinnehmen mußte. Die Wirklichkeit bleibt bestehen. Auch seine heutigen Nachfolger und die späteren werden sie hinnehmen müssen, weil man ihr nicht entgehen kann. Wenn eine Gefahr für die Zukunft der Entspannung besteht, liegt sie nicht im möglichen Wechsel der Männer in Moskau oder in Washington, sondern besteht nur darin, daß sich das nukleare Gleichgewicht verschiebt.

Es gibt noch andere Gründe für einen gewissen Optimismus. Der russisch-chinesische Konflikt bindet den Sowjets in gewissem Maße die Hände und wird das auch in der Zukunft tun. Er kann — ich betone kann und nicht wird — ein gewisses Maß von Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Rußland und Amerika schaffen.

Möglichkeiten von morgen Meiner Meinung nach ist die Begrenzung des ideologischen Konfliktes, die sich nun langsam Bahn bricht, wichtiger. Im Westen glauben wohl nur wenige noch an einem überraschenden Zusammenbruch des kommunistischen Systems. Hingegen spricht vieles für eine langsame Entwicklung, die sogar zu radi-kalen Veränderungen führen könnte. Aber das ist eine Frage von Jahrzehnten, nicht von Jahren oder Monaten. Überdies beginnen Zweifel sich durchzusetzen, ob die Möglichkeit des Einschleichens ins gegnerische Lager noch besteht. Trotz aller Lehren der marxistischen Dialektik weigert sich der Kapitalismus hartnäckig zu sterben. Im Gegenteil, es geht ihm ausgezeichnet und es geht ihm mit jedem neuen Tag besser. Es ist ihm gelungen, sich zu wandeln, sich den Anforderungen unserer Zeit anzupassen, was Marx und Lenin und ihre Nachfolger für strukturell unmöglich hielten.

Hat Karl sich Marx geirrt? An dem Tag, an dem zugeben daß man wird, der Kapitalismus fähig ist, zu an diesem werden überleben, Tag die Grundlagen der kommunistischen Heilslehre ins Wanken geraten. Eine echte Koexistenz wird man nur erreichen können, wenn der Geist gegenseitiger Toleranz die Ober-hand gewinnt. Die Toleranz aber ist die Tochter der Skepsis, denn wer glaubt, daß er die absolute Wahrheit besitzt, kann nicht tolerant sein.

Wir sollten uns aber davor hüten, etwas für eine Tatsache zu halten, was nur eine Möglichkeit von morgen sein kann und was gewiß viele unter uns nicht erleben werden. Aber diese Möglichkeit besteht heute und sie bestand gestern noch nicht.

Heutzutage hat dieses Gleichgewicht der Zerstörungskräfte nur einen Parallelismus der Interessen zwischen Amerika und Rußland hervorgerufen. Da sie beide heute davon überzeugt sind, daß der Atomkrieg kein Mittel zur Lösung internationaler Probleme ist, sind sie beide daran interessiert, daß die bestehenden Konflikte gewisse Grenzen nicht überschreiten.

Ihr Handeln kann nicht auf der gleichen Linie verlaufen. Ein schweres Erbe der Vergangenheit lastet auf ihren Schultern, vielleicht mehr auf den Schultern der Sowjets als auf denen der Amerikaner. Das beschränkt ihre Bewegungsfreiheit. Wir sind mitten in einer schwierigen Anpassung an eine völlig neue Lage. Es handelt sich aber nicht nur um einen Parallelismus der Interessen. Es ist völlig unangebracht, wie man es von Zeit zu Zeit tut, das Gespenst einer Einigung zwischen Russen und Amerikanern — zum Nachteil dieser oder jener — heraufzubeschwören. Hier handelt es sich um etwas ganz anderes. Es ist das neue Gefühl, zum Frieden gezwungen zu sein, sei es auch ein Friede, der eben nur nicht Krieg ist, das den ganzen Rahmen der internationalen Politik verändert hat und weiter verändern wird. Auch das ist eine Tatsache; aber eine Tatsache, die heute die einzige uns bleibende Hoffnung ist, daß wir weiter in Frieden leben können.

Dieser Rahmen wird sich gewiß noch ändern. China steht an der Schwelle zur Atommacht. Es wird viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis China eine Atommacht, wenn auch nur eine zweitrangige, wird; aber eines Tages wird es so weit sein. Man fängt auch schon an, von der Möglichkeit einer atomaren Rüstung Indiens zu sprechen. Ich wiederhole, das alles ist nicht für morgen zu erwarten. Aber es sind Möglichkeiten, die die heutige Lage empfindlich, ja radikal ändern können und die wir uns vergegenwärtigen müssen.

Weltweiter Klassenkampf zwischen Reichen und Armen

Wenn wir nun von dieser Art der Koexistenz zwischen den Vereinigten Staaten und Ruß-land Kenntnis genommen haben, so heißt das nicht, daß wir damit die Weite der möglichen Konflikte und die Ausdehnung der vorhandenen Spannungen erschöpft haben.

Immer klarer zeichnet sich ein gravierender Unterschied ab zwischen den Ländern, die wir „entwickelt" nennen, und denen, die wir „Entwicklungsländer" nennen. Das sind zwei etwas komplizierte Begriffe, die man besser vereinfachen sollte, indem man von einem Konflikt zwischen Reichen und Armen sprechen würde, der durch die Konfrontation der Rassen noch komplizierter wird. Die weiße Rasse umfaßt kaum mehr als ein Zehntel der Menschheit, verfügt aber über mehr als 80 v. H.der Reichtümer der Erde. Den restlichen 90 v. H.der gesamten Bevölkerung der Erde bleibt nichts anderes übrig, als die mageren 20 v. H. unter sich zu verteilen. Und wenn man heute einen Vergleich der Investitionen zieht, die in der reichen und in der armen Welt getätigt werden, dann müssen wir leider zu der Schlußfolgerung gelangen, daß der Unterschied nicht dazu neigt, sich zu verringern, sondern eher sich zu vergrößern.

Ich wollte den Ausdruck „weiße Rasse" unterstreichen. Wenn auch nicht alle Länder der weißen Rasse den gleichen Grad der Entwicklung erreicht haben, wenn auf diesem Sektor der weißen Rasse gewisse beschränkte Zonen von Unterentwicklung zu finden sind, ist es aber genau so richtig, daß kein Land mit far-biger Bevölkerung — mit Ausnahme Japans — dem Bereich der entwickelten oder reichen Länder zugerechnet werden kann.

Die große wirtschaftliche und industrielle Entwicklung der Sowjetunion hat in den letzten Jahrzehnten diese Verteilung der Reichtümer nach der Hautfarbe noch weiter unterstrichen und das Gleichgewicht des Reichtums noch weiter verschoben. Die Sowjetunion ist nunmehr seit geraumer Zeit aus dem Zustand eines Entwicklungslandes herausgetreten und schickt sich die an, in Kategorie der reichen Länder einzutreten, wenn es nicht schon dahin gelangt ist. Auch die Sowjetunion ist überwiegend ein Land der Weißen.

Vor kurzem hat der britische Premierminister versucht, diese Unterschiedlichkeit im Reichtum unter geographischem Aspekt zu betrachten. Er wollte vom entwickelten und reichen Norden und vom unterentwickelten Süden sprechen. Wie dem auch sei, dieser Mangel an Gleichgewicht ist eine sehr ernste Ursache der internationalen Spannungen.

Der Konflikt zwischen der Sowjetunion und China, ein Konflikt, der ideologische Elemente, Machtelemente, historische und philosophische Traditionen einschließt, ist ebenfalls in einem gewissen Sinne ein Reflex dieser Ungleichheit zwischen Weißen und Farbigen. Die Sowjetunion und China behaupten beide, kommunistische Länder zu sein; aber während China behauptet, daß sein Typ von Kommunismus für die armen und farbigen Länder am geeignetsten ist, beschuldigt es den russischen Kommunismus, sich in eine Art Kommunismus zu wandeln, der ausschließlich dem Gebrauch und dem Vorteil der reichen Länder dient.

Es ist ein Konflikt, den man nicht überbewerten sollte. Ich sehe weder für uns noch für unsere Kinder und auch nicht für unsere Enkel die wirkliche Gefahr einer Landung verhungerter Massen der gelben oder schwarzen oder braunen Rasse an den Küsten der westlichen Welt, um uns ihre Herrschaft aufzuzwingen. Das ist eine Ausgeburt der Phantasie. Aber abgesehen davon bleibt der Konflikt zweifelsohne ein bedrohliches Element, und man kann eher eine Verschärfung als einen Ausgleich voraussehen. Während als Folge der Verängerung innerhalb der westlichen Welt der Klassenkampf sich zusehends abschwächt, entwickelt sich vor unseren Augen ein neuer Klassenkampf von weltweitem Ausmaß zwischen weißer, reicher Rasse und farbiger, armer Rasse.

In der ganzen westlichen Welt wird viel von der Notwendigkeit der Entwicklungshilfe gesprochen. Aber man spricht davon, wie man von der Notwendigkeit spricht, brav und tugendhaft zu sein. Woran es mangelt, sind klare Vorstellungen, wie das als notwendig Erkannte in die Tat umgesetzt werden soll und vor allem über das Ausmaß der Mittel, die zur Lösung dieses Problems erforderlich wären. Leider sind die Beziehungen zwischen den armen und reichen Ländern nicht auf dem Weg der Besserung. Wo diese Beziehungen gut oder zumindest annehmbar sind, verdanken wir es Regierungen, die durchaus nicht innerlich gefestigt sind. Es sind Regierungen, die schwach sind, weil sie pro-westlich sind, und pro-westlich, weil sie schwach sind. Wir haben allen Grund zu befürchten, daß sie eines Tages, früher oder später, durch Regierungen ersetzt werden, die uns viel weniger wohl gesonnen sind. Ziehen wir einen Vergleich zwischen dem Zustand der unterentwickelten Welt heute und vor zehn Jahren: wieviele Freunde, uns wohlgesinnte Regierungen sind für eine vernünftige Koexistenz mit uns gewonnen worden?

Nutzen der Vereinten Nationen

Was haben wir diesem Zustand der Spannung, des Streites, der mangelnden Versöhnung entgegenstellen? Die Vereinten Nationen? Die Vereinten Nationen sind eine Institution, deren praktischer Nutzen nicht hoch genug eingeschätzt wird. Aber vielleicht handelt es sich um eine etwas andere Nützlichkeit als die, welche man ihr gewöhnlich zuspricht.

In dieser äußerst unstabilen Lage der soge-nannten Koexistenz, mit mehr oder weniger latenten Konfliktsherden an allen vier Enden der Erde, führen Konflikte, gleichgültig wie bedeutend sie sind und wie sie entstanden sein mögen, letztlich unvermeidlich dazu, daß die zwei Weltmächte hineingezogen werden und daß ihr Prestige berührt wird.

Wenn das Prestige zweier Völker auf dem Spiel steht, wenn Nachgeben das Gesicht verlieren heißt, dann ist die Lage äußerst ernst. Die Vereinten Nationen sind wahrscheinlich die einzige Institution, die einen Ausweg aus dieser Sackgasse bietet. Wenn einmal ein Problem vor die Vereinten Nationen gebracht worden ist, vor den Sicherheitsrat oder vor die Vollversammlung oder vor eine ad hocKommission, dann gelingt es mit Sicherheit und in aller Kürze, eine derartige Verwirrung hervorzurufen, daß niemand mehr imstande ist zu verstehen, wer recht hat und wer unrecht oder wer wem nachgibt — mit einem Wort, die Situation ist ideal, um jeder Prestigefrage auszuweichen.

Für so schwere Probleme wie die Blockade von Berlin oder der Korea-Krieg waren die Vereinten Nationen das ideale Terrain zur Vermeidung des endgültigen Bruches. Sie können ein guter Blitzableiter sein, aber viel mehr als dies kann man nicht von ihnen verlangen.

Zur Bewahrung des Friedens, wenn es auch nur ein unsicherer Frieden ohne Krieg ist, hat die Koexistenz entschieden einen positiven Beitrag geleistet und leistet ihn noch. Aber auch die Koexistenz hat Probleme und schafft neue Probleme. Was die hier zur Debatte stehenden Fragen betrifft, dürfen wir uns nicht damit begnügen, daß sie die brutale Konfrontation der zwei Blöcke beruhigt, aber damit eine beweglichere Lage geschaffen hat, die die Gefahr in sich birgt, manches wieder zweifelhaft erscheinen zu lassen, was schon als gewonnen betrachtet worden ist.

Die amerikanische Führungsrolle ist ein Faktum

Die Atlantische Gemeinschaft unterscheidet sich von früheren Bündnissen dadurch, daß sie ein neues und wichtiges Element in sich trägt: die Integration. Ich möchte aber hinzufügen, daß ein anderes wesentliches Element der Atlantischen Gemeinschaft die Bereitschaft zur Annahme der amerikanischen Führungsrolle ist. Die amerikanische Führungsrolle ist nicht durch eine Wahl oder einen Zwang zustande gekommen, sie ist einfach eine Tatsache. Die Vereinigten Staaten geben für ihre Rüstungen jährlich 240 Milliarden DM aus; das europäische Land mit den höchsten Rüstungsausgaben, Großbritannien, bringt es auf 22 Milliarden DM. Alle europäischen Staaten, die Mitglieder der Atlantischen Gemeinschaft sind, bringen zusammen nicht ein Viertel der Ausgaben der Vereinigten Staaten auf, und das Europa der Sechs nicht einmal ein Sechstel. Es sind diese Tatsachen und nicht der politische Wille oder das politische Handeln auf der einen oder anderen Seite des Atlantik, die die amerikanische Führungsrolle bedingen.

Solange die sowjetische militärische Gefahr wie eine unmittelbare Drohung auf unseren Schultern lastete, solange der Kalte Krieg eine schwer zu leugnende Realität war oder schien, hat niemand ernstlich die Integration oder die amerikanische Führung in Frage gestellt. In dem Augenblick, in dem die Gefahr nicht mehr so unmittelbar drohend erschien, hat sich der innere Zusammenhalt der Atlantischen Gemeinschaft gelockert; amerikanische Führungsrolle und Integration sind zur Diskussion gestellt. Die Argumente dafür oder dagegen mögen richtig oder falsch sein, politische Realität bleibt jedoch, daß es ohne amerikanische Führung und ohne Integration keine Atlantische Gemeinschaft gibt.

Ein geeintes Europa beruht auf der Gleichberechtigung aller

Vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus betrachtet schreitet der Gemeinsame Markt ziemlich gut vorwärts und es spricht ernsthaft nichts dafür, daß er sich nicht weiter entwikkeln wird. Man kann hier nicht von einem irreversiblen Prozeß sprechen. Die Geschichte lehrt, daß nichts irreversibel ist. Der Gemeinsame Markt ist aber konkrete Wirklichkeit. Dies gilt insoweit, als der Gemeinsame Markt als Zollunion verstanden wird. Nun ist die Zollunion gewiß wichtig. Sie kann der Ausgangspunkt für vieles andere sein. Aber die Zollunion löst keine politischen Probleme und Konflikte. Als man für Europa den Weg des Gemeinsamen Marktes wählte, dachte man an den „Deutschen Zollverein". Der „Zollverein" ist gewiß ein Ausgangspunkt für den Zusammenschluß Deutschlands gewesen. Man sollte dabei aber nicht vergessen, daß 1866 deutsche Staaten, die alle Mitglieder des „Zollvereins" waren, bedenkenlos Krieg gegeneinander führten. Wenn man aber an eine echte und vollständige wirtschaftliche Integration denkt, dann erscheint der Weg allerdings länger und mühsamer; es ist möglich, daß wir das Ziel erreichen, aber es ist auch möglich, daß man über gewisse Grenzen nicht hinwegkommt.

Was nun die Frage der politischen Einigung betrifft, so sind wir noch sehr weit entfernt vom Ziel. Ein geeintes Europa hat zur Voraussetzung, daß nicht eines oder zwei seiner Mitglieder nach der Vorherrschaft streben. Ebenso hat es ein gehöriges Quantum gegenseitigen guten Willens und gegenseitiger Bereitschaft zu Konzessionen und Kompromissen zur Voraussetzung. Besteht dieser Wille tatsächlich? Die Frage der Fusion der europäischen Exekutiven ist eine Lappalie, deren Wert mehr psychologisch als substantiell ist. Wie dem auch sei, da die Psychologie ihre Wichtigkeit hat, ist es doch ein Schritt vorwärts auf dem guten Weg. Nun kommt man aber auf dem Weg der Fusion der Exekutiven nicht recht voran, weil ein Land es ablehnt, auf die wirtschaftlichen Vorteile zu verzichten, die es als Sitz der drei Gemeinschaften genießt, und ein anderes Land es ablehnt, Sitz des Europäischen Parlamentes zu sein. Alles sehr verständliche Reaktionen; aber was bedeuten sie weiter, als daß wir von einem wirklich europäischen Geist noch weit entfernt sind. Dies ist ein Beispiel, das harmlos ist; es gibt allerdings viele andere, die weit schwerwiegender sind.

Aber das ist nicht alles. Der Gemeinsame Markt ist nicht ganz Europa. Er umfaßt nur einen Teil Westeuropas. Es sollen hier nicht die Gründe analysiert werden, warum sich der Gemeinsame Markt auf sechs Länder beschränkt; Tatsache ist, daß er nur sechs Länder umfaßt.

Ich fürchte, die Sechs machen den Fehler, die EFTA zu unterschätzen. Die EFTA hat sich Ziele gesteckt, die weit weniger ehrgeizig sind als die des Gemeinsamen Marktes. Es könnte jedoch sein, daß eben diese relative Bescheidenheit der Ziele ihre Erfüllung erleichtert. Jedenfalls ist auch die EFTA auf dem Weg, eine Realität zu werden. Wenn der Gemeinsame Markt nur eine echte Zollunion wird und die EFTA nur eine Freihandelszone, dann haben wir quer durch Europa eine wirtschaftliche Trennungslinie gezogen, die sich unvermeidlich zu einer politischen Trennungslinie ausweiten wird.

Vor einiger Zeit sagte mir ein englischer Minister, daß vielleicht eines Tages ein Besuch des Generalsekretärs der EFTA bei der Kommission des Gemeinsamen Marktes ein historisches Ereignis genannt werden wird, ebenso wie der Besuch des Erzbischofs von Canterbury beim Papst als ein historisches Ereignis galt. Diese Behauptung ist zweifellos paradox, aber sie enthält, wie alle Paradoxien, ein Körnchen Wahrheit.

Überwindung des Nationalismus

Die europäische und die atlantische Politik mit allen ihren Folgen gehen von einer einzigen Voraussetzung aus: die Überwindung des Nationalismus, an dem das Europa von 1914 zugrunde ging. Wenn man diesen Nationalismus überwindet, dann ist jeder Entwicklung in Europa die Tür geöffnet: Versöhnung, Integration, wirtschaftliche Einigung, politische Einigung. Wenn es aber nicht gelingt, ihn zu überwinden, wenn er im Gegenteil einen neuen Impuls erhält, aus welchen Gründen auch immer, dann wird das ganze Werk der Versöhnung, dann werden die bisher auf allen Gebieten erreichten Erfolge in Frage gestellt. Die zerstörende Wirkung des Neo-Nationalismus wird nicht durch verschwommene Floskeln eingedämmt werden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das Werk der internationalen Verständigung, an der so viele hervorragende Persönlichkeiten in den letzten Jahren leidenschaftlich gearbeitet haben, greifbare und vielversprechende Erfolge in Europa erzielt hat. Das gilt auch, wenn das, was in Europa getan wurde, noch ein sehr zartes Pflänzchen ist, das noch außerordentlich sorgfältiger Pflege und viel Zartgefühls bedarf, damit es leben und sich entwickeln kann.

Für die übrige Welt ist das nicht vielversprechend, und die Aussichten für die Zukunft sind nicht die rosigsten. Leider scheint die außer-europäische Welt nur eines gründlich von uns gelernt zu haben: den Nationalismus; und zwar den Nationalismus in seiner verderblichsten Form, der Europa Millionen über Millionen Toter gekostet und politisch zu einem tiefen Sturz geführt hat. Das alles klingt nicht sehr optimistisch. Aber ich fürchte, es ist die Wahrheit, und wir alle haben es nötig, der Wirklichkeit ins Auge zu blicken. Außenpolitik stützt sich auf Tatsachen. Es gibt keine gute Außenpolitik außerhalb der Realität. Man muß die Realität nur erkennen und akzeptieren, auch wenn sie unseren Wünschen und Hoffnungen nicht entspricht.

Wir müssen für die internationale Verständigung arbeiten und dürfen dafür keine Mühe scheuen, weil nur so der Frieden gesichert werden kann. Kommt sie nicht zustande, so bedeutet das Krieg.

Diese Aufgabe ist sehr schwierig. Es ist der Versuch, in den internationalen Beziehungen die Vernunft, den gesunden Menschenverstand über das Irrationale die Oberhand gewinnen zu lassen. Wenn wir die Geschichte der Menschheit betrachten, sehen wir leider, daß die Fälle, in denen die Vernunft gesiegt hat, sehr selten sind. Das Irrationale hat sich oft als stärker und anziehender erwiesen als die Vernunft. Die Geschichte der Menschheit ist viel mehr die Geschichte der menschlichen Torheit als die Geschichte der menschlichen Weisheit.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Pietro Quaroni, Dr. jur., geb. 3. Oktober 1898 in Rom. Von 1920 bis 1964 im italienischen diplomatischen Dienst, u. a. in Istanbul, Moskau und Kabul, 1943 Botschafter in Moskau, 1947 in Paris, 1958 in Bonn, 1961 in London. Seit August 1964 Präsident des Italienischen Rundfunks und Fernsehens. Veröffentlichungen u. a.: Diplomaten unter sich. Erinnerungen eines Botschafters, Frankfurt 1954; Diplomatengepäck, Frankfurt 1956; Die Stunde Europas, Frankfurt 1959; Politische Probleme der Gegenwart, Bonn 1960.