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Hat die Revolution eine Zukunft? | APuZ 14/1965 | bpb.de

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APuZ 14/1965 Artikel 1 Hat die Revolution eine Zukunft?

Hat die Revolution eine Zukunft?

Richard Löwenthal

Die Aussichten für den pluralistischen Kommunismus

Die Geschichte des Weltkommunismus als einer einheitlichen Bewegung mit einer von einem einzigen Zentrum aus aufgestellten gemeinsamen Lehre und gemeinsamer Strategie ist zu Ende. Hundert Jahre nach der Gründung der I. Internationale (und fünfzig Jahre nachdem Lenin die Notwendigkeit verkündete, anstelle der II. eine III. zu setzen) ist die Einheitlichkeit von Lehre und Organisation in der von Lenin geschaffenen „Weltpartei" durch den rivalisierenden Führungsanspruch der beiden kommunistischen Groß-mächte endgültig zerbrochen. Die daraus sich ergebende Spaltung hat vielen kommunistischen Parteien, die nicht an der Macht sind — und sogar auch einigen regierenden —, neue Möglichkeiten einer selbständigen Entwicklung eröffnet. Eine einzige weltumspannende Organisation aber, ein einziges Zentrum der Autorität oder eine einzige orthodoxe Lehre hat der internationale Kommunismus nicht mehr.

Die Geschichte des „Weltkommunismus" mag zu Ende sein, die Geschichte des Kommunismus in der Welt ist es noch nicht. Heute ebenso wie vor der Spaltung wird eine atomare Weltmacht, die Sowjetunion, von einer kommunistischen Partei regiert; sie übt ihre regionale Vormachtstellung über eine Reihe osteuropäischer Länder (sowie über die Äußere Mongolei) zum Teil durch ihre Bindung an die dort herrschenden kommunistischen Parteien aus und versucht, ihren führenden Einfluß auf die meisten anderen kommunistischen Parteien, darunter auch die regierende Partei in Kuba, aufrechtzuerhalten oder neu zu beleben. In der Chinesischen Volksrepublik, der stärksten Macht in Asien, herrscht eine besondere Form des Kommunismus, die die kommunistischen Regime in Nordkorea und Nordvietnam lenkt und beaufsichtigt und tatkräftig dabei ist, die doktrinären und organisatorischen Grundlagen für eine neue revolutionäre Internationale zu schaffen, deren Schwerpunkt in den unterentwickelten Erdteilen liegen soll. Dabei genießt sie die Unterstützung einiger der führenden kommunistischen Parteien Asiens, sowie beträchtlicher politischer Gruppen Lateinamerikas.

Außerdem spielen mehrere kommunistische Parteien, die nicht an der Macht sind, in ihren Ländern weiterhin eine wichtige politische Rolle, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie der einen oder anderen Richtung folgen, wobei diese Rolle oft in einem gewissen Verhältnis zu ihrer Selbständigkeit steht. Einige dieser Parteien zumindest müssen als ernst zu nehmende potentielle Bewerber um die Macht angesehen werden. Auch machen sich gewisse Bestandteile der kommunistischen Ideologie bei der intellektuellen und politischen Elite in unterentwickelten Ländern deutlich bemerkbar, selbst dort, wo überhaupt keine wirksame kommunistische Organisation besteht. Dieser Gegensatz zwischen dem dramatischen Auseinanderbrechen des kommunistischen „Monoliths" und der weiterhin bestehenden Bedeutung, ja der Lebensfähigkeit der einzelnen Teile wirft die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung des gesamten Vorganges auf. Handelt es sich einfach um eine neue Vielzahl kommunistischer Staaten und Parteien bekannter Art, die alle ihre eigenen machtpolitischen Interessen verfolgen, dabei aber die gleichen strukturellen Eigentümlichkeiten und ideologischen Ziele beibehalten? Ist es denkbar, daß der Kommunismus aufgehört haben sollte, wirklich international, d. h. weltumspannend und zugleich von einem Mittelpunkt aus gelenkt zu sein, ohne im übrigen sein Wesen zu ändern? Oder muß diese Spaltung als Wirkung und Ursache zugleich der auseinandergehenden Entwicklung in verschiedenen Teilen der kommunistischen Welt angesehen werden, so daß wir es mit immer verschiedener werdenden Formen kommunistischer Regime und immer verschiedener werdenden Versionen der kommunistischen Lehre zu tun haben, deren Anziehungskraft sich auf entsprechend verschiedene soziale und kulturelle Verhältnisse auswirkt? Mit anderen Worten, werden die Begriffe „kommunistische Partei" und „kommunistisches Regime" weiterhin eine klar definierbare grundsätzliche Bedeutung haben, trotz der unvermeidlichen nationalen Verschiedenheiten im einzelnen? Oder werden auch sie ebenso zweideutig werden, wie der Begriff „Sozialis-mus" es nach dem Bruch zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten im Gefolge des Ersten Weltkriegs geworden ist?

Die Chancen der verschiedenen Moskau-orientierten, Peking-orientierten und unabhängigen Formen des Kommunismus zu bewerten ist sicherlich nicht möglich, ohne die Chancen einer weiteren inneren Umgestaltung jeder einzelnen in Rechnung zu stellen. Vielleicht können wir einer Antwort nur näher kommen, wenn wir zuerst fragen, welche entscheidenden Faktoren dazu geführt haben, daß die umfassende Zusammenarbeit selbständiger kommunistischer Staaten aufgehört und daß ihre Verschiedenheiten die Form einer doktrinären Spaltung angenommen haben.

I. Unvermeidbarkeit der Divergenz

Gründe für die Spaltung Fragen wir nach dem Wesen der Spaltung, so müssen wir uns zunächst den „cäsaro-papistisehen" Charakter des modernen Totalitarismus mit seiner untrennbaren Einheit von Staatsmacht und Weltanschauung ins Gedächtnis rufen. In jedem totalitären kommunistischen Regime müssen die Herrscher ihre Herrschaft durch die Lehre rechtfertigen; für die Untertanen fallen Glaubenstreue und Gehorsam gegenüber dem Staat zusammen. Die Einheit der kommunistischen Weltpartei, wie wir sie über drei Jahrzehnte lang gekannt haben, wurde also um ein einziges Zentrum der politischen Macht und der Lehrautorität herumgebaut — die Sowjetunion.

Zwei Ereignisse beendeten diesen „Monozentrismus" und erschütterten die Grundlagen der weltweiten kommunistischen Einheit: der Aufstieg einer zweiten kommunistischen Großmacht — China — nach 1949 und der Schlag, den Nikita Chruschtschow mit seinem „Geheimreferat" von 1956 der Autorität der Sowjetunion zufügte. Das Aufkommen mehrerer souveräner kommunistischer Staaten mit verschiedenartigen nationalen Interessen und internen Problemen mußte dem Zentralismus der kommunistischen „Weltkirche" ein Ende machen. Das wurde zum erstenmal bewiesen, als sich das kommunistische Jugoslawien im Konflikt mit Stalin behauptete Mit dem Aufstieg des kommunistischen China gehörte die einzigartige Position der Sowjetunion als Befehlszentrum für alle kommunistischen Parteien endgültig der Vergangenheit an; das wurde von Stalin bei seinen Verhandlungen mit China unausgesprochen, von seinen Nachfolgern ausdrücklich anerkannt.

Zunächst hofften die sowjetischen wie die nichtsowjetischen Kommunisten, die einheit-liehe politische Linie auch ohne ein einziges Machtzentrum einhalten und die Achtung vor der sowjetischen Lehrautorität retten zu können, auch ohne sich der sowjetischen organisatorischen Disziplin zu unterwerfen. Das wäre ihnen vielleicht auch eine Zeitlang gelungen auf Grund der historischen Rolle, die die Sowjetunion und die bolschewistische Partei als ursprüngliches Modell für die Kommunisten in aller Welt gespielt hatten. Aber die Aussichten auf Erfolg verringerten sich merklich, als Chruschtschow den Mythos von Stalins Unfehlbarkeit zerstören wollte und dabei auch den Glauben an die Unfehlbarkeit der kommunistischen Partei endgültig zerstörte und sich so des weltweiten Ansehens beraubte, das Stalin ihm hinterlassen hatte. Der Schock der „Entstalinisierung" war die unmittelbare Ursache der Krise in Osteuropa im Jahre 1956, und obwohl die chinesischen Kommunisten damals aktiv dazu beitrugen, die sowjetische Führungsposition wiederherzustellen — allerdings in der Hoffnung, ihre künftige Verwendung entscheidend zu beeinflussen —, vergaßen sie nie, daß diese Führung von nun an auf einer fremden Autorität beruhte. Das „Geheimreferat" war sicherlich nicht — wie die Chinesen später behaupteten — die ursprüngliche Ursache des chinesisch-sowjetischen Konflikts. Doch dadurch, daß diese Krise dem durch Tradition geheiligten Prestige der sowjetischen kommunistischen Partei unheilbaren Schaden zufügte, schuf sie die Voraussetzung dafür, daß Peking Moskaus Führungsposition in der Welt in Frage stellte und damit den Konflikt in eine Spaltung verwandelte. So waren also das Aufkommen mehrerer souveräner kommunistischer Mächte sowie der durch die Entstalinisierung hervorgerufene Ausfall einer internationalen Autorität die Grundursachen für das Auseinanderbrechen der Organisation und der Lehre der kommunistischen Welt. Nimmt man diese beiden Be-dingungen als gegeben an, könnte jede Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden kommunistischen Mächten von einigem Gewicht in Fragen nationaler Interessen oder innenpolitischer Bedürfnisse zu einem offenen Konflikt über Politik und Doktrin führen, denn jede würde nun ihre Politik selbständig bestimmen und sie ideologisch zu rechtfertigen suchen. Die einzige Möglichkeit trotz dieser neuen pluralistischen Konstellation ein gewisses Maß an Einheit zu bewahren, hätte darin gelegen, sich gemeinsam zu bemühen, die unvermeidlichen politischen und doktrinären Unterschiede zu dulden, eine losere Form der internationalen Zusammenarbeit zu entwikkeln, die auf praktischen Kompromissen und Verzicht auf ideologische Aggressionen beruht. Das hätte erfordert, daß von nun an weder Moskau noch Peking Anspruch auf die Führung der kommunistischen Welt erhoben hätten, einen Anspruch, der auf dem alleinigen Besitz der orthodoxen Lehre basiert. Denn wenn dieser Anspruch nicht mehr auf alleiniger Macht oder unangetasteter Tradition beruhte, könnte nunmehr jeder der beiden ihn mit der gleichen Berechtigung erheben; das aber würde zu dem gegenseitigen Vorwurf der „Häresie" führen. Wäre einmal dieser Vorwurf im Forum der internationalen kommunistischen Bewegung öffentlich erhoben worden, so stünde in den damit ausbrechenden Richtungskämpfen nicht nur der internationale Einfluß der sowjetischen und chinesischen Führer, sondern auch die Legitimität ihrer Herrschaft im eigenen Reich auf dem Spiel. Zurückweichen und Kompromiß wären dann unmöglich, organisatorische und doktrinäre Spaltung unvermeidlich.

Die Erkenntnis dieser Gefahren scheint auch die Grundlage für den Kompromiß gewesen zu sein, den die sowjetischen und chinesischen Führer Anfang 1959 zur Zeit des XXL Parteitags der KPdSU schlossen, als sie sich vorübergehend dahin einigten, ihre verschiedenen Ansichten über die „Volkskommunen" ohne weitere Polemik gelten zu lassen. Als die Sowjets während des ganzen Jahres 1960 die ideologischen Angriffe zwar zurückwiesen, aber sich auch bereit erklärten, auf ihre weltweite „Führerrolle" zu verzichten, versuchten sie wahrscheinlich zu einer solchen Lösung zurückzukehren. Zwar haben die Sowjets den Anspruch, in der orthodoxen leninistischen Tradition zu stehen, niemals fallen gelassen, aber sie sind doch, so könnte man sagen, in den letzten Jahren mehr daran interessiert gewesen, sich gegen ideologische Kritik von außen abzusichern als daran, die ideologische Übereinstimmung in der ganzen Welt durchzusetzen. Solange sie für die Entwicklung ihrer Innenpolitik, ihrer Staats-und Weltpolitik freie Hand behielten, sind sie immer mehr bereit gewesen, eine gewisse politische (und sogar doktrinäre) Variationsbreite bei ihren Verbündeten und Genossen zu dulden. Umgekehrt sind es die Chinesen gewesen, die die Notwendigkeit einer auf einer einzigen doktrinären Autorität beruhenden absoluten weltanschaulichen Einheit konsequent verkündet haben; dabei haben sie zunächst versucht, die Sowjets in dieser Rolle zu stützen, später aber zu weltanschaulichen Auseinandersetzungen herausgefordert. Als die Sowjets bei der Moskauer Konferenz der 81 kommunistischen Parteien offiziell auf die „Führerrolle" verzichteten, betrachteten die Chinesen diesen neuen Kompromiß als eine bloße Phase ihres fortgesetzten ideologischen Ringens um das Ziel, der kommunistischen Bewegung der Welt — einschließlich der Sowjetunion — ihre eigenen Ansichten aufzuzwingen. Diese Entschlossenheit der Chinesen, die in Mißkredit geratene Autorität der „Revisionisten" in Moskau zu ersetzen, und zwar nicht durch Dulden der Unterschiede, sondern dadurch, daß sie nun selbst die einzige Quelle leninistischer Orthodoxie sein wollten, führte (während des XXII. Parteitags der KPdSU im Jahre 1961) zum Zusammenbruch des Kompromisses; dadurch scheiterten auch alle späteren Versuche, einen ideologischen Waffenstillstand zu schließen, und eine losere Form der weltweiten kommunistischen Einheit auf pluralistischer Grundlage konnte nicht mehr aufrechterhalten werden.

Dieser Gegensatz zwischen der Bereitschaft der Sowjetführer einerseits, ihre Politik — wenn auch nicht immer konsequent — dem neuen Pluralismus der kommunistischen Macht anzupassen, und dem Drängen der Chinesen andererseits, die vollständige doktrinäre Einheit unter der Führung einer einziger Macht wiederherzustellen, ist für die Vertiefung der Spaltung entscheidend gewesen und wird, so darf man erwarten, ihren weiteren Verlauf weitgehend bestimmen. Zum Teil beruht dieser Gegensatz offensichtlich auf dem Mißverhältnis zwischen der materiellen Macht Chinas und der der Sowjetunion — auf der Abhängigkeit Chinas von der wirtschaftlichen, militärischen und diplomatischen Hilfe der Sowjetunion und seiner unausbleiblichen Unzufriedenheit mit dem Ausmaß dieser Hilfe. Die Sowjets waren davon überzeugt, daß sie auf Grund ihrer überlegenen Macht auf dem zwischen Verbündeten üblichen diplomatischen Wege Kompromisse erzielen würden. Daher waren sie offensichtlich daran interessiert, ihre Beziehungen zu China auf dieser praktischen Ebene zu halten und die Peinlichkeit ideologischer Auseinandersetzungen zu vermeiden. Die Chinesen, die bei ihren vorsichtigeren Bemühungen, die sowjetische Politik zu beeinflussen, nicht recht weiter kamen, gerieten immer mehr in Versuchung, durch ideologische Angriffe Druck auf ihren mächtigen Verbündeten auszuüben, indem sie vor dem Forum der internationalen kommunistischen Bewegung die Orthodoxie des sowjetischen Verhaltens in Frage stellten. Es ist hier nicht nötig, die Enttäuschungen im einzelnen aufzuzählen, die Peking 1958/59 erlitt — die nicht erfüllten Hoffnungen Chinas auf sowjetische Kapital-hilfe, die fehlende Rücksichtnahme der Sowjets auf das chinesische Prestige während der Libanonkrise, die beschränkte sowjetische militärische Unterstützung des Angriffs auf Quemoy, die sowjetische Weigerung, China zu Atomwaffen zu verhelfen, die bedenkliche Neutralität im Grenzkonflikt Chinas mit Indien, die Bemühungen der Sowjets, eine Grundlage für Gespräche mit den Vereinigten Staaten zu schaffen —, wobei sie keinen Versuch machten, diese Bemühungen nachträglich ideologisch zu begründen. Dennoch mußten die chinesischen Kommunisten im Laufe des Jahres 1960 feststellen, daß ihre ideologischen Angriffe nicht zu einer Steigerung der sowjetischen Hilfe, sondern zu ihrer völligen Einstellung führten. Wenn sie sich dennoch entschlossen, den Kampf auch nach dem Kompromiß der Moskauer Erklärung weiterzuführen, so läßt sich das nicht durch reine „machtpolitische" Erwägungen erklären. Im Jahre 1961 muß Mao Tse-tung zu der Überzeugung gekommen sein, daß der sowjetische Standpunkt unheilbar „revisionistisch" geworden war — daß die Auffassungen Chinas und Rußlands nicht nur in einzelnen politischen Fragen, sondern auch über die grundlegenden Aufgaben eines kommunistischen Regimes beim Aufbau des „Sozialismus" im eigenen Lande sowie bei der Förderung der Weltrevolution auseinandergingen.

Diese verschiedenen Vorstellungen über die Zentralfragen der kommunistischen Lehre sind in den von beiden Seiten seit dem XXII. Parteitag der KPdSU veröffentlichten programmatischen Erklärungen immer deutlicher zum Ausdruck gekommen. Die immer deutlicher werdende Rivalität bei der Interpretation der marxistisch-leninistischen Lehre ist natürlich weitgehend das Ergebnis des Ringens um die Führung der weltkommunistischen Bewegung. Es wäre jedoch oberflächlich, diese konkurrierenden Systeme nur als ideologischen überbau anzusehen, der zur Rechtfertigung des persönlichen oder nationalen Konkurrenzkampfes um die Führung in der Welt errichtet würde. Wenn auch die beiden Systeme in ihrer jetzigen Form neu sind, so basieren sie doch auf weltanschaulichen Unterschieden, die schon vor der Spaltung bestanden, ja die für diese Spaltung weitgehend verantwortlich waren, da sie in Moskau und Peking verschiedene Vorstellungen über die möglichen Formen der internationalen Einheit hervorriefen. Auch darf man diese Unterschiede nicht nur als Wider-spiegelung verschiedener nationaler Interessen auf dem Gebiet der Außenpolitik ansehen; sie sind ebensosehr Ausdruck verschiedener innenpolitischer Bedürfnisse, die darauf beruhen, daß die beiden führenden kommunistischen Regime beim „Aufbau des Sozialismus" verschiedene Wege beschritten und verschiedene Stadien erreicht haben.

Die Dynamik der „Entstalinisierung“

Die volle Bedeutung dieser verschiedenen innenpolitischen Bedürfnisse der beiden kommunistischen Regime wird sofort klar, wenn wir uns daran erinnern, daß es vorwiegend innenpolitische Gründe waren, die Chruschtschow veranlaßten, den schwierigen und gefährlichen Weg der Entstalinisierung zu beschreiten. Die wichtigste Aufgabe, der sich Stalins russische Erben (und vor allem Chruschtschow als Exponent der Bemühungen, den Primat der Partei über alle anderen Macht-apparate wiederherzustellen) gegenübersahen, war, die Herrschaft der KPdSU den Bedürfnissen einer wachsenden Industriegesellschaft anzupassen. Chruschtschow hatte schon sehr bald erkannt, daß sich die Sowjetgesellschaft nicht weiter entwickeln könne, wenn nicht die Methoden, sie zu regieren, eine drastische Änderung erfahren würden, das heißt, wenn nicht auf den Massenterror verzichtet und damit der Polizeizwang im Alltagsleben erheblich reduziert und die materiellen Anreize für den gewöhnlichen Arbeiter und Bauern erheblich erhöht würden. Er mußte jedoch alsbald feststellen, daß die von Stalin ausgebildeten Beamten nicht zu einer Änderung ihrer Methoden gebracht werden konnten, solange die Legende von Stalins Unfehlbarkeit nicht zerstört war. Daß Chruschtschow gerade diese Änderung im Namen einer ideologischen Partei herbeiführen wollte, zwang ihn, sie durch einen ideologischen Bruch zu rechtfertigen.

Aber die unvorhergesehenen Folgen der Entstalinisierung beschränkten sich nicht auf den Schaden, den sie der internationalen Geltung Rußlands zufügten. Auch in der Sowjetunion selbst mußten der Verzicht auf den Massen-terror und die neue Förderung einer stetigen Zunahme der Produktivität zu weiteren Änderungen in der Dynamik der sowjetischen Entwicklung führen.

Die Schaffung des materiellen Gerippes einer Industriegesellschaft war unter Stalin von periodischen gewaltsamen Neugestaltungen der Sozialstruktur begleitet worden, von „Revolutionen von oben", die in der Theorie einen Schritt auf dem Wege zur „klassenlosen Gesellschaft" sein und in der Praxis jede Festigung des Sozialkörpers verhindern sollte, die die Macht des totalitären Staates schwächen könnte. Gegen Ende seines Lebens hatte Stalin verkündet, zur Verwirklichung des „wahren Kommunismus" sei (abgesehen von quantitativen Steigerungen der Produktivität und einer entsprechenden Erhöhung des Realeinkommens und Herabsetzung der Arbeitszeit) noch eine größere strukturelle Änderung nötig — die Umwandlung des kollektiven Eigentums in Staatseigentum und damit die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Kolchosen und Sowchosen, zwischen Kollektivbauern und Staatsarbeitern.

1959 Noch beim XXL Parteitag ging Chruschtschow bei der Aufstellung seines eigenen Programms für den Aufbau des -Kommunis mus davon aus, daß das Verschwinden der Unterscheidung zwischen Kollektivwirtschaften und Staatsgütern eine Voraussetzung für die Erreichung des Zieles sei, und er gab einen ganzen Katalog von Maßnahmen bekannt, die diese strukturelle Änderung herbeiführen sollten. Doch während Stalin sich als den entscheidenden Schritt dieser Verwandlung die Abschaffung des Geldverkehrs zwischen den Kollektivwirtschaften und dem Staat und seine. Ersetzung durch Tauschverträge vorgestellt hatte, gingen Chruschtschows Reformmaßnahmen seit Jahren dahin, die landwirtschaftliche Produktivität dadurch zu steigern, daß alle Kosten und Preise in Geld ausgedrückt und vergleichbar gemacht wurden. Außerdem lag ihm daran, die neue strukturelle Änderung ohne Nachlassen der Produktivität, also ohne gewaltsame Umwälzung zu erreichen. Kurzum, Chruschtschow versuchte, die Dynamik der ständigen strukturellen Veränderungen, wie sie die kommunistische Lehre verlangt, mit der Dynamik der wirtschaftlichen Vernunft zu verbinden, wie sie in dem von der Sowjetgesellschaft erreichten Entwicklungsstadium die Konkurrenz mit der nichtkommunistischen Welt zwangsläufig mit sich bringt. Die Erfahrung zeigte bald, daß die Forderungen unvereinbar waren, daß jeder örtliche Fortschritt in der strukturellen Veränderung sofort zu Verlusten in der landwirtschaftlichen Produktion führte.

Als der XXII. Parteitag 1961 zusammentrat, hatte die wirtschaftliche Vernunft das Rennen gewonnen. Im neuen Parteiprogramm wurde die strukturelle Veränderung nicht mehr als Vorbedingung für den Übergang zum Kommunismus verlangt, sondern lediglich als Nebenprodukt der Produktionserhöhung auf lange Sicht erwartet. Wenn man bisher vom „Aufbau des Kommunismus" gesprochen hatte, so hieß das: bewußter Einsatz der staatlichen Macht als Hebel der sozialen Umgestaltung; jetzt wird der gleiche Vorgang zum ersten-mal ausschließlich mit Begriffen der „quantitativen Steigerung des Wirtschaftswachstums" beschrieben. Dementsprechend wurde der Sowjetstaat nicht mehr als „Diktatur des Proletariats", die von seiner Avantgarde, der kommunistischen Partei, ausgeübt werde, sondern als von dieser Partei geführter „Staat des gesamten Volkes" bezeichnet. Das Bedeutsame dieser neuen Formulierung liegt nicht in dem Eingeständnis, daß Partei und Staat nicht mehr „proletarisch" seien — das war in der Stalinschen Verfassung von 1936 und dem Parteistatut von 1939 schon klar angedeutet worden —, sondern in der Behauptung, das Parteiregime sei keine Diktatur mehr.

Man wollte die durch das Ende des Massen-terrors herbeigeführte Änderung im politischen Klima hervorheben und dem Sowjetvolk versichern, daß die Partei zwar auf unabsehbare Zeit weiterherrschen werde, daß die Ära der gewaltsamen sozialen Umwälzungen, die im Namen der Parteiziele durchqeführt worden waren, endgültig vorbei sei. Damit brachte die neue Formulierung die Überzeugung der Sowjetführer (sowohl vor wie nach Chruschtschows Sturz — seine Nachfolger haben sich beeilt, ihre Treue zum neuen Parteiprogramm und zu den Entscheidungen des XX. und XXL Parteitages zu beteuern) zum Ausdruck, daß ihre Herrschaft in ihrem jetzigen Entwicklungsstadium eher durch eine Tarnung als durch die Betonung ihres diktatorischen Charakters gerechtfertigt werden sollte, daß der Stabilität ihres Regimes und seiner wachsenden materiellen Macht mit einer entspannteren Form der autokratischen Herrschaft besser gedient sei als mit einer aufs äußerste gesteigerten totalen Spannung.

Die sowjetische These, daß der Weltkrieg nicht „schicksalhaft unausweichlich" sei und vielleicht sogar noch vor dem Ende des Imperialismus „aus dem Leben der Menschheit beseitigt" werden könne, sowie die wachsende Betonung der „friedlichen Koexistenz" in Wort und Schrift selbst zu Zeiten, in denen die Ost-West-Beziehungen äußerst kritisch waren, haben (von ihrem Wahrheitsgehalt und ihrer außenpolitischen Bedeutung abgesehen)

eine besondere innenpolitische Funktion. Ein Regime, das in einer innenpolitisch spannungsgeladenen Atmosphäre dem Volke harte Opfer auferlegen will, neigt dazu, die Ursache für diese Spannungen in die Außenwelt zu projizieren und die harten Maßnahmen zu Hause mit dem Gefühl drohender Gefahr von außen zu rechtfertigen. Ein Regime, das sich an das Eigeninteresse seiner Untertanen wendet, um eine stetige Produktionssteigerung zu erzielen, möchte bei ihnen das Gefühl der Sicherheit stärken, das heißt Sicherheit nicht nur vor polizeilicher Verfolgung, sondern auch vor einem drohenden Krieg. Gewiß, das wird gelegentlich mit der Notwendigkeit kollidieren, besondere Anstrengungen und Opfer zugunsten des Wettrüstens zu rechtfertigen. Im großen und ganzen aber ist es bemerkenswert, in welchem Ausmaß die Sowjetführer in den letzten Jahren versucht haben, dem Volke zu versichern, daß der Frieden erhalten werden könne und würde.

Die Dynamik der „permanenten Revolution“ Im Gegensatz hierzu steht die gesamte jüngste Entwicklung des kommunistischen China unter Maos Überzeugung, seine Herrschaft könne nur aufrechterhalten werden, wenn der ideologische Kampfgeist in der Atmosphäre einer belagerten Festung wachgehalten werde. Diese Überzeugung auf die verhältnismäßig große „Jugend" der chinesischen Revolution oder auf die niedrigere Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes zurückzuführen, hieße übermäßig vereinfachen; denn man darf nicht vergessen, daß China schon seit 1954 einige Jahre lang ein aktiver und erfolgreicher Vorkämpfer der Koexistenz in Asien gewesen ist und daß Mao Tse-tung 1956 und Anfang 1957 im „Hundert Blumen" -Feldzug schon den Versuch gemacht hatte, geistige Kritik an seinem Regime zuzulassen; ja, er hatte sogar geduldet, daß das,, Volk seine Klagen zum Ausdruck brachte, weil er hoffte, damit ein Sicherheitsventil für „nicht-feindliche Widersprüche" in der chinesischen Gesellschaft zu schaffen. Kenner des kommunistischen China scheinen sich darüber einig zu sein, daß der Schrecken über die durch diese Versuche sichtbar gewordene starke innenpolitische Opposition Mao Tse-tung vom Juni 1957 an veranlaßte, bewußt eine Atmosphäre innenpolitischer Spannungen und unversöhnlicher Richtungskämpfe zu erhalten.

Von diesem Augenblick an scheint Mao Tsetung nie wieder zurückgeschaut zu haben. Die zweite Sitzung des VII. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas im Frühjahr 1958 brachte den „Großen Sprung nach Vorn" — den Versuch, eine phantastische Steigerung der Agrar-und Industrieproduktion zugleich zu erzielen, hauptsächlich durch die Mobilisierung der „Masseninitiative" und durch die Vorbereitungen für die „Volkskommunen".

Als der Sommer zu Ende ging, war die gesamte Bauernschaft innerhalb weniger Monate in die Kommunen getrieben worden, wo lange Arbeitszeit und schlechte Löhne mit Hilfe der „Militarisierung" der Arbeit und einer egalitären Propaganda durchgesetzt wurden. Diese völlige Umwälzung der Landwirtschaft wurde als nächster Schritt der „permanenten Revolution" verkündet, der innerhalb kurzer Zeit zum vollentwickelten Kommunismus führen solle. Daß Mao bei der Moskauer Konferenz vom November 1957 den „Revisionismus" immer wieder als die größte Gefahr für die internationale kommunistische Bewegung brandmarkte, muß in erster Linie in diesem innenpolitischen Zusammenhang gesehen werden.

Daß die chinesische Delegation bei dieser Konferenz, bei der sie noch keinen Streit, sondern eine möglichst enge Zusammenarbeit mit den sowjetischen Führern suchte, ihre ernsten doktrinären Bedenken gegen Chruschtschows Formel von 1956 über den „friedlichen" oder „parlamentarischen" Weg zum Sozialismus inoffiziell äußerte, ist ein Zeichen für die Angst der Chinesen vor jeder Theorie, die das Bild eines unversöhnlichen weltweiten Kampfes auch nur entfernt trüben könnte. Auch nur der geringste Anschein einer solchen Trübung könnte, so fürchteten die Chinesen offensichtlich, die von ihnen entschlossen aufrechterhaltene Atmosphäre der belagerten Festung stören. Diese Entschlossenheit wird ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, warum sie sich in den nächsten Jahren auf verschiedene nationale Konflikte mit ihren asiatischen. Nachbarn eingelassen haben.

Es ist besonders bedeutsam, daß sich die kommunistischen Führer Chinas auch dann noch weigerten, das allgemeine politische Klima zu ändern, als die verheerenden Ergebnisse des „Großen Sprunges nach Vorn" und der „Volkskommunen" sie zwangen, ihre Erwartungen zurückzuschrauben und ihre konkreten politischen Maßnahmen zu lockern. Unter der Peitsche des Hungers wurde der Versuch, eine massive Steigerung der Produktion der Schwerindustrie zu erzielen (was mit Hilfe von im Lande hergestellten Hochöfen, aber ohne entsprechende Kapitalanlagen geschehen war), fallen gelassen und der Landwirtschaft den Vorrang gegeben. Die interne Organisation der „Volkskommunen" wurde stark gelockert; anstelle von echten Produktionseinheiten wurden sie in Verwaltungseinheiten verwandelt. Die Überzeugung, daß der „vollentwickelte Kommunismus" auf dem Wege über diese Kommunen erreicht werden könne, wurde aufgegeben; man betonte, daß der Weg dorthin noch lang und beschwerlich sein werde.

Dennoch haben Mao Tse-tung und seine Anhänger (obwohl 1959 eine Minderheit des „rechten Flügels" der Führung eine noch gründlichere Umkehr forderte) auf den Grundzügen ihrer „Generallinie" weiterhin bestanden: China muß aus eigener Kraft entwickelt werden; jeder Versuch, die wenigen technischen Kader während der Hauptperiode des industriellen Aufbaus durch eine stärkere Differenzierung der Einkommen zu belohnen, wird abgelehnt; die Kommunen müssen als „Keimzelle" für höhere kommunistische Formen beibehalten werden; die Militarisierung der Arbeit ist jeder konsequenten Politik der materiellen Anreize vorzuziehen. Dem Außen-stehenden kommt es unwahrscheinlich vor, daß diese Politik die Lösung für gewaltige wirtschaftliche Probleme sein könne. Aber für Mao Tse-tung und sein Team hat sie den Vorteil, daß sie die Atmosphäre des unversöhnlichen ideologischen Kampfes vor allen Gefahren der „Verbürgerlichung" rettet. Es ist in der Tat bemerkenswert, daß das Festhalten an einem extremen Egalitarismus und an der Vorstellung von permanenter Revolution, das 1958 durch die Hoffnung auf einen raschen Übergang zum vollen Kommunismus gerechtfertigt wurde, heute mit dem entgegengesetz-ten Argument begründet wird: daß die Gefahr einer neuen privilegierten Klasse, die versuchen würde, eine „kapitalistische Restauration" durchzuführen, während der ganzen langen Übergangszeit von „fünf bis zehn Generationen" oder „einem oder mehreren Jahrhunderten" bestehen bleiben und nur dann gebannt werden könne, wenn das Regime während dieser ganzen Zeit den Klassenkampf mit äußerster Wachsamkeit führe.

Im neunten und jüngsten amtlichen chinesischen Kommentar zum Offenen Brief des Zentralkomitees der KPdSU vom 14. Juli 1963 (der Kommentar liest sich wie das politische Testament Mao Tse-tungs) wird dieses Argument benutzt, um die „revisionistische" Haltung des Parteiprogramms der KPdSU von 1961 anzugreifen — vor allem die These, daß die „Diktatur des Proletariats" nach der Vernichtung der früheren Ausbeuterklassen durch einen „Staat des gesamten Volkes" ersetzt werden könne. Im Sowjetbereich befriedigt diese These das Bedürfnis der Herrscher, ihren Untertanen ein stärkeres Gefühl der Sicherheit vor weiteren gewaltsamen Umwälzungen zu geben; den chinesischen Führern aber muß die darin angedeutete Zusicherung einer solchen Sicherheit als gefährliche Stärkung der Opposition erscheinen, die sich gegen ihr eigenes hartes Regime richtet. Im Rahmen der marxistisch-leninistischen Lehre ist der Verzicht auf die Diktatur nur durch das Ende des Klassenkampfes nach dem endgültigen Verschwinden der „feindlichen Klassen" gerechtfertigt. Umgekehrt verlangt die offene Verteidigung der permanenten Diktatur den Beweis, daß der Klassenkampf immer noch weiterbesteht. Die Chinesen erbringen ihn mit der Behauptung, daß bis zur endgültigen Einführung des vollen Kommunismus „neue kapitalistische Elemente" immer wieder auftreten werden (und daß der Kampf gegen sie während der langen Übergangszeit immer wieder in akute Phasen eintreten könne).

Damit gerät Mao Tse-tung in die Nähe von Stalins berüchtigter These, die er 1937 in seiner Rede vor dem Zentralkomitee zur Rechtfertigung seiner blutigen Säuberungen entwickelte und die Chruschtschow 19 Jahre später in seiner Geheimrede ausdrücklich verurteilte: der Klassenkampf müsse mit dem Fortschritt des Aufbaus des Sozialismus immer schärfer werden. Der innerchinesische Sinn dieses Arguments wird im letzten Abschnitt dieses „politischen Testaments" Maos offenbar. Dort wird der chinesischen kommunistischen Partei dringend nahegelegt, treue Nachfolger für die Revolutionäre der ersten Generation heranzubilden, damit nicht die „revisionistischen Karrieremacher" an die Macht kommen und durch ein Nachlassen im Kampf gegen die neokapitalistischen Elemente das Land vom wahren sozialistischen Wege abbringen könnten.

Auch hier ist es das interne Bedürfnis nach unversöhnlichem Kampf, das der chinesischen Opposition gegen die sowjetische Propaganda für die „friedliche Koexistenz" und für den „friedlichen Weg" zur kommunistischen Macht ihren besonderen dogmatischen Charakter verleiht. Schließlich lag auch Stalin daran, seine außenpolitischen Risiken niedrig zu halten und einen Weltkrieg zu vermeiden — und es gibt überhaupt keinen Beweis dafür, daß die Chinesen darauf aus sind, einen nuklearen Massenmord heraufzubeschwören. Aber Stalin hat nicht so viel geredet über „vernünftige" Imperialisten, die das Bedürfnis nach Frieden verstünden; gerade dieses Reden Chruschtschows schien Mao Tse-tung besonders anstößig wegen seiner Wirkung auf das ideologische Klima innerhalb der Sowjetunion und des kommunistischen Blocks. Ähnlich hat Stalin in den ersten Nachkriegsjahren Versuche mit dem „friedlichen Weg" zur Macht unternommen. Er gestattete die Anwendung parlamentarischer Formen zur Festigung der kommunistischen Herrschaft in den „Volksdemokratien" und ermutigte die kommunistischen Führer Westeuropas dazu, auszuprobieren, wie weit sie ohne die Gegenwart der russischen Armee das russische Beispiel nachahmen könnten. Aber Stalin machte das erfolgreiche Beispiel des Prager Staatsstreichs von 1948 nicht zur Grundlage einer allgemeinen Formel über die Möglichkeit der friedlichen Machtergreifung, wie es Chruschtschow in seinem Bericht vor dem XX. Parteitag der KPdSU tat. Mao fürchtet, eine solche Formel könnte den Kommunisten in den unterentwickelten Ländern mit revolutionären Möglichkeiten und denen in den kommunistischen Ländern selbst die bevorstehende Aufgabe leichter und den Kampf weniger hart erscheinen lassen. Maos Hauptvorwurf gegen die „Revisionisten" besteht darin, daß ihre Losungen zu einer ideologischen Abrüstung bei den unteren Rängen der kommunistischen Parteien führen könnten.

Das alles läuft darauf hinaus, daß eine andere Vorstellung von den innenpolitischen Aufgaben und dem Wesen eines kommunistischen Regimes auch eine andere Vorstellung von der „Weltrevolution" und der eigenen Rolle in ihr mit sich bringt. Die klassische Rechtfertigung des totalitären kommunistischen Regimes ist die Notwendigkeit der permanenten Revolution im eigenen Lande und des permanenten unversöhnlichen Konflikts mit der nicht-kommunistischen Welt. Beide werden als verschiedene Aspekte des Klassenkampfes verstanden. Da es in diesem Kampf um Leben oder Tod geht, muß er in kritischen Phasen heftige Formen annehmen und kann nur von einer rücksichtslosen Diktatur, die als ihr internationales Befehlszentrum handelt, wirksam geführt werden. Wenn aber der Klassenkampf im eigenen Lande beendet ist und die interne soziale Revolution einer friedlichen wirtschaftlichen Evolution Platz macht, können die internen Anstrengungen nicht mehr lediglich als Teil eines weltweiten Kampfes dargestellt werden. Die Verbindung zur internationalen kommunistischen Bewegung lockert sich — auch ideologisch. Diese Veränderung hat es den Sowjets erleichtert, die Tatsachen des kommunistischen Pluralismus hinzunehmen und auf ihre herkömmliche „Führerrolle" zu verzichten. Aber aus dem selben Grund hält die Treue der chinesischen Kommunisten zum unaufhörlichen revolutionären Kampf im eigenen Lande ihr Bedürfnis am Leben, sich als Teil einer weltweiten revolutionären Front zu betrachten. Und als diese Front von der Gefahr der Auflösung bedroht schien, weil ihre bisherigen Führer ihren Posten verlassen hatten, waren die Chinesen bereit, ihre Rolle zu übernehmen.

II. Aussichten für eine „maoistische“ Internationale

Der Wille zur Führung Die chinesischen Führer haben jahrelang immer wieder Enttäuschungen erleben müssen, ehe ihnen die volle Bedeutung ihres Sendungsbewußtseins 1 lar wurde. 1956/57 begannen sie, sich den Erben Stalins ideologisch überlegen zu fühlen, wollten ihnen aber ihre „Führerrolle" weiterhin überlassen und sie nur unauffällig hinter den Kulissen lenken. Im Jahre 1959, nachdem sie eine Reihe von Enttäuschungen über die sowjetische Politik erlebt hatten, fingen sie an, ihre Verbündeten vor dem Forum der internationalen kommunistischen Bewegung zu kritisieren in der Hoffnung, auf diese Weise wirksamen Druck auf sie ausüben zu können. Sie stießen jedoch auf unerwartet hartnäckigen Widerstand, so daß sie Ende 1960 zu der Überzeugung gelangten, es handele sich um einen langwierigen Richtungskampf, aus dem sie selbst nach mannigfachen Kompromissen schließlich als anerkannte Führer der Weltbewegung hervorgehen würden. Wahrscheinlich glaubten sie jedoch immer noch, eine Spaltung vermeiden zu können. Man darf annehmen, daß erst der XXII. Parteitag der KPdSU — der den Konflikt mit den sowjetischen Führern über Albanien, über Stalins Andenken und über die Annahme des neuen Programms der sowjetischen Partei brachte — Mao und seine Mannschaft endgültig davon überzeugte, daß die sowjetischen Führer unheilbare „Revisionisten" seien und daß es die leninistische Pflicht der chinesischen Partei sei, sich auf eine Spaltung und auf die Schaffung einer neuen, wahrhaft revolutionären Internationale vorzubereiten. Jedenfalls änderten sich nach diesem Ereignis sowohl die ideologischen Verlautbarungen als auch die organisatorische Taktik der Chinesen. Ideologisch erweiterten sie das Kampffeld, um Stalins Andenken zu verteidigen und Chruschtschows Innenpolitik anzugreifen. Organisatorisch begannen sie sich weniger auf eine langwierige interne Auseinandersetzung als auf einen unmittelbar bevorstehenden Bruch vorzubereiten und bemühten sich ganz offen, die Sowjets bei den Nationalisten der unterentwickelten Länder in Mißkredit zu bringen.

So sahen die chinesischen Führer zwar einer Spaltung entgegen, versuchten aber immer noch das Odium, die Initiative ergriffen zu haben, von sich abzuwenden und auch den Zeitpunkt hinauszuschi-eben. Je länger sie als eigene Organisation innerhalb einer nach außen hin geeinten Bewegung agieren konnten (wie die Bolschewiki bis 1913 innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands agiert hatten), um so besser waren nach ihrer Meinung die Aussichten, ihren Einfluß auszudehnen, vorausgesetzt, daß sie keine ideologischen Konzessionen um der Einheit willen mehr machten. Als jedoch die doppelte Krise vom Herbst 1962 — wegen der sowjetischen Raketen auf Kuba und des chinesisch-indischen Grenzkrieges — zeigte, daß das Bündnis der beiden kommunistischen Hauptmächte praktisch bis zur Auflösung unterhöhlt worden war, bewies der Verlauf von fünf kommunistischen Parteitagen in Europa eindeutig, daß auch die Sowjets eine Spaltung als unvermeidlich ansahen und sie möglichst beschleunigen wollten. Unter diesen Umständen wurden die zweiseitigen Gespräche in Moskau im Juni und Juli 1964 von beiden Partnern nicht als letzte Gelegenheit zur Versöhnung, sondern als abschließende Konfrontation vor dem Bruch angesehen

Am Vorabend der Gespräche veröffentlichten die Chinesen ihren Vorschlag für die Generallinie der kommunistischen Bewegung mit seinen umfassenden Angriffen auf das „revisionistische" Programm der KPdSU; die Sowjets antworteten einen Monat später mit ihrem Offenen Brief, in dem sie unter anderen Vorwürfen die Chinesen ausdrücklich beschuldigten, in verschiedenen kommunistischen Parteien die Spaltung unterstützt und gefördert zu haben. Tatsächlich hatten auch in mehreren Ländern Parteiausschlüsse und Gegen-Ausschlüsse stattgefunden, und die Zeit schien gekommen, die organisatorische Spaltung ideologisch grundsätzlich zu rechtfertigen. Nachdem die chinesisch-sowjetischen Gespräche gescheitert waren und die Sowjets das Abkommen über die Einstellung der Kernwaffenversuche mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien Ende Juli unterzeichnet hatten, fühlten sich die Chinesen in der Lage, sich offen zu äußern: sie nannten die Unterzeichnung des Abkommens einen Verrat, begannen Teile der bisher geheimgehaltenen Vorgeschichte des Konflikts bekanntzugeben und verteidigten die Spaltung kommunistischer Parteien, die den „revisionistischen Verrätern" in die Hände gefallen seien.

Anfang September 1963 begann die chinesische kommunistische Presse wohlwollende Berichte über das Entstehen anti-revisionistischer Splittergruppen in verschiedenen Ländern zu veröffentlichen. Die ersten eindeutig von Peking finanzierten Veröffentlichungen kommunistischer Dissidenten erschienen außerhalb Chinas; französische und spanische Ausgaben des Peking Review hatten schon einige Monate lang den Weg bereitet. Etwas später verkündete der indonesische Parteiführer D. N. Aidit (als er nach seiner Rückkehr von einer zweimonatigen Reise durch die kommunistischen Hauptstädte von seinen Erfahrungen berichtete) den Grundsatz, daß wahre Marxisten-Leninisten berechtigt seien, eine neue kommunistische Partei zu bilden, wenn sie von einer revisionistischen Parteiführung ausgeschlossen worden seien, und daß solche „Kreise, Zeitschriften und neue Parteien", sofern sie sich als wahrhaft marxistisch-leninistisch erwiesen, der Unterstützung und Solidarität der bestehenden, marxistischleninistisch geführten Parteien würdig seien.

Am 26. Oktober erklärte (in einer Rede in Peking) der stellvertretende Chef der Propaganda-Abteilung der chinesischen kommunistischen Partei, die Spaltung revisionistisch geführter Parteien durch Marxisten-Leninisten sei ein „ehernes Gesetz" — mit der überraschenden dialektischen Begründung, die kommunistische Bewegung neige wie alles andere dazu, „sich in zwei Teile zu teilen".

Die Rede wurde zwei Monate später veröffentlicht und, was wichtiger ist, ihre Hauptargumente tauchten Anfang Februar 1964 im siebenten amtlichen Kommentar der chinesischen Partei zum Offenen Brief wieder auf. Der Titel des Kommentars hieß: Die Führer der KPdSU sind die größten Spalter aller Zeiten.

Mit voller Zustimmung der chinesischen Partei vertrat dieses Dokument ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse die These, bei jeder Spaltung zwischen „Revisionisten"

und „Marxisten-Leninisten" liege die politische Schuld bei den Revisionisten. Mit anderen Worten, eine pro-chinesische Minderheit kann nicht fehlgehen, wenn sie eine pro-sowjetische kommunistische Partei spaltet.

Außerdem hatten während der gleichen Zeit die sowjetische und die chinesische Partei in bezug auf eine weitere kommunistische Welt-konferenz die Rollen gewechselt. Im Jahre 1962 hatten die Chinesen darauf gedrängt, die Sowjets sie zu vermeiden gesucht. Aber von Oktober 1963 an drängten die Sowjets auf eine Kraftprobe durch eine Konferenz, von der sie eine klare Mehrheit gegen die chinesische Position erhofften, während die Chinesen alles taten, um sie zu verhindern, solange sie mit dem Aufbau ihrer Internationale beschäftigt waren.

Die Chinesen sprachen jedoch nicht ausdrücklich von der Notwendigkeit einer neuen internationalen Organisation. Im Gegenteil, in ihrer Polemik gegen die Sowjetführer betonten sie immer wieder die Selbständigkeit und Gleichheit aller kommunistischen Parteien, sprachen selbst der mächtigsten Partei das Recht ab, sich in die internen Angelegenheiten anderer Parteien einzumischen und behaupteten, eine Rückkehr zu den Zeiten der Komintern mit ihrem einzigen Befehlszentrum könne es nicht geben. In der Praxis verhielten sie sich jedoch genau so wie die Sowjet-führer während der Aufbaujahre der Komintern. Sie benutzten ihre Autorität dazu, die Grundsätze der revolutionären Lehre und Strategie neu festzulegen und zu entscheiden, welche Partei oder Splittergruppe nach diesen Grundsätzen „wahrhaft" revolutionär sei.

Ihre diplomatischen Vertretungen und Pressestellen benutzten sie, um Verbindungen zu den abweichenden revolutionären Gruppen herzustellen, deren Tätigkeit finanziell zu unterstützen, indem sie sie in ihre Dienste nahmen und ihre Veröffentlichungen finanzierten. Auch zeigten sich die Chinesen bereit, Spaltung und Verschmelzung miteinander zu verbinden. Ebenso wie sich Lenin bei seinen Bemühungen, alle kampfbereiten Revolutionäre um sich zu versammeln, auch an die revolutionären Syndikalisten wandte, obwohl sie keinerlei marxistische Tradition besaßen, und den „geistigen Hochmut" der alten Marxisten tadelte, die sie deswegen ablehnen wollten, so behaupteten nun die Chinesen, die algerische FLN habe sich als revolutionärer erwiesen als die kommunistische Partei Algeriens und Castro sei ein besserer revolutionärer Führer als die alten Kommunisten Kubas. Für die neue Internationale war es für den Anfang offensichtlich am allerwichtigsten, die kämpferischsten revolutionären Elemente jedes Landes zu sich heranzuziehen, gleichgültig ob sie von innerhalb oder außerhalb der dort bestehenden kommunistischen Partei kamen. Das zeigte sich am deutlichsten in dem einzigen wirklich internationalen Organ, das (ebenfalls im September 1963)

nach der chinesischen Linie und mit chinesischem Geld gegründet wurde: die in mehreren Sprachen in Paris herausgegebene Monatszeitschrift Revolution. Denn diese für Afrika, Lateinamerika und Asien bestimmte Zeitschrift gründete ihren werbenden Anruf nur auf die ganz enge Lehre eines heftigen Antikolonialismus. Tatsächlich sind die chinesischen Führer überzeugt, auch die neue Internationale im ganzen müsse ihre Appelle an die Massen hauptsächlich auf den Antikolonialismus gründen. Primat der unterentwickelten Gebiete Lange bevor die Richtungskämpfe ausbrachen, waren die Chinesen der Ansicht, daß ihre Hauptchance, internationalen Einfluß zu ge-winnen, in den unterentwickelten Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas liege.

Schon Ende 1939 hatte Mao Tse-tung zum erstenmal die Ansicht geäußert, in allen kolonialen und halbkolonialen Ländern werde die Revolution sich nach den gleichen „Gesetzen" entwickeln wie in China. Kurz nach dem endgültigen Sieg im Bürgerkrieg hatte Liu Shao-chi die chinesische Revolution als Modell für alle jene Länder hingestellt, die bei der Pekinger Konferenz der asiatischen und austral-asiatischen Gewerkschaftler vertreten waren. Während der folgenden Jahre wuchs Chinas Autorität — scheinbar mit Stalins Duldung — bei den asiatischen Kommunisten. Nach Stalins Tod nahm Chinas Ansehen bei den afro-asiatischen Regierungen durch die Konferenz von Bandung stark zu und die Gründung des „Asro-Asiatischen Solidaritätskomitees" ermöglichte ihm den Zugang zu einem nützlichen Apparat, durch den es auf die militantesten revolutionären Elemente beider Erdteile Einfluß nehmen konnte.

Als der Richtungskampf gegen die Sowjets 1959/60 ausbrach, waren koloniale „nationale Befreiungskriege" im Gesamtplan Pekings zu einem wesentlichen Mittel geworden, die Stärke der Imperialisten — vor allem des Hauptfeindes, der Vereinigten Staaten — abzulenken und langsam zu zermürben. Nunmehr wurden sie auch zu einem nützlichen Mittel, die sowjetische Politik der „friedlichen Koexistenz" zu stören, zum Beispiel Pläne für sowjetisch-amerikanische Gespräche zu vereiteln. In den chinesischen Erklärungen vom April 1960, die die erste zusammenhängende ideologische Plattform Chinas darstellte, wurde die Notwendigkeit, anti-imperialistische Aufstände zu unterstützen, ohne Rücksicht auf die Gefahr einer Eskalation oder auf die Folgen für die gesamten diplomatischen Beziehungen zum Feinde, zu einer zentralen These erhoben. Als die Sowjets der algerischen FLN zu Verhandlungen mit de Gaulle rieten, konnte man ihnen Opportunismus vorwerfen; als sie Kuba durch Wirtschaftshilfe und demagogische Drohungen gegen die Vereinigten Staaten unterstützten, konnte man sie in Schwierigkeiten mit den Amerikanern verstricken; und als sie in die Unruhen im Kongo verwickelt wurden, konnte Peking beide Methoden nacheinander anwenden. Bei jedem ernsten Kolonialkonflikt lagen die Interessen Chinas eindeutig auf der streitbaren Seite, während das Interesse der Sowjets zwischen dem Wunsch, den Imperialisten eine Niederlage zu bereiten, und der Notwendigkeit, das Risiko nicht zu groß werden zu lassen, geteilt war. Peking ließ keine Gelegenheit vorübergehen, die Kommunisten und Sympathisierer in den betreffenden Ländern auf diesen Unterschied hinzuweisen. Es überrascht kaum, daß die chinesische Linie bei der Moskauer Konferenz der 81 kommunistischen Parteien im Jahre 1960 wie bei den Versammlungen des Weltgewerkschaftsbundes und der Weltfriedensbewegung bei manchen Delegierten aus den unterentwickelten Erdteilen ein freundliches Echo fand. Ja, es zeigte sich, daß diese Linie viel stärker von der AfroAsiatischen Solidaritäts-Organisation unterstützt wurde als an irgendeiner anderen internationalen „Front".

Gewiß, manche der revolutionären Bewegungen, die auf diese Weise von den Chinesen unterstützt wurden, waren keineswegs von den Kommunisten beherrscht; man könnte sagen, daß sie dem „chinesischen Modell" nur insofern entsprachen, als sie sich anti-imperialistisch gebärdeten, sich auf die Bauernschaft stützten und vor allem gewalttätig waren. Aber als die Masse der kommunistischen Parteien der fortgeschrittenen Industrieländer sich in den Richtungskämpfen gegen China stellte, sah Peking immer deutlicher, daß sich alle Revolutionsaussichten, gleichgültig ob unter kommunistischer oder nichtkommunistischer Führung, in den kolonialen und halb-kolonialen Ländern sowie in den früheren Kolonialgebieten konzentrierten. In den fortgeschrittenen Ländern schien, so groß auch die kommunistischen Parteien dort sein mochten, überhaupt keine unmittelbare Möglichkeit für einen revolutionären Kampf zu bestehen. In Westeuropa und Nordamerika hatten die kommunistischen Parteien (von unbedeutenden Minderheiten abgesehen) Chruschtschows „revisionistische" These des „friedlichen Weges" zur Macht begrüßt. Aber die Kommunisten in Vietnam und Laos führten einen Bürgerkrieg unter chinesischer Leitung. Die kubanischen Kommunisten hatten sich, wenn auch zögernd, Fidel Castros Revolution angeschlossen, und die Kommunisten Venezuelas und verschiedener anderer lateinamerikanischer Länder versuchten, Chinas Partisanenstrategie nachzuahmen. Eine starke Oppositionsgruppe innerhalb der Partei gegen die Strategie des „friedlichen Weges" hatte sich — ursprünglich, wie es scheint, ohne jedes chinesisches Antreiben — seit 1957 bei den brasilianischen, seit 1958 bei den indischen Kommunisten entwickelt, während die japanischen Kommunisten gerade zur Zeit des XXII. Parteitags der KPdSU eine „revisionistische" Gruppe aus der Partei ausschloß. So schien sowohl der frühe Kampf um die nationale Befreiung in den Ländern, in denen die kommunistischen Parteien schwach oder überhaupt nicht vorhanden waren (wie in Afrika), als auch der spätere kommunistisch geführte Kampf in den formal selbständigen Ländern gegen den immer noch bestehenden Einfluß der „Imperialisten" das Bild eines unversöhnlichen heftigen Konflikts zu bieten, das die Chinesen brauchten — und damit auch die entsprechenden Chancen für eine chinesische Führung.

Nachdem die Chinesen sich einmal entschlossen hatten, sich auf eine neue, wahrhaft revolutionäre Internationale vorzubereiten, war es verständlich, daß sie dieser geographischen Verlagerung des Hauptschauplatzes der Weltrevolution Rechnung trugen. Sie taten es, indem sie Anfang 1963 die Formel annahmen, daß die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas nunmehr „den Hauptblickpunkt der globalen Gegensätze" und „das Sturmzentrum der Weltrevolution" bildeten und daß der Kampf dieser Völker auch für den endgültigen Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Industrieländern „entscheidend" sein werde. An dieser Formel haben sie seitdem festgehalten, trotz aller sowjetischen Vorwürfe des „Rassenhasses" und aller Ermahnungen, den kolonialen Befreiungskampf nicht zu schwächen, indem sie ihn von den fortgeschrittenen „sozialistischen" Ländern und von der Bewegung des westlichen Industrieproletariats „isolierten". Die chinesische These ist von grundlegender Bedeutung für die Möglichkeit einer neuen „sino-zentrischen" Internationale, weil damit der Konflikt zwischen dem „sozialistischen Weltsystem" — mit dem Sowjetstaat als Mittelpunkt — und den imperialistischen Mächten nicht mehr der Hauptschauplatz des internationalen Klassenkampfes wäre. Aber sie bildet auch den Keim einer neuen Doktrin, die mit der Lehre von Marx und Lenin unvereinbar ist.

Für Karl Marx war es ein Axiom, daß der Sieg des Sozialismus durch das Industrieproletariat der fortgeschrittensten Länder herbeigeführt werden würde, wo die höchste Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung herrschte, die der Kapitalismus erreichen könne. Diese Vorstellung gab Lenin auf, als er im rückständigen Rußland die Macht an sich riß mit der Begründung, Rußland sei das „schwächste Glied" in der imperialistischen Kette, und das Bündnis zwischen dem revolutionären Proletariat des industriellen Westens und der nationalistischen Revolution des kolonialen Ostens verkündete. Aber er ließ keinen Zweifel daran, daß er den Klassenkampf des Proletariats als die entscheidende Kraft ansah, im Vergleich zu der die nationalistischen Bewegungen der kolonialen und halbkolonialen Länder bloße Hilfstruppen wären. Die neue chinesische Lehre kehrt dieses Verhältnis um, denn sie behandelt die Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Länder als bloße Hilfstruppen der Völker der unterentwickelten Länder — und noch dazu als unzuverlässige Hilfstruppen.

China bezieht damit eine Position, die von Lenin und Stalin in den ersten Jahren der Komintern ausdrücklich kritisiert wurde, als Sultan Galiew und eine Zeitlang auch der indische Kommunist M. N. Roy ähnliche Ansichten vertraten. Die leninistische Orthodoxie der chinesischen Position läßt sich auch nicht durch die Fiktion retten, daß die führende Rolle des Proletariats in der neuen Internationale gesichert sein werde, weil die chinesischen Kommunisten die Führung übernehmen würden. Obwohl Lenin ähnliche Fiktionen aufstellte, um die Möglichkeit sowjetischer Regime in asiatischen Gebieten ohne industrielle Arbeiterklasse zu rechtfertigen, betrachtete er diese Gebiete niemals als zentralen Teil der internationalen revolutionären Front. Den Kern der bolschewistischen Partei bildeten auch zu Lenins Zeiten die vorwiegend proletarischen Mitglieder, obwohl die Partei dank ihrer zentralistischen Organisation von den Interessen der Arbeiterklasse nicht abhängig war; darüber hinaus war sie mit wichtigen Teilen des westeuropäischen Proletariats verbündet. Bei Mao Tse-tungs Partei heute hingegen ist der Anspruch, Vertreterin des Industrieproletariats zu sein, ganz und gar hinfällig geworden. Er beruht weder auf der Geschichte noch auf der Zusammensetzung noch auf dem internationalen Einfluß der Partei, sondern geht lediglich auf die nur noch in Spuren vorhandene Vorstellung zurück, daß jeder, der einen aktiven revolutionären Kampf gegen den imperialistischen Monopolkapitalismus führt, durch diese Tatsache allein das „wahre Klassenbewußtsein des Proletariats" zum Ausdruck bringe.

Aber gerade in ihrem Gegensatz zum Marxismus-Leninismus beruht Maos neue Lehre auf einigen entscheidenden historischen Tatsachen unserer Zeit. In den vierzig Jahren seit Lenins Tod sind die Arbeiter der fortgeschrittenen Industrieländer immer weniger revolutionär geworden. In keinem dieser Län-B der ist es den Kommunisten gelungen, eine revolutionäre Bewegung zum Siege zu führen. Im Gegensatz dazu sind es die in extremer Unsicherheit am Rande des Hungers lebenden gewaltigen Menschenmassen der unterentwickelten Länder, von denen man sagen könnte, sie hätten „nichts zu verlieren als ihre Ketten". Ihre verzweifelte Lage hat Gelegenheit geboten, eine Reihe von siegreichen Revolutionen, darunter auch kommunistische, durchzuführen. Der Verlauf der Geschichte hat es den kommunistischen Führern unmöglich gemacht, Lenins marxistischem Glauben an die industrielle Arbeiterklasse und zugleich seiner leidenschaftlichen Begeisterung für den revolutionären Kampf treu zu sein, wenn sie sich auch sehr bemüht haben, diese Tatsache sich selbst nicht einzugestehen. Unter dem Druck ihres Konflikts mit den Sowjets haben die chinesischen Führer (deren Verbindung zum europäischen Marxismus und zum Industrieproletariat immer schwach gewesen ist) endlich ihre Wahl getroffen: ihre neue Internationale wird ganz und gar revolutionär und nur am Rande proletarisch sein.

Die Chancen für Revolutionen nach „chinesischer Art“

Wie sind also die Aussichten dafür, daß weitere Revolutionen bei unterentwickelten Völkern tatsächlich zum Sieg totalitärer Parteien führen werden, die sich dem permanenten unversöhnlichen Kampf gegen die „Imperialisten" verschrieben haben, und daß es den chinesischen Kommunisten gelingen wird, die Entwicklung dieses neuen totalitären Regimes auch nur eine Zeitlang zu lenken?

Wenn wir versuchen, den ersten Teil dieser Frage zu beantworten, mag es nützlich sein, die verwirrende Vielfalt der vorrevolutionären Krisensituationen in diesen Ländern in einige wenige Haupttypen zusammenzufassen. Erstens gibt es die wenigen afrikanischen Völker, die immer noch gegen die unmittelbare Kolonialherrschaft oder die formale Vorrangstellung des weißen Mannes kämpfen.

Zweitens gibt es die sehr viel größere Zahl politisch souveräner „halb-kolonialer" Länder, deren an sich schon schwierige wirtschaftliche und soziale Entwicklung durch das Vorhandensein kapitalistischer Unternehmen erschwert wurde; die Schlüsselpositionen in der Volkswirtschaft halten Konzerne, die häufig kein positives Interesse an der Gesamtentwicklung des betreffenden Landes haben, ja manchmal sogar direkt dagegen sind. Drittens gibt es die erst seit kurzem selbständigen Länder, deren Regierungen sich — der Einfluß ausländischen Kapitals einmal außer Betracht gelassen — als unfähig erwiesen, eine leistungsfähige Verwaltung und ein Gefühl der nationalen Loyalität zu schaffen, die aber weiterhin die Unterstützung der westlichen „Imperialisten" genießen, einfach weil sie an der Macht sind und häufig als einzige vorhandene Alternative zu einem kommunistischen Sieg angesehen werden.

1. Bei der zuerst geschilderten typischen Situation ist eine kommunistische Führung bisher die Ausnahme gewesen. Lediglich bei dem vietnamesischen Aufstand gegen die französische Herrschaft hatten die Kommunisten von Anfang an die Führung. Die chinesischen Kommunisten haben selbst ausdrücklich betont, daß eine solche Führung, so wünschenswert sie auch sein möge, für sie keine Bedingung dafür sein dürfe, einen anti-imperialistischen Aufstand zu unterstützen. Seit Jahren machen sie besondere Anstrengungen, die algerische FLN trotz ihrer nichtkommunistischen Ideologie und Führung als Modell für andere unterdrückte Völker zu preisen. Zwar hoffen sie, daß sich der kommunistische Einfluß in den Untergrundbewegungen in Südafrika und in den portugiesischen Kolonien verstärken werde, sind aber auf jeden Fall zu ihrer Unterstützung bereit. Dennoch hat die FLN, seitdem sie an der Macht ist, keinerlei Neigung gezeigt, den militanten Konflikt mit dem Westen um seiner selbst willen fortzusetzen. Ob sie sich schließlich doch wieder in den Kampf begibt, wird weder von der Erinnerung an ihre heroische Zeit noch von den Ratschlägen der Chinesen abhängen, sondern lediglich von den Hindernissen, die sich ihr bei der Entwicklung des Landes in den Weg stellen, sowie von der Fähigkeit ihrer Führer, mit diesen Hindernissen fertig zu werden. Allgemein gesprochen, es ist nicht wahrscheinlich, daß die „erste Phase" der antikolonialen Revolution — der Kampf um die politische Selbständigkeit — zu kommunistischen Regimes irgendwelcher Art führen wird.

2. Die zweite Art der vor-revolutionären Lage ist sowohl in Lateinamerika als auch im Mittleren Osten weitverbreitet, und Beispiele dafür gibt es in allen unterentwickelten Gebieten. Die Geschichte von Mossadeks Herrschaft in Persien, Kassems Revolution im Irak, von Nassers Ägypten, Perons Argentinien und von den Revolutionen in Venezuela und Bolivien bieten alle Beispiele für die politischen Explosionen, zu denen es kommen kann, wenn sich eine selbständige nationale Entwicklung gegen den gemeinsamen Widerstand einheimischer Oligarchien und ausländischer kapitalistischer Interessen durchsetzen muß. Bisher ist Fidel Castros Revolution in Kuba die einzige dieser Art gewesen, die tatsächlich zu einem kommunistischen Regime geführt hat.

Dennoch scheint sie größere Aussichten als Modell zu haben als Ho Chi Minhs Revolution bei dem zuerst genannten Typ; denn während nichtkommunistische Bewegungen für politische Selbständigkeit fast überall Erfolg gehabt haben, sind viele der nichtkommunistischen Aufstände gegen die „halbkoloniale" Abhängigkeit gescheitert. Nun sind trotz Castros vorsichtigem Manövrieren im chinesisch-sowjetischen Konflikt die engen Beziehungen zwischen der „Fidelistischen" Partisanenstrategie, wie „Che" Guevara sie lehrt, und dem Partisanenkrieg, wie Mao ihn führt, allgemein bekannt, und in ganz Lateinamerika geht der Einfluß des „Fidelistischen" Modells allmählich ineinander über. Im ganzen gesehen muß die Möglichkeit, daß weitere Revolutionen gegen „halbkoloniale" Abhängigkeit zu kommunistischen Revolutionen werden, ernst genommen werden, weil hier die Situation selbst die Verbindung zwischen Nationalismus und Antikapitalismus in sich birgt. Die Gefahr kann nur dadurch verringert werden, daß die Westmächte (und vor allem die Vereinigten Staaten) besondere Anstrengungen machen, sich von den Kapitalinteressen westlicher Privatgesellschaften zu distanzieren.

3. Es bestehen jedoch Anzeichen dafür, daß die dritte Form der Krisensituation die „klassische" Gelegenheit für kommunistische Revolutionen im chinesischen Geist bietet. Sie entsteht dort, wo es den Führern eines seit kurzem selbständigen Landes (aus welchen Gründen auch immer) nicht gelingt, einen lebensfähigen Staat zu schaffen und erst recht nicht die Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung zu lösen; das trifft vor allem dann zu, wenn diese Führer, die den ursprünglichen Kampf um die Selbständigkeit erfolgreich geleitet haben, inzwischen vom Westen akzeptiert worden sind. Schließlich stellte auch Maos ursprüngliche Eroberung Chinas eine solche Revolution „der zweiten Welle" iar, nachdem es der einst revolutionären Kuomintang nicht gelungen war, mit den ungeheuren Schwierigkeiten fertig zu werden, die die Einigung und Modernisierung Chinas nach Jahrzehnten des Krieges und Bürgerkrieges mit sich brachten. Heute bieten vergleichbare mißlungene Versuche in mehreren Ländern Südostasiens den Peking-Orientierten kommunistischen Parteien verschiedene vielversprechende strategische Gelegenheiten. Die indonesischen Kommunisten bemühen sich aus der administrativen und wirtschaftlichen Un-tüchtigkeit der „gelenkten Demokratie" Sukarnos Nutzen zu ziehen, indem sie erst mit ihm zusammenarbeiten, ihn dann in einen Konflikt mit dem Westen verwickeln, in seinen Regierungsapparat einsickern und schließlich seine Macht als Erbe übernehmen. Die vietnamesischen Kommunisten haben aus der anders gearteten, aber eben so eindeutigen Wirkungslosigkeit des bürokratisch-militärischen Regimes in Südvietnam profitiert, um ihren Guerillakrieg trotz der amerikanischen Unterstützung ihrer Gegner auszudehnen. Diese Gelegenheiten der „zweiten Welle" sind nicht mit der „zweiten Phase" der in der leninistischen Theorie vorausgesehenen antikolonialen Revolution identisch. Sie entstehen — ebenso wie im China der vierziger Jahre — nicht aus dem Klassenkampf des Proletariats gegen die „nationale Bourgeoisie", sondern aus der Verzweiflung der Massen in einer Atmosphäre des allgemeinen politischen Verfalls. (Die Chinesen schrecken nicht einmal davor zurück, die Schwäche einiger neuer Staaten auszunutzen, indem sie, wie zur Zeit im Kongo, reine Stammesaufstände fördern!)

Aber wie China selbst gezeigt hat, sind die Aussichten für eine Revolution der „zweiten Welle" nicht weniger real, weil sie nicht in das herkömmliche leninistische Schema passen. Grenzen der chinesischen Kontrolle Wir müssen also mit der Möglichkeit rechnen, daß weitere totalitäre Revolutionen mehr oder weniger nach „chinesischer Art" in verschiedenen Teilen der unterentwickelten Welt erfolgreich sein werden. Man kann sicher sein, daß Mao Tse-tungs China ihnen jede nur mögliche Hilfe und Ermutigung geben wird. Daraus folgt jedoch nicht, daß die aus solchen totalitären Bewegungen hervorgegangenen Regimes oder auch nur die Bewegungen selbst vor der Machtergreifung bereit sein werden, sich der chinesischen Führung so zu unterwerfen, wie sich alle Kommunisten mehrere Jahrzehnte lang der sowjetischen Führung unterworfen haben. Dagegen sprechen mindestens drei wichtige Gründe.

1. Die revolutionären Bewegungen, auf die sich die Chinesen stützen möchten, sind sehr viel nationalistischer als die, auf die Lenin die III. Internationale aulbaute. Schließlich entstand die Komintern aus einer Reaktion auf den „Verrat des Internationalismus" durch die offiziellen sozialistischen Parteien während des Ersten Weltkriegs, während die neue „Sinintern" auf den „Verrat des nationalen Befreiungskampfes" durch die Sowjets begründet werden soll.

2. Für viele der in Frage kommenden Bewegungen ist China nicht die einzig verfügbare und auch nicht einmal eine ausreichende Quelle der Unterstützung. Castro mag zwar China für zuverlässiger als Rußland halten, muß sich aber dennoch auf Rußland stützen, weil die Sowjets ihm so viel mehr von dem, was er braucht, bieten können.

3. Mindestens bis 1949 war Rußland für alle Kommunisten das einzige Modell. Jetzt hat Rußland diese Einzigartigkeit eingebüßt. Das bedeutet aber nicht, daß China sie automatisch gewonnen hat — auch nicht in den Augen jener kommunistischen Parteien und Regierungen, die zur chinesischen Seite des Schismas tendieren.

Die chinesischen Kommunisten selbst sind sich dieser Grenzen genügend bewußt, um jeden Gedanken an eine Rückkehr zu einer „Weltpartei" mit der strengen monozentristisehen Disziplin der Komintern abzulehnen.

Sie mögen eine scharfe organisatorische Kontrolle über die pro-chinesischen Splittergruppen ausüben, die sie finanziell und propagandistisch unterstützen, und auf jene seit jeher von ihnen abhängige kommunistische Untergrundparteien, wie die in Malaya und Thailand, deren Mitglieder vorwiegend Chinesen sind. Den indischen (und natürlich auch den nepalesischen) Kommunisten mögen sie bei der Organisation ihrer Parteien entscheidende Hilfe leisten; ihr Einfluß bei den japanischen Kommunisten ist seit jeher stark. Aber sie konnten sich nicht die geringste Einmischung in die Autonomie der mächtigen kommunistischen Partei Indonesiens leisten, die sich bewußt zurückhielt und beide Seiten anhörte, ehe sie sich offiziell dem chinesischen Lager anschloß. Nordkorea mag zwar eine Art chinesischer Satellit geworden sein, aber die kommunistischen Herrscher Albaniens haben sich der chinesischen Sache angeschlossen auf Grund eines freien Entschlusses und haben einen selbständigen Beitrag zu der Auseinandersetzung geleistet. Auch Nordvietnam konnte, obwohl es bei seinem militärischen Kampf im Süden von der Unterstützung Chinas abhängig war, nicht einfach dazu kommandiert werden, sich der Position Chinas anzuschließen — es mußte allmählich dafür gewonnen werden.

Aber wenn die chinesischen Kommunisten jeden Anspruch auf disziplinarische Unterordnung in ihrer neuen Internationale fallen lassen können — und das tun sie auch —, so können sie auf den Anspruch auf ideologische Führung nicht verzichten. Sie sind stets überzeugt gewesen, daß eine einige internationale Bewegung ohne eine anerkannte ideologische Autorität nicht möglich sei. Die Spaltung bedeutet für sie, wie wir gesehen haben, daß sie nun diese Rolle zu übernehmen haben.

Ebenso wie die leninistische Version des Marxismus erst im Zusammenhang mit dem weltweiten Bruch mit den demokratischen Sozialisten gründlich erarbeitet wurde, hat die innere Logik ihres Anspruchs auf ideologische Führung die Chinesen dazu getrieben, ihre Version der kommunistischen Lehre immer gründlicher auszugestalten. Darüber hinaus haben sie sich gezwungen gesehen, eine doktrinäre Rechtfertigung für ihren eigenen Anspruch zu finden, die einzige Großmacht zu sein, die tatsächlich dabei ist, den Sozialismus und letztlich den Kommunismus aufzubauen. Erst in diesem Zusammenhang gelangen Mao Tse-tungs neueste Vorwürfe über die „Restauration des Kapitalismus" — nicht nur in Jugoslawien, sondern auch in Rußland selbst — zu ihrer wahren internationalen Bedeutung.

Sie dienten nicht nur dazu, die „Chruschtschow-Clique" zu verurteilen und den chinesischen Kommunisten klar zu machen, daß sie in Zukunft allein stehen müßten, ohne sich auf das sowjetische Bündnis verlassen zu können, sondern auch dazu, den Kommunisten und revolutionären Nationalisten der unterentwickelten Gebiete, die China führen möchte, zu „beweisen", daß es keine andere Alternative gebe. Wenn Rußland wieder kapitalistisch wird — dank dem Bündnis zwischen den wieder auftauchenden privaten Geschäftsleuten und den Kulaken, dank den korrupten Beamten und den „revisionistischen Verrätern" an der Spitze, die sie dulden und schützen —, wenn der neue Geist in Ruß-land, der weniger sichtbare Kontrollen fordert und die materiellen Anreize und Annehmlichkeiten stärker betont, ein kapitalistischer Geist ist (wie in Maos neuestem Dokument behauptet wird) — dann beruht die Spaltung nicht nur auf Fragen der Strategie und der Taktik, ja nicht einmal nur auf dem Konflikt zwischen Orthodoxie und Häresie, dann handelt es sich um einen Konflikt zwi-sehen einer sozialistischen und einer kapitalistischen Macht. Die Sowjetunion ist nicht nur ein unzuverlässiger Verbündeter, sondern wird von Verrätern regiert, die in das Lager des Feindes übergegangen sind. China, als der einzigen Großmacht, die noch immer den wahren Weg des Sozialismus beschreitet, ist die Aufgabe zugefallen, das Banner hoch-zuhalten. Für den Sozialismus kämpfen heißt, von nun an Chinas Führung zu akzeptieren.

Auswirkungen auf China Dennoch enthält dieses Argument für Chinas alleinige Führungsposition Gefahren für seine eigene Entwicklung und Schwächen hinsichtlich seiner Anziehungskraft auf andere Völker. Denn es beruht auf einer streng egalitären und militärischen Vorstellung des „Weges zum Sozialismus", die alle Privilegien für die wenigen technischen, wirtschaftlichen und administrativen Kader ablehnt und jeden Glauben an materielle Anreize zugunsten eines Kultes der Begeisterung und der heldenhaften Armut weit von sich weist. Wenn diese Lehre nicht radikal abgeändert wird (es ist vorstellbar, daß das nach Mao Tse-tungs Tod geschehen wird), wird sie den vielen objektiven Schwierigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas noch ein selbst geschaffenes Hindernis hinzufügen, das sich sehr wohl als unüberwindlich erweisen könnte. Ja, man fragt sich, ob nicht darin in Wirklichkeit eine halbbewußte Neigung der chinesischen Führer zum Ausdruck kommt, das nahezu aussichtslose Bemühen, China ohne größere Hilfe vom Ausland zu industrialisieren, aufzugeben und statt dessen zu versuchen, ihre politische Ordnung durch Verherrlichung ihrer sozialen Gerechtigkeit und kollektiven Disziplin auf dem jetzigen niedrigen wirtschaftlichen Stand zu erhalten.

Aber einem solchen „Sozialismus" von „hochgesinnten aber hungrigen Leuten, die in völliger Gleichheit um einen leeren Tisch herum sitzen" (wie Chruschtschow es einmal ausdrückte), würde ein Hauptanreiz fehlen, den der kommunistische Block bisher der Intelligenz der unterentwickelten Länder geboten hat — der Anreiz eines Modells für rasche Modernisierung. In der Tat deutet das leidenschaftliche Bemühen, die Produktivität und die Macht, des Westens einzuholen, mindestens eine partielle Anerkennung westlicher Werte. Umgekehrt ist Mao Tse-tungs zunehmende und immer vollständigere Ablehnung jener Werte unvereinbar mit der besessenen Jagd nach materieller Produktivität, die die Bolschewiki von ihrem westlichen Lehrer Karl Marx und die neuen Nationen von ihren früheren imperialistischen Herrschern übernommen haben. Es ist natürlich denkbar, daß die chinesische Umkehrung der Prioritätsordnung mancher politischen Elite in Asien und Afrika gefallen wird, besonders in Ländern, in denen die Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung immer unlösbarer erscheinen. Kommunismus nach chinesischer Art würde dann nicht zum Modell für die Entwicklung, sondern zum Modell dafür werden, wie man sich mit dem Scheitern des Kommunismus abfindet und als Reaktion die Einflüsse der westlichen Zivilisation endgültig ausschließt. Wenn also weder eine Abkehr von dem jetzigen besessenen Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung noch eine radikale Änderung der chinesischen Wirtschafts-und Soziallehre eintreten, sind, wie es scheint, die Aussichten des kommunistischen China, in den aufstrebenden Ländern als Führer beim „Aufbau des Sozialismus" akzeptiert zu werden, wesentlich geringer als seine Aussichten, als Führer bei einer revolutionären Machtergreifung zu dienen.

Trifft das zu, so sind damit die Möglichkeiten, die Autorität Chinas in einer neuen Internationale aufrechtzuerhalten, stark begrenzt. Denn das bedeutet, daß zwar revolutionäre Bewegungen in den unterentwickelten Gebieten 1 Chinas ideologische Führung neben anderen Formen der Unterstützung gerne annehmen, daß aber erfolgreiche revolutionäre Regierungen dazu neigen werden, sich zurückzuhalten und Pekings „Führerrolle" nicht anzuerkennen (es sei denn, daß sie materiell von China abhängig sind). Sie werden sich, wann immer möglich, weiterhin von Rußland und von China unterstützen lassen, wie Kuba es jetzt tut und Vietnam es gerne getan hätte. Und wenn sie zu einer Wahl gezwungen werden sollten, kann es sein, daß diejenigen, die außerhalb des örtlichen Machtbereichs Chinas stehen, den Beschützer vorziehen, der weniger ideologische Übereinstimmung verlangt und größere materielle Hilfe bietet. Das heißt, daß Castros Kuba trotz seines Interesses für Guerilla-Revolutionen sich einer von China geführten Internationale wahrscheinlich nicht anschließen wird. Das heißt auch, daß die indonesischen Kommunisten zwar wahrscheinlich zu den bedeutenden Gründungsmitgliedern einer solchen Internationale gehören würden, daß aber ein kommunistisch regiertes Indonesien sich Chinas ideologischer Autorität kaum für längere Zeit unterwerfen würde. Die Bemühungen Chinas, eine neue Internationale zu schaffen, mögen eine starke und anregende Wirkung auf kommunistische und halbkommunistische revolutionäre Bewegungen in der unterentwickelten Welt ausüben, aber die neue Organisation selbst wird labil sein und vielleicht sehr viel rascher zerfallen als ihre Mutterorganisation.

Der sowjetische Entschluß, Schritte gegen die chinesische Gruppe zu unternehmen, selbst auf die Gefahr eines offenen Bruchs hin, datiert, wie wir annehmen dürfen, von dem Zusammenstoß auf dem XXII. Parteitag (1961); das gleiche gilt für den Entschluß Chinas, sich aktiv auf die Spaltung vorzubereiten. Der diplomatische Bruch mit Albanien sowie der unauffällige Ausschluß der Führer der „Anti-Partei-Gruppe" — Molotow, Malenkow und Kaganowitsch — zeigte, daß sich die Sowjets der dringenden Notwendigkeit bewußt geworden waren, Maos spalterischen Verbündeten jeden Einfluß im europäischen Sowjetblock zu nehmen. (In beiden Fällen gab es auch Zweifel und Widersprüche, die auf die Erkenntnis der politischen Risiken und vielleicht auch auf Meinungsverschiedenheiten über taktische Fragen innerhalb der sowjetischen Führung hindeuteten.) Mit dem Erscheinen einer Reihe von Dokumenten und Berichten über den Konflikt, den die französischen, italienischen und belgischen Kommunisten Anfang 1962 veröffentlichten, setzte auch bei den prosowjetischen kommunistischen Parteien außerhalb des Blocks ein energischerer Feldzug ein. Schließlich wurde die Entschlossenheit der Sowjetführer, keine weiteren Zugeständnisse um des Kompromisses willen zu machen, in der offenen Ablehnung einer Resolution deutlich, die die Chinesen bei der Stockholmer Sitzung des Weltfriedensrates (Dezember 1961) einbrachten; außerdem weigerten sich die Sowjetführer, den „neutralen" Vorschlag der Chinesen in Erwägung zu ziehen, im folgenden Frühjahr eine kommunistische Welt-konferenz abzuhalten, wenn sich nicht alle Teilnehmer verpflichteten, sich an die Entscheidungen der Mehrheit zu halten.

Dennoch griffen die Sowjets während des größten Teils des Jahres 1962 in ihrer Presse ihre Hauptgegner nicht namentlich an: ebenso wie die Chinesen manövrierten sie, um der Verantwortung für den Bruch auszuweichen, obwohl sie ihn doch für unvermeidlich hielten. Erst nachdem die Chinesen das russische Verhalten während der kubanischen Raketenkrise im Herbst jenes Jahres öffentlich angegriffen hatten, förderten die Sowjets bei den Parteitagen der europäischen kommunistischen Parteien eine ausdrückliche Kritik an den Chinesen und beteiligten sich selbst daran. Und erst nachdem die Chinesen (im Sommer 1963) die sowjetische Innenpolitik und das Parteiprogramm der KPdSU offen verurteilt hatten — und die Wirkung ihrer eigenen Propaganda geschwächt, indem sie sich gegen das Verbot der Kernwaffenversuche wandten, gelangten die Sowjets zu dem Schluß, daß es nunmehr in ihrem Interesse liege, die formelle und endgültige Spaltung zu vollziehen und eine Weltkonferenz einzuberufen.

Die sowjetischen Entschlüsse, die Spaltung erst zu riskieren, dann zu fördern und schließlich zu beschleunigen, wurden im Zusammenhang mit zwei anderen wichtigen Entwicklungen in der sowjetischen Politik gefaßt. Das waren: 1.der Höhepunkt und das endgültige Scheitern von Chruschtschows Versuch, einen weltpolitischen Durchbruch zu erzielen, dem dann neue Bemühungen um eine russisch-amerikanische Entspannung folgten; und 2. die wachsende Einsicht der Sowjetführer in die Notwendigkeit, die Leistungen der Wirtschaft in Sowjetrußland und in den osteuropäischen Ländern zu steigern (dazu gehört auch die Befriedigung des Bedarfs an Konsumgütern). Die Vorstellungen der Sowjetführer über die Formen der Beziehungen der „loyalen" kommunistischen Parteien nach dem Bruch mit den Chinesen sind von dieser neuen Lage und den aus ihr entstehenden widersprüchlichen Bedürfnissen geprägt worden: von der wachsenden Einsicht in den nicht wiedergutzumachenden Autoritätsverlust und von der Schwierigkeit, Parteien in einer Internationale zusammenzufassen, die nicht mehr allumfassend ist.

Geht es auf eine „Briefkasten“ -Internationale zu?

Im ganzen gesehen haben der Zusammenbruch von Chruschtschows weltweiter Offensive sowie die Schärfe des Konflikts mit Peking die Sowjetführer anscheinend geneigt gemacht, ihre Bindungen an die anderen kommunistischen Parteien weniger eng zu gestalten, als sie es seit 1920 jemals waren: Sie scheinen eher ein loses, breites, brüderliches Bündnis zu suchen als eine auf einer schmalen doktrinären Grundlage beruhende Einheit. Seit der Kubakrise scheint ein entschiedener Fortschritt der „Weltrevolution" viel ferner zu liegen, als Chruschtschow in den vorhergehenden Jahren glaubte. Seit der Spaltung scheint es viel zweifelhafter zu sein, ob kommunistische Revolutionen — selbst dort, wo sie möglich sind — für die Größe der Sowjetunion so bedeutsam sind. Nun, da die Erfahrung gezeigt hat, daß die Sowjetunion vielleicht nicht in der Lage sein wird, die Politik anderer revolutionärer Mächte zu lenken, müssen die Sowjetführer immer mehr darauf achten, daß keine andere Macht versucht, ihre Politik zu beherrschen, indem sie ihr im internationalen Rahmen ideologische Argumente aufzwingt.

Das bedeutet, daß die Sowjetführer jetzt ein internationales Bündnis anstreben müssen, das auf in weiten Umrissen bezeichneten, gemeinsamen Zielen und einer gegenseitigen ideologischen Nichtangriffs-Abmachung beruht, nicht aber auf dem Bestreben nach genau umrissener weltanschaulicher Einheit. Und schließlich: je größer die Duldsamkeit gegenüber Meinungsverschiedenheiten innerhalb eines solchen Bündnisses ist, um so mehr dürfen die Sowjets hoffen, trotz des chinesischen Widerstandes eine breitere Unterstützung dafür zu gewinnen.

Ein solches breit angelegtes, brüderliches Bündnis würde seinem ganzen Wesen nach jede Wiederaufnahme eines formalen sowjetischen Führungsanspruchs ausschließen, der auf doktrinärer Autorität oder gar auf organisatorischer Disziplin beruhte. In vieler Hinsicht wäre es nicht sehr viel mehr als ein „Briefkasten", wie Lenin die Zweite Internationale verächtlich nannte. Da sich dieses Bündnis aber tatsächlich um die Sowjetunion gruppieren würde, wäre es immer noch ein Weg, die Sowjetunion über den dank des Ansehens, das ihre militärische und wirtschaftliche einen erheblichen Einfluß genießt, auf größere kommunistische Bewegungen in vielen Ländern ausüben könnte. Dann könnten auch die Sowjetführer ihrem eigenen Volke sagen, Moskau sei zwar nicht mehr das Hauptquartier einer kampfbereiten Armee der Weltrevolution, aber ihr Land sei noch immer der beliebte und bewunderte Stützpunkt der meisten fortschrittlichen Kräfte der Welt. Das entspräche auch der innenpolitischen Lage, da die Sowjetführer zwar ihre Herrschaft in zunehmendem Maße durch ihre wirtschaftlichen Leistungen im Inland zu legitimieren versuchen, aber immer noch das Bedürfnis nach einer internationalen Legitimation empfinden.

Das alles ist natürlich eine „revisionistische" Vorstellung davon, wie die Bande zwischen einer kommunistischen Macht und der internationalen Bewegung auszusehen haben. Sie entspricht weitgehend den Zielen, für die sich die Jugoslawen (mit wachsender Unterstützung von den italienischen Kommunisten) in den letzten Jahren eingesetzt haben. Ja, die ersten Anzeichen dafür, daß die Sowjets sich einer solchen Vorstellung näherten, machten sich bemerkbar in ihrem demonstrativen rapprochement an das Tito-Regime seit 1962 und in ihrem Eintreten für dieses Regime gegenüber den chinesischen Angriffen mit der Begründung, brüderliche Solidarität sei auch ohne vollständige ideologische Übereinstimmung möglich. Seitdem haben die Sowjets diese These weiterentwickelt, indem sie darauf beharrten, Jugoslawien sei trotz einiger „Irrtümer" immer noch ein „sozialistisches"

Land, und dasselbe gelte — am anderen Ende der Skala — auch für Albanien. Damit gaben sie ihre Bereitwilligkeit klar zu erkennen, in einer internationalen Vereinigung mit „revisionistischen" wie mit „dogmatischen" Parteien und Regierungen zu bleiben, solange sich alle der feindseligen Polemik gegen die Sowjetunion enthielten. Schließlich haben seit Ende 1963 sowjetische Schriftsteller begonnen, die taktisch bedingten Bemühungen um engere Beziehungen zu den herrschenden Parteien in einigen früheren Kolonialländern zu untermauern, indem sie einräumten (was ebenfalls zuerst die jugoslawischen Revisionisten behauptet hatten), es sei möglich, daß manche dieser Länder, die sich dank der eindeutig anti-imperialistischen und prosozialistischen Einstellung ihrer herrschenden Parteien auf den „nicht-kapitalistischen Entwicklungsweg"

begeben haben, tatsächlich auch ohne die Führung (oder nur die auch legale Existenz!) einer kommunistischen Partei zum „Sozialismus" gelangen könnten. Ansichten erhielten eine offizielle Bestätigung, als Ben Bella bei seinem Besuch in der Sowjetunion im Frühjahr 1964 als Haupt einer Einparteienregierung begrüßt wurde, die den Sozialismus aufbaue.

Das deutet darauf hin, daß die Sowjets vielleicht ernsthaft hoffen, sie könnten einige dieser herrschenden linlten nationalistischen Parteien, die sich zwar nie dem „MarxismusLeninismus" verschrieben haben, aber die anti-imperialistische, „sozialistische" Einstellung der Kommunisten zu teilen glauben, dazu bewegen, einer neugestalteten Internationale beizutreten, besonders wenn der Beitritt Jugoslawiens beweisen sollte, daß das möglich sei, ohne gleichzeitig einem von den Sowjets geführten militärischen Block anzugehören.

Die Überlegung der Sowjets geht dahin, daß der Verlust an ideologischer Übereinstimmung durch den wiedergewonnenen Einfluß mehr als wettgemacht werden würde. Das mag auch ihre verhältnismäßig große Bereitwilligkeit erklären, den Forderungen stattzugeben, die bei dem Meinungsaustausch mit anderen kommunistischen Parteien über die Vorbereitungen für eine neue Weltkonferenz laut geworden sind, daß nämlich diese Konferenz nicht der „Exkommunizierung" dienen und daß kein Versuch unternommen werden dürfe, eine supra-nationale Disziplin einzuführen oder ihnen ein neues Dogma aufzuzwingen, das die Autonomie und Gleichheit der anwesenden Parteien beeinträchtigen könnte.

Dennoch stand während der ersten zwei Jahre dieser Vorbereitungszeit die Neigung der Sowjetführer, ihre internationalen Parteibeziehungen lockerer, aber umfassender zu gestalten, ihrem gleichzeitigen Wunsch gegenüber, die Zügel dort, wo die zwischenparteilichen Beziehungen am wichtigsten sind — nämlich im eigentlichen Sowjetblock in Osteuropa —, fester anzuziehen.

„Entsatellitisierung" in Osteuropa Sowohl der chinesisch-sowjetische Konflikt wie die zunehmende Betonung der wirtschaftlichen Leistung in der Sowjetunion haben diesen Gegen-Trend gefördert. Die Notwendigkeit, die prochinesischen Gruppen aus dem sowjetischen Einflußbereich auszuschalten, hat zu der Forderung geführt, daß alle osteuropäischen Staaten sich dem sowjetischen Bruch mit Albanien anschließen sollten, ferner zu dem recht offenen Drängen zur Zeit des bulgarischen Parteitags Ende 1962, Tscherwenkow und seine Anhänger zu entfernen, sowie zu den etwas diskreteren Bemühungen, in der Tschechoslowakei die Entstalinisierung endlich durchzuführen. reagierten Gleichzeitig für sie die Sowjetführer auf den — — überraschenden Erfolg des westeuropäischen Ge -meinsamen Marktes,. indem sie auf die raschere Verwirklichung einer rationalen „sozialistischen Arbeitsteilung" innerhalb des COMECON drängten. Im Jahre 1962 war Chruschtschow allmählich zu der Erkenntnis gekommen, daß die völlige Selbständigkeit der nationalen Planungsapparate der Mitgliedstaaten autarke nationalistische Neigungen zum Schaden des Blocks begünstige. Als er (bei einer Versammlung in Moskau im Juni 1962) die Errichtung eines neuen, aus Parteiführern bestehenden Exekutivkomitees des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe sowie mehrerer supra-nationaler Wirtschaftsorgane forderte, bemühte er sich nicht nur darum, die besten institutioneilen Formen der Rationalisierung innerhalb des Blocks zu finden, er versuchte vielmehr, sich die Loyalität der Parteiführung zu sichern für den Kampf gegen die eingewurzelten Interessen der nationalen Planungsbürokratien. Als sich einer dieser Führer, Gheorgiu Dej, weigerte, die schwerindustriellen Projekte seines Landes einem von den Sowjets geförderten supranationalen Plan zu opfern, stellten die Sowjets fest, daß sie zumindest auf diesem Gebiet ihre herkömmliche „Führerrolle" immer noch nötig hätten. Sie stellen aber auch zu ihrer großen Überraschung fest, daß ihre Autorität so weit in Verfall geraten war, daß sie sie — selbst gegenüber einem widerspenstigen „Satelliten" — nicht mehr durchsetzen konnten, wenn sie nicht physische Macht anwenden wollten. Und das wollten sie nun nicht mehr.

Die Überraschung der Sowjets war verständlich. Daß sie souveräne kommunistische Staaten, die aus selbständigen Revolutionen hervorgegangen waren, nicht nach Belieben lenken konnten, hatten sie akzeptiert; das war nicht nur durch den Konflikt mit China, sondern auch durch Jugoslawiens Widerstand gegen Stalin und Albaniens Herausforderung an Chruschtschow bewiesen worden. Die kommunistischen Regimes Osteuropas aber, die ihre Existenz der militärischen Beherrschung ihres Gebietes durch die Sowjets verdankten, hatten sie nie als souveräne Staaten betrachtet. Denn schließlich hatte gerade die Tatsache, daß diese Regimes den äußeren Schutz der Sowjetunion brauchten, um ihre Herrschaft im Innern aufrechtzuerhalten, ihnen im Westen die Bezeichnung „Satellitenstaat" eingebracht. Als Chruschtschow nach Stalins Tod in diesem Imperium eine Reihe von Reform-maßnahmen durchgeführt hatte, die der brutalen Ausbeutung ein Ende setzten, die strenge milderte und sowjetische Überwachung den örtlichen Kommunistenführern sogar eine gewisse Beteiligung an den Kollektivinstitutionen der militärischen und wirtschaftlichen Koordinierung gestattete, wollte er damit die Form der sowjetischen Kontrolle modernisieren, sie aber nicht abschaffen. An diese Vorstellung hielt er sich auch, als er nach den Oktoberaufständen des Jahres 1956 die Einheit des Blocks wiederherstellie.

Diese Ereignisse waren natürlich das erste ernste Zeichen für eine Schwächung der sowjetischen Herrschaft in diesem Raum, die auf die von der Entstalinisierung hervorgerufenen Krise der sowjetischen Autorität zurückging. Der Führungswechsel bei den polnischen Kommunisten kam einem ersten Schritt zur Befreiung vom Satellitenstatus gleich. Aber der ungarische Aufstand bewies allen osteuropäischen kommunistischen Regimes erneut, daß ohne den Schutz der Sowjets ihre gesamte Existenz bedroht wäre. Auf Grund dieser Erfahrungen gewährte die Neugestaltung des Blocks im Jahre 1957 den Satelliten größere innenpolitische Autonomie, als Chruschtschow ursprünglich beabsichtigt hatte, allerdings um den Preis einer strengen Unterordnung unter die sowjetische Außenpolitik und ideologische Autorität. Gleichzeitig begannen die Sowjets, eine differenziertere Arbeitsteilung anzustreben, und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch um die Bande im eigenen Interesse zu festigen, die jeden Mitgliedstaat fester an den Block binden würden. Diese Regelung funktionierte zunächst ganz gut. Während der nächsten fünf Jahre fanden in Osteuropa keine dramatischen Ereignisse statt (wenn wir die albanische Frage beiseite lassen). Rückblickend scheint es aber gerade diese Zeit der ruhigen Konsolidierung gewesen zu sein, die der „Ent-Satellitisierung"

Osteuropas den Weg bereitete. Da die meisten kommunistischen Herrscher ihre Autonomie dazu benutzten, für ihre Untertanen das Leben erträglicher zu machen und da zudem die Erfahrungen in Ungarn die Hoffnung, die kommunistische Herrschaft stürzen zu können, immer geringer werden ließen, gaben sich die Völker einer zunehmenden Resignation hin; dies wiederum führte bei den kommunistischen Führern zu einer Abnahme der Furcht und damit zu einer wachsenden Selbstsicherheit, die auch ihr Gefühl der Abhängigkeit vom sowjetischen Schutz geringer werden ließ. Umgekehrt wurden diese Führer kühner und leisteten den Sowjets zugunsten ihrer nationalen Interessen Widerstand, was wiederum dazu führte, daß sie von immer größeren Teilen ihrer eigenen Völker, wenn auch mit Vorbehalten, als Sachverwalter ihres Volkes anerkannt wurden. Damit hatten sie es auch weniger nötig, ihre Untertanen mit Gewalt zu unterdrücken.

Das Tempo dieses Prozesses und die Kombination seiner Bestandteile sind natürlich von Land zu Land verschieden gewesen, je nachdem wie jedes einzelne Regime entstanden ist, welche besonderen Vorteile es für die Handelsbeziehungen außerhalb des Blocks zu bieten hat und wie stark es sich immer noch vom Westen bedroht fühlt. Die ungarischen Führer sind wahrscheinlich nach dem Schock des Jahres 1956 eher bereit, Zugeständnisse an ihr Volk zu machen, aber weniger als alle ihre Nachbarn geneigt, mit den Sowjets zu streiten. In Polen hat die Furcht vor dem deutschen „Revanchismus" zu einer engen Zusammenarbeit mit den Sowjets und zu einer erneuten „Verhärtung" des Regimes mit beigetragen. Für Bulgarien ist die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Block eine starke Bindung. Rumäniens Bodenschätze hingegen ermöglichen den Handel mit Ländern außerhalb des Blocks; dies, zusammen mit dem völligen Fehlen einer Bedrohung aus dem Westen, fördert die Selbständigkeit des Landes.

Nirgendwo aber hat sich das einfache Satellitenverhältnis zu den Sowjets gehalten — mit der einen Ausnahme Mitteldeutschlands.

Dort macht die magnetische Anziehungskraft eines freien und blühenden Nachbarstaates, dessen Bevölkerung drei Viertel des deutschen Volkes ausmacht, jede nationale Identifizierung des gewaltsam abgetrennten vierten Viertels mit seinen von den Sowjets aufgezwungenen Herrschern unmöglich.

Der Sowjetblock in Osteuropa hatte sich also von der alten Unterordnung unter die Sowjets bereits beträchtlich entfernt und war auf dem Wege zu einem „klassischen Bündnis", das sich um eine wirtschaftlich und militärisch stärkste Macht herumgruppierte (wenn auch durch die verschiedenen nationalen Interessen beschränkt), als der offene Widerstand der Chinesen gegen die sowjetische Autorität und die drohende Gefahr einer Spaltung diesen Vorgang beschleunigte und ihn den Beteiligten zum Bewußtsein brachte. Von Albanien abgesehen, zeigte keines der osteuropäischen Regimes die Neigung, sich in den strittigen Fragen auf Chinas Seite zu stellen (trotz der Sehnsucht einiger bürokratischer Cliquen nach der stalinistischen Vergangenheit). Aber fast alle meinten, wenn sie sich entschlössen, die chinesischen Ansichten abzulehnen, so sei das ihre eigene, im Lichte ihrer eigenen Erfahrungen und Interessen getroffene, freie Entscheidung und nicht das automatische Ergebnis der Loyalität gegenüber den sowjetischen Machthabern; ferner sei es ihre Sache, wann und wie sie diese Entscheidung nach außen kundtäten. Infolgedessen haben die osteuropäischen Kommunisten sowohl ihre Beziehungen mit Albanien wie die Wahl der Form und des Zeitpunktes für eine öffentliche Polemik gegen China sehr verschieden gehandhabt. Dem sowjetischen Ruf nach einer weiteren Weltkonferenz sind sie nur zögernd gefolgt, solange Chinas Teilnahme nicht gesichert war. Die Kommunistenführer Osteuropas erkannten, daß die chinesisch-sowjetische Rivalität innerhalb einer in Gruppen gespaltenen Bewegung ihnen größere Manövrierfreiheit gegenüber den Sowjets bot. Sie waren daher nicht bereit, eine formelle und endgültige Spaltung zu billigen, solange Gefahr bestand, daß sie — mindestens in Osteuropa — zu einem Wiedererwachen des sowjetischen Anspruchs auf Lehrautorität führen könnte.

Die Frage wurde akut, als die Rumänen sich den sowjetischen Plänen für eine wirtschaftliche Integration innerhalb des Blocks widersetzten. Die rumänischen Einwände, die auf den besonderen wirtschaftlichen Interessen Rumäniens als eines industriell unterentwikkelten Landes beruhten, dessen Aussichten für eine selbständige Industrialisierung durch seine sehr gut verkäuflichen Rohstoffe begünstigt wurden, fanden bei den anderen osteuropäischen Staaten keine Zustimmung. Tatsächlich gingen diese Pläne auf polnische Vorschläge zurück. Die Rumänen erhoben aber die grundsätzliche Frage, ob eine souveräne kommunistische Regierung gezwungen werden könne, sich gegen ihren Willen einer supranationalen Planung unterzuordnen. Da die Chinesen das Eintreten Rumäniens für die wirtschaftliche Souveränität jedes „sozialistischen" Staates öffentlich unterstützten, war es für die Sowjets unmöglich, physischen Druck auf Rumänien auszuüben, da sie damit manche schwankenden Parteien auf die Seite der Chinesen getrieben hätten. So störte der sowjetische Autoritätsverlust, den die Rumänen mit ihrer „objektiven" Darlegung des sowjetischen wie des chinesischen Standpunktes und mit ihrem Versuch zu vermitteln, geschickt ausnutzten, Chruschtschow sogar dabei, das Gewicht der militärischen und wirtschaftlichen Macht Rußlands gegen einen aufsässigen Ex-Satelliten einzusetzen; als er während eines „privaten" Besuches einen Führungswechsel in der rumänischen Partei herbeizuführen versuchte, scheiterte er vollständig.

Erst danach stellte sich das rumänische Zentralkomitee (in seiner Resolution vom April 1964) zwar in den Hauptfragen des chinesisch-sowjetischen Konflikts auf die Seite der Sowjets, kritisierte aber . von oben herab das Verhalten beider Seiten und erhob bei dieser Gelegenheit die Ablehnung einer supranationalen Planung in jeder Form zum „ideologischen Grundsatz". Dieser Resolution folgten eine Reihe von informatorischen Versammlungen für Parteikader mit stark antisowjetischen und anti-chruschtschowschen Untertönen sowie die demonstrative Entsendung einer Delegation aus Persönlichkeiten hohen Ranges nach Washington und Paris. Als die Sowjets sich nach kurzem Zögern dazu entschlossen, ihren Stolz zu unterdrücken, jede Polemik gegen die Rumänen einzustellen und den Gedanken eines Mehrheitsentscheids über eine supranationale Planung nicht mehr weiter zu verfolgen, bedeutete das, daß sie ihre Hoffnung, eine engmaschigere Kontrolle über Osteuropa wiederherzustellen, aufgegeben hatten. Die Rumänen hatten in geschickter Ausnutzung der zwangsläufigen Rivalität Chruschtschows und Mao Tse-tungs nicht nur ihren eigenen Kampf um die wirtschaftliche Selbständigkeit gewonnen, sondern auch dafür gesorgt, daß sich bei allen sowjetischen Plänen für eine künftige internationale Zusammenarbeit die Vorstellung der „loseren und breiteren" Verbindung — ohne Ausnahmen für Osteuropa! — durchsetzen würde.

So wird der Kommunismus in Osteuropa die Spaltung wahrscheinlich überleben und in einer Form aus ihr hervorgehen, die weder auf einer totalitären doktrinären Einheit noch auf einer einseitigen imperialistischen Herrschaft beruht, vielmehr auf dem Bündnis verschiedenartiger und selbständiger, im großen und ganzen „gleichgesinnter" Staaten, die ein begrenztes Maß an Führung durch die vorherrschende Macht anerkennen. Innerhalb dieses Gebietes werden der wachsende Pluralismus und die ihm — wenn auch ungern — gezollte Anerkennung durch die Sowjetunion mit der Aufrechterhaltung der Einheit vereinbar sein, solange die herrschenden Parteien gemeinsame Interessen haben. Sollte sich aber diese Interessenkonstellation ändern — zum Beispiel dadurch, daß als Folge interner wirtschaftlicher Reformen in solchen Ländern neue Handelsmöglichkeiten mit Ländern außerhalb des Blocks aufträten oder daß einige der Ängste, die dem Bündnis zugrunde liegen, schwinden —, so würde ein solches Gebilde weiteren zentrifugalen Entwicklungen nur geringe Reserven entgegenzusetzen haben. Außerdem wird das Fehlen eines allgemein anerkannten „Modells" den Antrieb zu weiteren revolutionären Wandlungen — der typische Motor aller totalitärer Regimes — in allen • Ländern erheblich schwächen. Die Empfänglichkeit für „revisionistische" wirtschaftliche Reformen, die in den meisten Ländern die He-bung der wirtschaftlichen Gesamtleistung zum Ziele haben, wird wachsen, besonders wenn solche Reformmaßnahmen zuerst von der Sowjetunion durchgeführt werden sollten.

Der zunehmende sowjetische „Revisionismus“

Meine These war: weil die Sowjetführer sich weniger mit der „permanenten Revolution"

in Rußland und immer mehr mit der Verbeserung der wirtschaftlichen Lage beschäftigt haben, war es für sie leichter, sich mit dem kommunistischen Pluralismus im Ausland abzufinden und eine losere Form der Verbindung mit der internationalen revolutionären Bewegung zu suchen. Mit gleicher Berechtigung kann man meines Erachtens sagen, daß der unwiederbringliche Verlust ihrer „Führerrolle" sowie das Verblassen der großartigen Visionen eines raschen, weltumspannenden revolutionären Vormarsches unter sowjetischer Führung die Sowjetkommunisten in ihrer Neigung bestärkt haben, die Legitimation der herrschenden Partei nunmehr in erster Linie in ihrer Rolle als Baumeister des wirtschaftlichen Fortschritts im eigenen Lande zu sehen. Der erste wichtige Schritt in dieser Richtung wurde wenige Wochen nach der kubanischen Raketenkrise unternommen, als Chruschtschow, dem die höhnischen Bemerkungen der Chinesen über ein zweites „München" noch in den Ohren klangen, seine Hoffnung auf einen raschen Umsturz des Gleichgewichts der Kräfte in der Welt dahinschwinden sah. Bei einer Plenarsitzung des Zentralkomitees im November 1962 nahm er einen kurz zuvor wiederentdeckten Entwurf Lenins (der sich mit dem Vorrang wirtschaftlicher Aufgaben nach der Machtergreifung befaßte) zum Vorbild oder vielmehr zum Vorwand, um eine plötzliche und radikale Reorganisation des gesamten Parteiapparates im Sinne einer Gliederung in parallele industrielle und landwirtschaftliche Sektoren zu rechtfertigen: Von nun an solle es die erste Pflicht der Leiter von Partei-organisationen auf allen Ebenen sein, die Produktion in ihrem Verantwortungsbereich zu erhöhen. Technisch war der Plan eine Improvisation von fraglichem Wert; politisch schadete er vielen festverankerten Interessen; ideologisch hatte er eine ausgesprochen revisionistische Note, da er die Aufmerksamkeit der Partei von den Belangen des ideologischen Kampfes im In-und Ausland ablenkte. So war es nicht weiter verwunderlich, daß der Widerstand an hoher Stelle gegen Chruschtschows neue „Linie" im Winter 1962/63 kräftiger war als jemals seit seinem Sieg gegen die „Anti-Partei-Gruppe" im Jahre 1957; dieser Widerstand wurde damit begründet, daß der Politik der Vorrang vor der Wirtschaft gebühre und daß es äußerst wichtig sei, die Herrschaft der Partei an der ideologischen Front zu stärken. Dennoch Überstand Chruschtschow den Sturm und konnte nach dem chinesischen Angriff auf das Parteiprogramm seine Politik weiter verfolgen. Als das Zentralkomitee im Februar 1964 zusammen-trat war es Suslow, der führenre Theoretiker der Partei, der es zur internationalen Pflicht der Kommunisten in „sozialistischen Ländern" erklärte, eine neue Gesellschaftsform im eigenen Lande aufzubauen, damit sie als anspornendes Beispiel für die Massen in anderen Ländern dienen könne.

Diese „Entdeckung" legte Suslow in seinem Bericht über den Konflikt mit den Kommunistenführern Chinas dar. Sie war ein Teil seiner Antwort auf die Versuche der Chinesen, die unterentwickelten Kontinente zum neuen „Sturmzentrum der Weltrevolution" zu erklären und der Auseinandersetzung zwischen den fortgeschrittenen Ländern des „sozialistischen Lagers" (vor allem der Sowjetunion)

und den Imperialisten die Rolle des „Hauptkonflikts" der jetzigen Epoche abzusprechen.

Um aber seine These zu verteidigen, daß dieser Konflikt — trotz des unrühmlichen Endes von Chruschtschows Offensive und trotz der offensichtlich nicht vorhandenen Aussichten für eine revolutionäre Entwicklung in den fortgeschrittenen Ländern des Westens — eine zentrale Rolle spiele, mußte Suslow den Konflikt als einen im wesentlichen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf neu auslegen. Natürlich war diese Auslegung in propagandistischen Reden und Interviews für westliche Zuhörer schon oft benutzt worden; niemals aber war ihr die Ehre widerfahren, vor dem führenden Gremium der Partei als ernsthafte Doktrin verkündet zu werden. Damit legte sich die Sowjetunion in der Tat auf einen neuen internationalen „Ökonomismus" fest, der von Lenins Vorstellung der „Weltrevolution" ebenso weit entfernt ist wie die chinesische Vision einer revolutionären Front, deren Mittelpunkt die unterentwickelten Nationen bilden sollen. So löst sich unter dem Druck der Notwendigkeit, die auseinander-gehende Entwicklung der beiden Mächte aus der Lehre heraus systematisch zu rechtfertigen, der Leninismus in beiden Richtungen zugleich auf: Chinas endgültiger Ablehnung seiner marxistischen Elemente — das Band zwischen der Revolution und der industriellen Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Länder — entspricht die Bedeutung, die die Sowjets der „wirtschaftlichen Überlegenheit" für den Sieg des Sozialismus beimessen; hier klingen die marxistischen Argumente wieder an, die die Menschewiki einst gegen Lenin vorbrachten.

Die wachsende Konzentrierung der Sowjets auf wirtschaftliche Erfolge — und zwar solche, die dem Verbraucher zugute kommen — ruft einen materialistischen Geist hervor, der unausbleiblich dazu führen muß, daß die Forderung nach einer strengen ideologischen Überwachung aller Lebensbereiche nachläßt. Reformmaßnahmen, die der überkommenen Lehre entgegenstehen, aber der „praktischen Erfahrung" entsprechen, werden dadurch gefördert. Vor dem November-Plenum des Jahres 1962 waren die Liberman-Vorschläge eifrig erörtert worden; diese Vorschläge befaßten sich mit der Frage, wie die ins einzelne gehende bürokratische Planung eingeschränkt und den Leitern von Industriebetrieben mehr Freiheit und Ansporn gegeben werden könne, die Kosten zu senken und auf Grund von Marktbeobachtung die Qualität der Erzeugnisse zu verbessern) ein Versuch wurde damals schon genehmigt. In der Zeit der Gegenangriffe der Dogmatiker hörte man nichts mehr davon. Im Jahre 1964 war jedoch der Gegenangriff im Sande verlaufen und die Liberman-Diskussion wurde mit größerer Kühnheit und offensichtlicher amtlicher Unterstützung wiederaufgenommen; praktische Schritte in dieser Richtung sind seit Chruschtschows Sturz sogar beschleunigt worden. Die Entwicklung bewegt sich eindeutig auf eine „titoistische" Marktwirtschaft im Rahmen eines allgemeinen Plans zu-, in der Sowjetunion muß diese Umwandlung nach jahrzehntelanger bürokratischer Detail-Planung im gigantischen Maßstab allerdings unendlich viel schwieriger sein.

Man kann also bei aller gebotenen Rücksicht auf die Unterschiede in Ausmaß und Intensität voraussagen, daß eine Sowjetunion, deren internationale Bindungen durch die Spaltung und durch die Zunahme des pluralistischen Kommunismus gelockert worden sind und deren herrschende Partei immer stärker genötigt ist, ihre Herrschaft durch Leistungen zu rechtfertigen, die dem eigenen Volke von Nutzen sind, sich in der gleichen revisionistischen Richtung entwickeln wird wie die jugoslawischen Kommunisten, als Stalin sie von der kommunistischen Weltbewegung ausschloß und ihre Existenz nur noch davon abhing, daß sie im eigenen Land neue Unterstützung gewannen. Noch geht diese Entwicklung weiter unter der gebieterischen Forderung der Selbsterhaltung des Parteiregimes. Ja, der Sturz Chruschtschows und die ihm folgende Wiederaufhebung der 1962 eingeführten Neuorganisation der Partei können nur als ein Versuch verstanden werden, das Weiterbestehen des Parteiregimes zu sichern. Die Selbsterhaltung fordert aber heute, daß dieses Regime sowohl seine Rechtfertigung wie seine Methoden ändert. Das totalitäre Regime, dessen Kennzeichen die mit Massenterror durchgeführte und von ideologischen Zielen geleitete permanente Revolution war, wandelt sich heute zu einem evolutionären autoritären Staatssystem, in dem die Partei zwar immer noch das Monopol der politischen Macht besitzt, aber genötigt ist, ganze Sektoren des wirtschaftlichen und geistigen Lebens an Kräfte eigenständiger sozialer Aktivität abzutreten. Ebenso wie die hegemoniale Macht der Sowjetunion im osteuropäischen Block die doktrinäre Herrschaft der Sowjetkommunisten über die früheren Satellitenparteien überstanden hat, wird die institutioneile Macht der Sowjetpartei in der Sowjetunion die langsame Aushöhlung ihrer Ideologie überstehen. Auf die Dauer gesehen aber ist kaum anzunehmen, daß die monopolistische Macht einer ideologischen Partei für einen so unideologischen Zweck eingesetzt wird wie die Förderung des friedlichen wirtschaftlichen Fortschritts. Ihre Erhaltung wird daher mit jeder neuen Nachfolgekrise immer schwieriger werden. Die Chinesen mögen durchaus recht haben, wenn sie sich fragen, wie lange eine Theokratie nach der Auflösung ihres Glaubens die Macht noch in der Hand behalten kann.

Wird sich der Kommunismus im Westen halten?

Die hier geschilderten Veränderungen in der Haltung der Sowjetführer zu internationalen Fragen könen in der These zusammengefaßt werden, 1. daß Chruschtschows Versuch, den leninistischen Glauben an die „Weltrevolution" zu neuem Leben zu erwecken, gescheitert ist, weil es ihm weder gelang, in der Weltpolitik einen Durchbruch zu erzielen noch die Einheit des Weltkommunismus aufrechtzuerhalten; 2. daß sich die Sowjetunion wieder auf den „Kommunismus in einem Block" konzentriert, der an Stalins „Sozialismus in einem Lande" anklingt. Aber ebenso wie Sta-lins Skepsis gegenüber dem Fortschritt der Weltrevolution ihn nicht daran hinderte, die ausländischen Parteien als Werkzeuge seiner Politik zu benutzen, werden die jetzigen und künftigen Sowjetführer den Wunsch haben, so viele internationale Parteiverbindungen wie möglich als Kanäle für den sowjetischen Einfluß zu benutzen — jedenfalls solange die Sowjetunion selbst von einem Parteiregime regiert wird. Unter den bestehenden Umständen können die Sowjetführer selbst kaum erwarten, daß die Chinesen ausstechen können, es darum geht, totalitäre revolutionäre Parteien für sich zu gewinnen, die in unterentwickelten Gebieten der Welt ernsthaft um die Macht ringen. Aber die Unterstützung einer überwältigenden Mehrheit der Kommunisten in den fortgeschrittenen Ländern des Westens ist ihnen sicher; und es liegt ihnen offensichtlich daran, Verbindungen aufrechtzuerhalten oder anzuknüpfen mit einer möglichst großen Zahl von bereits herrschenden revolutionären Parteien in den unterentwickelten Ländern — sei es, daß es sich um nominelle Kommunisten wie in Kuba oder um nominelle Nichtkommunisten wie in Algerien handelt.

Aber es sind gerade die kommunistischen Parteien der fortgeschrittenen westlichen Länder, die am meisten unter der mangelnden Führung leiden, nachdem die sowjetische Autorität zerfallen ist und der leninistische Glaube sich aufgelöst hat. Jahrzehntelang haben diese Parteien in einer Situation, die keine Aussicht auf Revolution hatte, sich hartnäckig an eine totalitäre revolutionäre Lehre geklammert und ihren Glauben am Leben gehalten, indem sie sich an ein ausländisches Modell hielten. Wie sollen sie das Eingeständnis überstehen, daß weder Lehre noch Modell allgemein gültig sind?

Viele der kleinen kommunistischen Parteien im Westen haben angesichts dieser Bedrohung ihrer ideologischen Grundlagen zunächst so reagiert, daß sie versuchten, die Spaltung überhaupt zu ignorieren — sie behaupteten so lange wie möglich, es gebe noch immer nur eine einzige kommunistische Weltbewegung unter sowjetischer Führung. Später beschworen sie die beiden Protagonisten, sie möchten doch um jeden Preis die Einigkeit wiederherstellen und sie nicht zu einer Wahl zwingen. Aber das sind Ausflüchte für kurze Zeit; ihre Folge wird wahrscheinlich sein, daß die kommunistischen Splitterparteien in weitere „Sekten" zerfallen und als ernsthafte politische Kräfte allmählich vom Kampfplatz verschwinden werden.

Bei den kommunistischen Massenparteien in Italien und Frankreich ist es natürlich anders.

Auch sie leben nicht unter den Bedingungen einer vor-revolutionären Krise — jedenfalls nicht seit dem Ende der Umwälzungen der Nachkriegszeit. (Und selbst während jener kritischen Zeit bestand die Aufgabe, die Stalin ihnen zugewiesen hatte, nicht in dem Versuch einer revolutionären Machtergreifung, sondern darin, die nationale Politik zu beeinflussen und sich durch Beteiligung an „Befreiungskoalitionen" im Staatsapparat festzusetzen.) Aber sie ziehen Nutzen daraus, daß erhebliche Teile beider Nationen einschließlich der Mehrheit der industriellen Arbeiterklasse seit jeher politisch unzufrieden sind — nicht daß sie zu revolutionären Taten bereit wären, aber sie lehnen es ab, sich als Teil des demokratischen Staates zu fühlen. Diese Haltung der Massen, die weniger in den heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen als in der geschichtlichen Entwicklung wurzelt, wurde zu neuem Leben erweckt, als die Kommunisten (und in Italien auch die Nenni-Sozialisten) 1947 in die Opposition zurückgedrängt wurden. Diese Lage haben die kommunistischen Parteien geschickt ausgenutzt, indem sie die ideologischen Bedürfnisse jener unzufriedenen Massen durch ihre revolutionäre Terminologie, ihre praktischen Bedürfnisse (besonders in Italien) durch eine militante reformistische Politik in den Gewerkschaften, Genossenschaften und in den Rathäusern befriedigten. (Das erinnert an eine ähnliche Doppelrolle der „revolutionären" Sozialdemokratie in Deutschland bis 1914, in Italien bis zum Sieg des Faschismus und in Österreich bis zum Dollfuß-Putsch von 1934.)

Aber gerade weil diese Art von pseudo-revolutionärer Massenunzufriedenheit ein historisches Überbleibsel und nicht eine Wider-spiegelung der heutigen Verhältnisse in der westlichen Welt ist, haben beide Parteien den sowjetischen Mythos gebraucht, um diese Unzufriedenheit lebendig zu erhalten.

Aber die interne Atmosphäre der beiden Parteien und die Art, wie ihre Führer ihre eigene Rolle sehen, sind so verschieden wie ihre Geschichte. Die kommunistische Partei Frankreichs war aus den ständigen Säuberungen Stalins mit einer durch und durch stalinistischen und durch und durch mittelmäßigen Führung hervorgegangen, die bestenfalls in der Lage war, den Haß ihrer Mitglieder auf den „Bourgeois-Staat" und ihre Treue zur Sowjetunion unerschütterlich aufrechtzuerhalten und die bequeme Rolle einer eingefleischten permanenten Opposition mit der befriedigenden Gewißheit zu verbinden, daß sie damit dem „sozialistischen Vaterland" einen wichtigen Dienst erweise. Die kommunistische Partei Italiens, deren alte Kader den Stalinschen Exzessen durch ihr Untergrunddasein und durch das taktische Geschick des kürzlich verstorbenen Palmiro Togliattis zum Teil entgangen waren und deren jüngere Mitglieder erst nach der Befreiung hinzugekommen waren, war nie so verknöchert wie die französische KP. Auch waren ihre tüchtigen Führer zu ehrgeizig und wußten zu genau, wie stark die rein negative Opposition der „maximalistischen" Sozialisten zum Aufstieg des Faschismus beigetragen hatte, um sich mit einer ähnlichen Politik zufrieden zu geben.

Hinzu kam, daß sie — in sehr viel höherem Maße als ihre französischen Genossen — ihre frühe Beteiligung an der Regierung als einen möglichen Weg zur „legalen Machteroberung"

ansahen; außerdem litten sie sehr viel mehr unter der innerpolitischen Isolierung, zu der der Kalte Krieg und die Mitgliedschaft Italiens in der NATO eine offen prosowjetische Partei verurteilten.

Diese Verschiedenheit führte unvermeidlich dazu, daß die beiden Parteien auf die Schocks — angefangen mit der Entstalinisierung bis zu dem jetzigen Zerfall des Weltkommunismus — sehr verschieden reagierten. Für die französischen Führer bedeutet jede Schwächung der sowjetischen Autorität einen schweren Verlust, denn sie haben sich in ungewöhnlich hohem Maße auf den sowjetischen Mythos festgelegt. Die Entstalinisierung nahmen sie, wenn auch ungern, hin, weil sie sich den mächtigen sowjetischen Führern nicht widersetzen wollten, aber sie befaßten sich so wenig wie möglich mit der Kritik an der Vergangenheit. Auch Chruschtschows Lehre vom „friedlichen" oder „parlamentarischen" Weg zur Macht nahmen sie hin; aber obwohl es auf der Hand lag, daß der Sowjetführer sie mindestens zum Teil deshalb verkündet hatte, um seine französischen und italienischen Genossen wieder regierungsfähig zu machen, unternahm die französische Partei keinen ernsthaften Versuch, die Schranken ihrer innenpolitischen Isolierung zu überwinden. Togliattis Vorschlag einer „polyzentrischen" Zukunft des Kommunismus lehnten sie ab und bestanden auf der sowjetischen Führung. Sie lobten das sowjetische Eingreifen gegen die ungarische „Konterrevolution" und unterstützten bereitwilligst die zweite Exkommunizierung der Jugoslawen. Als der Konflikt mit den Chinesen sich entwickelte, folgten sie wiederum dem „Dirigentenstab" und stellten sich ganz auf die Seite der Sowjets; und während sie die Spaltung zweifellos bedauern, waren sie die erste große Partei, die den sowjetischen Vorschlag für eine neue Welt-konferenz bedingungslos unterstützte.

Die italienischen Kommunisten andererseits haben zwar auch den Schlag, den die Entstalinisierung für den Sowjetmythos bedeutete, stark empfunden; aber sie haben von Anfang an begriffen, welche Möglichkeiten die Schwächung der Sowjetautorität einer stärkeren „polyzentrischen" Autonomie eröffnete. So begrüßten sie um so mehr, als sie hofften, daß der sichtbare Beweis ihrer Selbständigkeit das Haupthindernis zur Erringung eines Anteils an der Macht auf „friedlichem Wege" beseitigen würde. Wenn sie dennoch scheiterten, so nicht weil es ihnen an politischer Beweglichkeit mangelte, sondern weil sie doch nicht unabhängig genug waren, um das sowjetische Eingreifen in Ungarn offen zu mißbilligen. Ja, sie schlossen sich sogar der jugoslawischen Version an und verteidigten das endgültige Eingreifen der Roten Armee, ohne zu behaupten, daß der Aufstand in Budapest von Anfang an „konterrevolutionär" gewesen sei. Aber diese Nuance überzeugte nicht einmal Pietro Nenni und seine sozialistische Partei. Ja der Schock von Ungarn, der so rasch auf den Schock der Entstalinisierung folgte, war wahrscheinlich entscheidend für Nennis Hin-wendung zu einer autonomen demokratischen Politik, die in seiner Beteiligung an einer Regierungskoalition ohne die Kommunisten gipfelte.

Rückblickend scheint es aber, als hätten die Führer der Kommunistischen Partei Italiens seitdem immer nur auf eine Gelegenheit gewartet, wirklich unabhängig zu werden. Sie brachen die Beziehungen zu den jugoslawischen „Revisionisten" nach deren zweiter Exkommunizierung im Jahre 1958 nicht ab; sie protestierten hinter den Kulissen gegen die Zugeständnisse, die den Chinesen bei der Moskauer Weltkonferenz von 1960 gemacht wurden. Den Erfolg des westeuropäischen Gemeinsamen Marktes, den ihre Gewerkschaftsführer in der günstigen Auswirkung auf die italienischen Löhne erlebten, erkannten sie früher als die Sowjets und forderten eine realistische (d. h. reformistische) Anpassung daran. Die Lehre des „parlamentarischen Weges" entwickelten sie so weit, daß sie aus-drücklich versicherten, nicht nur „andere Parteien", sondern auch „Oppositionsparteien"

könnten nach einem hypothetischen kommunistischen Sieg weiterhin bestehen bleiben.

Ohne sich mit den Sowjets direkt zu streiten, waren sie ihnen bei der Förderung „revisionistischer" Ideen im eigenen Bereich ständig voran; den Lohn dafür erhielten sie, als sie — nach den jugoslawischen „Außenseitern" und bevor die Sowjets namentlich angegriffen wurden — zum Hauptziel der offenen chinesischen Angriffe wurden.

Seitdem keine ernsthaften Versuche mehr gemacht werden, einen sino-sowjetischen Kompromiß zustandezubringen, halten die italienischen Kommunisten die Stunde der echten Unabhängigkeit offensichtlich für gekommen, und das bedeutet für sie die Stunde, in der die Sowjets ganz offen als geachtete, aber nicht mehr unfehlbare Verbündete behandelt werden können. Während der Kommunalwahlen im Frühjahr 1963 übten die italienischen Kommunisten offene Kritik an den damals laufenden Bemühungen der Sowjets, die ideologische Disziplin bei Schriftstellern und Künstlern wiederherzustellen. Wichtiger noch: als die Sowjets zu einer neuen Weltkonferenz aufzurufen begannen, äußerten die Italiener (in offener Übereinstimmung mit den Jugoslawen und nach vertraulichen Beratungen mit den Polen) Bedenken gegen die Nützlichkeit eines solchen Unternehmens und machten schließlich ihre Beteiligung von Bedingungen abhängig: eine formale Exkommunizierung der Chinesen dürfe nicht stattfinden; es dürfe kein Versuch gemacht werden, den anwesenden Parteien eine allgemeine Linie aufzuzwingen, sondern es müsse eine offene Diskussion stattfinden und Meinungsverschiedenheiten müßten geduldet werden; die Konferenz müsse einer „konstruktiven Untersuchung" der neuesten internationalen Entwicklung dienen und nicht einer Abrechnung zwischen den verschiedenen Gruppen. So haben die Italiener wesentlich dazu beigetragen, die Sowjets zu einer „BriefkastenInternationale" hinzudrängen; darüber hinaus haben sie durch die posthume Veröffentlichung der letzten Denkschrift Togliattis an Chruschtschow kundgetan, daß sie weiterhin wesentlich daran beteiligt sein wollen, diese revisionistische Form mit einem ebenso revisionistischen Inhalt zu füllen.

Das italienische Beispiel scheint zwei Bedingungen zu veranschaulichen, die jede kommunistische Partei erfüllen muß, wenn sie sich als wesentliche Kraft im Westen halten will. 1. Sie muß sich mit dem Verschwinden der sowjetischen Lehrautorität abfinden und ihre Anhänger wie ihre Gegner davon überzeugen, daß sie die sowjetische Politik nicht bedingungslos unterstützt, daß ihre herkömmlichen Sympathien für die Sowjetunion nicht mehr Unterwerfung bedeuten. 2. Sie wird ihr Programm und ihre Politik der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage in den fortgeschrittenen westlichen Demokratien anpassen und ihre potentiellen Partner überzeugen müssen, daß ihr Programm innerhalb des institutionellen rechtsstaatlichen Rahmens der westlichen Demokratien durchgeführt werden soll. Kurzum, sie wird unabhängig und durch und durch revisionistisch sein müssen. Bedingungslos prosowjetisch zu sein und die Verkündung von Dogmen aus Moskau zu erwarten, ist in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre für eine große Partei nicht mehr genug — nicht einmal in Frankreich.

Dennoch ist es zweifelhaft, ob selbst die Erfüllung dieser beiden Bedingungen genügen wird, um den kommunistischen Parteien im Westen eine wirksame Rolle zu sichern — solange wir unter „kommunistischen Parteien“ solche mit der zentralistischen, undemokratischen inneren Struktur verstehen, die die Komintern ursprünglich all ihren Sektionen aufgezwungen hat. Neben ihrer Abhängigkeit von einem ausländischen Zentrum und ihrer Weigerung, sich an verfassungsmäßige Spielregeln zu halten, ist es gerade diese totalitäre Organisationsform gewesen, die für andere politische Kräfte stets ein grundlegender Einwand gegen die Kommunisten als mögliche Koalitionspartner gewesen ist; das aber bedeutet, daß sie sich an dem politischen Spiel der Demokratie nicht voll beteiligen können. Nach dieser Beteiligung aber müssen sie streben, wenn sie das Heil nicht mehr auswärts suchen. Andererseits wurde die zentralistische Organisationsform durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, ein Instrument zur revolutionären Machtergreifung zu schmieden und den disziplinierten Gehorsam gegenüber dem Moskauer Welthauptquartier zu sichern; wenn aber die politischen Gründe wirklich verschwunden sind, warum sollte dann nicht auch das organisatorische Korrelat verschwinden? Diese Frage wird nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der betreffenden Parteien bereits gestellt. Bei den italienischen Kommunisten hat die Gruppe um Amendola und Alicata, die sich ganz offen als revisionistisch bezeichnet, seit dem XXII. Parteitag der KPdSU den Grundsatz der „Mehr-heits-und Minderheitsplattform" befürwortet; daß sie sich über zwei Jahre lang für einen solchen Grundsatz einsetzen konnte, ohne durch organisatorische Maßnahmen zum Schweigen gebracht zu werden, ist bereits ein recht großer Schritt auf dem Wege zu seiner praktischen Verwirklichung. Selbst die französischen Kommunisten haben in letzter Zeit — zum erstenmal seit vielen Jahren — eine Art Opposition von ihren Studentenorganisationen erdulden müssen, deren Führer sich ganz offen den „Revisionisten" in Rom zuwenden. Man muß natürlich damit rechnen, daß der Widerstand gegen organisatorische Veränderungen zäher sein wird als in irgendeiner anderen Frage. Hier stehen nicht nur die In-Iteressen der Parteiapparate auf dem Spiel, sondern letztlich auch der Eigencharakter der kommunistischen Parteien selbst — ihr „Sein"

im Unterschied zu ihrem „Bewußtsein". Wenn sie darauf verzichteten, würden sie sich in militante demokratisch-sozialistische Parteien verwandeln und vielleicht feststellen müssen, daß die einzigen noch verbleibenden Gründe für eine eigene Existenz historischer, um nicht zu sagen sentimentaler Art seien. Das ist aber gerade die offene Frage, ob die Parteien mit den typisch östlichen Eigenarten, die die Bolschewik! einstmals nach Westeuropa einführten, sich in einer nicht-revolutionären Situation und auf die Dauer gesehen halten können, wenn der Glaube an die einzigartige Erlösungsrolle der Sowjetunion dahinschwindet. Sowjetkommunismus und die Dritte Welt Wie steht es nun mit dem sowjetischen Einfluß auf die kommunistischen oder linken nationalistischen Ein-Parteien-Regimes der früheren Kolonialländer und mit der weiteren politischen Entwicklung dieser Länder unter dem sowjetischen Einfluß?

Im Augenblick ist es nicht wahrscheinlich, daß die herrschenden Parteien in Kuba, Algerien, Mali, Guinea usw. bereit wären, sich einer von den Sowjets geführten Internationale anzuschließen. Sie alle haben den Wunsch, eine formale Neutralität zwischen den Sowjets und den Chinesen, manche auch zwischen den Sowjets und dem Westen, aufrechtzuerhalten. Ob das möglich sein wird, ob die Einwände, die sie gegen einen Anschluß an die eine oder andere Seite haben, weiterhin zugkräftig sein werden, hängt im ersten Fall von den wirtschaftlichen Erfolgen oder Fehlschlägen Chinas und dem Grad seiner Verwicklung in kriegerische Konflikte, im zweiten von der westlichen Entwicklungshilfe und hier wieder davon ab, inwieweit sich diese von der Verbindung mit privaten Kapitalanlagen löst.

Immerhin ist die formelle Beteiligung an internationalen Konferenzen oder auch an einer neuen Art von internationalen Zusammenschlüssen nicht die einzige Form, in der die Sowjets auf dem Wege der „zwischenparteilichen Beziehungen" Einfluß ausüben können. In manchen Fällen können solche Beziehungen sehr wirksam sein, ohne ausschließlich oder auch nur institutionalisiert zu sein. Kemal Atatürks „Republikanische Volkspartei" hat es sich nie im Traume einfallen lassen, sich der Komintern anzuschließen, und die Zulassung der Kuomintang als „sympathisierende Partei" fand erst gegen Ende ihrer eigentlichen Zusammenarbeit mit den Kommunisten statt; trotzdem hat das bolschewistische Modell in beiden Fällen einen wichtigen und richtungweisenden Einfluß ausgeübt. Die Jugoslawen haben jahrelang formlose Parteibeziehungen mit den Sowjets wie mit einigen neuen herrschenden Parteien in Afrika unterhalten (besonders mit der algerischen FLN). Die Sowjets empfangen von Zeit zu Zeit „brüderliche Delegationen" aus Ghana, Guinea und Mali, aber das tun die Chinesen vielleicht auch. Castro wird sicherlich so lange wie möglich Parteibeziehungen zu Moskau und Peking aufrechterhalten. Kurzum, der pluralistische Kommunismus heißt nicht nur Zerfall der alten Internationale und äußerst schwierige Bemühungen, zwei neue rivalisierende Internationalen von sehr verschiedener Art zu errichten, er bedeutet auch eine Fülle bilateraler und multilateraler, kreuz und quer gehender Verbindungen, die nicht alle für das bloße Auge wahrnehmbar sein werden.

Ja, gerade bei den neuen herrschenden Parteien in den früheren Kolonialländern müssen wir an eine weitere Form der Beziehung denken — man könnte sie „erlaubte Infiltration" oder die „Partei innerhalb der Partei"

nennen. Die Kommunisten auf Kuba, die ihre Organisation mit der des siegreichen Fidel Castro vereinigten, wurden für schlechte Revolutionäre gehalten, aber sie gewannen rasch Einfluß, weil sie ein genauer ausgearbeitetes Programm hatten als ihre neuen Gefährten;

manche ihrer Führer mögen auch heute noch Moskau im Grunde die Treue halten. Die kommunistische Partei Algeriens wurde verboten, als die FLN ein Einparteiensystem einführte, aber ihre Zeitung erscheint heute unter dem gleichen Namen als Organ der FLN, und die Kommunisten brüsteten sich damit, das neue Programm der FLN wesentlich beeinflußt zu haben, als sie dem Konvent, der den Entwurf aufstellte, als Vertreter der angeschlossenen „Massenorganisationen" beiwohnten.

Sowjetische Spezialisten für diese Länder erklären jetzt in ihren theoretischen grundsätzlichen Artikeln, ein nichtkommunistisches Ein-parteien-Regime müsse nicht unbedingt „reaktionär" sein — vorausgesetzt, daß seine innere Struktur den „bewußt proletarischen Elementen" gestatte, einen wachsenden Einfluß auf seine Politik auszuüben. Ja, die kürzlich abgegebene gemeinsame Erklärung der kommunistischen Parteien ließ arabischen eine ähnliche kommunistische Beteiligung Nassers „Arabischer Sozialistischer Union" bereits ahnen.

Auch hier werden wir an die Kuomintang der frühen zwanziger Jahre erinnert, als sowjetische Hilfe und sowjetischer Rat mit der Block-Taktik der chinesischen Kommunisten verbunden wurden. Aber der jetzige Versuch findet nach dem Sieg der nationalen Revolution statt und sein Ziel mag ein anderes sein. Es ist zumindest zweifelhaft, ob Moskau die Kommunisten in diesen Ländern als künftige Führer einer selbständigen Massenbewegung und Anwärter auf die Macht im eigenen Namen sieht oder ob es nicht einfach die Ausübung von Einfluß auf die herrschenden Gruppen durch diese kommunistischen Organisationen als eine Lösung betrachtet, die dem Aufziehen neuer und mit ihm rivalisierender Parteien vorzuziehen ist. Auch sollte man nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß die Ambitionen der kommunistischen Kader in diesen Ländern weiter reichen. Ihre Schulung hat sie mit dem Gefühl überlegener „wissenschaftlicher" Einsicht ausgestattet, das ihnen in ihrer jetzigen Rolle wertvolle Dienste leistet, aber es dürfte sehr schwer für sie sein, dem nationalistisch-sozialistischen Mythos der offiziellen Macht einen eigenen Mythos entgegenzustellen. Die Schwächung der sowjetischen Autorität dürfte für solche Ratgeber aus dem Hintergrund ein sehr viel geringeres Hindernis sein als für solche, die die politische Führung anstreben; letztere könnten nicht mehr auf Rußland als das einzigartige Modell des wahren Sozialismus hinweisen, aber die ersteren können es immer noch als eindrucksvolles Modell der wirtschaftlichen Entwicklung hinstellen.

Im Zeitalter des pluralistischen Kommunismus mögen also die sowjetischen Aussichten, postrevolutionäre Regimes in unterentwikkelten Ländern zu beeinflussen, sich insofern bessern, als die Sowjets sich weniger verpflichtet fühlen, diese Regimes doch noch durch kommunistische Parteiregimes zu ersetzen — es würde ihnen also möglich sein, sich der Einstellung der revisionistischen Jugoslawen diesen Ländern gegenüber anzuschließen. In welcher Richtung wird denn dieser Einfluß ausgeübt werden?

Innenpolitisch wird er den „nicht-kapitalistischen Weg" fördern — die Enteignung ausländischer Gesellschaften, den Ausbau des verstaatlichten Sektors, radikale Bodenreform.

Aber die Sowjets werden vielleicht insofern zurückhaltend sein, als sie nicht auf der Kollektivierung der Landwirtschaft oder auf ihrer eigenen Form der detaillierten Verwaltungsplanung bestehen werden. Außenpolitisch werden sie die Losungen der anti-imperialistischen Solidarität, aber auch die des Friedens und der Abrüstung propagieren. Sie werden versuchen, bei den Vereinten Nationen und anderswo diplomatische Unterstützung für sich zu gewinnen, werden sich aber hüten, diese Länder in bewaffnete Konflikte mit dem Westen hineinzutreiben, die sie nicht allein durchstehen könnten und in die die Sowjets nicht verwickelt werden möchten. Im großen und ganzen gesehen werden sie sich bemühen, den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluß des Westens in diesen Ländern Schritt für Schritt zu unterhöhlen, dabei aber ihre militärische Neutralität und ihre ideologischen Besonderheiten respektieren. Für die meisten Länder, um die es hier geht, mag sich diese Politik eines „Kalten Krieges mit gedämpftem Trommelschlag" als interessanter und verlockender erweisen als die militantere Politik der Chinesen.

Einige Schlußfolgerungen Versuchen wir die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammenzufassen:

1. Die erste und eindeutigste Schlußfolgerung, die sich herauszuschälen scheint, ist die Antwort auf die ursprünglich gestellte Frage. Die chinesisch-sowjetische Spaltung ist nicht nur ein Machtkonflikt innerhalb einer im Grunde unveränderten kommunistischen Welt. Diese Spaltung spiegelt die auseinandergehenden Entwicklungen in der Sowjetunion und in China, die auf beiden Seiten zu wesentlichen Änderungen in Politik und Lehre geführt haben, wider und fördert sie. Immer weniger wird also mit der Kennzeichnung einer Par-tei oder eines Regimes als „kommunistisch" ein unzweideutiger Sachverhalt gemeint sein. Schon heute ist es nicht mehr möglich, diese Parteien an der leninistischen Lehre zu messen, denn der orthodoxe Leninismus, den beide Seiten in ihrer Polemik in Anspruch nehmen, ist in Wirklichkeit von beiden fallen-gelassen worden. Weder der chinesische Versuch, die revolutionäre Sendung des Industrieproletariats auf das, wie Arnold Toynbee es genannt hat, „äußere Proletariat" der westlichen Staaten zu übertragen noch die sowjetische These, daß der Sozialismus den Imperialismus letztlich durch wirtschaftliche Konkurrenz besiegen wird, können in Wahrheit als leninistisch bezeichnet werden.

2. Meine zweite Schlußfolgerung betrifft die neue durch die Spaltung verursachte internationale Konstellation. Eine einfache Spaltung in zwei klare, stabile neue Internationalen hat nicht stattgefunden. Die Chinesen werden sicher versuchen, eine aus aktiven revolutionären Parteien bestehende neue Internationale zu bilden, die auf das eigene Modell und die eigene doktrinäre Autorität ausgerichtet ist, und sie werden vielleicht zunächst auch Erfolg haben in Ländern, deren innenpolitische Lage neue totalitäre Revolutionen möglich erscheinen läßt. Aber eine solche Internationale wird wahrscheinlich nicht sehr stabil sein, weil jede der beteiligten Bewegungen starke nationalistische Züge trägt und weil das chinesische Modell der wirtschaftlichen Entwicklung keine große Anziehungskraft besitzt. Die Sowjets sind sich darüber klar, daß ihre einzige Chance, eine breite internationale Unterstützung zu gewinnen, in einem lockeren Bündnis ohne eine fest umrissene dogmatische Plattform und vielleicht sogar ohne eine klar definierte Mitgliedschaft liegt. Man wird sich unter anderem natürlich fragen müssen, wie lange eine „orthodoxe" sowjetische Auslegung der kommunistischen Lehre überhaupt noch einen wirksamen Einfluß auf das kommunistische Denken außerhalb der Sowjetunion wird ausüben können. Eine weitere Folge ist, daß eine Reihe kommunistischer Parteien (z. B. die kubanische und vielleicht sogar die rumänische) sich vielleicht zumindest eine Zeitlang aus beiden „Lagern" heraushalten oder eine Form der Verbindung mit den Sowjets wählen wird, die keinerlei Verpflichtungen mit sich bringt; auch könnten sich eine Anzahl zweiseitiger, kreuz-und quergehender Kontakte zwischen den Parteien innerhalb des einen oder des anderen Lagers oder außerhalb beider noch recht lange halten.

3. Als dritte Schlußfolgerung kann man sagen, daß in dieser Welt, in der alles unsicher und fließend ist, die immer noch stabilsten interkommunistischen Beziehungen diejenigen sein werden, die im unmittelbaren Machtbereich jeder der beiden Hauptfiguren bestehen, d. h. militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit in Osteuropa und militärische, wirtschaftliche und subversive Zusammenarbeit in Ost-und Südostasien. Obwohl die osteuropäischen kommunistischen Regimes (mit Ausnahme der SBZ) nicht mehr als sowjetische Satelliten bezeichnet werden können und einen gewissen Grad echter Selbständigkeit errungen haben, stellt die Interessengemeinschaft, die dem regionalen Bündnis zugrunde-liegt, weiterhin eine echtere Bindung dar als alle anderen Bindungen zwischen kommunistischen Parteien, und es ist anzunehmen, daß das auch weiterhin der Fall sein wird.

4. Eine vierte, vorsichtige Schlußfolgerung wäre, daß die Spaltung — entgegen einem weitverbreiteten Eindruck — nicht unbedingt eine klare Teilung der Einflußbereiche in dem Sinne mit sich bringen wird, daß die Sowjets die Kommunisten des Westens und die Chinesen die der unterentwickelten Länder führen werden. Während die Aussichten für jede Form des Kommunismus im Westen immer zweifelhafter erscheinen, betrachten Moskau wie Peking die unterentwickelte Welt als den Hauptschauplatz ihres Konkurrenzkampfes; beide ringen um den Einfluß auf die dortigen revolutionären nationalistischen und kommunistischen Bewegungen. In diesem Konkurrenzkampf werden wahrscheinlich die Chinesen auf die totalitären Bewegungen, die noch um die Macht kämpfen, eine größere Anziehungskraft ausüben. Auf der anderen Seite werden die Sowjets bei den herrschenden revolutionären Parteien wohl im Vorteil sein, da sie ihnen mehr zu bieten haben und weniger Risiken verlangen.

Eine letzte Frage, die streng genommen vielleicht nicht in den Rahmen dieses Aufsatzes gehört, ist mehrfach zwangsläufig mit-berührt worden: die Zukunft des Konflikts zwischen den Sowjets und den Westmächten. Wenn die „Weltrevolution" nicht mehr im sowjetischen Interesse liegt und ihre Förderung nicht mehr ein unmittelbar und aktiv verfolgtes Ziel ist, wenn ihre Bedeutung als Rechtfertigung der Parteidiktatur sekundär geworden ist, wenn die interne Entwicklung Sowjetrußlands ein Klima der Sicherheit — im Ge-gensatz zur ständigen Spannung — zu erfordern scheint — was wird dann aus dem Gebot, über die Wahrung russischer National-interessen hinaus einen Zustand des permanenten Konflikts mit der nichtkommunistischen Welt aufrechtzuerhalten? Eine totalitäre ideologische Diktatur braucht diesen Konflikt; ein durch und durch entideologisiertes autoritäres Regime hätte ihn nicht mehr nötig. Auf lange Sicht gesehen scheint die interne Entwicklung Sowjetrußlands sich eindeutig vom ersteren zum letzteren zu bewegen, und das Auseinanderfallen des Weltkommunismus hat diese Entwicklung offensichtlich beschleunigt. Es wäre töricht, wenn der Westen die Neigung zu einer solchen Veränderung nicht bemerken — und begrüßen — wollte. Aber es wäre ebenso töricht — und sehr viel gefährlicher —, diese Veränderung als bereits vollzogen anzusehen, noch bevor unmittelbare und unverkennbare Beweise dafür vorhanden sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe meinen Aufsatz „Tito’s Gamble", in: Encounter, Oktober 1958.

  2. Da diese Grundtatsachen sich durch Chruschtschows Sturz nicht geändert haben, würde meiner Ansicht nach jedes neue bilaterale Treffen nach diesem Ereignis einen ähnlichen, rein technischen Charakter haben.

Weitere Inhalte

Richard Löwenthal, Dr. phil., o. Professor für die Wissenschaft von der Politik, insbesondere der Theorie und Geschichte der auswärtigen Politik, an der Freien Universität Berlin, z. Zt. Gastprofessor an der Columbia-Universität in New York, geb. 15. April 1908 in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit (mit Willy Brandt), München 1957; Chruschtschow und der Weltkommunismus, Stuttgart 1963; Staatsfunktionen und Staatsform in den Entwicklungsländern, in: Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1963; World Communism: The Disintegration of a Secular Faith, Oxford 1964. Der Beitrag dieser Ausgabe wird mit freundlicher Genehmigung von Stanford University Press, Stanford University California, aus Encounter, Januar-und Februar-Heft 1965, übernommen.