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Die Revolution in Süd-Vietnam | APuZ 19/1965 | bpb.de

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APuZ 19/1965 Artikel 1 Die Revolution in Süd-Vietnam

Die Revolution in Süd-Vietnam

George A. Carver

Verlagerung der politischen Macht

Süd-Vietnam befindet sich mitten im Krieg — das ist jedem klar, der sich auch nur flüchtig für das Weltgeschehen interessiert. Ebenso klar ist: dieser Krieg wird von einer kommunistisch gelenkten Aufstandsbewegung geführt, die Unterstützung und Direktiven aus Hanoi erhält. Weniger augenfällig, aber genauso entscheidend für die politische Physiognomie und die Zukunft des Landes (somit letztlich auch für den Ausgang des von den Kommunisten angezettelten Krieges) ist die Tatsache, daß Süd-Vietnam gleichzeitig eine soziale Revolution durchmacht.

Als Süd-Vietnam 1954 geschaffen wurde, übernahm zunächst eine Schicht die politische Führung, die sich überwiegend aus dem Mandarinentum rekrutierte. Ihre Angehörigen waren zwar politisch Nationalisten, hatten aber meist eine französische Erziehung genossen und bezogen ihre kulturellen Leitbilder aus dem Ausland. Verkörperung und Archetyp dieser Schicht war Ngo Dinh Diem. Heute beobachten wir den Übergang der politischen Macht an eine Gruppe, die auf militantere Weise „vietnamesisch" ist, zumindest latent fremdenfeindlich, kulturell in mancher Hinsicht bodenständiger und weit weniger geneigt, politisch in den Begriffen einer fremden Sprache zu denken. Typisch für diese Gruppe sind die Studenten, die Bonzen (Mönche) an der Spitze der „buddhistischen" Bewegung und die militärischen „Jungtürken". Diese Verlagerung des Machtschwerpunktes erklärt zu einem guten Teil die sonst schwer verständliche Turbulenz auf der politischen Bühne Süd-Vietnams; sie stellt die wirkliche Revolution in Süd-Vietnam dar. Der kommunistsche Aufstand hat geholfen, das Klima und die Bedingungen zu schaffen, unter denen sie möglich wurde; aber er ist nicht mit ihr identisch. Der Aufstand ist und war stets eine geplante und gesteuerte politisch-militärische Aktion. Süd-Vietnams soziale Revolution ist etwas viel Formloseres; sie ist viel weniger das Ergebnis bewußten Vorsatzes und in viel geringerem Grade von Einzelpersonen zu lenken.

Diese Revolution ist ein höchst komplexes Phänomen. So ist beispielsweise der Nationalismus mit regionalistischen Tendenzen durchsetzt, und die streitenden Parteien führen religiöse Feldzeichen, obwohl es in Wirklichkeit gar nicht um Fragen der Religion und der Religionsausübung geht. Bisher ist die Revolution im wesentlichen auf die städtischen Zentren beschränkt geblieben; das Leben der Bauern, die die große Mehrheit der südvietnamesischen Bevölkerung bilden, hat sie vorerst verhältnismäßig wenig beeinflußt. Dieser Umstand mag letztlich bestimmend für ihre Resultate und Wirkungen sein, ändert aber nichts an ihrer aktuellen Bedeutung. Tonangebend im politischen Leben Süd-Vietnams sind die schriftkundigen und stimmgewaltigen Massen der Städte, obschon sie zahlenmäßig nur eine kleine Minderheit darstellen — eine Situation, die bislang die Bauern davon abgehalten hat, sich von den Schicksalen der Machthaber in Saigon unmittelbar berührt zu fühlen, und die einen der wichtigsten Trümpfe der Kommunisten bildet. Um die in Gang befindliche Revolution und die in ihr wirkenden Emotionen zu verstehen, um ihre Bedeutung und ihr Verhältnis zum kommunistischen Aufstand richtig einzuschätzen, muß man das historische Milieu kennen, in dem sie sich entwickelt hat. Dieses Milieu war es, das Diems Katholizismus zu einem katalytischen Faktor machte, das seine Widersacher bewog, sich unter dem Banner des „Buddhismus" zusammenzuschließen, und das den Bonzen an der Spitze der „buddhistischen" Bewegung den politischen Einfluß verschaffte, den sie heute ausüben.

Die französische Kolonialherrschaft

Die religiösen Gegensätze im heutigen Süd-Vietnam haben tiefe historische Wurzeln. In den letzten drei Jahrhunderten schuf der enge, oft ursächliche Zusammenhang zwischen der katholischen Missionstätigkeit und dem politischen Vordringen der Franzosen starke emotionale Spannungen und eine nicht immer nur latente Feindschaft zwischen katholischen und nichtkatholischen Vietnamesen — Spannungen, die in mancher Hinsicht den Gefühlen ähnelten, wie sie katholische und nichtkatholische Engländer in den Tagen Elisabeths I. und ihrer Nachfolger aus dem Hause Stuart gegeneinander hegten.

Wenn wir von einem vereinzelten frühen Seefahrer und ein paar portugiesischen Händlern des 16. Jahrhunderts absehen, waren die Jesuiten die ersten Europäer, die sich systematisch und nachhaltig für Vietnam interessierten Die Aufmerksamkeit des Jesuiten-Superiors in Macao richtete sich auf Vietnam, nachdem die ihm unterstehenden Priester 1614 aus Japan vertrieben worden waren. Im darauffolgenden Jahr wurde in der Hafenstadt Fai Fo (in der Nähe des heutigen Da Nang) im Fürstentum der Nguyen eine Missionsstation errichtet. Ihr Erfolg ermutigte die Patres von Macao, ihre Arbeit auf das von den Trinh beherrschte Tongking auszudehnen, und 1627 ging Pater Alexandre de Rhodes nach Hanoi. Das Wirken dieses bemerkenswerten Mannes (er war Mitschöpfer der quoc-ngu, der mit diakritischen Zeichen versehenen Lateinschrift, in der das Vietnamesische heute geschrieben wird) war von bedeutendem Einfluß auf die spätere Geschichte Vietnams. 1645 reiste er nach Rom, um Hilfe für die katholische Missionsarbeit zu erbitten. Er schlug vor, die Arbeit von einheimischen Priestern weiterführen zu lassen; sie sollten von europäischen Bischöfen geweiht und beaufsichtigt werden, die dem Papst direkt verantwortlich wären. Während Innozenz X. diese kluge Anregung erwog (die allerdings politisch heikel war, denn sie ignorierte portugiesische Ansprüche auf geistliche Patronatsrechte), ging Pater Alexandre, ein gebürtiger Franzose, nach Paris, um für die Verwirklichung seines schließlich angenommenen Vorschlags Mitarbeiter anzuwerben und Geldmittel aufzutreiben.

Sein Appell fand offene Ohren, zum Teil deshalb, weil das spanisch-portugiesische Monopol auf den Indochina-Handel bereits den Neid einflußreicher Aristokraten und Kaufleute erweckt hatte. Zwei französische Priester wurden zu Bischöfen und Apostolischen Vikaren geweiht, der eine für Tongking, der andere für Cochinchina (d. h., das von den Nguyen beherrschte Annam), und es kam zur Gründung der später so mächtigen und politisch einflußreichen Societe des Missions Etrange-res. So gab Pater Alexandre in Verfolgung seiner religiösen Ziele den Anstoß dazu, daß Indochina französische Interessensphäre wurde.

In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurden beide vietnamesische Fürstentümer von mehreren Rebellionen und Bürgerkriegen erschüttert, die unter dem Namen „Tay-Son-Aufstand" bekannt sind. Der Präsident auf dem Thron des Südens, Nguyen Anh, mußte in dieser stürmischen Zeit um sein Leben fliehen. Als er unstet in Camau umherirrte, fand er Zuflucht bei einem anderen bemerkenswerten Franzosen: Monsignore Pigneau de Behaine, Apostolischer Vikar von Cochinchina. Der energische Bischof nahm sich des Prätendenten an und wurde sein Ratgeber. 1787 begab sich Msgr. Pigneau mit dem jungen Sohn des Prätendenten nach Paris, um der Sache des Hauses Nguyen offizielle Unterstützung zu verschaffen. Etwas zögernd gab Ludwig XVI.seinen Segen (ihm wuchsen die eigenen Probleme über den Kopf), und es wurde ein Vertrag unterzeichnet, der als Gegenleistung für bestimmte Territorial-und Handelskonzessionen französische Hilfe versprach. Den Vertrag in der Tasche, stellte der Bischof mit Geldern, die er in Paris beschafft hatte, eine Söldnertruppe auf, die den Kampf zugunsten von Nguyen Anh entschied.

Mit dieser Hilfe, die er einem französischen Bischof zu verdanken hatte, und mit Unterstützung vietnamesischer Katholiken, die sich ihm anschlossen, eroberte Nguyen Anh praktisch das gesamte heutige Vietnam. 1802 proklamierte er sich in Hue unter dem Namen Gia Long zum Kaiser. Er begründete damit eine Dynastie, die auf dem Thron blieb, bis ihr letzter Sproß, Bao Dai, 1955 abgesetzt wurde.

Gia Long selbst war dankbar für die ausländische Hilfe, die ihn an die Macht gebracht hatte, und ordnete in seinem Sterbejahr 1820 an, daß keine der drei in seinem Reich bestehenden Religionen — Konfuzianismus, Buddhismus und Christentum — verfolgt werden solle. Seine scharf fremdenfeindlichen Nachfolger jedoch hielten sich nicht an dieses Edikt. Von Zeit zu Zeit erlaubten oder befahlen sie Unterdrückungsmaßnahmen gegen französische Missionare und Pogrome gegen vietnamesische Katholiken. Dieses Vorgehen veranlaßte die französische Regierung zu immer schärferen Reaktionen. Zum offenen Zusammenprall kam es in der Regierungszeit des xenophobischen Kaisers Tu Duc (1848— 1883). Nach anfänglichem Zögern machte er den politischen Fehler, eine besonders brutale Kampagne gegen vietnamesische Katholiken und ausländische Missionare gerade zu einem Zeitpunkt zu beginnen, wo Frankreich nur auf einen Anlaß zur Besetzung vietnamesischen Gebiets wartete. Die Ermordung eines spanischen Bischofs im Jahre 1857 führte zu einem französisch-spanischen Gegenschlag, der anfangs von zahlreichen Schlappen begleitet war, schließlich aber (1862) Tu Duc zwang, die drei Ostprovinzen Cochinchinas an Frankreich abzutreten. Auf Grund der Beziehungen eines französischen Bischofs zu Prinz Norodom wurde Kambodscha zur gleichen Zeit (1864) französisches Protektorat. 1866 rückte Frankreich bis zu der nunmehr von ihm geschützten kambodschanischen Grenze vor und besetzte dabei den Rest Cochinchinas. (Eine weitere territoriale Expansion nahmen die Franzosen erst nach dem deutsch-französischen Krieg in Angriff; als Grund betonten sie dabei nicht mehr so stark wie früher die Notwendigkeit, ausländische Missionare und ihre vietnamesischen Gemeinden zu schützen.)

Diese ganze verwickelte und blutige Geschichte rief Haßgefühle hervor, die das politische Leben Vietnams noch heute vergiften. Bei den vietnamesischen Katholiken bewirkte sie so etwas wie den Zusammenhalt eines Clans, Entfremdung von ihren nichtkatholischen Landsleuten und verständliche Furcht vor Verfolgung. Bei den nichtkatholischen Vietnamesen dagegen erzeugte sie eine Stimmung, die prägnanten Ausdruck in einem Wort fand, das einem der mächtigsten Mandarine Tu Ducs zugeschrieben wurde: Vietnams Katholiken seien die Krallen, die es der französischen Krabbe ermöglichten, über Land zu kriechen.

Frankreich etablierte seine politische Herrschaft über Indochina endgültig im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und unterstellte es als fünfteiliges Ganzes der Oberaufsicht eines Generalgouverneurs. Cochinchina behielt unverhüllt den Status einer Kolonie, während Annam und Tongking zu getrennten „Protektoraten" erklärt wurden (ebenso wie Laos und Kambodscha, die hier außer Betracht bleiben sollen). Den kaiserlichen Hof zu Hue ließ man der Form halber bestehen, doch hatte der Kaiser keinerlei reale Macht und stand unter strenger französischer Überwachung. Zur Verwaltung seines indochinesischen Kolonial-reiches bediente sich Frankreich teils direkter, teils indirekter Herrschaftsmethoden, die auf mannigfache Weise verknüpft waren und in Einzelheiten gebietsweise voneinander abwichen. In Vietnam, besonders in Annam, lag äußerlich ein gut Teil der örtlichen Amtsgewalt — und damit der drückenden Pflicht, unpopuläre Maßnahmen durchzuführen — in den Händen vertrauenswürdiger Vietnamesen, die von französischen „Beratern" angeleitet wurden. In Worten bekannte sich Frankreich zum Grundsatz der „Assoziation"; da es aber niemals die Absicht hatte, seine kolonialen Schützlinge auf die Selbstregierung vorzubereiten, lief die Assoziation praktisch auf „Assimiliation" hinaus — dergestalt, daß gewisse Vietnamesen, die in besonderer Gunst standen, französische Staatsbürger werden konnten. (Es überrascht nicht, daß in Cochinchina mehr assimiles zu finden waren als in Annam und Tongking.) Die Möglichkeiten zum Erwerb von Bildung, besonders höherer, waren begrenzt und wurden auf das sorgfältigste kontrolliert. Höhere Bildung war französische Bildung (das traditionelle vietnamesische Prüfungssystem für den Mandarinen-stand wurde abgeschafft); wer sie anstrebte, mußte die französische Sprache fließend beherrschen und sich intensiv französisches Kulturgut aneignen. All das verhinderte natürlich nicht das Aufkommen antifranzösischer nationalistischer Stimmungen (praktisch alle vietnamesischen Revolutionäre des 20. Jahrhunderts sprachen und sprechen ein untadeliges Französisch). Es hatte jedoch eine oft übersehene, aber sehr wichtige Wirkung: Das politische Denken der Produkte dieses Erziehungssystems vollzog sich unbewußt in den Begriffen einer fremden Sprache, die häufig nur schlecht zu den politischen Realitäten Vietnams paßten.

Die hier skizzierten Faktoren hatten zur Folge, daß in der Zeit der Franzosenherrschaft nur Mitglieder von Grundbesitzer-und Mandarinenfamilien (z. B. Diem) praktische Erfahrungen in der (auch nur formalen) Ausübung politischer Macht sammeln konnten und daß neben Mandarinensöhnen allenfalls noch Abkömmlinge der wohlhabenden oder aristokratischen Bourgeoisie (z. B. Ho Chi Minh) eine Bildung erwarben, wie sie zum Artikulieren und Handhaben politischer Begriffe erforderlich ist. Die politischen Führer Vietnams, die in der Kolonialära hervortraten, entstammten im großen und ganzen alle der gleichen städtischen Gesellschaftsschicht, welche Doktrinen und Programme sie auch persönlich vertreten mochten. Nicht etwa, daß die Franzosen die Herausbildung einer vietnamesischen politischen Führerschicht begünstigt hätten — das gerade Gegenteil war der Fall. Wer als Gegner der Franzosenherrschaft bekannt war oder sich in diesem Sinne verdächtig gemacht hatte, wurde überwacht und häufig ohne Prozeß eingesperrt. Eine feinere, aber auf die Dauer schädlichere Herrschaftsmethode, die die Franzosen anwandten, war die Taktik des „Teile und herrsche". Sie förderten Lokalpatriotismus, Partikularismus und Zwietracht. Die Vietnamesen haben während ihrer ganzen Geschichte einen natürlichen Hang zu solchen Verhaltensweisen an den Tag gelegt und sich damit oft politisch geschadet.

Der Zweite Weltkrieg bewirkte in ganz Südostasien einen Aufschwung des Nationalismus.

Die Niederlage der Franzosen im eigenen Land und die Demütigung der pro-vichystischen Kolonialverwaltung durch die Japaner versetzten dem französischen Ansehen in Indochina einen Schlag, von dem es sich nicht wieder erholte. Die Verwirrung und Kurzsichtigkeit der Alliierten erleichterte es den Kommunisten, die vietnamesische nationalistische Bewegung unter ihre Kontrolle zu bringen und Kapital aus den nahezu anarchischen Zuständen zu schlagen, die infolge der überstürzten Kapitulation der Japaner entstanden.

Es gelang den Kommunisten, zumindest vorübergehend an die Macht zu kommen. De Gaulle hätte vielleicht genügend Scharfblick besessen, die Stärke des vietnamesischen Nationalismus richtig einzuschätzen, und genügend Geschick, mit ihm fertig zu werden. Seine Nachfolger, die so taten, als wäre zwischen Mai 1940 und August 1945 in Indochina überhaupt nichts geschehen, waren der Aufgabe nicht gewachsen. Die hartnäckige Weigerung der Franzosen, die Frage dereinstiger Unabhängigkeit auch nur zu erwägen, trug zum Sieg der Viet Minh bei. Die französische Haltung hemmte auch das Entstehen einer zwar nationalistischen, aber antikommunistischen Führerschicht; sie ließ den antikommunistischen Nationalisten nur die traurige Wahl zwischen dem Exil, den Viet Minh und einem unfruchtbaren „Attentismus".

Das Regime Diem

Nach der Niederlage der Franzosen schuf der Spruch fremder Mächte in Genf den Staat Süd-Vietnam, dessen Grenzen Cochinchina und die südliche Hälfte Annams einschlossen. Ngo Dinh Diem wurde Süd-Vietnams erster Ministerpräsident und 1955 sein Staatschef. Diems persönliches Ethos war eine Mischung aus traditionellen vietnamesischen Werten und einem frommen Katholizismus. Obwohl er der Klasse vietnamesicher katholischer Mandarine entstammte, die unter den Franzosen gute Tage gesehen hatte, war er überzeugter Nationalist und von jeher Gegner der Franzosenherrschaft. (Sein Nationalismus hatte ihn bewogen, 1933 aus Bao Dais Kabinett auszuscheiden und 1948 das Amt des Ministerpräsidenten abzulehnen, das ihm unter Bedingungen angeboten wurde, die seine Handlungsfreiheit in einer für ihn unannehmbaren Weise zugunsten der Franzosen einschränkten.) Als er an die Macht gelangte, stand er allgemein im Rufe eines Patrioten und persönlich lauteren Mannes; aber seine aktiven, organisierten Anhänger waren in erster Linie Katholiken aus Zentral-Vietnam. Diese Gruppe blieb eine der beiden wichtigsten Stützen Diems. Die andere waren militant antikommunistische Flüchtlinge aus Nord-Vietnam; allerdings bestand auch diese Gruppe vorwiegend aus Katholiken. Diems erste Regierungsjahre waren verheißungsvoll; trotz zahlloser Schwierigkeiten vollbrachte er bedeutende Leistungen. Sein letzter Lebensabschnitt verlief nach der Art und mit der Unerbittlichkeit einer griechischen Tragödie. Wir brauchen hier nur einen Aspekt dieser Entwicklung zu behandeln.

In den Augen nichtkatholischer Vietnamesen nahm die katholische Färbung von Diems Regime mit der Zeit eher zu als ab. Die halb geheime politische Organisation des Regimes, die Can-Lao-Partei, stand unter Leitung von Katholiken; seine offizielle Doktrin, der „Personalismus" (von Diems Bruder Ngo Dinh Nhu ausgearbeitet), machte sichtlich starke Anleihen bei französischen katholischen Denkern und wurde den Staatsbeamten an einem Institut vorgetragen, dem ein anderer Bruder Diems, Erzbischof Thue, vorstand. Ein Gesetz, das 1958 auf Betreiben von Diems Schwägerin, Madame Ngo Dinh Nhu, erlassen wurde, enthielt einschneidende Bestimmungen über Ehe, Scheidung und Familienbeziehungen, die den Lehren der katholischen Kirche entsprachen, aber den vietnamesischen Traditionen in diesem emotionsgeladenen Bereich stracks zuwiderliefen. (Das weitverbreitete Gerücht, dieses „Familiengesetz" sei hauptsächlich deshalb erlassen worden, um Nguyen Huu Chau die Scheidung von Madame Nhus Schwester unmöglich zu machen, steigerte noch seine politisch ungünstige Wirkung.) Ein ähnliches „Gesetz zum Schutze der Moral", das 1962 gleichfalls auf Veranlassung von Madame Nhu erging, gab der Unzufriedenheit weitere Nahrung: weite Kreise faßten es als einen Versuch auf, den Nichtkatholiken, d. h.der überwältigenden Mehrheit der südvietnamesischen Bevölkerung, von Staats wegen eine enge, puritanische „katholische Moral" aufzuzwingen. (Die Mißstimmung wurde erhöht durch weitere Dekrete, von denen eines alte und populäre „rührselige Lieder" verbot.) 1959 fanden unter der Schirmherrschaft der Regierung Diem im ganzen Land Festlichkeiten zu Ehren des Marienjahres statt, gekrönt von einer feierlichen Zeremonie vor der Saigoner Kathedrale, bei der Süd-Vietnam förmlich dem Unbefleckten Herzen Mariä geweiht wurde. Im zivilen und militärischen Leben schienen Katholiken eine solche Vorzugsstellung zu genießen — tatsächlich war dies aus vielen Gründen der Fall, z. B. häufig wegen besserer Bildung —, daß weithin der Eindruck entstand, eine zumindest formale Konversion zum Katholizismus sei Vorbedingung für die Karriere. Religionsverfolgung im eigentlichen Sinne gab es kaum, aber die religiösen Empfindungen von Nichtkatholiken wurden häufig verletzt, manchmal durch den Übereifer untergeordneter Beamter, öfter durch Gedankenlosigkeit und ohne offizielle Absicht, jemanden zu kränken. Außerdem konnten viele Erscheinungen dahingehend gedeutet oder mißdeutet werden, daß die Behörden — wenn sie die Nichtkatholiken auch nicht gerade verfolgten — in unangemessener Weise Partei für die Katholiken und den Katholizismus ergriffen.

So erwuchs nach und nach aus einer Fülle von Zwischenfällen, Ereignissen, Maßnahmen und Praktiken — die zum großen Teil fast mit Sicherheit unbeabsichtigt oder zusammenhanglos waren — eine „religiöse Frage", um die sich die nichtkommunistische, aber auch nicht-katholische Opposition gegen Diem formieren konnte und tatsächlich formierte. Das geschah nicht etwa plötzlich im Frühjahr 1963. Vielmehr hatte sich die Opposition fast von Diems Amtsantritt an allmählich entwickelt. Der hier skizzierte historische Kontext hilft verstehen, wieso der Antikatholizismus, einmal ans Tageslicht getreten, bei nichtkatholischen Vietnamesen so starke Emotionen erregen kann. Er erklärt nicht, weshalb sich Diems Gegner unter dem Banner des „Buddhismus" zusammenscharten, um so weniger, als die Zahl der frommen, praktizierenden

Buddhisten in Süd-Vietnam wahrscheinlich nicht höher ist als die der praktizierenden Katholiken. Um dieses Phänomen und die gegenwärtige politische Stärke der „buddhistischen" Bewegung Süd-Vietnams zu verstehen, müssen wir kurz einen anderen Strang der vietnamesischen Geschichte verfolgen.

Die Buddhisten

Der Mahayana-Buddhismus kam anscheinend — die genaue Datierung ist strittig — um die Mitte der Periode der Chinesenherrschaft, die von 111 v. Chr. bis 939 n. Chr. währte, aus China nach Vietnam Neben dem Buddhismus brachten die Chinesen auch andere religiöse Lehren mit, so den Konfuzianismus und den Taoismus. All diese importierten Religionen machten in Vietnam beträchtliche Wandlungen durch und mischten sich mit Animismus und primitivem Geisterkult, besonders bei der Landbevölkerung. Die künftige religiöse Struktur Vietnams wurde durch die Tatsache stark beeinflußt, daß die Herrscher der ersten stabilen und unabhängigen vietnamesischen Dynastie, der Ly (1009— 1225), eifrige Buddhisten waren. Nie wieder erlangte der Buddhismus ein solches Maß an offizieller Anerkennung und nie wieder war die Zusammenarbeit zwischen Fürstenhaus und buddhistischer Priesterschaft so eng wie in dieser Ara. Die Identifizierung der Ly mit dem vietnamesischen Buddhismus ist nicht ohne aktuelle politische Bedeutung, denn die Ly gehörten zu den größten Nationalisten der vietnamesischen Geschichte. Sie wehrten im Norden erfolgreich die Chinesen ab, schlugen im Süden die Cham zurück und beschnitten den politischen Einfluß des Auslands (d. h. Chinas). Noch in den Augen des modernen Vietnamesen umgibt sie ein legendärer Schimmer, und etwas davon überträgt sich auf den buddhistischen Glauben, dessen Sache sie so sehr zu der ihren machten.

Mit dem Sturz der Ly-Dynastie begann für den Buddhismus, politisch gesehen, eine lange Periode des Niedergangs. In den folgenden Jahrhunderten gewann er gelegentlich wieder an Einfluß, doch zogen solche Aufschwünge in der Regel Unterdrückung nach sich. Eine der stärksten Regeneration dieser Art war im 17. Jahrhundert zu verzeichnen. Durch die energische Arbeit der Jesuiten nahm damals die Zahl der zum Katholizismus Bekehrten rasch zu, und der Buddhismus wurde als „nationales" Gegengewicht zu dieser fremden Glaubenslehre eine Zeitlang mehr oder weniger amtlich gefördert. Offizielle Staats-oder Hofreligion war jedoch vom 15. Jahrhundert an eine Abart des Konfuzianismus — eine Tatsache, die der institutionellen Festigung des Buddhismus hinderlich war. In Reichen wie Ceylon, Burma, Siam und Kambodscha, wo der Therevada-Buddhismus jahrhundertelang Staatsreligion war, entwickelte er eine handlungsfähige und ziemlich disziplinierte hierarchische Struktur. Der Mahayana-Buddhismus in Vietnam schlug aus dogmatischen wie aus politischen Gründen die entgegengesetzte Richtung ein; er verfiel mehr und mehr organisatorischer Schwäche und theologischer Zerrissenheit.

Verschiedentlich, besonders im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, wurden Versuche unternommen, die Buddhisten auf regionaler Grundlage zusammenzufassen; aber nie kam mehr zustande als ganz lockere Zusammenschlüsse von örtlichen Pagoden, die im wesentlichen autonom blieben. Die Woge von Nationalismus, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in ganz Asien erhob, erweckte auch neues Interesse an der Einheit und Zusammenarbeit der Buddhisten und trug so nicht unwesentlich zur Gründung des Buddhistischen Weltbundes im Jahre 1951 bei. Im gleichen Jahr entstand in Vietnam die Allgemeine Vereinigung vietnamesischer Buddhisten. Diese Organisation bot einen institutioneilen Rah-men für den Meinungsaustausch unter Buddhisten und ließ — wenn sie sich auch auf dem Papier viel eindrucksvoller ausnahm als in Wirklichkeit — die Idee der religiösen Einheit der verschiedenen buddhistischen Sekten immerhin schattenhaft sichtbar werden.

Die Tatsache, daß der vietnamesische Buddhismus keine einheitliche Glaubenslehre und keine festgefügte Organisation besaß, verschleierte seine latente Stärke und seine potentielle emotionale Anziehungskraft, kam ihr aber gleichzeitig zugute. Als der Buddhismus vom Hofe verbannt wurde, sank er ins Volk hinab und erwarb im Lauf der Jahrhunderte eine Aura von Bodenständigkeit. Da der Hof ihn ablehnte, blieb er auch unberührt von dessen Niedergang und schließlicher Verderbnis. Kurz, der Buddhismus wurde zu einem rein vietnamesischen Phänomen, paßte sich den örtlichen Gegebenheiten an und war frei vom Makel ausländischen politischen Einflusses. Obwohl nur verhältnismäßig wenige Vietnamesen aktiven Anteil am buddhistischen Glaubensleben nahmen, entwickelte sich der „Buddhismus" zu einer religiösen Idee, der die überwältigende Mehrheit der vietnamesischen Bevölkerung zumindest in einer vagen gefühlsmäßigen Bindung anhing. Der Aufstieg und die Aktivität der Sekten Cao Dai und Hoa Hao vermittelten einen Eindruck von der potentiellen politischen Kraft religiöser Ideen, die im Einklang mit dem Fühlen und Streben der ortsansässigen Menschen standen. Mit seiner viel breiteren Basis war der Buddhismus eine noch stärkere latente politische Macht.

Wie oben ausgeführt, schufen bestimmte historische Faktoren im Verein mit dem Charakter und den Praktiken des Diem-Regimes eine „religiöse Frage", die die politischen Gegner der Familie Ngo schnell zur gemeinsamen Grundlage ihrer Opposition machen konnten. Der Funke, der das Pulverfaß zur Explosion brachte, wurde am 8. Mai 1963 in Hue gezündet. Die näheren Umstände, unter denen dies geschah, werden wohl immer umstritten bleiben; doch die groben Umrisse sind hinreichend bekannt und brauchen hier nicht nachgezeichnet zu werden. In den folgenden Monaten politischen Kampfes entfalteten die Buddhisten organisatorische und politische Talente, die ihnen bis dahin niemand zugetraut hätte. Unter dem Mantel der bereits erwähnten Allgemeinen Vereinigung bildete sich schnell ein „Gemeinsames Komitee der Sekten", das mit der Regierung verhandeln, hauptsächlich aber die regierungsfeindliche politische Tätigkeit koordinieren sollte. Thich Tinh Kiet ein hochangesehener achtzigjähriger Bonze und Präsident der Allgemeinen Vereinigung, wurde als „Führer" der Bewegung herausgestellt; aber wie sich bald zeigte, waren die eigentlichen Führer militante jüngere Bonzen, darunter Thich Duc Nghiep, Thich Tam Chau und vor allem Thich Tri Quang, ein Bonze aus Hue, der bei der Herbeiführung des Zwischenfalls vom 8. Mai die Hände stark im Spiel gehabt hatte. Die buddhistische Führung war zwar nie ganz frei von Meinungsverschiedenheiten und persönlichen Rivalitäten, bewies aber doch genügend Zusammenhalt, um entscheident zum Sturz des Diem-Regimes beitragen zu können.

Die „buddhistische" Bewegung war und ist weit mehr an politischen als an religiösen Angelegenheiten interessiert. Ihre Führer haben sicheren Sinn für Public Relations gezeigt und die Tatsache, daß ihnen die Auslandspresse während der Anti-Diem-Kampagne im allgemeinen günstig gesinnt war, weidlich ausgenutzt. Es ist so gut wie gewiß, daß viele scheinbar spontane Protestaktionen und Demonstrationen von geübten Regisseuren inszeniert wurden. Wie weit das politische Mandat der Buddhistenführer tatsächlich reicht, ist eine offene Frage. (Die politischen Wünsche der Teilnehmer von Massenbewegungen stimmen mit den Ansichten, die ihre selbst-ernannten Führer vertreten, oft nicht überein.) All das und noch mehr zugegeben — dennoch bleibt es eine Tatsache, daß die „buddhistische" Bewegung eine der einflußreichsten politischen Kräfte in Süd-Vietnam geworden ist. Die Verhältnisse und geschichtliche Zufälle haben den „Buddhismus" zum Kristallisationskern und einigenden Symbol nicht nur des politischen Widerstands gegen die Herrschaft der Katholiken, sondern — was wichtiger ist — keimhaft vorhandener nationalistischer Bestrebungen gemacht, zu denen der Wunsch gehört, sich fremder Doktrinen zu entledigen und für die politischen Probleme Süd-Vietnams eine „vietnamesische" Lösung zu finden.

Machtvakuum nach Diems Sturz

Der wachsende Druck, der sich dann in den unentrinnbaren Ereignissen des November 1963 entlud, hob nicht nur Diem, seine Familie und sein Regime aus dem Sattel, er warf auch das schwache konstitutionelle Gerüst über den Haufen, das dieses Regime errichtet hatte, um seine Herrschaft zu institutionalisieren, und er brach das politische Machtmonopol, das die Schicht, der Diem entstammte, von den abziehenden Franzosen geerbt hatte. Damit geriet Süd-Vietnam in einen noch anhaltenden Zustand politischer Gärung. Eine soziale Revolution kam in Gang, die neue Persönlichkeiten und Parteien auf die Bühne des Machtkampfs hob, und die Stellung der ehemals herrschenden Gruppen veränderte sich grundlegend.

Von den neuaufgetauchten Kräften ist die Gruppe militanter Bonzen, die die „buddhistische" Bewegung führen, am rätselhaftesten und am schwersten zu durchschauen. Die ungeheure politische Macht, die sie zur Zeit ausüben — und deren berauschender Gebrauch sich schon auf ihren Habitus ausgewirkt hat —, verdanken sie ihrer meisterhaften Fähigkeit, Proteststimmungen zu artikuliertem Ausdruck zu verhelfen. Ob sie mit gleicher Geschicklichkeit auch positive Forderungen zu vertreten wissen, haben sie erst noch zu beweisen. Sicher ist, daß diese Bonzen auch in Zukunft äußerst mißtrauisch gegen jede wirkliche oder eingebildete „neo-diemi-stische" oder „katholische" Reaktion und gegen jede potentielle Bedrohung des „Buddhismus" sein werden, den sie mit ihrem eigenen Prestige und ihren eigenen Wünschen identifizieren. Anscheinend scheuen sie sich vor der Übernahme unmittelbarer politischer Verantwortung, bestehen aber auf einem Vetorecht in Fragen der Regierungspolitik und der Postenbesetzung. Die positiven Ziele der Buddhistenführer sind schwerer festzustellen, weil zwischen ihnen Fraktionsstreitigkeiten und persönliche Rivalitäten bestehen und weil — wie ja meist bei Protestbewegungen — kein Bewerber um die Führerstellung zulassen will, daß ihn ein Konkurrent an „kämpferischer Gesinnung" übertreffe.

Augenblicklich scheint Thich Tri Quang seine Kollegen ausmanöveriert zu haben und mindestens der primus inter pares in der buddhistischen Bewegung zu sein. Seine vielen Feinde bezeichnen ihn als Kommunisten oder bestenfalls Neutralisten; er selbst weist diese Vorwürfe zurück und erklärt, er sei sich darüber klar, daß ein kommunistisches Regime mit dem Buddhismus kurzen Prozeß machen würde. Er ist offensichtlich ehrgeizig und bis zur Xenophobie nationalistisch. Bezeichnenderweise ist er der erste führende Mann des vietnamesischen politischen Lebens seit fünfzig Jahren, der mit Stolz bekennt, keine fremde Sprache zu sprechen. Fraglos wünscht er, Vietnam eines Tages frei von jedem ausländischen Einfluß zu sehen. Wie sich dieses langfristige Ziel auf seine tagespolitische Taktik und Haltung auswirken wird, bleibt abzuwarten. Von den Katholiken sahen sich im November 1963 viele mit Entsetzen auf einmal des staatlichen Schutzes und Wohlwollens beraubt.

Einige wollten einfach nicht wahrhaben, daß sich an der Ordnung der Dinge etwas geändert hatte; weit mehr verfielen in begreifliche Nervosität, wenn sie ihre nunmehrige gefährdete Lage inmitten einer nichtkatholischen Mehrheit bedachten, die, wie sich in einigen Fällen zeigte, mehr als nur potentiell feindlich gesinnt war. Die Katholiken bilden zwar keinen monolithischen Block, aber im großen und ganzen sind sie sorgenvoll, mißtrauen der buddhistischen Führung — besonders Tri Quang — und fürchten eine neutralistische Lösung, die sie den Kommunisten ausliefern würde. Die meisten ihrer Führer erkennen das Heikle ihrer derzeitigen Lage;

aber einige besonders militante erwägen zweifellos vorbeugende Schritte und werden in dieser Denkweise bestärkt werden, wenn sich die katholische Position weiter verschlechtert oder wenn sie persönlich keinen Ausweg mehr sehen. (Militante Katholiken, vor allem Offiziere, die sich mit dem Sturz des Diem-Regimes nicht abfinden konnten, spielten eine prominente Rolle bei den fehlgeschlagenen Staatsstreichen im September 1964 und im Februar 1965.) Die anderen religiösen Gruppen begrüßten im allgemeinen Diems Sturz. Die Cao Dai und die Hoa Hao erlangten nach fast einem Jahrzehnt politischer Bedeutungslosigkeit wieder beträchtlichen Einfluß, besonders in den Provinzen, in denen das Gros ihrer Anhänger lebt. Auf nationaler Ebene spielt keine der beiden Gruppen eine besondere Rolle, obwohl Staatschef Pham Khac Suu der Cao Dai angehört. Die Studenten, die bis zum Sommer 1963 ziemlich ruhig und zahm waren, sind jetzt in ständiger Bewegung und ungemein nationalistisch; es macht ihnen Spaß, mit dem politischen Aufruhr zu experimentieren. Wenn wir ihr Sinnen und Trachten richtig einschätzen wollen, müssen wir bedenken, daß seit dem Frühjahr 1954 elf Jahre verstrichen sind, mithin die heutige Studentengeneration mindestens in den höheren Klassen ein vietnamesisches, kein französisch beherrschtes Schulsystem durchlaufen hat. Im großen und ganzen neigen die Studenten gefühlsmäßig dem „Buddhismus" zu — doch sind sie Einflüssen von vielen Seiten ausgesetzt. Vor allem anderen sind sie offenbar potentielle Gefolgsleute auf der Suche nach neuen Führern, die auf Vietnams Schwierigkeiten vietnamesische Antworten wissen.

Diems einstige zivile Gegner sind — soweit sie nicht allzusehr als Kommunisten oder Franzosenfreunde abgestempelt waren — aus Gefängnis, Exil oder Schattendasein in das politische Gewoge zurückgekehrt. Alte Partei-und Fraktionsfeldzeichen wurden abgestaubt und Fehden, die während der Diem-Ara geruht hatten, mit Begeisterung wieder ausgenommen, doch wirken diese Feldzeichen und Fehden jetzt altmodisch und haben wenig mit der politischen Wirklichkeit der Gegenwart zu tun. Ein paar zivile Politiker haben sich — mitunter freilich nur kurze Zeit — in hohen Ämtern rühmlich bewährt. Viele legten auch jetzt wieder das unerfreuliche Gebahren an den Tag, das sie einst französischen Politikern der Dritten und Vierten Republik abgelernt hatten; sie waren außerstande, sich aus der Stickluft der Oppositionsund Emigrantensalons zu lösen. Die Fähigkeiten der alten Politiker sind sehr unterschiedlich, ebenso ihre Beliebtheit und die Achtung, die sie bei ihresgleichen genießen. Wirkliche Massenbegeisterung hat bisher keiner von ihnen erweckt, und wenn neue Führer hervortreten, dann wahrscheinlich nicht aus ihrem Kreis.

Der politische Einfluß der bisher aufgezählten Gruppen ist in nicht geringem Grade auf die Tatsache zurückzuführen, daß sie festumrissen und sichtbar aktiv sind. Zur städtischen Gesellschaft gehören jedoch noch andere Elemente, deren Gefühle und Wünsche nicht so gut bekannt sind, besonders nicht dem ausländischen Beobachter, die aber angesichts der ungefestigten Lage in kritischen Augenblicken durchaus eine Schlüsselrolle spielen könnten. Und außerhalb der Städte gibt es weitere wichtige Gruppen — die Bergstämme und vor allem die Bauern vietnamesischer Volkszugehörigkeit —, die bis jetzt nicht unmittelbar von der Gärung der Städte erfaßt sind, deren Stellungnahme und Handeln aber auf lange Sicht wahrscheinlich die politische Zukunft Süd-Vietnams entscheiden wird.

Der Staatsstreich von 1963 war das Werk des Militärs, und dieses hält bis heute die höchste politische Macht in Händen. Diese Tatsache war und ist bestimmend für die gesamte zivile politische Tätigkeit der Folgezeit. Das Militär selbst ist jedoch nicht unberührt von der revolutionären Gärung, die es durch sein Handeln ausgelöst hat. Im zivilen Leben haben die ehemaligen Aristokraten, die reichen Grundbesitzer und die französisch gebildeten Intellektuellen eine Einbuße an sozialem Rang erlitten. In Militärkreisen war das abgelaufene Jahr gekennzeichnet durch wachsende Spannungen zwischen den „älteren" Offizieren (d. h.den über Dreißigjährigen), die ihre Ausbildung in den Streitkräften der Französischen Union erhalten haben und dort auch ihre ersten Berufserfahrungen sammeln konnten, und den jüngeren Offizieren, die ihre Karriere fast ausschließlich in der neuen südvietnamesischen Armee unter Anleitung amerikanischer Berater gemacht haben.

Die meisten der höheren Offiziere, die Diem stürzten, wurden ihrerseits von General Khanh verdrängt. Eine Zeitlang schienen sich die militärischen Parteiungen um die Generäle Khanh, Khiem und Duong Van Minh zu polarisieren. Die Ereignisse des August und September 1964 kosteten Khanh seine politischen Ämter, doch blieb er als Oberbefehlshaber der Streitkräfte fest im Sattel, während Khiem und Duong Van Minh außer Landes gehen mußten. Im Laufe des Jahres 1964 begann indessen eine neue Gruppe jüngerer Militärs hervorzutreten, die unter der etwas unglücklichen, freilich sehr naheliegenden Bezeichnung „Jungtürken" bekannt wurden. Im Frühjahr und Sommer schienen diese Offiziere eine der Hauptstützen General Khanhs zu sein; im September waren sie seine Retter. Danach jedoch wurden sie — kollektiv — seine mächtigsten Rivalen. Zwar vereitelten sie das Gelingen des Putschs im Februar 1965, aber im Anschluß daran leiteten sie Schritte ein, Khanh seiner militärischen Machtstellung zu entkleiden.

Es ist durchaus möglich, daß sich im Schatten der Jungtürken eine noch jüngere Gruppe formiert. Diese Unruhe im Militär ist natürlich nicht auf eine einzige oder einfache Ursache zurückzuführen. Viele Faktoren spielen eine Rolle: persönliche Ambitionen, religiöse Uber-Zeugungen, Besorgnis wegen der Aktivität verschiedener ziviler Gruppen (oder aber gefühlsmäßige Bindungen an solche Gruppen), Arger über das Ausbleiben politischer Fortschritte und Enttäuschung über den Verlauf des Krieges. Defätismus oder der Wunsch, sich mit dem Feind zu arrangieren, scheint diese Unruhe vorläufig noch nicht hervorgerufen zu haben. Vielmehr ist, soviel man sieht, glühender Nationalismus und hochempfindlicher Nationalstolz ein gemeinsamer Zug aller wichtigen Militärfunktionen.

Regionale Sonderströmungen

Das politische Verhalten der erwähnten militärischen und zivilen Gruppen wird kompliziert durch regionale Sonderströmungen, die der ausländische Beobachter leicht übersieht, denen sich aber ein Vietnamese kaum entziehen kann. Mit einer kurzen Ausnahme ist das vietnamesische Volk niemals wirklich politisch geeint gewesen, seit Nguyen Hoang im Jahre 1600 das von den Trinh beherrschte Tongking verließ und ein eigenes Fürstentum, das spätere Annam, gründete. (Die Ausnahme sind die sechzig Jahre von Nguyen Anhs Kaiserkrönung im Jahre 1802 bis zur Abtretung der drei Ostprovinzen Cochinchinas an Frankreich durch Tu Duc.) Audi als die annamitischen Nguyen in Hue herrschten, war Vietnam in drei große ky eingeteilt, und Tongking und Cochinchina hatten ihre eigenen mächtigen Vizekönige.

Auf Grund geschichtlicher und geographischer Verhältnisse teilt sich das vietnamesische Volk praktisch in drei regionale Subkulturen auf. In Tongking, im Delta des Roten Flusses, traten die Viet zuerst als eigenständiges Volk in Erscheinung, und die Tongkinesen neigen heute noch dazu, sich als die natürlichen Führer ganz Vietnams zu betrachten — ein Anspruch, der von den Annamiten und den Cochinchine-sen zurückgewiesen wird. Annam hat am wenigsten von direkter französischer Herrschaft zu spüren bekommen; es ist die konservativste der drei Regionen und wahrscheinlich auch die, wo die religiösen Emotionen — buddhistische wie katholische — am stärksten sind. Cochinchina nimmt in mehrerlei Hinsicht eine Sonderstellung ein. Die Viet, die sich dort im 17. Jahrhundert niederließen und das Land den Khmer entrissen, standen zu ihren Stammesgenossen im Norden in einem ähnlichen Verhältnis wie die europäischen Kolonisten, die sich etwa zur gleichen Zeit an der Ostküste der heutigen Vereinigten Staaten ansiedelten, zu ihren daheim gebliebenen Landsleuten. Cochinchina kam als erste Region unter die Franzosenherrschaft, und zwar unter ein direktes Kolonialregime, und war dem kulturellen Einfluß Frankreichs am stärksten ausgesetzt.

Der Regionalismus hatte und hat heute noch tiefreichende Wirkungen auf die politischen Programme und Bindungen der Vietnamesen.

Oft liefert er den Schlüssel zu Vorgängen, die Ausländern, welche seine Bedeutung nicht kennen, unerklärlich scheinen. Die energischen, fleißigen und vorwiegend katholischen Tongkinesen, die 1954 als Flüchtlinge nach dem Süden kamen, werden von ihren annamitischen und besonders ihren cochinchinesischen Vettern ähnlich betrachtet wie die Schotten, die Jakob I. nach Süden mitbrachte, von den Engländern des 17. Jahrhunderts. Zum Beispiel wird die Rivalität innerhalb der buddhistischen Bewegung dadurch verschärft, daß Thich Tam Chau in erster Linie von tongkine-sischen Flüchtlingen unterstützt wird, während die Anhänger Thich Tri Quangs meist Annamiten sind (Tri Quang selbst stammt allerdings aus Tongking). In jeder politisch wichtigen Gruppe — bei den Buddhisten, den Katholiken, den Studenten, den zivilen Politikern und den Militärs — gibt es cochinchinesische, annamitische und tongkinesische Cliquen. Allenthalben wachen sie eifersüchtig darüber, daß keine der Regionen in irgendeiner Hinsicht Vorteile über die anderen gewinnt. Weiter kompliziert wird das politische Leben Vietnams dadurch, daß es keine einigenden traditionellen Symbole und keine allgemein anerkannten Institutionen gibt, die den Austrag von Meinungsverschiedenheiten und Kraftproben in geordnete Bahnen lenken könnten. Zunächst einmal existiert keine Tradition, die Loyalität gegenüber einer Regierung in Saigon geböte, in dem Sinne, wie es eine gewisse Tradition der Treue zu einem Kaiser in Hue gegeben hat. Diems Verfassungsgebäude verleugnete nicht sein französisches Vorbild und hatte keine Wurzeln im vietnamesischen Boden. Was nach seinem Sturz dem äußeren Schein zuliebe an Fassaden errichtet wurde, ist ebenso künstlich und nicht haltbarer. Es gibt auch keine organisierten politischen Parteien nach westlichem Vorbild. Parteinamen sind zwar im Überfluß vorhanden, darunter einige von ehrenwerter Abkunft; aber die sogenannten Parteien sind, recht besehen, relativ kleine persönliche Ge-folgschaften rivalisierender Politiker, von denen keiner über einen größeren Anhang zu gebieten scheint. Tatsächlich scheinen zur Zeit nur die Buddhisten eine richtige Massenorganisation zu haben; allenfalls mag man noch Tran Quoc Buus Gewerkschaftsbund (CTV) als eine solche gelten lassen.

Chaotischer Richtungsstreit

Zahllos sind die Emotionen, Ambitionen und Gruppenbindungen, die bei den hier skizzierten Konflikten eine Rolle spielen. Zweifellos sympathisieren viele Vietnamesen insgeheim mit den Kommunisten; andere trauern den Franzosen nach; und wieder andere bedauern noch heute den Sturz Diems und all das, was er verkörperte. Weite Kreise sind offensichtlich enttäuscht, erschöpft und des endlosen Bürgerkrieges müde. Auch neutralistische Stimmungen sind weitverbreitet; doch sind sie schwer zu messen und werden leicht überschätzt. (Der ausländische Beobachter muß sich in jedem Lande hüten, öffentlich geäußerte Meinungen mit wirklich repräsentativen zu verwechseln.) Viel tiefer sitzt wahrscheinlich eine in lebenslangen Wirren erworbene Vorsicht, die den Menschen eine zu eindeutige Parteinahme verbietet; der Selbsterhaltungswille nötigt sie, sich gegen alle Möglichkeiten zu sichern. Man findet aber auch Entschlossenheit zusammen mit dem Wissen, wer die Kommunisten eigentlich sind, wie das Leben unter ihrer Herrschaft aussieht und was ihre Version von „Neutralismus" oder „Verhandeln" in Wirklichkeit bedeutet. Und schließlich gibt es auch Anzeichen für Furcht — die ja leicht in Fanatismus umschlagen kann —, besonders bei den Flüchtlingen, die schon einmal vor einem kommunistischen Regime geflohen sind und wissen, was sie von einem Sieg der Kommunisten zu erwarten hätten.

In all den Gruppen, die wir betrachtet haben — vor allem bei den Buddhisten, den Studenten und den jüngeren Offizieren —, nehmen wir das rapide Wachstum eines politisch bedrohlichen und potentiell explosiven Nationalismus wahr: noch unausgereift, überlagert von Regionalismen, aber deshalb nicht weniger heftig und zumindest latent fremdenfeindlich. Letztlich gehen alle diese Emotionen von der Sehnsucht aus, eine vietnamesische Identität zu finden und festzuhalten. Aus ihnen erwächst ein verworrenes, aber tief bedeutsames Streben nach einer politischen Lösung, die den vietnamesischen Bedürfnissen entspricht, den vietnamesischen Realitäten angepaßt ist und im Einklang mit den vietnamesischen Traditionen steht. Bis zur Stunde hat dieser wachsende Nationalismus noch nicht die Gestalt des Antiamerikanismus angenommen; doch die Gefahr, daß eine solche Entwicklung eintritt, besteht und wird durch kurzsichtige taktische Manöver rücksichtslos ehrgeiziger Machtbewerber wahrscheinlich von Zeit zu Zeit noch größer werden (Beispiele liegen bereits vor). Die Kommunisten werden sich weiterhin ohne Unterlaß bemühen, nationalistische in antiamerikanische Gefühle zu verwandeln; sie werden alles Erdenkliche tun, um die Spannungen zwischen Süd-Vietnam und seinem wichtigsten Verbündeten zu verschärfen. Aber die Kommunisten müssen wissen, was wir nie vergessen dürfen: Von einem echten Nationalismus, der sich in Formen entwickelt, die sie nicht zügeln und kontrollieren können, haben sie am meisten zu befürchten.

Seit November 1963 hat Süd-Vietnam eine Reihe von Staatsstreichen, Putschen, Demonstrationen und Regierungswechseln erlebt, die den unorientierten Zuschauer verwirren und auf eine angeborene Unfähigkeit zur Selbstregierung schließen lassen könnten. Dieser Wirbel an der Oberfläche war jedoch nicht völlig ziel-und richtungslos, und die kaleidoskopartige Abfolge der Ereignisse hatte eine gewisse innere Logik. Wir sind Zeugen einer Verlagerung des Schwerpunkts der politischen Macht in den Städten und einer grundlegenden Neuformierung der politischen Kräfte — kurz, einer Revolution. In ihrem Verlauf kommt es zu Kraftproben und Versuchen, ein neues Gleichgewicht der Kräfte herzustellen. Das alles spielt sich unter dem Druck des Bürgerkrieges und in einer Lage ab, wo es keine traditionellen Symbole oder Institutionen gibt, die den Richtungsstreit kanalisieren oder in Schranken halten könnten. Dieser Prozeß ist chaotisch und wird es wohl bleiben, denn die Revolution, die ihn vorantreibt, ist wahrscheinlich noch nicht vollendet. Im Augenblick hat keine Gruppe die Revolution unter ihrer bewußten Kontrolle, und offenbar hat niemand die Macht, sie zu bremsen, Ihr Ausgang wird Süd-Vietnams politische Zukunft auf Jahrzehnte bestimmen.

Hanois Bürgerkrieg

Die Revolution, die wir in Süd-Vietnam beobachten, darf nicht mit dem von Hanoi gelenkten kommunistischen Aufstand verwechselt werden, obwohl die Kommunisten sie für sich in Anspruch nehmen, sie zu ihren Gunsten zu wenden suchen und diese Verwechslung (besonders in den Augen des Auslands) mit allen Mitteln fördern. Der Aufstand hat dazu beigetragen, das Klima zu schaffen, in dem die Revolution ausbrach; er hat ihre Probleme kompliziert und ihre Spannungen erhöht — aber die beiden sind nicht ein und dasselbe.

Der gegenwärtige Aufstand ist nur die jüngste Phase eines Feldzugs, den die Führung der Kommunistischen Partei Indochinas seit vierzig Jahren führt mit dem Ziel, die uneingeschränkte politische Herrschaft über ganz Vietnam, die Hegemonie über Laos und eine Art Suzeränität über Kambodscha zu erringen. In diesem Feldzug hat sie Zähigkeit, Rücksichtslosigkeit und große taktische Elastizität bewiesen. Sie hat ihn in eine proteische Vielfalt organisatorischer Formen gekleidet und ausgiebigen, wirksamen Gebrauch von verschiedenen, einander ablösenden „Fassaden" -Organisationen gemacht: die Viet-Minh-Liga, der Lien Viet, der Vaterländischen Front und — gegenwärtig — der „Nationalen Front für die Befreiung Süd-Vietnams". Jeder dieser Organisationen ist es gelungen, vietnamesische und besonders ausländische Beobachter zu täuschen.

In den dreißiger Jahren waren die Kommunisten schwach, und ihre Organisation war klein; doch kam ihnen zugute (was natürlich nicht beabsichtigt war), daß die Franzosen ihre stärksten nationalistischen Konkurrenten, die VNQDD, brutal unterdrückten. Während des Zweiten Weltkrieges bemächtigten sich die Kommunisten mit der kurzsichtig gewährten Hilfe des nationalchinesischen Gouverneurs von Kwangsi der vietnamesischen Unabhän-gigkeitsund Widerstandsbewegung, die damals von den Nationalchinesen gefördert wurde, um die Japaner zu stören (die 1940 in Indochina eingerückt waren). Diese Bewegung, die später zur Viet Minh wurde, empfing wegen ihrer angeblichen nachrichtendienstlichen Tätigkeit und ihrer Guerilla-Operationen gegen die Japaner sogar amerikanische Unterstützung. In Wirklichkeit arbeiteten die Kommunisten in dieser Periode hauptsächlich daran, sich für die Nachkriegszeit schlagkräftig zu machen, und vermieden es sorgfältig, japanische Aktionen zu provozieren, die diesen langfristigen Vorbereitungen hätten schaden können. Soweit die Kommunisten damals militärische Aktivität entfalteten, richtete sie sich zumeist gegen Gruppen vietnamesischer nationalistischer Rivalen.

In der wirren Zeit unmittelbar nach der Kapitulation der Japaner ergriffen die Kommunisten vorübergehend die Macht und führten etwa ein Jahr lang hinhaltende Verhandlungen mit den zurückkehrenden Franzosen. Während dieses Zwischenspiels blieben sie unablässig bemüht, alle nationalistischen Rivalen auszuschalten. Viele verrieten sie an die französische Polizei, andere ermordeten sie selbst (z. B. Huynh Phu So, den Begründer der Hoa Hao, und Diems Bruder Ngo Dinh Khoi), und mit stillschweigender Billigung der Franzosen führten sie militärische Operationen gegen antifranzösische Widerstandsgruppen, die sie selbst nicht unter absoluter Kontrolle hatten. Als im Dezember 1946 im ganzen Land die Feindseligkeiten ausbrachen, hatten die Kommunisten die nationalistische Sache usurpiert und waren uneingeschränkte Herren der Unabhängigkeitsbewegung. Diese Bewegung führten sie in klassischer Anwendung der Leninschen Zwei-Stadien-Theorie zum Siege: Sie stellten den Kampf ganz unter die Losung der nationalen Unabhängigkeit und errichteten dann in dem Teil Vietnams, den ihnen das Genfer Abkommen von 1954 zusprach, ein kommunistisches Regime.

Mitte 1954 hatten die Führer der Kommunistischen Partei Indochinas (die sich jetzt Lao Dong nannte) in Hanoi ihren Platz als Herrscher der „Demokratischen Republik Nord-Vietnam" eingenommen. Wie die meisten Beobachter nahmen sie an, Süd-Vietnam werde politisch in Zersetzung übergehen und nach den Wahlen, die die Genfer Konferenz für 1956 vorgesehen hatte, ihnen von selbst zufallen. Sie hatten keine Eile und waren mit anderen dringenden der Problemen beschäftigt, B. mit Konsolidierung ihrer Herrschaft im Norden und der Umgestaltung der nord-vietnamesischen Gesellschaft im kommunistischen Sinne.

Doch Diem vollbrachte das Unmögliche: Er ignorierte erfolgreich den Wahltermin und maite klar, daß Süd-Vietnam eine Über-lebenschance besaß. Daraufhin zettelte Hanoi seit 1957 kleine subversive Aktionen in Süd-Vietnam an, um dem unaufhaltsamen Gang der Geschichte etwas nachzuhelfen. Diese Kampagne steigerte sich langsam, aber stetig bis zum Herbst 1960. Zu diesem Zeitpunkt entschied Hanoi offenbar, daß etwas mehr nötig sei. Auf einem Parteitag der Lao Dong in Hanoi im September 1960 rief der Erste Sekretär der Partei, Le Duan, zur Schaffung einer „breiten Einheitsfront" auf, mit deren Hilfe die kommunistischen Ziele in Süd-Vietnam erreicht werden sollten (freilich drückte er es nicht ganz so offen aus). Bald danach erschien die „Nationale Befreiungsfront" auf der Bildfläche und verkündete ein Manifest, das praktisch eine Paraphrase von Le Duans Rede war. Von nun an nahm die kommunistische Subversionskampagne sprunghaft an Umfang und Intensität zu und war binnen einem Jahr das, was sie heute ist — ein voll-entfalteter Bürgerkrieg, den die kommunistischen Führer in Hanoi planmäßig schüren, um ihre politischen Ambitionen zu befriedigen.

Die Kommunisten haben selbstverständlich nie zugegeben, daß dies der wahre Ablauf der Ereignisse war. Vielmehr schildern sie den Aufstand als eine spontane, im Lande selbst (d. h. in Süd-Vietnam) aufgeflammte Fortsetzung der nationalistischen Revolution; diese habe zwar die Franzosen verjagt, sei aber dann nicht vollendet worden, weil an die Stelle der Franzosen die amerikanischen „imperialistischen Aggressoren" getreten seien. Die militärische und besonders die politische Taktik der Kommunisten hat sich als geschickt und erfolgreich erwiesen.

Die Kommunisten nutzten die Unordnung in Süd-Vietnam und die Mängel des Diem-Regimes in vollem Maße aus. Mit der These, daß die Amerikaner nur die imperialistischen Nachfolger der Franzosen seien, haben sie bisher nicht allzuviel Glück gehabt; aber bei den Bauern, auf die sie sich konzentrierten, fanden sie Gehör mit der nicht ganz falschen Behauptung, alle Regierungen in Saigon orientierten sich nur auf die Städte und seien Werkzeuge der reichen und grundbesitzenden Klassen. Unter den vietnamesischen Bauern ist der Regionalismus besonders stark; er tritt bei ihnen in der noch beschränkteren Form des Lokalismus auf. Der Horizont des durchschnittlichen Bauern reicht nicht über sein Dorf, seine Reisfelder und die Gräber seiner Ahnen hinaus. Dieses tiefwurzelnde Heimatgefühl machen sich die Kommunisten zunutze, indem sie in einem gegebenen Gebiet möglichst Kader und Soldaten einsetzen, die dort zu Hause sind. Das gleiche Gefühl hat sich im allgemeinen gegen die Saigoner Regimes ausgewirkt — besonders gegen das Diem-Regime —, weil deren Provinz-Verwaltungsbeamten in der Regel aus anderen Gegenden stammten als die ihnen anvertrauten Bauern.

Die Wirren des vergangenen Jahres, die durch Süd-Vietnams städtische Revolution und die damit einhergehende Labilität der Staatsmacht ausgelöst wurden, haben den Kommunisten auf kurze Sicht zweifellos Vorteile gebracht und sind von ihnen in jeder erdenklichen Weise ausgebeutet worden. Die Kommunisten sind auch so gut wie sicher zumindest in einige der streitenden Gruppen und Fraktionen eingedrungen. Dennoch haben sie die Revolution nicht gemacht, und sie haben sie auch noch nicht unter ihrer Kontrolle. Vielmehr weist die Revolution Entwicklungstendenzen auf, die ihnen mit gutem Grund tödlichen Schrek-ken einjagen.

Diese Revolution ist auf der Suche nach vietnamesischen Antworten auf die politischen Probleme Vietnams. Keine Antwort könnte weniger vietnamesisch, könnte den fundamentalsten vietnamesischen Traditionen fremder sein als diejenige, die der Kommunismus zu bieten hat. Die vietnamesischen Sitten und Werte sind in Jahrhunderten auf dem Boden einer Kultur gewachsen, die vom Reisanbau lebt. Dieser erfordert in bestimmten Jahreszeiten viele Arbeitskräfte, die während des übrigen Jahres wenig zu tun haben und irgendwie ernährt werden müssen. Auf Grund dieser Erfordernisse ist in Vietnam eine Gesellschaftsordnung entstanden, deren stärkste In-stitutionen die Großfamilie und das Privateigentum sind. Das Privateigentum ist Ausdruck der uralten Bindung des Bauern an den Boden, den er bestellt. Die Großfamilie bildet das gesellschaftliche Organ zur Unterhaltung von Arbeitskräften, die in der Saat-und Erntezeit gebraucht werden, sonst aber unbeschäftigt sind.

Die kommunistische Doktrin verlangt die Abschaffung dieser beiden Institutionen und läuft damit den elementarsten und grundlegendsten vietnamesischen Traditionen direkt zuwider. Außerdem steht der Kommunismus von Hanoi unter der Protektion der Chinesen, und Widerstand gegen die Chinesenherrschaft ist eines der großen Leitmotive der vietnamesischen Geschichte. Kurz, wenn sich die Akteure der gegenwärtigen vietnamesischen Revolution einmal klarmachten oder klarmachen könnten, um welche Fragen es in Wirklichkeit geht, dann würden sie erkennen, was einige in der Tat bereits erkannt zu haben scheinen: daß der Kommunismus und eine von den Kommunisten beherrschte Regierung die Negation alles dessen bedeuten würde, wofür sie bewußt und unbewußt kämpfen.

Nationalismus als Hoffnung

Es ist unvorsichtig, Voraussagen zu machen, zumal über das heutige Süd-Vietnam; sie können sich morgen als falsch herausstellen. Die Labilität der gegenwärtigen Lage kann schwerlich übertrieben werden. Es besteht die reale Gefahr, daß die in Gang befindliche Revolution Süd-Vietnam auseinanderreißt oder daß ein kommunistischer Sieg, begünstigt durch die revolutionären Wirren, sie zum Stehen bringt, wenn auch nicht beendet. Die Teilnehmer der Revolution werden von den verschiedensten Motiven getrieben, die nicht durchweg rein und idealistisch sind. Einige mögen aktiv für den Sieg der Kommunisten arbeiten, auch wenn sie laut das Gegenteil verkünden. Andere mögen den Fehler begehen, den schon viele gemacht haben, nämlich ein Bündnis mit den Kommunisten anstreben in der Absicht, sie zu übertölpeln oder nur „zeitweilig" zu benutzen. Der politische Streit und Hader mag die Kommunisten in die Lage versetzen, ein militärisches Übergewicht zu gewinnen, das ihnen praktisch nicht wieder zu nehmen wäre. Vietnam könnte im Begriff sein, die Erfahrungen zu wiederholen, die China in den Jahren 1948 und 1949 gemacht hat.

Trotz all dieser unbestreitbaren und überzeugenden Gründe zum Pessimismus bleibt indes die Tatsache bestehen, daß Vietnam es noch immer verstanden hat, einheimische und ausländische Propheten zu beschämen. Wenn der jetzige revolutionäre Prozeß die Möglichkeit findet, sich zu vollenden, wenn es dadurch den Vietnamesen selbst gelingt, ein neues politisches Gleichgewicht zu schaffen, wenn dieses Gleichgewicht Ausdruck in einem institutioneilen Gefüge findet, das den Bedürfnissen und Realitäten Vietnams entspricht und von den wachsenden Emotionen des vietnamesischen Nationalismus gestützt wird — dann kann man hoffen, daß aus der Revolution mehr echte Stabilität und Stärke erwächst, als irgendeine süd-vietnamesische Regierung bisher aufzuweisen gehabt hat. Könnte dann eine Saigoner Regierung, die den aufsteigenden Nationalismus in ihren Dienst zu stellen weiß und der auch die Bauernschaft ihr Geschick anvertraut, diese Regeneration des städtischen Zentrums hinaus in die Provinzen tragen, so wäre der Kampf gegen die Rebellion auf dem Weg zu echten Erfolgen. Mit einem Wort: Wenn Süd-Vietnams wirkliche Revolution nicht vorher das Land ruiniert, kann sie auf längere Sicht die kommunistischen Ambitionen zunichte machen und eine wirkliche nationale Ganzheit schaffen, die es bisher nicht gegeben hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In historischen Untersuchungen wird der Name „Vietnam" je nach der behandelten Periode für verschiedene Territorien gebraucht. Zu Beginn der christlichen Zeitrechnung war das Volk der Vietnamesen im wesentlichen auf das Delta des Roten Flusses beschränkt. Die Küstenebenen zwischen dem Delta des Roten Flusses und dem des Mekong gehörten zum Herrschaftsbereich des Königreichs Champa, das seinen Regierungssitz ursprünglich nördlich von Hue hatte. Südlich von den Cham lag das schattenhafte Königreich Fu Nan, von dem wenig bekannt ist; wir wissen nur, daß es um das 6. Jahrhundert n. Chr. unter dem Druck der Vorläufer der Khmer verschwand, die ihrerseits die Ahnherren der heutigen Kambodschaner waren.

  2. Praktisch alle Vietnamesen (im ethnischen Sinne), die Buddhisten sind, gehören einer der Mahayana-Sekten an. Die Khmer dagegen wurden Anfang des 13. Jahrhunderts zum Therevada(Hina-yana-) Buddhismus bekehrt. Im heutigen Süd-Vietnam gibt es Sekten von Therevada-Buddhisten, doch sind ihre Mitglieder der Volkszugehörigkeit nach überwiegend Kambodschaner, bekannt unter der Bezeichnung Khmer Krom.

  3. Thich heißt wörtlich „der Verehrungswürdige" und ist ein religiöser Titel, der etwa unserem „Hochwürden" entspricht.

  4. Diese Führung hat sich (bisher) bemerkenswert stabil gezeigt. Die Kommunistische Partei Indochinas ist praktisch die persönliche Schöpfung eines Mannes und hat immer dann geschwankt, wenn er das Steuerruder nicht fest in seinen Händen hielt. Gemeint ist natürlich der Mann, der unter dem Namen Nguyen Van Thanh (vielleicht auch Nguyen Van Cung) geboren wurde, sich bei einem Aufenthalt in Paris zur Zeit der Versailler Friedenskonferenz Nguyen Ai Quoc („Nguyen der Patriot") nannte und 1942, als er in nationalchinesischem Gewahrsam saß, sein heutiges Pseudonym Ho Chi Minh („Der, welcher sehen macht") an-nahm.

Weitere Inhalte

George A. Carver, politischer wissenschaftlicher und Asienexperte, zeitweise Beamter der amerikanischen Hilfsmission in Süd-Vietnam.