Unterbrechung der Verjährung oder Verlängerung der Verjährungsfrist
Am 8. Mai 1965 endet nach § 67 des Strafgesetzbuches in der Bundesrepublik Deutschland die zwanzigjährige Strafverfolgungsfrist für die durch Mord unter dem NS-Regime begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und des Völkermordes. Verbrechen
Die Verjährungsfrist begann für jede dieser in der Zeit von 1933 bis 1945 begangenen Mordtaten grundsätzlich mit dem Tage zu laufen, „an welchem die Handlung begangen ist" (§ 67 StBG). Danach wäre die Strafverfolgung für diese Verbrechen jeweils zwanzig Jahre nach ihrer Begehung (also 1953— 1965) verjährt, es sei denn, der Ablauf der Frist war generell durch ein Ruhen der Verjährung (§ 69 StGB) aufgeschoben oder individuell durch eine Unterbrechung der Verjährung (§ 68 StGB) aufgehoben.
Ein solches generelles Ruhen der Strafverfolgungsverjährung ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofs
Verjährungsablaufs festgestellt, und zwar bis zum 8. Mai 1945 für die Länder der britischen Zone
Nach diesen vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich in ihrer Verfassungsgemäßheit bestätigten sogenannten Ahndungsgesetzen der einzelnen Länder berechnet sich noch heute der Beginn der Verjährung für nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Danach wäre die zwanzigjährige Strafverfolgung für die durch Mordtaten begangenen NS-Verbrechen in den Ländern der früheren britischen Zone am 9. Mai 1965, in den Ländern der amerikanischen Zone am 1. Juli 1965 allgemein verjährt, falls nicht im Einzelfall eine Unterbrechung der Verjährung erfolgt ist.
Eine solche individuelle Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung setzt die Handlung eines Richters voraus, „welche wegen der begangenen Tat gegen den Täter gerichtet ist“ (§ 68 StGB). Sie muß sich also wegen einer bestimmten Tat, d. h. wegen eines be-stimmten „geschichtlichen Vorganges"
Daraus ergeben sich bestimmte rechtliche Grenzen der heute durch richterliche Handlung möglichen Unterbrechungen der Verfolgungsverjährung. Weder genügt dazu eine „nur zum Zwecke der Unterbrechung" vorgenommene Handlung
Macht man sich diese strengen Voraussetzungen einer wirksamen Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung durch richterliche Handlungen im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren bewußt (etwa durch Ladung eines Zeugen oder des Beschuldigten zu verantwortlicher Vernehmung), dann muß man es schon aus diesen grundsätzlichen Erwägungen für äußerst zweifelhaft halten, ob und wie eine rechtzeitige Unterbrechung der Verfolgungsverjährung in jedem Einzelfall bei Millionen von Mordtaten und Zehntausenden von Tätern erfolgen soll, von den unmittelbar Ausführenden über die ganze Hierarchie der verantwortlich Mitwirkenden bis zu den eigentlich Befehlenden.
Zeigt doch ganz offenkundig die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen Mordes, die zu einer Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung innerhalb der letzten drei Jahre geführt haben, eine steil ansteigende Tendenz.
So wird von Seiten des Bundesjustizministeriums für den Herbst 1963 noch eine Zahl von 690 Verfahren genannt
chen bis hin zu den Volksgerichtshofverfahren — entweder überhaupt unzugänglich sind (wie das Aktenmalerial der Sowjetunion und der Sowjetzone) oder zumindest teilweise unausgewertet sind, sondern daß eine Reihe von Tatkomplexen bei allen Anstrengungen der seit 1958 eingerichteten Ludwigsburger Zentralstelle für die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen und ihres Leiters, Oberstaatsanwalt Schüle, systematisch überhaupt noch nicht erforscht sind: wie etwa das Wirtschafts-und Verwaltungsamt der SS, das Auswärtige Amt, die Parteikanzlei, das Ostministerium, die alle an der sogenannten „Endlösung" der Judenfrage beteiligt waren.
So ist schon aus tatsächlichen Gründen nicht auszuschließen, daß auch nach Ablauf der Verjährungsfrist in zahlreichen Fällen neue Tatkomplexe entdeckt und neue Personen als Täter ermittelt werden, weshalb auch das Bundesjustizministerium schon im Herbst 1964 offiziell feststellt: „Trotz intensiver Ermittlungstätigkeit der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigs-burg und aller Strafverfolgungsbehörden läßt sich nicht vollständig ausschließen, daß nach Verjährungseintritt neue Taten und Täter bekannt werden, die dann nicht mehr verfolgt werden können."
Noch entschiedener betont jetzt die Bundesregierung auf Grund des ihr zum 1. 3. 1965 vorgelegten Berichts des Bundesjustizministeriums, daß tatsächlich nicht auszuschließen ist, daß auch nach dem 8. Mai 1965 „noch unbekannte Taten von Bedeutung oder noch unbekannte Täter von Rang" bekannt werden
Diese Versicherung ist, ganz abgesehen von der tatsächlichen Seite der Sache, schon aus rechtlichen Gründen anfechtbar, da selbst in den Fällen, in denen wegen einer bestimmten Tat gegen einen bestimmten Täter durch richterlichen Akt die Unterbrechung der Verfolgungsverjährung erfolgt ist, weder gesichert ist, daß alle Taten eines bestimmten Täters bekannt waren und damit erfaßt wurden, noch daß jeweils die richtige Person als der Täter ermittelt ist. Das jedoch ist für jede wirksame Unterbrechung unbedingte Voraussetzung; weder erstreckt sie sich auf außerhalb des erfaßten „geschichtlichen Vorganges" liegende, noch unbekannte Taten, noch kann sie als „Verfahren gegen Unbekannt" auf persönlich noch unbekannte Täter ausgedehnt werden.
Es ist somit selbst in den Fällen, in denen eine lörmliche Unterbrechung der Verjährung durch richterlichen Akt erfolgt ist, nicht auszuschließen, daß bestimmte einzelne Taten oder ganze Tatkomplexe (weil inzwischen verjährt) unverfolgt bleiben müßten, wenn sie zum Zeitpunkt der Unterbrechung als „geschichtlicher Vorgang" noch unbekannt waren;
ebenso wie bestimmte einzelne Täter oder ganze Tätergruppen, deren Tatbeitrag erst im Laufe der Hunderte von Strafverfahren der nächsten Jahre überhaupt bekannt würde, wie dies auch in den bisherigen KZ-und Einsatzgruppen-Prozessen vielfältig der Fall war
Die Justiz gegen NS-Verbrechen müßte sich darum in diesen kommenden Prozessen selbst ad absurdum führen, wenn wir es durch Nicht-verlängerung der Verjährungsfrist für die durch Mord begangenen nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sehenden Auges zuließen, daß dabei ganze Tatkomplexe und Tätergruppen außer Betracht bleiben müßten, weil sie erst nach Fristablauf überhaupt bekannt oder erkannt würden. Diese Verfahren müßten damit nicht nur in einen unerträglichen Widerspruch zum Grundgebot aller Gerechtigkeit geraten: Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, sie würden damit zugleich die Grundlage jeder Glaubwürdigkeit bei den Beteiligten — Richtern, Staatsanwälten, Angeklagten und Verteidigern — verlieren, wenn diese Justiz es hinnehmen müßte, daß auf den Zeugenbänken und im Zuhörerraum Komplicen und Vorgesetzte der Angeklagten säßen, die mit ihnen auf die gleiche Anklagebank gehörten und gegen die man doch nichts mehr unternehmen könnte, weil ihre Mordtaten inzwischen verjährt sind. Wie sollte der Richter noch einen Angeklagten zu hoher oder lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilen können, angesichts der im Gerichtssaal anwesenden Komplicen oder Vorgesetzten, die wie er gemordet, deren Taten jedoch zufällig unbekannt oder deren Tatbeteiligung zufällig unerkannt geblieben und darum verjährt ist
Es gibt somit in Anbetracht dieser tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeit einer rechtzeitigen und vollständigen Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung für alle in Frage kommenden Tatkomplexe und Täter-gruppen nur die Alternative: entweder durch eine Amnestie diesen ganzen NS-Prozessen ein Ende zu setzen (ein juristisch wie politisch gleicherweise unerträglicher Gedanke) oder aber durch eine Verlängerung oder Aufhebung der Verjährungsfrist die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen zu schaffen, diese Mord-Prozesse in einer Weise zu Ende zu führen, daß daraus wirklich so etwas wie die Selbstbefreiung unseres Volkes und die Wiederaussöhnung mit seinen Nachbarn erwachsen kann, in deren Ländern vor allem dieses schreckliche Geschehen sich vollzogen hat.
Die Verfassungsrechtliche Problematik einer Verlängerung der Verjährungsfrist
Es ist darum angesichts des drohenden Ablaufs der Verjährungsfrist durch den CDU-Abgeordneten Benda zunächst im Bundestag der Antrag eingebracht worden: „§ 67 Abs. I unseres Strafgesetzbuches entsprechend den Vorschlägen der Großen Strafrechtskommission so zu ändern, daß die Verjährungsfrist für Mord künftig 30 Jahre beträgt und diese Regelung so in Kraft zu setzen, daß sie auch die noch nicht verjährten NS-Mordtaten erfaßt".
Die Bundesregierung hat auf der Grundlage eines ihr am 24. 2. 1965 vom Bundesjustizminister erstatteten Berichts ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt, mit dem Bundestag in der Frage der Verjährungsverlängerung „zusammenzuarbeiten", da sie entgegen früheren Erwartungen zu der Überzeugung gelangt sei, daß auf andere Weise eine Strafverfolgung solcher Mordtaten nicht gesichert werden kann
Zugleich jedoch hielt die Bundesregierung ebenso ausdrücklich an ihrem im November 1964 mit Mehrheit gefaßten Kabinettsbeschluß fest, dem Bundestag keine gesetzliche Verjährungsverlängerung zu empfehlen. Diesen bis heute aufrechterhaltenen Beschluß hatte der Sprecher der Bundesregierung nach der entscheidenden Sitzung am 11. 11. 1964 wie folgt begründet: „Das Bundeskabinett ist nach langer Diskussion zu der Überzeugung gekommen, daß eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Verbrechen mit rückwirkender Kraft durch Art. 103 des Grundgesetzes ausgeschlossen ist, so wünschenswert aus anderen Gründen eine Verlängerung der Verjährungsfrist auch sein kann. . .. Eine Verlängerung der Verjährungsfrist widerspricht dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Gerade durch rückwirkende Ausnahmegesetze wurde dieser Grundsatz im Hitlerstaat durchbrochen."
Ebenso hat der derzeitige Bundesjustizminister Dr. Bucher, auf dessen sachverständige Äußerung dieser Kabinettsbeschluß zurückgeht, in amtlichen und persönlichen Erklärungen diese hier geäußerte Rechtsansicht wiederholt bekräftigt und erklärt, daß eine Verlängerung der Verjährungsfristen, auch wenn man sie politisch und moralisch für erwünscht halte, juristisch unmöglich sei, weil sie gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. II unseres Grundgesetzes verstoße
Auch die offizielle Verlautbarung des Bundesjustizministeriums im Bulletin der Bundesregierung gibt hierüber keinen befriedigenden Aufschluß. Heißt es doch dazu nur ganz allgemein: „Wenn nach dem Gesetz Verbrechen nicht mehr verfolgt werden dürfen, und zwar ohne Rücksicht auf die Person des Täters und die Schwere der Tat im einzelnen, so muß der Gesetzgeber diese einmal getroffene Regelung respektieren und darf sie nicht mit rückwirkender Kraft durch Ausnahmegesetze ändern. Das entspricht dem Grundsatz der Rechtssicherheit, der als Wesensmerkmal der Rechtsstaatlichkeit auch in § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB seine Ausprägung gefunden hat und für die Verjährung namentlich dann Geltung beansprucht, wenn man sie mit einer verbreiteten Meinung nicht als rein prozessuales, sondern als materiellrechtliches oder doch gemischtrechtliches Institut auffaßt. Legt man mit dem Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches 1962 diese Auffassung zugrunde, so könnte eine rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist als Verletzung des Art. 103 Abs. II des Grundgesetzes angesehen werden . .. Der nationalsozialistische Gesetzgeber hat in vielen Fällen durch rückwirkende Ausnahmegesetze das Recht für seine Zwecke zurechtgebogen.
Mit dieser persönlichen Rechtsauffassung, die rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist betreffe und verletze Art. 103 Abs. II unseres Grundgesetzes, steht der Justizminister nicht nur im Widerspruch zur ständigen Rechtssprechung unseres Bundesgerichtshofs und zur unbestritten herrschenden Lehre des heutigen Staatsrechts, des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts, sondern nicht zuletzt auch mit der Begründung seines eigenen Ministeriums zu § 127 des Entwurfs (1962) eines neuen Strafgesetzbuches.
Dazu nur einige der gewichtigsten Beiträge zu der hier entscheidenden Streitfrage, ob die Verlängerung der Verjährungsfristen unter die Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. II des Grundgesetzes fällt, der lautet: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde."
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat sich bisher zu der hier in Streit stehenden Rechtsfrage nicht geäußert. Es ist darum ebenso unzulässig, dem Bundesverfassungsgericht aus einer seiner bisherigen Entscheidungen zur grundsätzlichen Frage der Zulässigkeit einer „Rückwirkung belastender Gesetze"
Um so eindeutiger hat sich demgegenüber der Bundesgerichtshof in seinen Entscheidungen in Strafsachen zu dieser Frage geäußert und ausdrücklich festgestellt: „Der Sinn des Art.
103 Abs. II ist, daß eine Tat nur dann bestraft werden darf, wenn vor ihrer Begehung der begriffliche Tatbestand der strafbaren Handlung und die auf seine Erfüllung angedrohte Strafe gesetzlich festgelegt war. ... Die Verjährungsfristen gehören nicht zum gesetzlichen Tatbestand einer strafbaren Handlung.“
Ebenso wird auch in der amtlichen Begründung des Entwurfs eines neuen Strafgesetz-buches (1962) in Abweichung zu früheren Entwürfen die Verjährung ausdrücklich nicht als „materiell-rechtliche Einrichtung gedeutet und ausgestaltet", sondern als eine doppelfunktionelle, primär formellrpchtliche, sekundär materiellrechtliche Einrichtung aufgefaßt, wonach in Übereinstimmung mit der heutigen Lehre und Rechtsprechung zwar die soge-nannte Wiedereröffnung der Verjährung abgelehnt wird, d. h. „die Möglichkeit, bei der Verlängerung von Verjährungsfristen durch ein Gesetz auch solche Zuwiderhandlungen zu verfolgen, bei denen die Verjährung nach bisherigem Recht im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits eingetreten war", keinesfalls jedoch die Verlängerung noch laufender Verjährungsfristen
Eine solche im Schwerpunkt formellrechtliche Auffassung der Vorschriften ergibt sich zwingend schon aus den Regelungen des geltenden Rechts. Denn die Verjährung wäre eine im Schwerpunkt materiellrechtliche Einrichtung, der die Vorstellung von einem Erlöschen des Unrechts oder der Tilgung der Schuld mit Ablauf der Verjährungsfrist zugrunde liegt, dann wäre weder zu verstehen, wie man einen Mörder zu lebenslangem Zuchthaus verurteilen kann (wie unser Gesetz dieses zwingend vorschreibt)
Viel entscheidender jedoch als diese Argumentation von den praktischen Folgerungen her sind die Einwände gegen eine im Schwerpunkt materiellrechtliche Auffassung der Verjährung schon von ihren theoretischen Voraussetzungen her.
Alle Verfechter der Rechtsauffassung, daß eine Verlängerung der Verjährungsfristen durch den Grundsatz nulla poena sine lege stricte et praevia des Art. 103 Abs. II unseres Grundgesetzes ausgeschlossen sei, setzen ausdrücklich oder stillschweigend voraus, daß die gesetzliche Bestimmtheit der Verjährungsfristen mit zur gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit der Tat gehört, also zum Zeitpunkt der Tat nicht nur das Ob der Strafbarkeit (der Straftatbestand) und das Wie der Strafbarkeit (die Straffolge) gesetzlich bestimmt und danach vom Täter bestimmbar sein muß, sondern, daß dazu auch die Bestimmbarkeit des Zeitpunktes gehöre, von dem ab der Täter mit einer Strafverfolgung nicht mehr rechnen muß. Es wird damit nichts weniger behauptet, als daß für den Täter nicht nur zum Zeitpunkt der Tat das Risiko kalkulierbar sein muß, ob und wie er bestraft werden kann, sondern auch wie lange ihm solche Strafverfolgung droht. Es ist sicher ein berechtigtes Interesse des Täters, daß er aus dem Gesetz als der Magna Charta Libertatum des Bürgers das Ob und Wie der Strafbarkeit einer Tat erkennen kann, soll er sich doch durch dieses erkennbare Risiko (mit) motivieren lassen, das strafbare Verhalten zu unterlassen.
Der Bürger muß in einem Rechtsstaat davor sicher sein, daß er nicht nachträglich für ein Verhalten mit Strafe überfallen wird, das überhaupt nicht oder zumindest so zum Zeitpunkt der Tat nicht strafbar war. Es gehört zum berechtigten Vertrauensschutz, den der Bürger in einem Rechtsstaat genießt, daß er nicht nachträglich und das heißt rückwirkend gewärtigen muß, für etwas bestraft zu werden, was das Gesetz als seine Magna Charta, auf die er sich verlassen kann, zum Zeitpunkt der Tat für straflos oder doch für weniger strafbar erklärte. Niemals aber kann der Täter berechtigten Vertrauensschutz beanspruchen, wenn er damit kalkuliert und darauf spekuliert, daß er für diese Tat nur zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre der Strafverfolgung ausgesetzt werden kann.
Auf solchen Vertrauensschutz nicht die sach -lichen Grenzen der Strafbarkeit (die Art. 103 Abs. II gewährleistet), sondern die zeitlichen Grenzen der Strafverfolgung zum Zeitpunkt der Tat aus dem Gesetz „bestimmen" zu können, hat der Täter jedoch nicht nur rechtlich keinen Anspruch, er kann ihn auch tatsächlich nach unserem Recht gar nicht beanspruchen. Ist doch jeweils völlig unbestimmt und darum für ihn zum Zeitpunkt der Tat aus dem Gesetz schlechthin unbestimmbar, ob die abstrakt vorgeschriebene gesetzliche 'Verjährungsfrist nicht in seinem konkreten Falle, sei es durch ein generelles Ruhen der Verjährung (§ 69 StGB), sei es durch individuelle Unterbrechung der Verjährung (§ 68 StGB) mittels eines richterlichen Aktes (von dem der Täter nach unserem Recht keinerlei Kenntnis erlangen muß), auf unbestimmte und für ihn unbestimmbare Zeit verlängert wird. Machte man darum mit der Auffassung wirklich Ernst, welche die Grenzen der Strafverfolgungsverjährung zum Bestandteil der Strafbarkeit der Tat erklärt, dann müßte man folgerichtig dazu gelangen, die Vorschriften unseres Strafgesetzbuches über das Ruhen und die Unterbrechung der Verjährung als Durchbrechungen des Grundsatzes der Bestimmtheit der Strafbarkeit der Tat und damit als unvereinbar mit Art. 103 Abs. II unseres Grundgesetzes für verfassungswidrig zu erklären.
Aus alledem ergibt sich, daß die durch die gesetzlichen Verjährungsfristen vorgezeichneten zeitlichen Grenzen der Strafverfolgung niemals wie die sachlichen der -Grenzen Straf barkeit die Rechtssicherheit und den Vertrauensschutz des Täters zum Zeitpunkt der Tat, sondern allein im Zeitraum der Verfolgung betreffen können. Sie sollen gewährleisten, daß er wegen einer Tat nur dann verurteilt werden kann, wenn diese inzwischen nicht durch Zeitablauf verjährt ist. Sie sollen damit vor allem sicherstellen, daß der Täter nicht nach inzwischen erfolgtem Eintritt der Verjährung nachträglich mit einer neuen Strafverfolgung überfallen werden kann, wie dies geschehen würde, wenn durch den Gesetzgeber die sogenannte Wiedereröffnung bereits abgelaufener Verjährungsfristen (etwa der bei uns 1960 abgelaufenen Fristen für Totschlag) beschlossen würde.
Nur in diesem einzigen Falle, einer rückwirkenden Wiedereröffnung der Strafverfolgung, ist darum für die Verjährungsfristen ein dem Grundgedanken des Art. 103 Abs. II analoges Rückwirkungsverbot anzunehmen 33}, wie in Rechtsprechung und Lehre, über alle Unterschiede in der Bestimmung des Rechtscharakters der Verjährung hinweg, einhellig anerkannt wird.
Diese verschiedenartige Beurteilung der Frage einer bloßen Verlängerung und der echten Wiedereröffnung des Verjährungsablaufs entspricht guter rechtsstaatlicher Tradition, wie sie eindrucksvoll schon in einer Entscheidung des Nordamerikanischen Court of Appeals aus dem Jahre 1928, der sich auch der Supreme Court angeschlossen hat, zum Ausdruck kommt
Es ist so weder verfassungsrechtlich noch strafrechtlich oder strafverfahrensrechtlich ein wirklich überzeugendes und durchschlagendes juristisches Argument zu erkennen, welches der erwogenen Verlängerung der Verjährungsfristen für die durch Mord unter dem NS-Regime begangenen Gewaltverbrechen entgegenstünde. Eine nüchterne Überprüfung nicht nur der in Rechtsprechung und Lehre vertretenen Rechtsauffassung, sondern auch jede sachliche Erörterung des Rechtscharakters der Verjährungsfristen fördert im Gegenteil ausschließlich juristische Argumente zu Tage, die für eine verfassungsmäßige Zulässigkeit der Verlängerung der noch nicht abgelaufenen Verjährungsfristen für Mord sprechen.
Diese allgemeine Rechtsauffassung hat ihren Niederschlag jetzt auch in einer gemeinsamen Erklärung von 76 Staats-und Strafrechtslehrern vom 4. 3. 1965 gefunden, die folgenden Wortlaut hat:
„l. Nach unerer wissenschaftlichen überzeu-
gund stehen einer allgemeinen Verlänge-rung der laufenden Verjährungsfrist für die Verfolgung von Mordtaten keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen.
Die Bestimmungen über die Verfolgungsverjährung räumen einem Mörder kein subjektives Recht ein, auf Grund dessen er sich unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten darauf verlassen könnte, nach Ablauf der zur Zeit seiner Mordtat geltenden Frist nicht mehr zur Verantwortung gezogen zu werden. Der Gesetzgeber kann diese Frist verlängern.
2. Die unter dem nationalsozialistischen Regime begangenen zahllosen Morde, vor allem an Juden, machen eine Verlängerung der Verjährungsfrist aus Gründen der Gerechtigkeit unerläßlich. Die Unmöglichkeit, derart beispiellose Taten zu verfolgen, müßte das Rechtsbewußtsein aufs tiefste verletzen."
Aus alledem ergibt sich, daß die von Bundesjustizminister Dr. Bucher im Bundeskabinett und danach auch am 10. 3. 1965 im Bundestag vertretene Rechtsauffassung in eindeutigem Widerspruch nicht nur zur ständigen Rechtsprechung unseres Bundesgerichtshofs, sondern ebenso zur fast einhelligen Lehre in unserem heutigen Staatsrecht, Strafrecht und Strafverfahrensrecht steht.
Es hätte sicherlich dem Justizminister wie jedem anderen Staatsbürger freigestanden, in dieser Frage seine persönliche Rechtsansicht zu äußern; aber es konnte und durfte dabei nicht, wie dies leider auch in der Kabinetts-erklärung geschehen ist, der Eindruck erweckt werden, als ob es sich bei dieser juristischen Argumentation gegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist am Art. 103 Abs. II GG um eine gesicherte allgemeine Rechtsüberzeugung handle.
Es wäre im übrigen ein Widerspruch in sich, wenn wir heute eine Heraufsetzung der Verjährungsfrist für Mord von zwanzig auf dreißig Jahre aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit ablehnten und so sehenden Auges zunächst alle die noch nicht durch Unterbrechung erfaßten Mordtaten unter dem NS-Regime verjähren ließen, um zwei oder drei Jahre später mit § 127 des neuen Strafgesetzbuches die Verjährungsfrist dann doch, wie dies inzwischen auch in Österreich geschehen ist, aus allgemeinen kriminalpolitischen Bedürfnissen und praktischen Erfahrungen auf dreißig Jahre zu verlängern. Diese Lösung der Verjährungsfrage durch Vorwegverabschiedung einer dem § 127 des Entwurfs entsprechenden Novelle verdiente in jedem Falle den Vorzug gegenüber der von verschiedenen Seiten vorgeschlagenen Umdatierung jenes seinerzeit gesetzlich auf das Jahr 1945 fixierten Zeitpunktes der Beendigung des Ruhens oder der Hemmung der Verjährung unter dem NS-Regime auf das Jahr 1949 oder gar 1955 (in-
Anbetracht der erst zu diesem Zeitpunkt wiedererlangten vollen Souveränität oder Gerichtsbarkeit). Eine solche Veränderung der hierfür ausdrücklich in früheren Gesetzen fixierten Zeitpunkte wäre in jedem Falle als Umdatierung bisheriger gesetzlicher Datierungen, im Wege eines Sondergesetzes zur nachträglichen Umdatierung früherer Sonder-gesetze, rechtsstaatlich sehr viel problematischer als die einfache Vorwegnahme einer ohnehin längst geplanten Neuregelung der Verjährungsfristen für Mord.
Es stellt sich jedoch die in unserer öffentlichen Diskussion bisher nicht zureichend erörterte Frage: Ist eine solche zeitliche Verlängerung der Verjährungsfrist für alle durch Mord an politischen, rassischen und religiösen Gruppen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des Völkermordes überhaupt ausreichend? Legte nicht die neuere völkerstrafrechtliche Entwicklung nahe, diese Taten für unverjährbar zu erklären?
Die völkerstrafrechtliche Problematik einer Verlängerung der Verjährungsfrist
Der Ablauf der Verjährung für alle unter den Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. II Ziff. 1 c des Kontrollratsgesetzes Nr. 10) fallenden „Morde“ an der „Zivilbevölkerung" der durch Deutschland im Kriege besetzten Staaten oder bei der „Verfolgung" von einzelnen oder von Gruppen aus „politischen, rassischen oder religiösen Gründen" war zunächst nach 1945 durch Art. II. Ziff. 5 des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 überhaupt ausgeschlossen, der lautete: „In einem Strafverfahren oder einer Verhandlung wegen eines der vorbezeichneten Verbrechen kann sich der Angeklagte nicht auf Verjährung berufen, soweit die Zeitspanne vom 30. 1. 1933 bis zum 1. 7. 1945 in Frage kommt ..."
1956 bestimmt: „Fristen, deren Ablauf auf Grund von Vorschriften oder infolge von Maßnahmen der Besatzungsbehörden gehemmt worden und beim Inkrafttreten dieses Gesetzes noch nicht eingetreten ist, laufen in dem Zeitpunkt ab, in dem der Ablauf ohne diese Hemmung eintreten würde, jedoch nicht vor dem Ende des Jahres 1956."
Damit war mit einem Federstrich nicht nur die bisherige Unverjährbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beseitigt, sondern wurde zugleich der Weiterlauf aller Verjährungsfristen für die ganze Zeit des Besatzungsregimes festgestellt, ohne Rücksicht darauf, daß die deutschen Behörden ohne das im Besitz der Alliierten verbliebene Aktenmaterial des Dritten Reiches zur Verfolgung der NS-Verbrechen lange Jahre überhaupt nicht in der Lage waren.
An dieser Rechtslage, die mit der Beseitigung der Unverjährbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit entstanden war, hat sich seither weder durch den Beitritt der Bundesrepublik zur Menschenrechtskonvention noch zum Genocid-Abkommen, noch durch den Beschluß des Europarates etwas geändert, obwohl diese in der Sache sämtlich eine Unverjährbarkeit der Verbrechen voraussetzen, „welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen, von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren" (Art. 7 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention)
Ebensowenig hat sich diese Rechtslage verändert durch den jüngsten Beschluß des Europarates vom 28. 1. 1965 (23. Sitzung der 16. Tagung), welcher dem Ministerrat empfiehlt, die Mitgliedsstaaten aufzufordern: „unverzüglich die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, daß wegen des Laufs der Verjährungsfrist oder auf andere Weise die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen vor oder während des Zweiten Weltkrieges begangenen Verbrechen und ganz allgemein die Verbrechen gegen die Menschlichkeit unbestraft bleiben", und zugleich „eine Kommission von Experten der Regierungen zu beauftragen, eine Konvention auszuarbeiten mit dem Ziele, die Unverjährbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sicherzustellen (assurer).“
Dennoch ist durch diesen auch von den deutschen Vertretern im Europarat mit großer Mehrheit gebilligten Beschluß, wenn auch kein juristisches, so doch bereits heute ein politisches Faktum geschaffen, nicht zuletzt durch die dabei vom Rechtsausschuß geäußerte Anregung, die Mitgliedsstaaten dazu aufzufordern, der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Annahme einer Resolution vorzuschlagen, die feststellt, daß das Genocid-Abkommen von 1948 jede „Möglichkeit einer Strafverlolgungs-und Strafvollstreckungsverjährung ausschließt".
Angesichts dieses Beschlusses des Europarates zur Unverjährbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einer möglichen künftigen Resolution der UNO zur Frage der Unverjährbarkeit der Verbrechen des Völkermordes scheinen mir die bisher in der Bundesrepublik Deutschland ins Auge gefaßten Lösungen der Verjährungsfrage bei Mord unzureichend. Würden wir doch selbst nach einer Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord auf dreißig Jahre aller Voraussicht nach schon bald nach Abschluß der heutigen Verjährungsdebatte erneut durch entsprechende Initiativen der Europäischen Gremien oder gar der Vereinten Nationen vor die Frage gestellt, diese zunächst auf dreißig Jahre verlängerte Frist für Mord wenig später für alle durch Mord begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des Völkermordes überhaupt aufzuheben.
Mir erscheint darum die wirkliche Lösung nicht in einer Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord, sondern in der Aufhebung jeder Verjährungsfrist für die durch Mord begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des Völkermordes zu bestehen.
Nur durch diese entschlossene und eindeutige Lösung der Verjährungsfrage für die unter dem NS-Regime durch Mord begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des Völkermordes wird die Bundesrepublik nicht nur nach außen die längst überfällige Klarstellung ihrer grundsätzlichen Haltung in der Frage der Verfolgung der NS-Verbrechen vollziehen, sondern ebenso auch nach innen den Abträglichkeiten einer neuen Verjährungsdebatte im Jahre 1975 entgehen.
Ich begrüße darum mit Entschiedenheit die nunmehr von dem SPD-Abgeordneten Dr. Arndt und dem CDU-Abgeordneten Dr. Güde am 10. 3. 1965 im Bundestag eingebrachten Anträge, die Verjährungsfrist für Mord und Völkermord auf dem Wege einer Verfassungsergänzung überhaupt aufzuheben und gleichzeitig durch ein 8. Strafrechtsänderungsgesetz die Verjährungsfrist bei den in § 67 StGB mit lebenslangem Zuchthaus bedrohten Verbrechen zu streichen, wie dies auch der CDU-Abgeordnete Benda in seinem jetzt am 10. 3. 1965 im Bundestag eingebrachten zweiten Antrag (Bundestagsdrucksache Nr. 2965, neue Fassung) vorschlägt, der ebenfalls nicht mehr auf eine bloße Verlängerung, sondern auf eine Aufhebung der Verjährungsfrist (wenn auch durch einfaches Gesetz) abzielt.
Diesen Vorschlägen gegenüber würde ich eine Fassung der Ergänzung zu Artikel 102 unseres Grundgesetzes vorziehen, die allgemein nicht nur die Unverjährbarkeit des Völkermordes, sondern, entsprechend dem Beschluß des Europarates, ebenso der durch Mord begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit feststellte und die darum etwa den folgenden Wortlaut haben könnte:
Art. 102 Abs. II: „Durch Mord begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit und des Völkermordes sind unverjährbar." Diese Fassung hätte den Vorzug, daß sie nur diejenigen nach unserem innerstaatlichen Strafrecht strafbaren Mordtaten für unverjährbar erklärte, welche zugleich den völkerstrafrechtlichen Charakter von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder des Völkermordes haben, was ebenso für die Euthanasie-Morde aus eugenischen Gründen wie für die KZ-und Einsatzgruppen-Morde aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen zutrifft. Damit würde zugleich durch die auf diese nationalen und internationalen Verbrechen beschränkte Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord das ganz andere dieser von staatlichen oder quasistaatlichen Organen vorbereiteten und durchgeführten Massenmord-aktionen festgestellt. Nur so ist zugleich zu gewährleisten, daß diese Lösung der Verjährungsfrage nicht durch die sich anbahnende völkerstrafrechtliche Entwicklung in kurzem überholt wird, zu der wir mit unserer Regelung selbst zugleich einen wichtigen Beitrag zu leisten vermöchten.
Die Bestrafung der NS-Verbrechen: eine nationale oder internationale Aufgabe?
Mit dieser Aufhebung der Verjährungsfristen für die durch Mord begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des Völkermordes ist jedoch nur die strafrechtliche Konsequenz aus dem doppelten Charakter dieser Delikte als nach nationalem und internationalem Strafrecht zu ahndende Taten gezogen, wobei wir bis zur Schaffung eines echten internationalen Strafrechts (Völker-strafrechts) darauf verwiesen bleiben, die Straftatbestände und Straffolgen unserem nationalen Recht (dem Tatbestand des Mordes) zu entnehmen.
Aber nicht nur diese Delikte als solche haben zugleich nationalen und internationalen Charakter, auch die Prozesse selbst haben unübersehbar und unvermeidlich eine jeweils zugleich nationale und internationale Bedeutung und Wirkung. In ihnen vollzieht sich nicht nur die juristische Auseinandersetzung, Selbstreinigung und Selbstbelreiung dieses unseres eigenen Volkes von dieser unserer eigenen Vergangenheit, sondern zugleich ebenso die Wiederaussöhnung, die Bereinigung und Befriedung des Verhältnisses vor allem zu unseren europäischen Nachbarn, in deren Ländern und an deren Bürgern diese Taten fast ausschließlich geschehen sind.
Dabei darf man allerdings auch die Last, die mit diesen Verfahren über Jahre oder gar noch Jahrzehnte hinweg auf unserem Lande liegen wird, weder nach innen noch nach außen unterschätzen. Diese werden zu einem für unsere junge Demokratie guten Ende nur gebracht werden können, wenn sie ebenso entschlossen wie maßvoll geführt werden. Sie sind darum streng auf die wirklichen Haupt-verantwortlichen zu beschränken: zum einen auf die Eigentäter (die sogenannten Exzeßtäter) und ihre Helfer, die, sofern sie nicht mit lebenslangem Zuchthaus zu bestrafen sind, zumindest neben der (ohnehin problematischen) zeitigen Zuchthausstrafe die bürgerlichen Ehrenrechte in unserem Staat verlieren müßten, zum andern auf die wirklichen Haupttäter (die sogenannten Schreibtischtäter) und ihre Helfer, die bis heute als die geistigen Urheber dieser Verbrechen bei den Vorermittlungen nur unzureichend erfaßt und in den bisherigen NS-Prozessen zu Unrecht in die Rolle bloßer „Gehilfen" zurückgedrängt worden sind. Zwischen diesen untersten unmittelbaren und jenen höchsten mittelbaren Tätern steht eine ganze Hierarchie von Tausenden und Zehntausenden von Mittlern bis hin zum Lok-führer nach Auschwitz, der Büroangestellten im Reichssicherheitshauptamt, ohne deren Mitwirkung diese ganze Vernichtungsmaschinerie gar nicht hätte in Gang gebracht und gehalten werden können. Sobald wir damit beginnen würden, auch gegen diese Mittler als mögliche Mordgehilfen zu verfahren, müßten diese ganzen Prozesse in einer Flut von Neben-verfahren ertrinken und bald durch massenhafte Freisprüche erlahmen.
Darum gilt es ebenso entschieden wie maßvoll, diese NS-Prozesse nach beiden Seiten auf die wirklichen (geistigen und leibhaftigen) Täter und ihre nächsten Gehilfen zu beschränken, soll diese Prozeßlawine wirklich zur Selbstbefreiung und nicht zur Selbstzerstörung unserer jungen Demokratie führen. Dabei droht uns Gefahr ebenso von den Extremisten im Innern, welche diese Prozesse (wie dies leider auch in den Verjährungsdebatten spürbar wurde) zu einer nationalen Wählerkampagne nutzen, nicht weniger aber von jenen Extremisten von außen, welche leider, wie die Sowjetunion und die Sowjetzone bis heute, diese Prozesse als ergiebige Quelle nicht nur für internationale Dilfamierungskampagnen gegen unser Land nutzen (das geschieht gelegentlich auch andererorts), sondern mit der bewußten Zurückhaltung der Akten und ihrer planmäßigen Benutzung zu immer neuen Enthüllungskampagnen ein unverantwortliches Spiel mit diesen NS-Verbrechen treiben. Ich meine, daß auch von Seiten unserer Nachbarländer alles geschehen müßte, um in ehrlichem Zusammenwirken alles zu vermeiden, was diese Prozesse, in denen das Grauen einer ganzen Epoche aufsteigt, von außen diffamieren oder manipulieren könnte, in denen doch nichts als das geschehen soll, was hier das Schwerste ist: Recht, Gerechtigkeit.
Mir scheint es darum erforderlich, daß wir nicht nur national mit der Aufhebung der Verjährungsfrist für alle durch Mord begangenen NS-Verbrechen, sondern auch international einen neuen Anfang machen sollten, dadurch, daß die Bundesrepublik eine beratende Europäische Juristische Kommission wissenschaftlicher Experten aus allen den Ländern am Sitze der Ludwigsburger Zentrale zusammenriefe, die bereit sind, loyal durch Herausgabe oder Gestattung der Einsichtnahme in das in ihrem Besitz befindliche Beweismaterial an der erschöpfenden Vorbereitung dieser Verfahren mitzuwirken. Damit würden sich nicht nur alle diejenigen Länder selbst disqualifizieren, die ihre Akten weiterhin als Material zu politischer Propaganda zu nutzen beabsichtigen, es würde damit zugleich auch eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit allen in Frage kommenden Ländern erreicht, deren Mitglieder zudem ihren ganzen wissenschaftlichen Sachverstand bei den Beratungen einzubringen vermöchten, um unserer eigenen nationalen Justiz bei dieser eigentlich europäischen oder gar internationalen Aufgabe zu helfen, die auch bei ehrlichstem Bemühen das Vermögen eines Volkes, ja menschliches Vermögen überhaupt, zu übersteigen droht.
Ich komme aus allen diesen Erwägungen damit zu zwei Schlußfolgerungen: 1. Eine Lösung der Verjährungsfrage durch Verlängerung der gesetzlichen Verjährungsfrist für Mord auf dreißig Jahre vermag nicht zu befriedigen, weil sie die Bundesrepublik in zehn Jahren erneut vor dieselbe Frage einer Fristverlängerung stellen wird und zudem durch die sich anbahnende internationale Entwicklung in der Frage der Verjährung bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des Völkermordes bald überholt zu werden droht. Es ist darum eine Lösung der Verjährungsfrage zu suchen, die durch eine Verfassungsergänzung zu Art. 102 die Unverjährbarkeit aller durch Mord begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des Völkermordes feststellt. 2. Zur Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Verfolgung von NS-Verbrechen sollte am Sitz der Ludwigsburger Zentrale eine Europäische Juristische Kommission aus wissenschaftlichen Experten der von diesen Prozessen betroffenen Länder gebildet werden, die in Zusammenarbeit mit ihren jeweiligen Regierungen vor allem bei Herbeischaffung des Beweismaterials beratend mitwirken sollte.
Nur so ist zu gewährleisten, daß die bevorstehenden Mord-Prozesse wegen der unter dem NS-Regime begangenen Gewaltverbrechen zu einer umfassenden Bereinigung im Innern und endgültigen Befriedung nach außen führen und damit dieses Kapitel unserer Vergangenheit, soweit dies überhaupt menschenmöglich ist, noch in dieser Generation juristisch abgeschlossen und nicht als eine politische Hypothek auf die heranwachsende Generation von Morgen abgewälzt wird.