„Der Historiker liebt historische Präzedenzfälle. Er sieht in ihnen einen Anlaß zu aufschlußreichen Vergleichen und einen Grund, Ratschläge zu erteilen. Die Situation Deutschlands im Jahre 1945 bietet keine Parallele. Sie ist ein Sonderfall. Ein historisches Novum. Man könnte vielleicht einige
Mit dieser Charakterisierung der außergewöhnlichen Situation Deutschlands im Epochenjahr 1945 leitete Pierre Benarts eine am 10. Oktober 1945 in der „Revue politigue et parlamentaire" unter der Überschrift „Ein, zwei oder drei Deutschland?" veröffentlichte Untersuchung ein. Wie zahlreiche ausländische Publizisten und Politiker war auch er bestrebt, auf die beispiellose Lage des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes aufmerksam zu machen. Deren Betrachter und Kommentatoren stimmten in der Auffassung überein, daß es in der Geschichte der Menschheit kein mit dem Zustand Deutschlands im Jahre 1945 vergleichbares Ereignis gibt. Walter Lippman betonte in einem am 5. Mai 1945 veröffentlichten Leitartikel, daß die weitere Entwicklung in Deutschland der Einflußnahme der Deutschen entzogen und Aufgabe der vier alliierten Mächte, die an der Besetzung und ’ Kontrolle Deutschlands beteiligt sind, geworden sei:
„Sie müssen nun die Trümmer und Reste des deutschen Nationalstaates besetzen und regieren. Zur Lösung eines solchen Problems gibt es keine Präzedenzfälle. In der ganzen politischen Erfahrung der Menschheit gibt es nichts, das uns lehrt, wie vier so verschiedene Nationen wie die Russen, die Briten, die Franzosen und die Amerikaner eine so listige Bevölkerung, die sich in der materiellen und moralischen Verfassung der Deutschen befindet, regieren und verwalten sollen. Alles was man dazu sagen kann ist, daß, wenn diese vier Mächte eine Zusammenarbeit nicht zustande bringen, es ihnen nicht nur mißlingen wird, mit dem deutschen Problem fertig zu werden. Vielmehr wird ihr Mißerfolg sie spalten und in katastrophaler Weise trennen. Es gibt absolut keine Hoffnung, es sei denn ihre Einmütigkeit, die nur durch eine Art fanatischer Geduld, durch unbesiegbare Entschlossenheit zu geben und zu nehmen, damit sie zusammen handeln können, beibehalten werden kann. Das deutsche Problem ist so schwierig, und die Folgen im Falle des Ausbleibens einer Lösung wären so fürchterlich, daß alle anderen strittigen Fragen zwischen den Alliierten im Zusammenhang damit behandelt werden müssen."
Die Einsicht in die Einmaligkeit der den Siegermächten gestellten Aufgabe und der Zweifel an deren gemeinsamer Lösung bestimmten die Empfindungen, Vorstellungen und Äußerungen der Staatsmänner, Diplomaten, Politiker, Militärs und Publizisten im Augenblick des „Höllensturzes der Diktatoren", der in Italien anders verlief als in Deutschland, wo er Befreiung und Niederlage zugleich war. Zwar war, wie Winston S. Churchill in seinen Memoiren versichert, die bedingungslose Doppelkapitulation von Reims und Berlin Anlaß zu dem „gewaltigsten Freudenausbruch in der Geschichte der Menschheit"
Die Mächte der Anti-Hitler-Koalition, Großbritannien, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika, hatten seit dem Entstehen ihrer Allianz, in mehreren Erklärungen und in zusätzlichen Verlautbarungen zum Ausdruck gebracht, was sie in Deutschland mit allen ihnen als Sieger zur Verfügung stehenden Mitteln beseitigen, zerstören und verhindern wollten. Sie hatten auch allgemeine Ziele ihrer Politik in Deutschland angesprochen, waren jedoch nicht imstande gewesen, sich über deren Detaillierung und über die bei deren Erreichung zu beachtenden Methoden zu verständigen. Es bestand bei Kriegsende eine allgemeine Einmütigkeit über einen in Deutschland herbeizuführenden Wandel — es bestanden jedoch keine Übereinkünfte oder Vereinbarungen über dessen Ergebnis und über dessen Herbeiführung.
Sowohl Politiker als auch Publizisten der verbündeten Mächte diskutierten spätestens seit dem Sommer 1941 die weitgreifende und tiefschichtige Frage der Behandlung Deutschlands nach dessen Besiegung und Besetzung. Sie erklärten immer wieder, daß der Zweite Weltkrieg nicht wie der Erste Weltkrieg beendet werden dürfe, da es die Deutschen 1918 und später an Einsicht in ihre militärische Niederlage und die sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen hätten fehlen lassen. Politiker und Publizisten der Länder der Anti-Hitler-Koalition bekundeten bei allen sich bietenden Gelegenheiten die Entschlossenheit, den Krieg in das Land zu tragen, in dem er seinen Ausgang genommen hatte, und die Verantwortung für dessen weitere Entwicklung zu übernehmen. Die Frage der Behandlung Deutschlands wurde dadurch zum zentralen Problem der Kriegszielpolitik des Bündnisses gegen Hitler. Immer und überall sprachen Staatsmänner, Politiker, Psychologen, Pädagogen, Publizisten von dieser Notwendigkeit und dieser Aufgabe. Deutschland, so versicherten sie, müsse einer umfassenden Behandlung unterzogen werden, die ihm die materiellen Voraussetzungen zum Kriegführen nehme und seine Mentalität, sein auf kriegerische Aktion und Todesbereitschaft angelegtes Lebensgefühl, grundlegend verändere.
Bestimmung des Begriffes „Behandlung Deutschlands“
Der Begriff der Behandlung Deutschlands, der in den Verlautbarungen der verbündeten Regierungen und in der Literatur der mit Deutschland im Krieg befindlichen Länder eine hervorragende Rolle einnimmt, ist zunächst weitgespannt zu verstehen. Er reicht von den Maßnahmen, die bei der Kapitulation der Wehrmacht ergriffen wurden, bis zu der beabsichtigten Veränderung des deutschen Volkscharakters. In dieser weitgreifenden Bestimmung umgreift der Begriff der Behandlung Deutschlands alle erwogenen und angekündigten Maßnahmen: Verluste von Grenzgebieten, Vertreibung der dort und in ost-und südosteuropäischen Staaten lebenden Deutschen, Reparationsleistungen jeder Art, Zerstörung der deutschen Rüstungsindustrie im weitesten Sinne, Beschränkung des deutschen Industriepotentials, Entwaffnung der Wehrmacht, Bestrafung von Kriegsverbrechern, politische Säuberung des öffentlichen Dienstes, der Wirtschaft und des Kulturlebens, Neugestaltung der deutschen Verwaltungsstruktur, Veränderung der Besitzverhältnisse durch eine Bodenreform und durch Aufteilung bzw. Auflösung großer Industriekonzerne, politische und geistige Beeinflussung der deutschen Bevölkerung, vornehmlich der nachwachsenden Jugend. Die Siegermächte waren der Über-zeugung, daß nur durch zahlreiche gleichzeitige und koordinierte Maßnahmen das von ihnen mit der Besiegung Deutschlands verfolgte Ziel einer Sedidierung Deutschlands und der Deutschen erreicht werden könne.
Der Begriff der Behandlung Deutschlands wird jedoch auch eng gefaßt verstanden. Er meint dann vornehmlich die politisch-psychologische Behandlung Deutschlands — die Umerziehung, die re-education. Diese Bezeichnung hat in Deutschland einen dubiosen und maliziösen Klang; sie wird zu Unrecht auf den Bereich der politischen Haltung und das Gebiet der Erziehung eingeengt. Bei beiden Bereichen handelt es sich jedoch nur um Teilaspekte der Absicht, die deutsche Mentalität grundlegend zu verändern. Die psychotherapeutische Behandlung eines ganzen Volkes war damit angesprochen. Die Mächte rechtfertigen dieses Vorhaben mit der Notwendigkeit, im deutschen Volke die Eigenschaften, die bei der Entstehung der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mitwirkten und sichtbar wurden, zurückzudrängen und zu beseitigen und die Kräfte, die in Berücksichtigung der Lage und der Möglichkeit Deutschlands ein friedliches Zusammenleben mit allen Völkern, Rassen, Bekenntnissen und Ideologien befürworten, zu entwickeln und zu stärken. Von dem Erfolg oder dem Mißerfolg dieser Maßnahme hänge, so versicherten zahlreiche Publizisten vor allem im Frühjahr 1945, die Entscheidung über einen dritten Weltkrieg ab.
Angesichts dieser Bestimmung des Begriffes der Behandlung Deutschlands im engeren Sinne, der Umerziehung des deutschen Volkes im Sinne einer Umgestaltung der deutschen Mentalität, stellt sich im Hinblick auf das Jahr 1945, das — wie heute bereits erkennbar — eine Zäsur in der deutschen Geschichte vornimmt, die nur mit den großen politischen, kirchlichen und sozialen Veränderungen des konfessionellen Zeitalters und mit der umfassenden Umgestaltung Deutschlands zwischen 1795 und 1815 vergleichbar ist, die Frage nach den Vorstellungen sowohl der Mächte als auch der öffentlichen Meinung der Länder der Anti-Hitler-Koalition darüber während des Krieges und im Jahre 1945.
Die Beantwortung dieser Fragen wird vor allem durch zwei Umstände erschwert. Noch ist nur ein Teil der Akten über die Kriegszielpolitik der Großmächte veröffentlicht. Noch gibt es z. B. über die Verhandlungen der Europäischen Beratenden Kommission in London 1944/45, die die entscheidenden und einzig verbindlichen Vereinbarungen über die Besetzung und Kontrolle Deutschlands und auch Österreichs traf, nur persönliche Mitteilungen von beteiligten Vertretern Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika. Der vermutlich sehr umfangreiche Aktenbestand der Europäischen Beratenden Kommission, in dem sich auch detaillierte Vorstellungen über die Behandlung Deutschlands niedergeschlagen haben dürften, wurde bisher weder publiziert noch zur Einsichtnahme freigegeben. Solange diese und andere Unterlagen fehlen, ist nur eine unvollständige Deskription der alliierten Vorstellungen auch über die Umerziehung Deutschlands möglich. Während in der öffentlichen Meinung Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika und später auch Frankreichs eine sehr lebhafte Diskussion über die Umerziehung Deutschlands erfolgte, begnügte sich die sowjetische Presse mit der Wiedergabe der Parolen der Kriegspropaganda. Im Frühjahr 1945 kam es jedoch in der sowjetischen Presse zu einer bemerkenswerten publizistischen Kontroverse über die Frage der Behandlung Deutschlands. Diese fällt zusammen mit der „Peripetie der Deutschland-politik Stalins" 5).
I. Entfaltung der Diskussion 1941— 1945
1. Erörterungen und Erklärungen der Großmächte In der Atlantik-Charta vom 12. August 1941 6) bekundeten der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Franklin D. Roosevelt, und der Premierminister Großbritanniens, Winston S. Churchill, ihre Entschlossenheit, die Nazityrannei zu zerstören und allen Nationen die Möglichkeit zu geben, in Sicherheit innerhalb ihrer eigenen Grenzen und frei von Furcht und Mangel zu leben. Sie erklärten feierlich, keine Gebiets-oder sonstige Vergrößerungen zu erstreben, das Recht aller Völker, die Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen, anzuerkennen, allen Staaten, groß oder klein, Siegern oder Besiegten, fördernd zu helfen, daß sie unter gleichen Bedingungen Zutritt zum Handel und zu den Rohstoffen der Welt haben und die Zusammenarbeit zwischen allen Nationen auf wirtschaftlichem Gebiet zu erreichen mit dem Ziel, für alle einen gehobenen Arbeitsstandard, wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Sicherheit zu gewährleisten. Ziel der Atlantik-Charta war es, der Auseinandersetzung mit Deutschland eine allgemein gültige Grundlage zu geben. Dieser Absicht entsprach die von alliierten Politikern wiederholt geäußerte Versicherung, daß Deutschland kein Recht habe, sich auf die Grundsätze der Atlantik-Charta zu berufen. Dieser Ausschluß wurde durch das Aufgehen der bleibenden Forderungen der Atlantik-Charta in die Charta der Vereinten Nationen hinfällig.
Die im Januar 1943, am Ende der Konferenz von Casablanca, von Präsident Roosevelt ausgesprochene Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands, Italiens und ihrer Satelliten, der sogenannten Achsenmächte, und Japans
Die Konferenz der Außenminister der drei Großmächte vom 19. bis 30. Oktober 1943 in Moskau
Bei ihrer ersten Zusammenkunft in Teheran (28. November bis 1. Dezember 1943)
In ihrer gemeinsamen Erklärung über die Konferenz von Teheran bekannten sich die Großen Drei zu der höchsten Verantwortung, die sie und alle Vereinten Nationen tragen, „einen Frieden herzustellen, der von dem guten Willen der überwältigenden Massen der Völker getragen wird und Geißel und Schrekken des Krieges für viele Generationen bannen wird"
Während sich die Regierungschefs der Mächte der Anti-Hitler-Koalition in dem Kommunique über die Konferenz von Teheran noch mit allgemeinen Erklärungen begnügten, spezifizierten sie in der Verlautbarung über die Konferenz von Jalta (3. — 11. Februar 1945)
ihre Vorstellungen und Absichten über die Behandlung Deutschlands. Sie versicherten:
„Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und dafür Sorge zu tragen, daß Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu zerstören. Wir sind entschlossen, alle deutschen Streitkräfte zu entwaffnen und aufzulösen; den deutschen Generalstab, der wiederholt die Wiederaufrichtung des deutschen Militarismus zuwege gebracht hat, für alle Zeiten zu zerschlagen; sämtliche deutschen militärischen Einrichtungen zu entfernen oder zu zerstören; die gesamte deutsche Industrie, die für militärische Produktion benützt werden könnte, zu beseitigen oder unter Kontrolle zu stellen; alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen, sowie eine im gleichen Umfang erfolgende Wiedergutmachung der von den Deutschen verursachten Zerstörungen zu bewirken; die nationalsozialistische Partei, die nationalsozialistischen Gesetze, Organisationen und Einrichtungen zu beseitigen, alle nationalsozialistischen und militärischen Einflüsse aus den öffentlichen Dienststellen sowie dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes auszuschalten und in Übereinstimmung miteinander solche Maßnahmen in Deutschland zu ergreifen, die für den zukünftigen Frieden und die Sicherheit der Welt notwendig sind. Es ist nicht unsere Absicht, das deutsche Volk zu vernichten, aber nur dann, wenn der Nationalsozialismus und Militarismus ausgerottet sind, wird für die Deutschen Hoffnung auf ein würdiges Leben und einen Platz in der Völkergemeinschaft bestehen."
Im Zeitpunkt der ersten eingehenden Benennung der Kriegsziele der verbündeten Mächte in Deutschland waren bereits Vereinbarungen über die Kapitulation, die Besetzung und die Kontrolle Deutschlands durch die Europäische Beratende Kommission verabschiedet
Zwischen den technischen Abkommen für den Augenblick des Zusammentreffens sowjetischer und angloamerikanischer Truppen auf deutschem Boden und den allgemeinen Kriegs-zielen der verbündeten Mächte gab es keine Verbindung, keine Überbrückung, keine Verklammerung. Beide, technische Vereinbarungen und politische Deklamationen, standen beziehungslos nebeneinander. Dieser Umstand veranlaßte im Winter 1944/45 einen Gedankenaustausch über die in Deutschland anzuwendende Methode zur Erreichung der bekannt gemachten Kriegsziele; dieser war jedoch ergebnislos. Obwohl im Schoße der Administration Roosevelts umfangreiche Ausarbeitungen über die Methode der gemeinsamen Politik der drei bzw. vier Besatzungsmächte Deutschlands erstellt wurden, kam es darüber zu keiner Absprache oder Verständigung. Die amerikanischen Diplomaten und Militärs erreichten für die Vielzahl der von ihnen vorgeschlagenen und vorbereiteten Maßnahmen zwar das Wohlwollen Großbritanniens, nicht aber die Unterstützung der Sowjetunion. Deren Vertreter lehnten sowohl in Gesprächen in Moskau, London und Washington als auch in den Verhandlungen der Europäischen Beratenden Kommission jeden Versuch, zu einer Übereinkunft über Durchführung der Grundsätze der Behandlung Deutschlands zu gelangen, ab
Das Fehlen einer Verständigung und Vereinbarung über die Durchführung der vornehmlich im Kommunique über die Konferenz von Jalta ausgesprochenen Kriegsziele der Mächte der Anti-Hitler-Koalition erklärt den im Augenblick der Kapitulation in Deutschland einsetzenden Prozeß der Verfremdung und Teilung. Durch den bewußten Verzicht auf die Festlegung der Einzelheiten der Behandlung Deutschlands blieb die unterschiedliche Auslegung der gemeinsamen Erklärungen dazu verdeckt. Die „Koalitionsraison" veranlaßte ein Versäumnis, das die politische Einheit Deutschlands in existentielle Gefahr brachte. 2. Vorstellungen und Forderungen der öffentlichen Meinungen Die amerikanische Öffentlichkeit wurde durch die Einsetzung von Regierungsausschüssen über die Beratung von Nachkriegsproblemen zur Diskussion der Behandlung Deutschlands angeregt. Sie befaßte sich damit in einer Unzahl von Vorträgen, Artikeln, Aufsätzen und Untersuchungen, deren Sammlung, Sichtung und Beschreibung noch aussteht. Eine Mehrheit unterstützte die Ansichten des Präsidenten Roosevelt, eine Minderheit verwarf diese, weil sie der politischen Fairneß zuwiderliefen und den Frieden gefährdeten.
Präsident Roosevelt ging bei zahlreichen Gelegenheiten auf das Problem der Behandlung Deutschlands und der Deutschen ein. Er setzte, wie bereits ausgeführt, in Casablanca die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation durch. Er versicherte kurze Zeit später, am 12. Februar 1943, in einer Rundfunkansprache: „Diese unsere kompromißlose Politik soll nicht den breiten Massen in den Achsenländern zum Schaden gereichen. Aber wir haben allerdings die Absicht, die schuldigen barbarischen Führer zu bestrafen und an ihnen volle Vergeltung zu üben."
Roosevelt sympathisierte mit dem Morgenthau-Plan, auch wenn er diesem die Qualität einer regierungsamtlichen Stellungnahme oder Verlautbarung versagte. In seiner Ansprache vor der Vereinigung der Außenpolitik am 21. Oktober 1944 ging er ausführlich auf das deutsche Schicksal ein: „Was Deutschland betrifft, dieses unglückselige Volk, das Wind
Aber ich würde den Grundlagen meiner religiösen und politischen Überzeugung untreu werden, wenn ich je die Hoffnung — und sogar den Glauben — aufgäbe, daß in allen Völkern ohne Ausnahme ein Instinkt der Wahrheit, ein Hang zur Gerechtigkeit und eine Leidenschaft für den Frieden leben — mögen sie auch, wie im Falle Deutschlands, unter einem brutalen Regime begraben sein. Wir richten keine Anklagen gegen das deutsche Volk als solches, denn wir können nicht glauben, daß Gott irgendeinen Teil der Menschheit für ewige Zeit verdammt haben sollte. Wir wissen, wie viele brave Männer und Frauen deutscher Herkunft hier in unserem Lande sich als loyale, freiheitsliebende und friedliebende Mitbürger erwiesen haben. Alle diejenigen, die in Deutschland unmittelbar für diese furchtbaren Leiden der Menschheit verantwortlich gemacht werden können, werden streng bestraft werden. Die Deutschen sollen nicht versklavt werden — weil die Vereinigten Staaten keinen Sklavenhandel treiben. Aber sie werden sich ihren Rückweg in die Brüderschaft der friedliebenden und gesetzestreuen Nationen erst verdienen müssen, und wir werden bestimmt dafür sorgen, daß sie auf dieser steilen Straße keine schweren Geschütze mitzuschleppen haben. Diese Bürde werden wir ihnen abnehmen — hoffentlich für immer. Die Aufgabe, die vor uns liegt, wird nicht einfach sein. Ja, es hat wohl noch nie eine amerikanische Regierung vor einer so schwierigen und komplizierten Aufgabe gestanden." 19) In seinem Bericht über die Konferenz von Jalta vor dem amerikanischen Kongreß ging Präsident Roosevelt erneut ausführlich auf die Beantwortung der Frage ein, was bedingungslose Kapitulation für Deutschland bedeutet. Er nannte dabei die in dem Kommunique der Konferenz von Jalta ausgesprochenen Maßnahmen und versicherte abschließend: „Wir wünschen nicht, daß das deutsche Volk verhungert oder daß es der übrigen Welt zur Last fällt. Wir verfolgen gegenüber Deutschland eine ganz einfache Absicht — nämlich den Frieden der künftigen Welt zu sichern. Allzu viele Erfahrungen haben uns gezeigt, daß dieses Ziel nicht erreicht werden kann, solange Deutschland auch nur die mindeste Chance behalten darf, einen Angriffskrieg zu führen. Diese Absicht wird dem deutschen Volk nicht weh tun. Im Gegenteil, sie wird die Deutschen vor einer Wiederholung des Schicksals schützen, die der Generalstab und das Kaisertum ihnen schon einmal auferlegt haben und das der Hitlerismus ihnen jetzt abermals und hundertfach schlimmer aufzwingt. Aus dem deutschen Körper wird ein Krebsgeschwür entfernt werden, das Generationen hindurch der Welt nur Elend und Schmerzen bereitet hat." 20)
Die Vorstellungen Roosevelts wurden in zahlreichen Darlegungen, Forderungen und Plänen modifiziert und artikuliert. Am bekanntesten sind die Empfehlungen von Sumner Welles 21)
und Henry Morgenthau jr.
Das amerikanische Außenministerium vertrat die Ansicht, die geforderte Veränderung der Deutschen hänge von den ihnen zugestandenen Lebensbedingungen ab. Es erklärte am 12. Januar 1945 im Entwurf von „Richtlinien für die Behandlung Deutschlands": „Die Ablehnung militärischer und ultra-nationalistischer Ideologien wird auf die Dauer abhängen von der psychologischen Entwaffnung des deutschen Volkes, erträglichen wirtschaftlichen Verhältnissen und der Entwicklung stabiler politischer Verhältnisse. Die einleuchtendste Hoffnung auf dauerhaften politischen Wiederaufbau und eine ordentliche Entwicklung liegt in der Errichtung einer demokratischen Regierung trotz der Tatsache, daß ernsthafte Schwierigkeiten solch einen Versuch erschweren werden. Das Außenministerium empfiehlt daher, daß es zum Ziel der Politik der Vereinigten Staaten gemacht werde, das deutsche Volk auf Selbstregierung vorzubereiten, sobald Selbstregierung mit Rücksicht auf die internen Verhältnisse und Sicherheitserwägungen möglich ist. Die erfolgreiche Errichtung eines demokratischen Regimes wird in beträchtlichem Maße nicht nur von einem erträglichen Lebensstandard, sondern auch von einer Mäßigung der jetzt vorherrschenden ultra-nationalistischen Mentalität abhängen. Ein demokratisches Experiment wird, wegen seiner notwendigen Unterwerfung unter den Willen der Sieger, unter einer schweren Last zu arbeiten haben, und es muß, wenn es überleben soll, imstande sein, der Loyalität und dem Patriotismus des deutschen Volkes ein gewisses Anrecht zuzugestehen. Um zu einem konstruktiven neuen Start in das politische Leben anzuregen, empfiehlt das Außenministerium, den Deutschen die Versicherung zu geben, daß ein demokratisches Deutschland, das seine Absicht und Fähigkeit, in Frieden zu leben, beweist, einen ehrenhaften Platz in der Gemeinschaft der Nationen erwerben kann. Um das Aufwerfen einer Frage ähnlich der, die nach 1919 von den Nationalisten zur Diskreditierung der Demokratie und der internationalen Zusammenarbeit ausgeschlachtet wurde, zu verhindern, ist das Außenministerium dagegen, daß in die Friedensregelung eine Kriegsschuldklausel ausgenommen wird, die gegen das ganze deutsche Volk gerichtet ist."
Großbritannien trat widerstrebend in den Zweiten Weltkrieg ein. Erst unter dem Eindruck der Ereignisse des Jahres 1940, der Entscheidung von Dünkirchen und der deutschen Luftangriffe auf britische Städte entstand, von Premierminister Churchill beeinflußt und angefeuert, eine entscheidende Stellungnahme zum Krieg. Sie löste eine breite Diskussion über die Frage der in Deutschland und gegenüber den Deutschen zu ergreifenden Maßnahmen aus. Während Sir Robert Vansittart die Auffassung vertrat, die Deutschen seien schon zu Zeiten des Tacitus aggressiv und seit 1864 an fünf europäischen Kriegen schuld gewesen, sie seien nicht zu ändern, schon gar nicht zu bessern, weshalb nur strenge Maßnahmen angezeigt wären, lehnten andere Politiker und Publizisten, z. B. E. A. Carr, jede Politik der Bestrafung, der Teilung, der wirtschaftlichen Behinderung und der geistigen Zwangserziehung als rückschrittlich und unmöglich ab. Eine Studiengruppe von „Chatam House“, des Royal Institute of International Affairs, veröffentlichte 1943 einen vorläufigen Bericht „The Problem of Germany", der sich mit deutschen Angelegenheiten, auch mit der Frage der Veränderung der deutschen Mentalität, befaßte. Dieser verwies zunächst auf die einem solchen Vorhaben entgegenstehenden Schwierigkeiten: „Vielleicht gibt es einen Mittelweg zwischen der anmaßenden Oberflächlichkeit, die meint, daß ein Volk bzw. eine Völkergruppe einfach die , Re-education'eines anderen Volkes auf sich nehmen kann, und einem rein passiven Verhalten. So wollen wir denn überlegen, was wir — falls ein Wan-del möglich ist — verwandelt sehen möchten;
wie man sich den Vollzug dieses Wandels wohl vorstellen kann; und welche Rolle — wenn überhaupt — fremde Völker, insbesondere England, bei diesem Prozeß spielen können. Damit wir die Aufgabe nicht für leicht erachten, wollen wir zunächst bedenken, daß Deutschland großen Anspruch darauf erhebt — welches Land größeren? —, der Lehrmeister anderer zu sein. Außerdem ist die westliche Welt noch bis vor ganz kurzem sein aufmerksamer Schüler gewesen. Deutschlands strategische, wirtschaftliche, soziale und sogar seine politischen Ideen haben anderswo in die Tiefe gehende Einbrüche erzielt, die die deutsche Politik für die Erreichung eines eindeutigen Ziels auszunutzen verstand, nämlich für die Neutralisierung etwaigen Widerstandes gegen ihre Expansions-Tendenzen. Wenn wir die Niederlage dieses politischen Versuchs herbeiführen wollen, so brauchen wir nicht alle die Dinge umzulernen, die der Prozeß der Ost-West-Erziehung uns beigebracht haben mag. Diese Art von Ideenassimilation ist unvermeidlich bei einer länger währenden Auseinandersetzung und ist in der britischen Geschichte keineswegs neu. Aber es gibt gewisse Positionen, die wir unter gar keinen Umständen aufgeben können. Den Vertretern der Anschauung, daß das Erziehungswesen in Deutschland eine neue Wendung erhalten müsse, scheint vor allem das Ziel vorzuschweben, daß die Einstellung des einzelnen Deutschen zu internationalen Fragen geändert werden solle.“ Nach einer Deskription der deutschen Haltung gegenüber weltpolitischen Vorgängen definierte der Bericht der Studiengruppe des Chatam-House die angestrebte „Geistesänderung in Deutschland" als „eine . kooperative Mentalität'im Sinne einer verständigungsbereiten Einstellung zu internationalen Angelegenheiten bei dem einzelnen Deutschen“, über die Voraussetzung dieses Wandels führte der Bericht aus: „Des Pudels Kern ist, daß eine neue deutsche Geisteshaltung, wenn schon nicht ausgeschlossen, doch auf jeden Fall, falls sie von Dauer sein soll, sich nur langsam wird entwickeln können und daß sie wesentlich aus einer freiwilligen deutschen Entwicklung kommen muß, obwohl sie durch das Tun oder Unterlassen von Ausländern gefördert oder gehemmt werden kann. Außerdem wird sie — wenn überhaupt — weniger durch kluge Rezepte als durch das Wirken der Erfahrung und eine neue Umwelt zuwege gebracht werden. Die Meinung des einzelnen wird, insbesondere in der Zeit unmittelbar nach dem Kriege, wenn sie äußerst empfänglich sein dürfte, von den Antworten beeindruckt werden, die die Tatsachen auf Fragen geben wie: Können die Kriegshetzer , so davonkommen'? Zeigen die Ausländer weiterhin eine Vorliebe für Deutschlands ehemals herrschende Cliquen? Gibt es Arbeit? Gibt es Nahrung? Wird Deutschland umschmeichelt, so als ob man es fürchtet? Soll Deutschland an sich für anscheinend ewige Zeiten geächtet sein?"
Sowohl Premierminister Churchill als auch Außenminister Eden nahmen zahlreiche Gelegenheiten wahr, sich über die britischen Absichten nach der Niederwerfung Deutschlands zu äußern. Winston S. Churchill erklärte am 21. September 1943: „Ich bin überzeugt, daß das englische, das amerikanische und das russische Volk, die durch den teutonischen Drang nach Vorherrschaft zweimal in einem Viertel-jahrhundert maßlose Verwüstungen, Gefahr und Blutvergießen erlitten haben, diesmal Schritte unternehmen werden, Preußen oder ganz Deutschland der Macht zu berauben, sie noch einmal mit aufgestauten Rachegelüsten und lange gehegten Plänen zu überfallen. Nazi-Tyrannei und preußischer Militarismus sind die beiden Hauptelemente deutschen Lebens, die restlos ausgetilgt werden müssen. Sie müssen mit den Wurzeln ausgerissen werden, wenn Europa und der Welt ein dritter und noch schrecklicherer Konflikt erspart werden soll."
Die öffentliche Meinung Großbritanniens verurteilte alle Verbrechen, die von Deutschen begangen worden waren, auf das heftigste, verhielt sich jedoch reserviert gegenüber den optimistischen Erwartungen, die die Mehrheit der öffentlichen Meinung der Vereinigten Staaten von Amerika äußerte. Michael Balfour ist der Meinung, der britische Lustspieldichter Noel Coward habe mit seinem 1945 geprägten satirischen Ausspruch „Sei nicht so gemein zu den Deutschen!" die britische Stimmung durchaus treffend wiedergegeben. Churchill habe das britische Volk mehr durch vernünftige Menschlichkeit als durch wohlüberlegte Vorschriften daran gehindert, in „BilligeJakob-Lösungen" zur verfallen 27).
Die sowjetische Politik zeigt vom 22. Juni 1941 an gegenüber Deutschland ein doppeltes Gesicht. An der Jahreswende 1941/42 sprach Stalin die beiden Absichten offen aus. Er erörterte im Dezember 1941 mit dem britischen Außenminister Eden die Aufteilung Deutschlands 28). Er erklärte am 24. Jahrestag der Gründung der Roten Armee, am 23. Februar 1942: „In der ausländischen Presse wird manchmal darüber geschwätzt, daß die Rote Armee das Ziel habe, das deutsche Volk auszurotten und den deutschen Staat zu vernichten. Das ist natürlich eine dumme Lüge und eine törichte Verleumdung der Roten Armee. Solche idiotischen Ziele hat die Rote Armee nicht und kann sie nicht haben. Die Rote Armee setzt sich das Ziel, die deutschen Okkupanten aus unserem Land zu vertreiben und den Sowjetboden von den faschistischen deutschen Eindringlingen zu befreien. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Krieg für die Befreiung des Sowjetbodens zur Vertreibung oder Vernichtung der Hitlerclique führen wird. Wir würden einen solchen Ausgang begrüßen. Es wäre aber lächerlich, die Hitler-clique mit dem deutschen Volk, mit dem deutschen Staate gleichzustellen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt." 29)
Die Zeugnisse sowjetischer Kriegsziele bewegen sich zwischen der Absicht einer politischen und wirtschaftlichen Schwächung des Deutschen Reiches und dem Wunsch, aus dem militärischen Gegner einen politischen Verbündeten zu machen. Die mit dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und dem Bund deutscher Offiziere 30) verfolgten Absichten gingen in die letztgenannten Richtungen. Die Weigerung sowjetischer Vertreter, Vereinbarungen über die Methode der Behandlung Deutschlands zu treffen, entsprangen dem — freilich niemals geäußerten — Wunsch, in Deutschland eine Politik zu treiben, die auf Gewinnung der Angehörigen der Arbeiter-und Bauernklasse ausging. Die Sowjetunion verbarg ihre Enttäuschung über die ausgebliebene Erhebung zumindest eines Teiles des deutschen Volkes nicht, hoffte jedoch, durch eine Veränderung der Wirtschafts-und Sozialstruktur die Voraussetzungen für die politische Veränderung zu schaffen, die sie als die Umerziehung der Deutschen verstand. Diese Auffassung machte sie spätestens im Winter 1944/45 ihren westlichen Verbündeten deutlich. Indem sie deren Wunsch auf Abstimmung und Koordinierung der zur Umerziehung der Deutschen zu ergreifenden Maßnahmen zurückwies und die von ihr geplanten Veränderungen der Wirtschafts-und Sozialstruktur ankündigte, stellte sie die zu diesem Zeitpunkt beinahe noch problemlos betrachtete gemeinsame Regierung und Verwaltung Deutschlands in Frage.
Frankreich schaltete sich erst nach seiner eigenen Befreiung vernehmbar in die weltweite Diskussion über die Behandlung Deutschlands ein 3’). General de Gaulle wünschte ausreichende Garantien für das französische Sicherheitsbedürfnis. Die öffentliche Meinung Frankreichs verlangte unter dem Eindruck einer langen und harten Besetzung Maßnahmen, die nicht nur diejenigen, die in dieser Zeit Verbrechen begangen hatten, zur Rechenschaft zogen, sondern auch eine Wiederkehr einer solchen Situation unmöglich machten.
II. Veränderungen im Jahre 1945
1. Die „verwirrende neue Linie"
der sowjetischen Besatzungspolitik Im Zeitpunkt der Doppelkapitulation von Reims und Berlin-Karlshorst waren bei den Regierungen und in der öffentlichen Meinung der Völker der vier Besatzungsmächte sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Behandlung Deutschlands im weiteren und engeren Sinne vorhanden. Man glaubte zu wissen, was ausgeschaltet werden solle. Man wußte jedoch nicht, welche neue Entwicklung begünstigt werden solle. Nicht wenige politische Beobachter und Kommentatoren waren darüber beunruhigt und besorgt. Sie vertraten zwar unverändert die Forderung, Deutschland einer überlegten Behandlung zu unterwerfen, fürchteten jedoch, daß es über die dabei anzuwendende Methode und über die anzustrebenden Ziele zu keiner Verständigung unter den Besatzungsmächten kommen werde. Die westliche Presse,
Diese war für den Westen verwirrend. Die amerikanische Militärregierung in Deutschland war über die Auswirkungen dieser Peripetie bestürzt. Die sowjetische Militäradministration ließ bekanntlich am 10. Juni 1945 Parteien und Gewerkschaften zu. Sie errichtete Landes-verwaltungen und Zentralbehörden und bereitete wirtschaftliche Maßnahmen revolutionären Charakters vor. Die Sowjetunion verstand dieses Handeln als eine Realisierung ihrer Auffassungen von der Behandlung Deutschlands. Der politische Berater beim amerikanischen Hauptquartier in Deutschland, Robert E. Murphy, sah sich dadurch veranlaßt, dem amerikanischen Außenministerium am am 28. Juni 1945 zu erklären, die amerikanische Politik sei „im wesentlichen negativ und eine Politik der Unterdrückung, die zu einem politischen Vakuum führe, das auszufüllen verschiedene Gruppen zweifellos versuchen würden." Er verwies auf die gegensätzliche Situation in der sowjetischen Besatzungszone. Zu dem Befehl des Marschalls Schukow über die Zulassung von politischen Parteien und Gewerkschaften bemerkte Murphy: „Ein Kommentar zu dieser Maßnahme gibt deutlich zu verstehen, daß dieser Befehl zur Entwicklung eines totalitären Einparteiensystems des gleichen Typs führen wird, den es bereits in Osteuropa und im Balkan gibt. Der Kommentar fordert eine starke Demokratie, nicht eine Demokratie nach Weimarer Muster, und betont, die demokratischen Kräfte müßten vereint und dürften nicht gespalten sein. Er schließt mit der Warnung, daß alle, die die Einheitlichkeit der demokratischen Kräfte zu zerstören versuchten, als Feinde der Demokratie behandelt werden würden. Diese Maßnahmen werden wohl schließlich dazu führen, daß die politische Führung in der russischen Zone vollständig in die Hände des Nationalkomitees , Freies Deutschland gelangt. Dessen Tätigkeit wird darauf abzielen, auf unsere Zone überzugreifen. Wenn Wir endlich das augenblickliche Verbot politischer Betätigung aufheben, haben die Kommunisten eventuell den Vorteil eines erheblichen Vorsprungs, da sie die einzige politische Gruppe sind, die in Deutschland eine feste Organisation hat und auf nationaler Grundlage tätig ist. Ein weiterer sie begünstigender Faktor liegt in der Möglichkeit, daß sie durch eine der vier Besatzungsmächte eventuell stark unterstützt werden." Murphy befürwortete nachdrücklich eine baldige Genehmigung politischer Parteien und versicherte abschließend, die angeschnittene Frage verdiene größte Aufmerksamkeit
Der Ausschuß machte in einzelnen Aussagen über das Wesen der militärischen Besetzung Deutschlands, über die wirtschaftliche Sanierung Deutschlands, über die Umwandlung des sozialen Gefüges in Deutschland, über die politische und kulturelle Struktur Deutschlands nach der Besatzungszeit und über die Fern-ziele der amerikanischen Außenpolitik und ihre Auswirkungen auf Deutschland und das deutsche Volk. Zu dem letztgenannten Punkt versicherte der Ausschuß, es müsse der Wunsch der Regierung der Vereinigten Staaten sein, daß Deutschland nach Beendigung der Besatzungszeit zu einer die Staatsgewalt selbständig ausübenden Nation wird, in der Einzelpersonen für die Führung der Staatsgeschäfte verantwortlich sind, und nicht zu einer totalitären Nation, in welcher der Staat die Staatsgewalt für die einzelnen Bürger ausübt. In der Begründung seiner Empfehlungen brachte der Ausschuß seine Befürchtung darüber zum Ausdruck, daß Deutschland im Falle der Uneinigkeit der Besatzungsmächte über die grundsätzlichen politischen Richtlinien auf dem Gebiet der Umerziehung zum Schauplatz eines ideologischen Krieges werden könne mit den schwerwiegenden Verwicklungen, die damit für die Zukunft verbunden seien. Er erläuterte die Bedeutung der Umerziehung Deutschlands. Zu der damit verfolgten Absicht sagte er: „Das deutsche Volk muß zu der Einsicht kommen, daß die Ablehnung [allgemein gültiger Rechtsgrundsätze] durch die Nazis alle Rechte des Einzelmenschen im Nazistaat zerstört, das Streben nach Errichtung einer Welttyrannei unausbleiblich gemacht und Deutschland in sein heutiges Unglück gestürzt hat. Auch muß das deutsche Volk einsehen lernen, daß die jetzt verhängten Kontrollmaßnahmen nicht allein daher rühren, daß die Deutschen andere verletzt haben. Diese Maßnahmen wurden notwendig auch durch das politische Chaos in Deutschland, eine direkte Folge der Tatsache, daß die Nazis alle politischen Rechte unterbunden und innerhalb der Nation alle anderen organisierten Kräfte vernichtet haben."
Auf die Frage der Umerziehung des deutschen Volkes ging auch die von dem mit Nachkriegs-problemen befaßten Zentralsekretariat der amerikanischen Bundesämter erstellte Denkschrift vom 12. Juli 1945 ein, die die mit der Besetzung Deutschlands von der Regierung der Vereinigten Staaten verfolgten Ziele erörterte. Es hätten sich vor allem drei Möglichkeiten angeboten:
„ a) Die deutsche Nation zu vernichten, da sie nachweislich verbrecherisch gehandelt hat und da ihr nicht zu trauen ist, wenn sie mit den in ihrem Besitz befindlichen wirtschaftlichen Vernichtungsmitteln in der heutigen wissenschaftlich orientierten Welt weiterbesteht;
b) die deutsche Nation dazu zu verurteilen, daß ihr gewaltsam und für immer die Mittel zur Auslösung eines Krieges genommen werden, die industriellen und wissenschaftlichen Einrichtungen eingeschlossen, die sich leicht für den Kriegsgebrauch umstellen lassen;
c) den Versuch zu unternehmen, den Charakter der deutschen Nation zu ändern, indem man die Denkweise der Deutschen so umformt, daß man Deutschland als Nation vielleicht weiterbestehen lasse und es ihm eines Tages vielleicht gestatten könne, ein Leben ohne Überwachung und Kontrolle zu führen."
Das amerikanische Memorandum versicherte, die erste Möglichkeit sei niemals in Erwägung gezogen, der zweiten Möglichkeit habe man sich nicht bedient — es bleibe also die dritte Möglichkeit. Es beschrieb in diesem Zusammenhang das eigentliche Ziel der Besetzung Deutschlands: „Wir besetzen Deutschland, um das Wesen der deutschen Nation und des deutschen Volkes so zu wandeln, daß Deutschland später einmal Vertrauen als eine unabhängige Nation in einer Welt genießt, in der es Waffen geben wird, die größere Vernichtungskraft besitzen und schwieriger zu überwachen sind, als dies heute der Fall ist." über die Frage der Behandlung Deutschlands führte die Denkschrift aus: „Im Augenblick neigt man dazu, einen Unterschied zwischen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen hinsichtlich Deutschland einerseits und Maßnahmen zur Umerziehung des deutschen Volkes andererseits zu machen. Bei den Maßnahmen zur Umerziehung ist man so verfahren, als ob zwischen dem damit angestrebten Ziel und den Zielen, die man mit den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Maßnahmen verfolgt, ein Unterschied bestünde.
Wenn jedoch die gegebene Analyse stimmt, gibt es bei allen Aspekten der Besatzung — ob sie nun militärischen, wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Charakters sind — nur ein endgültiges Ziel, das überwiegend psychologisch bedingt ist: ein Deutschland zu schaffen, dem man vertrauen kann, ohne es besetzt oder auf dem Gebiet der modernen Wissenschaften unter Überwachung zu halten. Bei allen Besatzungsmaßnahmen — einschließlich derer zur Vernichtung der gegenwärtigen Möglichkeiten Deutschlands, einen Krieg zu beginnen — handelt es sich ja insofern um Maßnahmen für eine . Umerziehung', als ihr Erfolg nicht nach den unmittelbaren Folgen dieser Maßnahmen beurteilt werden sollte, sondern nach ihrer schließlichen Wirkung auf die deutsche Denkweise und den nationalen Charakter der Deutschen." Die Denkschrift kam zu der Über-zeugung, auf die Dauer gesehen sei nur die Umerziehung des deutschen Volkes das einzig wirksame Mittel, Deutschland daran zu hindern, einen neuen Krieg zu beginnen. Sie verlangte gleichzeitig von den Vereinigten Staaten Klarheit über das neu zu schaffende Deutschland: „Die Seele des Menschen verabscheut ein Vakuum ebensosehr wie die Natur es tut. In der Seele eines Menschen wie in der eines ganzen Volkes kann man etwas Vorhandenes nicht durch ein Nichts ersetzen.
Die Russen haben in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten. Ihre Absicht ist es, an die Stelle des Nazismus den Kommunismus zu setzen. Nach ihrer Auffassung ist ein zum Kommunismus bekehrtes Deutschland für sie keine Gefahr mehr. Wir halten wahrscheinlich ein Deutschland, das zur Achtung des Wertes und der Würde des Menschen und zum Glauben an die Grundsätze der Gerechtigkeit sowie an das Recht des Menschen, sich selbst zu regieren, bekehrt ist, für ein Deutschland, dem wir vertrauen können. Wenn diese Wandlung jedoch unser Ziel ist, dann müssen wir es auch anerkennen und bewußt verfolgen. Wir müssen wieder die Rolle spielen, die wir am Anfang unserer Geschichte schon einmal gespielt haben. Wir müssen bereit und willens sein, den Gedanken der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Würde des Menschen zu verbreiten."
Die französische Zeitschrift „Esprit“ befaßte sich in ihrer Ausgabe vom 1. Mai 1945 ausführlich mit der Situation Deutschlands, deren zahlreiche Aspekte sie untersuchte. Andre Philip erklärte in einer Betrachtung über „Die Bestrafung Deutschlands und den Wiederaufbau Europas", er glaube nicht daran, daß es den französischen Interessen dienlich ist, Deutschland zu teilen oder die Ruhr oder das linke Rheinufer auf die Dauer zu besetzen. Er empfahl eine Reihe von Maßnahmen, vornehmlich wirtschaftlicher Art, die eine Verwendung des deutschen Industriepotentials für kriegerische Zwecke unmöglich machten, und bezeichnete die Zerstörung des Großgrundbesitzes, des wirtschaftlichen Rückhalts der Junker, als eine Voraussetzung des Friedens. Er verlangte eine vollständige Entwaffnung Deutschlands. Er regte an, die deutsche Industrie international zu verstaatlichen, d. h. die
Leitung der deutschen Industrie einer internationalen Gesellschaft zu übertragen, die sich aus den wichtigsten, am Wohlstand des Westens interessierten europäischen Ländern zusammensetzen solle. Er schlug schließlich die Bildung einer internationalen Polizeistreitmacht vor, die die Durchführung und Überwachung der Deutschland auferlegten Bedingungen garantieren solle
Michel Collinet fragte in der gleichen Zeitschrift nach der „Zukunft Europas". Nachdem er auf die Gefahren des durch die Leiden des Zweiten Weltkrieges intensivierten Nationalismus hingewiesen und die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschafts-und Sozialordnung Europas gefordert hatte, ging er auch auf die Situation Deutschlands ein. Er bezeichnete das deutsche Problem im Hinblick auf seine Bedeutung und seine historische Beispiellosigkeit als das schwerwiegendste Problem, vor das sich jemals Menschen gestellt sahen. Die Lösung des deutschen Problems müsse darin bestehen, die Möglichkeit zu schaffen, das ehemalige Hitler-Deutschland wieder in die Gemeinschaft der freien Nationen zu integrieren. Collinet versicherte: „Solange inmitten Europas ein Deutschland besteht, das unter militärischer Besetzung und unter der Leitung einer nichtdeutschen Regierung steht und besonderen überwachungs-und Umerziehungsmaßnahmen unterworfen ist, wird man von keinem wirklich europäischen Bund sprechen können, sondern nur von einer Vorstufe zu einem Bund, die notwendigerweise die Masse der Staaten, die Opfer des Nazismus gewesen waren, außerhalb Deutschlands zusammenfassen würde." Der Besetzung Deutschlands wies Collinet zwei Aufgaben zu: 1. Die Besetzung solle „begangene Grausamkeiten sühnen, Dienstleistungen überwachen und die Aufrechterhaltung der Ordnung garantieren, mit einem Wort, den Instinkten der Grausamkeit, die durch den Nazismus bei der Jugend freigelegt worden waren, äußerlich soziale und einschränkende Zügel anzulegen". 2. Die mit der Besetzung verbundene Umerziehung solle gleichzeitig ein soziales Milieu schaffen, in dem die normalen Neigungen, auf denen die Zivilisation beruhe, wieder an die Oberfläche treten können. Collinet meinte dazu: „Vielleicht ist es viel verlangt von einem erschöpften, hungernden und obendrein seit vier Jahren gemarterten Volk, wenn es seine Henker und deren Kom-plicen erziehen soll. Wie es auch darüber denken mag, es kann von dieser Aufgabe ebensowenig entbunden werden wie von der Aufgabe, Häuser zu bauen und Brot zu bakken." Collinet betonte, daß das deutsche Problem ein europäisches Problem sei, eine Auffassung, die von den meisten französischen Kommentatoren vertreten wurde
In der gleichen Nummer von „Esprit" untersuchte Albert Beguin „Die Beziehungen zwischen Deutschland und Europa". Er sprach vom Ende der deutschen Hegemonialträume und der germanischen Ära und bestritt, daß es ein „anderes Deutschland" gebe: „In Wirklichkeit gehört jeder Deutsche zur gleichen Zeit dem einen wie dem anderen Deutschland an." Er stellte anschließend die Frage, die in allen Überlegungen, Betrachtungen und Untersuchungen des Jahres 1945 durchschlägt: „Warum hat dieses Volk, das große Genies hervorgebracht und einen unschätzbaren Beitrag auf den Gebieten menschlichen Wissens geleistet hat, das aus dem Munde seiner Dichter so viele allgemein gültige Worte vernehmen durfte, warum hat dieses Volk sich immer nur im Namen schlimmster kollektiver Habsucht und brutaler Erregung vereinigen können? Warum hatten diese kultivierten Eliteschichten keine Ausstrahlung. Haben sie das Recht, sich heute zu beklagen, von ihrem Volk durch einen Abgrund wechselseitigen Nichtverstehens getrennt zu sein?" Beguin versuchte diese Frage durch eine Freilegung kollektiver Eigenschaften des deutschen Volkes zu beantworten. Er sprach von der Ablehnung des Universalen im Zug des deutschen Wesens, verwies auf einen Minderwertigkeitskomplex der Deutschen und betonte die Auflehnung der Deutschen gegen das Christentum, gegen die bestehende Ordnung, gegen die Ideale der anderen Völker, gegen Kirche, Nächstenliebe, Mitleid, gegen den Geist. Die Existenz dieser Kräfte müsse bei der Lösung des Deutschland-problems berücksichtigt werden. „Deutschland ist deshalb gefährlich", versicherte Beguin, „weil es im Herzen Europas eine starke, in den Abgrund mitreißende Gewalt darstellt, den Sog durch die Faszination des Nichts, der eine ständige Verwünschung ist. Gefährlich ist Deutschland auch wegen seines Widerwillens gegen die Anerkennung der Tatsachen und wegen seiner Verachtung jeglicher Form. Doch ist Deutschland weniger gefährlich als schwach wegen seines Mangels an innerer Stabilität wegen seiner Unfähigkeit, eine für andere verständliche, auch für Nichtdeutsche verbindliche Sprache zu sprechen, schwach auch wegen seiner Fähigkeit zu vergessen, durch die Deutschland daran gehindert wird, irgendeine Tradition zu bewahren, auf die es sich beziehen könnte. Schwach schließlich deshalb, weil es die bloße Weiterentwicklung des materiellen Lebens oder der Gesittung der Industrie oder der Pädagogik mit Kultur ‘ erwechselt." Beguin empfahl zahlreiche Maßnahmen zur Lösung des deutschen Problems.
Er betonte dabei vor allem die Notwendigkeit, „den deutschen Geist von einer hundertjährigen Krankheit zu befreien, seiner politischen Unfähigkeit nämlich, die ihm schon in seinen frühesten Anfängen eigentümlich ist". Er fügte der Beschreibung dieser Aufgabe die Bemerkung bei: „Dafür, daß man ein Volk mit seiner unheilbaren Tollheit gleichsam unter Verschluß gehalten und unter Bewachung hätte weiterleben lassen, gibt es meines Wissens kein Beispiel. Wenn ich der Über-zeugung wäre, daß in der deutschen Seele keinerlei Fähigkeiten einer am Ende möglichen Konversion zu einer maßvollen und zivilisierten Haltung vorhanden wäre, wenn ich ferner der Überzeugung wäre, daß jede Rasse einen guten oder bösen, auf jeden Fall aber unveränderlichen Kern in sich trüge, dann könnte ich nur die radikale Vernichtung der Deutschen vorschlagen; und es würde genügen, ihnen gegenüber jene Methoden anzuwenden, für die sie augenblicklich selber das Beispiel und die Technik liefern." Beguin äußerte die Ansicht, das deutsche Problem sei vor allem ein Problem der Elite. Deutschland werde sich erst dann auf dem Weg der Genesung befinden, wenn seine Elite ihre nationale Aufgabe begriffen habe und ihre Aufmerksamkeit nicht länger von den Fragen dieser Welt abwende. Den Grund für die deutsche Fehlentwicklung sah Beguin vor allem darin, daß man das politische Leben in Deutschland immer mit Verachtung den Massen und ihren politischen Führern überlassen habe. Er schloß seine eindrucksvolle Untersuchung mit Fragen und einer indirekten Antwort: „Gehört eine Gesundung Deutschlands ins Reich der Utopie? Wird dieses Volk eines Tages den Sinn für das Universelle, für die Grenzen, für individuelle und kollektive Beständigkeit, für die reine Wahrheit der Tatsachen zurückgewinnen? Werden wir eines Tages seine Dichtung und seine Musik ohne Vorbehalte lieben können? Wären wir gezwungen, darauf zu verzichten, müßten wir dann nicht am Schicksal Europas verzweifeln?"
Nicht wenige Kommentatoren sahen sich zu der Bemerkung veranlaßt, die Euphorie des Sieges sei ein schlechter Ratgeber für die Erörterung und Lösung eines Problems vom Umfang, vom Gewicht und der Bedeutung der deutschen Frage. Maurice Schuman beklagte die Tatsache, daß die notwendige Umerziehung dem deutschen Volke entzogen sei, Womit es sehr schwer bestraft werde. Er widersprach — mit nicht wenigen Publizisten und Politikern — den Forderungen nach physischer oder psychischer Vernichtung des deutschen Volkes und trat für die Behandlung des deutschen Volkes als eines mündigen Volkes ein
Die Einsicht, daß die Kriegspropaganda untauglich ist zur Bewältigung des Problems Deutschland stand hinter fast allen Veröffentlichungen des Jahres 1945. Diese verwiesen immer wieder auf die entscheidende Frage der psychologischen Behandlung und Beeinflussung der Deutschen. Vernon Bartlett vertrat die Auffassung, je früher die Deutschen wieder einen Nationalstolz entwickeln könnten, um so weniger wahrscheinlich würden sie mit blinder Bewunderung dem nächsten Demagogen folgen, der ihnen befiehlt, die Welt zu erobern
„Deutschland hat sich seit dem VE-Tage — Sieg-in-Europa-Tag — in einem Zustand des Interregnums befunden, ohne eine ausdrücklich gebildete Behörde, die im Namen der Vereinten Nationen die Dinge lenkt. Das unvermeidbare Ergebnis ist eine Tendenz zu voneinander abweichenden Entscheidungen und politischen Methoden in den verschiedenen Besatzungszonen gewesen. Diese Tendenz wird noch zunehmen, wenn die Lage jetzt nicht geregelt wird, und hat Verwicklungen zur Folge, die über die Grenzen Deutschlands hinausgehen; denn eine gegenüber Deutschland geteilte Politik bedeutet im Endergebnis ein geteiltes Europa, in dem Osten und Westen verschiedene Ziele durch verschiedene Mittel verfolgen. Das Interregnum in Deutschland kann ohne eine ernsthafte Gefahr für die Zukunft nicht verlängert werden."
Weil die Auswirkungen dieser sehr früh erkannten und befürchteten Entwicklung deutlich gesehen wurden, sprachen sich vornehmlich französische Publizisten mit Nachdruck für die Umerziehung Deutschlands, für die Veränderung des deutschen Charakters aus; sie argumentierten wie z. B. Maurice Lacroix: Auf die Dauer könne Deutschland nicht durch alliierte Verwaltung regiert werden. In einem demokratischen Europa, inmitten freier Nationen, könne man kein Volk unbegrenzt lange unter fremder Herrschaft halten. Man müsse Mittel und Wege finden, um Deutschland in die Gemeinschaft der Völker einzugliedern. Hierfür aber sei eine vorherige Umerziehung erforderlich. Solange der militaristische und eroberungssüchtige Geist in den germanischen Ländern lebendig sei, werde der Friede immer bedroht sein
Der Umstand überrascht nicht, daß zwar die Forderung nach Umerziehung beinahe täglich in der westlichen und östlichen Weltpresse vorgetragen wurde, Angaben über die Methode der Umerziehung jedoch unterblieben. Im günstigsten Falle wurden dazu allgemeine Bemerkungen gemacht, die von einer Anklage und Verurteilung des gesamten deutschen Volkes bis zu der Feststellung geistiger Fehlentwicklung reichten.
Im Juli 1945 unternahm Jacob Viner in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ den Versuch, alle Aspekte der Erörterungen und der Diskussionen der Frage der Behandlung Deutschlands in einer großen Studie zu beschreiben.
Er begann seine Studie mit einem Hinweis auf die Bedeutung der anstehenden Frage, erörterte die Notwendigkeit der Bestrafung Deutschlands, verwies auf Sicherheitsvorkehrungen gegen ein Wiederaufleben der deutschen Gefahr, untersuchte die Rückerstattung der Kriegsbeute, erläuterte die Reparationen für Kriegszerstörungen und befaßte sich schließlich mit den Mitteln, mit Hilfe derer die Durchführung dieser Maßnahmen erreicht werden solle. Er sprach von einer deutschen Angriffslust, von der er sagte, sie sei keine unheilbare Krankheit. Er befürwortete eine Lockerung der Kontrolle in dem Zeitpunkt, in dem die Deutschen durch ihr Verhalten ihre Ungefährlichkeit bewiesen hätten. Er bemerkte dazu: „Wir dürfen nicht erwarten, daß diese rasch eintritt; namentlich in die unter dem Hitler-Regime ausgewachsene Generation dürfen wir keinerlei Vertrauen setzen. Wir müssen jedoch hoffen — und soweit wie möglich darauf hinarbeiten —, daß die deutschen Kinder heute zusammen mit denen künftiger Generationen ein Deutschland aufbauen werden, mit dem alle anderen Völker in friedlicher Gleichberechtigung leben können." Auch Viner äußerte sich am Ende seiner Untersuchung besorgt über die Möglichkeit der Vier-Mächte-Verwaltung Deutschlands. Er gab zu bedenken, daß eine gemeinsame Herrschaft mehrerer Staaten in der Ver-gangenheit Unvermögen und Reibereien zur Folge hatte. Im Anschluß daran führte er aus: „Das für Deutschland vorgeschlagene Zonen-system ist vielleicht sogar noch schlimmer, da es ein Kondominium an der Spitze vorsieht und vier ihr unterstellten Stäben unterschiedlicher Nationalität vier getrennte Gebiete überträgt." Viner verschwieg seine Befürchtungen über die Koordinierung und Zusammenarbeit dieser verwickelten Verwaltungsmaschinerie nicht, beruhigte jedoch mit der Feststellung, es gebe keine internationalen Probleme, die ihrer Natur nach einer Lösung durch staatsmännische Klugheit nicht zugänglich wären. Auf einen ausreichenden Vorrat an solcher staatsmännischer Klugheit setzte er seine Hoffnung
Am 1. Juli veröffentlichte die amerikanische Presse Berichte über die Ergebnisse und die Empfehlungen eines einjährigen Studiums qualifizierter Pädagogen des „Instituts zur Umerziehung der Achsenmächte". Der Vorsitzende des mit dieser Aufgabe betrauten Ausschusses betonte, es gäbe keinen Präzedenzfall für die Umerziehung des deutschen Volkes. Diese sei eine garganteske Aufgabe. Ihre Lösung hänge von dem Zusammenwirken der alliierten Mächte und von der Einsicht der Deutschen ab. Im Ausmaß der Entfernung von der Kapitulation wuchs die Erkenntnis, daß die Aufgabe der Umerziehung der Deutschen nicht ohne diese selbst gelöst werden könne
Joseph C. Harsch trat am 6. Juli in „The Christian Science Monitor" für einen Über-gang aus der negativen Politik zu einer positiven Politik gegenüber Deutschland ein. Er empfahl, dem deutschen Drang nach Selbst-achtung nachzugeben, um eine erneute Flucht in eine Verzweiflungssituation zu verhindern: „Das Gedankengut der deutschen Masse hat wirklich einen tief ausgeprägten Drang nach Beachtung. Wenn es die Beachtung nicht in Form von Achtung vor seinen guten Eigenschaften und guten Taten erregen kann, neigt es dazu, sie durch Toben und Drohungen einzufordern. Der Deutsche sehnt sich wie ein Kind danach, bemerkt zu werden." Die Rückgabe der Selbstachtung der Deutschen nannte Harsch den Schlüssel zur Umerziehung des deutschen Gedankengutes
„Alliierte Armeen führen die Besetzung von ganz Deutschland durch, und das deutsche Volk fängt an, die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden. Auf der Konferenz wurde eine Übereinkunft erzielt über die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze der gleichgeschalteten Politik der Alliierten in bezug auf das besiegte Deutschland in der Periode der alliierten Kontrolle. Das Ziel dieser Übereinkunft bildet die Durchführung der Krim-Deklaration über Deutschland. Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann. Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wieder aufzubauen. Wenn die eigenen Anstrengungen des deutschen Volkes unablässig auf die Erreichung dieses Zieles gerichtet sein werden, wird es ihm möglich sein, zu gegebener Zeit seinen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen." Die von der Konferenz verabschiedeten „Politischen Grundsätze" stellten zur Frage der Umerziehung fest: „Das deutsche Volk muß überzeugt werden, daß es eine totale militärische Niederlage erlitten hat und daß es sich nicht der Verantwortung entziehen kann für das, was es selbst dadurch auf sich geladen hat, daß seine eigene mitleidlose Kriegführung und der fanatische Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Elend unvermeidlich gemacht haben."
Wie, ihr seht nicht die Falle? Und das Ergebnis, das immer das gleiche ist: der geprellte Sieger? Wir glauben, daß wir diese Dinge ebenso klar wie jeder andere sehen, aber wir sehen auch etwas anderes, nämlich, daß wir wohl oder übel an der Seite der Deutschen leben müssen, es sei denn, man wolle sie alle ausrotten oder sterilisieren, daß ein wütender Hund, selbst wenn er angekettet ist, ein schlechter Nachbar ist und daß es also nicht in unserem Interesse liegen kann, Deutschland in der Hölle der Verzweiflung und Wut einzusperren. Wir verlangen Beweise für die Umkehr Deutschlands, aber die Hoffnung darauf a priori aufzugeben, scheint uns ein Irrtum zu sein."
Die Antwort d'Harcourts auf Barth bezeichnet nicht das Ende, wohl aber ein erkennbares Nachlassen der internationalen Erörterungen über die Umerziehung des deutschen Volkes. Die Erkenntnis von dessen Differenziertheit und die weltpolitischen Veränderungen drängten die darüber angestellten Überlegungen in den Hintergrund. Politischer Pragmatismus und existentielle Notwendigkeit veranlaßten ein Absinken des allgemeinen Interesses an der Frage der Veränderung der Deutschen. Psychologische Vorgänge wirkten dabei mit. Besucher deutscher Städte waren erschüttert von den dort angetroffenen Ruinenlandschaften und von den Lebensbedingungen der Deutschen. Ein Leitartikel des „Observer“ nannte Deutschland am 5. August 1945 ein „Land von Höhlenbewohnern"
Zielsetzungen und Auffassungen, weshalb sie in zunehmendem Maße auf die Erörterung und Verwirklichung der im Kriege so intensiv besprochenen Umerziehung Deutschlands verzichteten. Die Stuttgarter Rede des amerikanischen Außenministers James F. Byrnes vom 6. September 1946 kann als die Abkehr der amerikanischen Politik von der Forderung der Deutschland als Erziehungsobjekt betrachtenden Politik des Krieges und der ersten Stunde des Sieges angesehen werden. Byrnes betonte an zahlreichen Stellen die politische Selbstverantwortung des deutschen Volkes. Er betonte jedoch auch: „Die Vereinigten Staaten können Deutschland die Leiden nicht abnehmen, die ihm der von seinen Führern angefangene Krieg zugefügt hat. Aber die Vereinigten Staaten haben nicht den Wunsch, diese Leiden zu vermehren oder dem deutschen Volk die Gelegenheit zu verweigern, sich aus diesen Nöten herauszuarbeiten, solange es menschliche Freiheit achtet und vom Wege des Friedens nicht abweicht. Das amerikanische Volk wünscht, dem deutschen Volk die Regierung Deutschlands zurückzugeben. Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt."
In dem Maße, in dem die westlichen Besatzungsmächte auf eine Umerziehung Deutschlands verzichteten und die sowjetische Besatzungsmacht ihre politisch-ideologische Absicht offenbarte, setzte sich in Deutschland die Einsicht durch, daß die Entwicklung, die zur Katastrophe des Jahres 1945 geführt hat, die Verpflichtung einer historischen und politischen Gewissenserforschung in sich schließt. In Deutschland sprachen sich in wachsender Zahl Politiker, Publizisten und Gelehrte für eine Umerziehung aus, die sie als Selbst-erziehung verstanden und als ein radikales Umdenken bezeichneten. Allred Weber gab dafür ein Stichwort, indem er seiner 1946 veröffentlichten Studie den Titel „Abschied von der bisherigen Geschichte" gab. Gleichzeitig wies er alle Ansichten zurück, daß die Umerziehung eines Volkes eine von vier divergierenden Besatzungsmächten lösbare und zu lösende Aufgabe sei. Er forderte in Überein-stimmung mit Thomas Mann, Karl Jaspers, Reinhold Schneider, Max Pribilla, um nur einige zu nennen, eine Transferierung der Umerziehung als einer Maßnahme der Besatzungsmächte zu einer Aufgabe des deutschen Volkes: „Was Deutschland neben der Voll-erhaltung seiner wirtschaftlichen Einheit am stärksten anstreben muß, ist Erhaltung seiner Erziehungssouveränität, ohne die es sich die Aufgaben der eigenen geistigen Erneuerung und Wandlung gar nicht stellen kann. Und hier sollten sich alle fremden Mächte wieder klar sein: den Geist kann man nicht zwingen, er weht, so und wie er will. Sie müssen dem deutschen Volk seine geistige und Charaktererneuerung selbst anvertrauen. Alles andere ergäbe nicht mehr und nicht weniger als Lauern auf Revanche und Sich-hinein-schieben-wollen in irgendwelche Risse der Weltsyndikatsgestaltung und dergleichen unheilvolle Dinge, die nur zum Schlimmsten führen könnten. Der gute Wille zur Selbsterneuerung und Selbstumformung wird in Deutschland nach den furchtbaren Erfahrungen, die man mit der bisherigen geistigen Einstellung und den eigenen entsetzlichen Charaktermankos gemacht hat, vorhanden sein, wenn ihm nur die atmosphärischen Bedingungen für seine Entfaltung gelassen werden"