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Zur Neuverteilung politischer Macht in der heutigen Welt | APuZ 22/1965 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 22/1965 Imprssum Zur Neuverteilung politischer Macht in der heutigen Welt Kulturelle Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums in der zweiten Jahrhunderthälfte Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Verständigung

Zur Neuverteilung politischer Macht in der heutigen Welt

Georg Schwarzenberger

Die Funkuniversität von RIAS Berlin bringt zur Zeit eine aus 25 Vorträgen bestehende Sendereihe unter dem Titel „Sozialer Wandel und Machtkonkurrenz in vorindustriellen Gesellschaften", die exakte Informationen über soziale und kulturelle, ökonomische und politische Gegebenheiten und Probleme jener sehr differenzierten Welt, die man gewöhnlich summarisch als Entwicklungsländer bezeichnet, vermitteln will. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der Funkuniversität drucken wir zwei der einführenden Vorträge ab, und zwar die von Professor Schwarzenberger und Professor Friedensburg über die grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg. In einer der nächsten Ausgaben folgen einige Beiträge zur Situation in Lateinamerika. — Den dritten Artikel dieser Ausgabe stellte Botschafter Quaroni zur Verfügung.

Das Problem der Verteilung — und Neuverteilung — politischer Macht in der heutigen Welt kann in vier Stichworte zusammengefaßt werden: Konzentration, Atomisierung, Neutralisierung und Sublimierung der Macht in der Weltgesellschaft unserer Zeit.

Zunächst aber ist es nötig, drei wichtige und für das Problem zentrale Begriffe zu klären: Macht, Weltgesellschaft und Machtpolitik. 1. Macht Macht steht in der Mitte zwischen Einfluß und Gewalt. Jede dieser Verhaltensweisen ist typisch für einen bestimmten sozialen Zusammenhang. Macht unterscheidet sich von Einfluß dadurch, daß hinter ihr die Drohung mit äußerem Druck steht. Im Gegensatz zur Gewalt versucht Macht ihre Ziele vorzugsweise ohne Anwendung physischer Zwangsmaßnahmen durchzusetzen. Macht kann daher definiert werden als die Fähigkeit, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen, wobei man sich auf wirksame Sanktionen verläßt, sollte die andere Seite sich unnachgiebig zeigen. Es hängt ganz von den Umständen ab, welche der drei Formen der Macht — ihre politische, wirtschaftliche oder militärische Seite — in einer Machtprobe eingesetzt werden. 2. Weltgesellschaft Weltpolitik wird in einer internationalen Gesellschaft getrieben, d. h. in einem sozialen Zusammenhang, innerhalb dem die Mitglieder dazu tendieren, ihre Eigeninteressen für wichtiger zu halten als die der Gesamtheit. Mehr als innerhalb eines Gemeinwesens bestimmen nicht rechtliche oder moralische Erwägungen, sondern bestimmt Macht das Verhalten der Mitglieder der internationalen Gesellschaft, vor allem der souveränen Staaten, Kleinstaaten, mittleren Mächte und Weltmächte, die im Vergleich zu Institutionen wie Kirchen oder ideologischen, humanistischen und anderen internationalen Verbänden die stärksten Mitglieder der Weltgesellschaft sind. Hinsichtlich aller Beziehungen zwischen den Weltmächten sind die internationalen Teil-gesellschaften früherer Perioden zu einer einheitlichen Weltgesellschaft zusammengewachsen. 3. Machtpolitik Dieser Begriff kennzeichnet ein System zwischenstaatlicher Beziehungen, für das bestimmte Verhaltensweisen typisch sind: Rüstung, Anwendung diplomatischer und wirtschaftlicher Druckmittel, regional begrenzter oder universeller Imperialismus, Bündnissysteme, Gleichgewichtssysteme, Neutralismus und Krieg. In einem solchen System der Macht-politik ist die Bedeutung von Recht und Moral begrenzt. Innerhalb der internationalen Rang-Ordnung hängt der Platz einer Gruppe von ihrem Gewicht im Falle eines möglichen oder tatsächlichen Konflikts ab.

Verschleierte Machtpolitik bedeutet die Fortsetzung der Machtpolitik mit anderen Mitteln. Ideologien und Organe internationaler und übernationaler Institutionen werden zur Sicherung und zum Ausbau von Sonderinteressen, wie z. B.der Hegemonialstellung der Weltmächte, benutzt. Diese Variante der Macht-politik findet man vor allem in internationalen Gesellschaften, die in Staatenbünden wie dem Völkerbund und den Vereinigten Nationen organisiert sind.

Auf der Basis dieser Begriffsbestimmungen wird es einfacher sein, das komplizierte Problem der Machtverteilung — und Neuverteilung — in der Weltgesellschaft der Gegenwart zu behandeln. Kommen wir zurück auf die vier eingangs erwähnten Stichworte: die Konzentration, Atomisierung, Neutralisierung und Sublimierung der Macht.

I. Die Konzentration der Macht

Abbildung 1

Trotz der Zunahme der Gesamtzahl souveräner Staaten auf die Rekordsumme von über einhundertzwanzig tendiert die Weltgesellschaft zu fortschreitender Konzentration der Macht in den Händen einer abnehmenden Anzahl von Weltmächten.

Im neunzehnten Jahrhundert bestimmten fünf europäische Mächte — Großbritannien, Frankreich, Preußen (später Deutschland), Osterreich-Ungarn und Rußland — die Geschicke Europas und seiner kolonialen Hinterländer und Uberseegebiete. Am Ende des Ersten Weltkrieges waren drei dieser europäischen Großmächte aus dem Rennen ausgeschieden. Die europäische Pentarchie wurde durch vier Weltmächte, darunter zum erstenmal eine nicht-weiße Macht, ersetzt: die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich und Japan. Am Ende des Zweiten Weltkrieges blieben nur noch drei Weltmächte übrig: die Vereinigten Staaten von Amerika, die Sowjetunion und Großbritannien — oder besser: das britische Commonwealth of Nations. Gegenwärtig befinden sich wohl nur noch die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion in dieser Kategorie.

Was ist, verglichen mit Kleinstaaten oder Mittelmächten, das besondere Merkmal einer Groß-oder Weltmacht?

Man neigt dazu, den Status einer solchen Macht mit Hilfe eines einzigen Kennzeichens zu bestimmen. Unterscheidungsmerkmale wie Gebietsumfang, Bevölkerungszahl, der innere Zusammenhalt eines Staates oder die Größe seines Wirtschaftspotentials sind in manchen Fällen zutreffend. Dabei drängen sich jedoch ständig Gegenbeispiele auf, nach denen ein Staat, obgleich das eine oder andere wesentliche Merkmal vorliegt, dennoch keine Großmacht ist.

Letztlich ist das entscheidende Kriterium einer Großmacht deren militärische Stärke im weitesten Sinne — einschließlich der See-und Luft-streitkräfte sowie der Fernlenkwaffen. In Verbindung mit diesem Faktor gewinnen alle anderen Merkmale, einschließlich Ideologien und wissenschaftlicher Errungenschaften, neue Bedeutung. Sie sind alle für die Bemessung des Kriegspotentials eines Staates wichtig. Aber selbst von diesem Kriegspotential hängt es nicht allein ab, ob ein Staat eine Weltmacht ist. Es muß außerdem glaubwürdig sein, daß ein solcher Staat in bestimmten Situationen von seinem Kriegspotential wirklich Gebrauch macht.

Als Mussolini seinen Krieg mit Äthiopien vom Zaune brach, glaubte er so wenig wie Hitler bei seinem Einmarsch in Österreich und in die Tschechoslowakei daran, daß Großbritannien und Frankreich zu mehr bereit wären als zu Protesten und — im Falle Äthiopiens — zur Anwendung von Wirtschaftssanktionen auf dem Wege über den Völkerbund. Als im Jahre 1948 die Westmächte die Luftbrücke nach Berlin organisierten, war sich Stalin darüber klar, daß ein Angriff auf die anglo-amerikanischen Luftflotten den dritten Weltkrieg bedeuten würde. Als 1956 die Interventionsmächte in Ägypten sich gleichzeitig der Mißbilligung der Vereinigten Staaten und den Drohungen der Sowjetunion ausgesetzt sahen, die vielleicht ernst gemeint waren, hielten sie es für ratsam, es nicht auf die Probe ankommen zu lassen, sondern ihre Expedition schleunigst abzubrechen. Als im Jahre 1962 die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion erkannten, daß die Kuba-Situation einen Punkt erreichen könnte, an dem die andere Seite eher nuklearen Selbstmord begehen als weiter nachgeben würde, zogen sich die beiden Welt-machte noch gerade rechtzeitig vom Welt-abgrund zurück.

Jede dieser Krisen erklärt, warum Großbritannien allein nicht mehr und das Britische Commonwealth nur noch bedingt eine Weltmacht darstellen.

Bei dem gegenwärtigen Stand eines Wettrüstens von kosmischem Ausmaß gelten als Weltmächte nur noch Staaten, welche die folgenden Bedingungen erfüllen: sie müssen über das Potential eines nuklearen Krieges verfügen und die Kraft haben, nicht nur einen nuklearen Angriff zu überstehen — wie groß auch immer die Opfer sein mögen —, sondern nachher ihrerseits zu einem nuklearen Gegen-schlag von mindestens derselben Stärke ausholen zu können.

Großbritannien verfügt z. Zt. noch über Luft-Streitkräfte und Raketen für einen nuklearen Gegenschlag. Ob es in absehbarer Zeit noch dazu in der Lage sein wird, ist zweifelhaft. Obwohl Großbritannien selbst nicht mehr imstande sein würde, einen nuklearen Angriff zu überstehen, sind andere Teile des britischen Commonwealth in der westlichen Hemisphäre und dem pazifischen Raum hierzu in der Lage.

Unter diesen Umständen ist die Weltorganisation des britischen Commonwealth immer noch eine nukleare Weltmacht.

Verglichen mit dem Kriegspotential der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion ist das des britischen Commonwealth so gering, daß es trotzdem wohl berechtigt ist auf dieser letztlich militärisch-strategischen Ebene von einer Reduktion der Mächte auf zwei Übermächte zu sprechen.

Unter diesem Gesichtspunkt bedeuten die Atomversuche Chinas und Frankreichs nur wenig, solange diese Mächte nicht über die Mittel verfügen, ihre nuklearen Waffen wirksam an entscheidende Feindziele bringen zu können. Die Versuche dieser mittleren Mächte, sich von ihren Hegemonialmächten zu emanzipieren, sind jedoch von politischer Bedeutung. Dies wird später in einem anderen Zusammenhang behandelt werden. In Grenzfällen, wie 1962 in der Kubakrise, wurde es jedoch klar, daß China und Frankreich so unwichtig waren wie alle anderen mittleren Mächte und Kleinstaaten. Die Entscheidung über Krieg und Frieden hing an zwei Männern: Kennedy und Chruschtschow.

II. Die Atomisierung der Macht

Um die Bedeutung der Zunahme der Zahl souveräner Staaten seit 1945 auf über 120 für die Verteilung der Macht in der gegenwärtigen Weltgesellschaft zu erfassen, lohnt es sich, politische Landkarten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vor den napoleonischen Flurbereinigungen oder von Italien vor 1860 anzusehen. Ebenso lehrreich ist die Geschichte Lateinamerikas seit dem Zerfall der spanischen und portugiesischen Kolonial-reiche auf dem amerikanischen Kontinent oder die Entwicklung im Balkan seit dem Absterben des Ottomanischen Reiches, die unter dem Namen „Balkanisierung" die mit Kleinstaaterei verbundene Gefahr dauernder Klein-und Großkriege sprichwörtlich gemacht hat.

Wenn man Kolonialismus als direkte — und Imperialismus als indirekte — Formen der Beherrschung anderer Völker bezeichnet, so hat die Liquidierung der niederländischen, französischen und britischen Kolonialreiche entscheidend zur Schaffung einer Vielzahl von Staaten beigetragen, die nach dem Wortlaut der Satzung der Vereinten Nationen gleich und souverän sind.

Dies bedeutet jedoch nicht, daß solche Staaten wirtschaftlich oder militärisch auch nur relativ unabhängig sind. Selbst die fortgeschrittensten unter ihnen, wie Indien, sind auf unabsehbare Zeit auf wirtschaftliche und militärische Entwicklungshilfe angewiesen. Das Defizit in den Zahlungsbilanzen der Entwicklungsländer wird bis zum Jahre 1970 auf beträchtliche Summen anwachsen; die Schätzungen schwanken zwischen 10 und 20 Milliarden Dollar.

Angesichts ihrer Bevölkerungen, die in geometrischer Progresssion zu wachsen scheinen, haben solche Länder wenig Chancen, selbst auf der Entwicklungsstufe zu bleiben, die sie zur Zeit der Beendigung des Kolonialregimes erreicht hatten. So sind diese Länder — vor allem solche, die, wie Indien oder die unter westlichem Einfluß stehenden Staaten Süd-Ost-Asiens und die meisten lateinamerikanischen Länder, noch vor einschneidenden Landreformen stehen — ideale Objekte primitiver national-revolutionärer Propaganda nach sowjetischem und chinesischem Muster. Die in den Führungsschichten dieser Länder weitverbreitete Korruption trägt noch weiter dazu bei, daß diese Regierungssysteme in Verruf gebracht und daß die junge Generation, vor allem Schüler und Studenten, für nicht immer durchsichtige revolutionäre Bewegungen gewonnen werden können.

Selbst in jenen Entwicklungsländern, die mit Sorge die an chronische Anarchie grenzende Situation im Kongo (Leopoldville) betrachten, ist man in hohem Maße der Versuchung ausgesetzt, auf der Basis konkurrierender Entwicklungshilfe für sich selbst parasitäre Existenzen zu schaffen. So hat z. B.seit 1958 Ägypten 1 500 Millionen Dollar von den Vereinigten Staaten und 800 Millionen Dollar von der Sowjetunion erhalten.

Machtpolitisch gesehen sind solche Entwicklungsstaaten Objekte, um die die Übermächte und ihre Blöcke mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln ringen. Auf dieser Ebene sind die „jungen Nationen" kaum neue und aktive Träger politischer Willensbildung, sondern stellen eine Vielzahl von neuen Herden politischer Unsicherheit dar. Gelegentlich bleibt es nicht dabei; außenstehende Staaten — die eine oder andere Weltmacht, einer ihrer Verbündeten oder andere neutralistische Mächte — versuchen durch Agenten, Waffenlieferungen und sogenannte militärische Berater das politische Gleichgewicht durch Bürgerkrieg oder einen Staatsstreich zu ihren Gunsten zu verändern. Algeriens Politik im Kongo, die chinesische „Beratung" Sansibars und die amerikanische Kontrolle Süd-Vietnams gehören in diese Kategorie.

In stabileren Ländern, in denen diese Formen eines neuen Imperialismus psychologisch auf zu großen Widerstand stoßen würden — vor allem innerhalb der Weltblöcke —, ist die Machtausübung der führenden Macht auf ein diskretes Minimum beschränkt und drückt sich in den klassischen Formen der Hegemonie aus.

Solange Verbündete so handeln, wie es von ihnen erwartet wird, sind die Beziehungen zwischen ihnen und ihrer Vormacht auf den Grundsätzen der Gleichheit und unerschütterlichen Freundschaft aufgebaut. Wenn ein Bundesgenosse aber zu unabhängig wird, muß er damit rechnen, auf Vergünstigungen verzichten zu müssen oder Druck von jener Art ausgesetzt zu sein, der z. B. Jugoslawien dazu veranlaßte, auf jede Gefahr hin aus dem russischen Block auszuscheiden. Als Ungarn im Jahre 1956 dasselbe versuchte, machten sowjetische Panzer diesen Sezessionsversuchen ein blutiges Ende.

Es wäre jedoch einseitig, die Vermehrung der kleinen und mittleren Mächte seit 1945 nur unter dem Gesichtspunkt der Atomisierung der Macht zu sehen. Schon das jugoslawische Beispiel zeigt, daß eine solche Analyse der Ergänzung bedarf. Diese liegt in den dritten und vierten Aspekten unseres Problems: der Neutralisierung der Macht innerhalb der gegenwärtigen Weltgesellschaft.

III. Die Neutralisierung und Sublimierung der Macht

Solange es bei dem nuklearen Gleichgewichts-zustand zwischen den Weltmächten bleibt und die Gefahr ihrer gemeinsamen Vernichtung besteht, können die Supermächte einen Krieg miteinander nicht mehr als rationale Taktik internationaler Beziehungen betrachten.

In dieser Situation ist es für Kleinstaaten und Mittelmächte leichter als früher, sich als selbständige Machtzentren zu gebärden. Ähnlich wie es in vornuklearen Zeiten Staaten gab, die das Zünglein an der Waage eines internationalen Gleichgewichtszustandes bildeten, sind heute solche autonomen und neutralistischen Formen der Außenpolitik durch den nuklearen Gleichgewichtszustand bedingt und eines seiner Resultate. Die Reaktion der Sowjetunion im Jahre 1956 gegenüber Polen und Ungarn und die der Vereinigten Staaten gegenüber Guatemala im Jahre 1954 und die von ihnen unterstützte Landung in der Schweine-bucht in Kuba im Jahre 1961 beweisen jedoch, daß die beiden Hegemonialmächte wenig Neigung haben, ihren Bundesgenossen oder Satelliten unbegrenzte Entscheidungsfreiheit zu gewähren, wenn deren unabhängige Politik den nuklearen Gleichgewichtszustand erschüttern könnte. Die scheinbare Ausnahme von dieser Regel war Jugoslawien. Tito vertraute darauf — und die Tatsachen gaben ihm recht —, daß Stalin bei offenem Einmarsch in Jugoslawien mit einer westlichen Gegenoffensive und offenem Krieg zwischen den Westmächten und der Sowjetunion und ihren Bundesgenossen rechnen mußte.

In einem Zwischengebiet, das sich gegenwärtig von Afrika und dem Nahen Osten über den Mittleren Osten und Indien bis nach Südostasien erstreckt, sind die Weltmächte und ihre Verbündeten toleranter. Die gespaltenen Staaten von Vietnam und Korea — wie auch die Grenzpfähle zwischen West-und OstDeutschland und die Berliner Mauer — sind jedoch Warnungszeichen dafür, daß es Grenzgebiete zwischen den beiden Weltlagern gibt, in denen beide Seiten verbündete Teilstaaten geeinten neutralistischen Staaten vorziehen.

Selbst innerhalb der beiden Weltblöcke hat der nukleare Gleichgewichtszustand dazu geführt, daß sich die Beziehungen zwischen verbündeten Nationen lockern daß und Mittelmächte sich be Japan -wie China und es in grenztem Umfang leisten können, den Hegemonialansprüchen ihrer Übermächte zu trotzen. Selbst Kleinstaaten wie Rumänien und Albanien konnten sich erlauben, in dem sowjetisch-chinesischen Streit aus der Reihe zu tanzen. Es bedarf dann solcher Krisen wie der von Suez 1956, der kubanischen von 1962 oder des indisch-chinesischen Grenzkrieges, um jenen Mächten die Schranken ihrer formellen Gleichheit und Unabhängigkeit nachdrücklich klarzumachen.

Auf Ebenen, auf denen alle Beteiligten der Innehaltung rationaler Spielregeln zugestimmt haben — wie in den Vereinten Nationen oder deren Spezialorganisationen —, nehmen die Möglichkeiten für Mittelmächte und Klein-staaten, eine gegenüber den Weltmächten unabhängige Politik einzuschlagen, bedeutend zu. Wenn etwa, wie in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, keiner der Welt-blöcke ohne die neutralistischen Mitglieder eine Zweidrittel-Mehrheit für wichtige Entscheidungen oder Empfehlungen erzielen kann, ist eine Situation geschaffen, in der auf Seiten der Weltmächte Macht zu Einfluß sublimiert ist und beide Übermächte sich bemühen müssen, schwankende Mehrheiten auf ihre Seite herüberzuziehen.

Solange die Weltmächte Fragen auf diesem Niveau behandeln, geben sie neutralistischen Staaten und den Vereinten Nationen die Chance, wirkliche Träger aktiver Politik — und damit positive Machtfaktoren in den internationalen Beziehungen — zu werden.

Wie lange ein solcher Zustand fortbesteht — z. B. die Verantwortung der Vereinten Nationen für die Liquidation der Suez-Intervention oder die vorübergehende Füllung des politischen Vakuums im Kongo —, hängt jedoch schließlich wieder von den Weltmächten ab. Sie müssen den Hauptteil der Kosten solcher aktivistischen Kollektivpolitik tragen. Ob sie beide dazu bereit sind, diese Verantwortung zu übernehmen oder ob sie es vorziehen, auch diese Frage als einen Streitpunkt zu behandeln, ist im Augenblick die Schicksalsfrage der Vereinten Nationen.

Die konstruktiven Möglichkeiten einer positiven Lösung dieses — oberflächlich gesehen — finanziellen Problems sind bedeutend. Eine Lösung, die sowohl die Sowjetunion — und Frankreich — als auch die Vereinigten Staaten befriedigen würde, könnte die Weltmächte zu weiteren — und wichtigeren — Kompromissen auf der Basis der Gegenseitigkeit ermutigen. Wenn es gelänge, die beiden Antipoden zu einer solchen Politik weitgehender Selbstneutralisierung zu erziehen, könnte eine derart künstliche, aber gewollte Machtverlagerung auf die neutralistischen Staaten und die Vereinten Nationen den Ansatzpunkt zu einer hoffnungsvolleren Entwicklung darstellen, als es die Polarisierung der Macht in der gegenwärtigen Weltgesellschaft ist: nämlich den Anfang der Transformation dieser Weltgesellschaft in eine Weltgesellschaft, in der auf den Gebieten, auf denen es am meisten darauf ankommt, Macht nicht mehr Recht ist, sondern die Macht des Rechts und der Vernunft die entscheidenden Faktoren sind.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Georg Schwarzenberger, Ph. D., Et . phil., geb. 1908, in Tübingen 1930 promoviert, seit 1943 Direktor des London Institute of World Affairs, Professor für Internationales Recht an der Universität London seit 1962. Veröffentlichungen u. a.: Das Völkerbundsmandat für Palästina, 1929; Die Verfassung der spanischen Republik, 1933; The League cif Nations and World Order, 1936; Making Internat. Law Work (zus. m. G. W. Keeton), 19462; Power Politics, 19573, The Legality of Nuclear Weapons, 1958 (deutsche übers. 1958); The Frontiers of Internat. Law, 1962.