Eugen Lemberg hat in seiner in Rowohlts deutscher Enzyklopädie erschienenen Arbeit: Nationalismus I (Psychologie und Geschichte), II (Soziologie und politische Pädagogik), eine Theorie des Nationalismus entwickelt, die in einem Augenblick Bedeutung gewinnt, in dem Politiker und politische Pädagogen mit einiger Sorge auf das Problem eines deutschen Nationalbewußtseins hinweisen. In den folgenden Ausführungen erörtert der Autor einige Folgerungen, die sich aus dieser Theorie für die politische Erziehung der Deutschen ergeben.
Wir veröffentlichen diese Thesen als beachtenswerten Diskussionsbeitrag, auch wenn sie nicht in allem die Meinung des Herausgebers wiedergeben.
In der letzten Zeit mehren sich die Hinweise auf die gefährliche Situation, die durch die Tabuierung aller nationalen Begriffe und Werte unter den Deutschen zustande gekommen ist
Auf Grund dieses Eindrucks fragen sich führende Politiker, wie überhaupt ein gemeinsames Unternehmen der Nation oder des Staates zustande kommen solle, wenn es nicht von dem Bewußtsein der Gemeinsamkeit und der Verpflichtung der Staats-und Volksangehörigen getragen und gesteuert wird. Mit anderen Worten: Nation und Staat und das Verhältnis des einzelnen zu ihnen werden als Problem der politischen Pädagogik erkannt.
Die politische Pädagogik war in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 darauf gerichtet, dem um seine Selbstbestimmung, um das eigene Urteil, um ein gesundes Verhältnis zur außerdeutschen Welt gebrachten, in die absolutgesetzte Nation eingespannten Individuum seine Freiheit wiederzugeben, sein eigenes Urteil, seine freie Meinungsäußerung, sein normales Verhältnis zur Menschheit. Wichtige Teilaufgaben waren dabei zu leisten: die Überwindung nationaler und rassischer Vorurteile, die Erziehung zur Bereitschaft, andere Auffassungen anzuhören und zu respektieren — jene Grundlage des Zusammenlebens freier Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft, schließlich auch die Einsicht in das Hybride jener schrankenlosen Hingabe an die Nation, die alle Ordnungen auch dieser Nation selbst zerstört, die Nation an den Rand ihrer Existenz, aber auch um die Achtung der übrigen Welt gebracht hat.
Die durchaus naheliegende Methode dieser politischen Pädagogik bestand weitgehend in der Tabuierung jener Werte, die unter dem Einfluß des Nationalsozialismus absolutgesetzt und zur höchsten Norm erhoben worden waren. Es entstand ein Geschichtsbild, das mit umgekehrten Vorzeichen ebenso schwarz-weiß malte wie vorher das nationalsozialistische, d. h. Schuld und Schmach nunmehr auf die eigene Nation, Tugend und Fortschritt auf die anderen häufte. Das Indivi-duum wurde in den Mittelpunkt gerückt und ohne Zwischenschaltung der Nation in unmittelbare Beziehung zur Menschheit gesetzt. Hingabe, Bindung, Verpflichtung an die Nation war damit als überwundenes oder zu überwindendes Stadium, als Rückständigkeit und Aberglaube, ja als Verirrung und Krankheit erklärt. Worte und Begriffe, die der Nationalsozialismus mißbraucht und ihres Sinnes entleert hatte — Volk, Vaterland, Nation, Volkstum, Heimat und ähnlich —, machten den, der sie jetzt noch verwendete, des Nationalsozialismus verdächtig und verfielen jenem Tabu, durch das sich viele politischen Pädagogen und Meinungsbildner ihre Aufgabe, den Nationalismus zu überwinden und die „Vergangenheit zu bewältigen", leicht machten.
Allein eine wirkliche Bewältigung der Vergangenheit ist auf diese Weise nicht zu erreichen. Tabuierung bedeutet keine Bewältigung, verhindert sie vielmehr. Das bekannte Beispiel für diesen Effekt ist jene veraltete Sexual-pädagogik, die das Sexuelle als moralisch verwerflich erklärte und darüber schwieg, wodurch sie es erst eigentlich zum Problem erhob. Auf das Nationale in der politischen Pädagogik angewendet: die dem Tabu unterworfenen Begriffe und Werte müssen an falscher Stelle und unkontrolliert zur Geltung drängen. So wurde eine zweifache Verwirrung und Verlegenheit bewirkt, die man heute in Diskussionen gerade mit intelligenten Jugendlichen beobachten kann: eine verlegene bis verächtliche Ablehnung aller jener Begriffe und Werte, die in der vorhergehenden Epoche ins Absurde hochgespielt worden waren, auf der einen Seite, Anfälligkeit für nationalistische Phrasen und Formen — auch aus der vornationalsozialistischen Zeit — auf der andern.
Das alles vollzieht sich auf dem Hintergrund einer in der gesamten übrigen Welt, nach einer Epoche der großen ideologischen Blockbildungen, wieder ansteigenden Welle des Nationalismus. Man mag diese Welle begrüßen oder bedauern: sie enthält in jedem Falle die Gefahr, die in diesen Dingen begriffsverwirrten und durch jahrelange Tabuierung unsicheren Deutschen in einen Komplex der Unterlegenheit, des Nachholbedarfs und der Über-kompensation zu stürzen.
Notwendige Voraussetzung: eine Theorie des Nationalismus
Das stellt die politische Pädagogik in der Bundesrepublik vor die Aufgabe, zunächst eine lange versäumte Pflicht nachzuholen, nämlich die gesamte Begriffs-und Wertewelt um Nation und Staat und das Verhältnis dazu theoretisch zu klären, eine Theorie der Nation und des Nationalismus zu entwickeln. Denn die Erziehung zu einem neuen, ausgewogenen Verhältnis zum eigenen Volk und Staat wie zu den anderen Nationen muß nach all den Verwirrungen der letzten Jahrzehnte auf einer neu durchdachten Theorie der Nation und der Stellung des einzelnen in ihr beruhen.
Zu einer solchen Theorie der Nation und des Nationalismus haben die Deutschen aber auch die besten Voraussetzungen. Denn einmal hat keine Nation der Erde durch die Erfahrung eines exzessiven Nationalismus am eigenen Leibe soviel empirisches Material zu diesem Problem gesammelt wie die deutsche; zum andern ist dieser deutschen Nation die entwaffnende Naivität nicht mehr möglich, mit der sich andere Nationen ihrem Nationalismus hingeben, den sie als solchen gar nicht erkennen; schließlich ist sie durch das Schei-tern ihres Nationalismus auf die Überprüfung seiner Voraussetzungen und Gesetzlichkeiten geradezu angewiesen.
Man staunt, daß die Deutschen in dieser Zwangslage, trotz ihrer vielgerühmten Gründlichkeit, bis jetzt noch kaum auf die Idee verfallen sind, den Versuch einer solchen Theorie des Nationalismus zu unternehmen. Schuld daran scheint eben jene Tabuierung aller nationalen Begriffe und Werte zu sein, die zum Teil aus guten Gründen politischer Pädagogik, zum Teil aber auch einfach aus Ressentiment über den gesamten Bereich des Nationalen verhängt worden ist.
Wer es allerdings heute versucht, die Voraussetzungen für eine solche Theorie des Nationalismus zu schaffen, muß mit drei Gefahren rechnen: Einmal macht ihn schon die Beschäftigung mit diesem Fragenkreis selber des Nationalismus verdächtig. Zum andern ist das Vokabular, mit dem er sich dabei beschäftigen muß, vielen in hohem Grade suspekt. Es ist manchen Kreisen erst durch den Mißbrauch, den der Nationalsozialismus damit trieb, bekannt geworden und wird des-halb unbesehen mit nationalsozialistischem Gedankengut assoziiert. Die dritte Gefahr aber besteht darin, daß jeder Versuch, sich objektiv mit dem Phänomen des Nationalismus zu beschäftigen und seine Motive und Äußerungen mit der Haltung eines Forschers zu verstehen, gerade von solchen als Zustimmung und Rechtfertigung gedeutet wird, die dazu am wenigsten Anlaß haben, nämlich von blinden und unbelehrbaren Anhängern jenes exzessiven Nationalismus, durch den die Deutschen hindurchgegangen sind.
Aber solche Gefahren mögen bei der Konzeption eines politischen Wahlprogramms Berücksichtigung fordern: die wissenschaftliche Forschung darf sie nicht fürchten.
Die Ambivalenz des Nationalismus
An dem Versuch einer Theorie des Nationalismus mag manchen ein methodologisches Prinzip zunächst befremden, das bei der Analyse eines politisch-moralisch so empfindlichen Gegenstandes genau so beachtet werden muß wie bei jedem andern Thema: die Notwendigkeit nämlich, eine allzufrühe Anwendung moralischer Gesichtspunkte zu vermeiden, um erst einmal adäquate Kategorien zu gewinnen, aus gleicher Wurzel Kommendes unter einen Begriff zu fassen und Unterscheidungen dort einzuführen, wo sie hingehören. Auf unser Thema angewendet, steht einem solchen allein zulässigen Verfahren die weit verbreitete Neigung entgegen, die Moral schon bei der Begriffsbildung einzuschalten, die doch ausschließlich Sache der Logik ist; also auf der einen Seite Patriotismus, Vaterlandsliebe, Nationalbewußtsein, nationale Solidarität als Tugenden, auf der andern Seite den Nationalismus als ein davon verschiedenes, sittlich verwerfliches Prinzip zu betrachten und so zwei verschiedene Begriffe von Bindung an die Nation zu konstituieren. Das mag für seelsorgliche Zwecke zunächst geeignet erscheinen, ist es aber auf die Dauer auch für diese nicht. Die wissenschaftliche Sauberkeit erfordert es, daß gerade hier die gemeinsame Wurzel, demzufolge auch die Ambivalenz des Nationalismus herausgearbeitet wird. Denn es ist nun einmal nicht zu ändern: die Geschichte bietet tausend Beispiele dafür, daß es der gleiche anthropologische Sachverhalt, die gleiche Bindung oder Hingabe an die Nation oder an nationale Gruppen und Institutionen ist, die auf der einen Seite bedeutende kulturelle Leistungen, Heroismus und Selbstaufopferung bewirkt, auf der anderen zur Überschätzung der eigenen Gruppe, zu Fanatismus und Verbrechen führt. Dem Moralisten mag eine solche Ambivalenz anstößig erscheinen. Aber gerade um einer echten, auch moralischen Bewältigung des Nationalismus willen ist die Anerkennung dieser Ambivalenz notwendig: Erst wer erkannt hat, welche Möglichkeit und Gefahr in der gleichen seelischen Disposition liegt, kann sich und andere vor dieser Gefahr schützen und die Grenze genau bestimmen, an der sie eintritt. Die vermeintlich subtilere Unterscheidung zwischen gutem Patriotismus und bösem Nationalismus mag eine — illusionäre — moralische Sicherheit gewähren: sie führt zur Selbsttäuschung — jeder hält seinen Nationalismus für eine berechtigte Vaterlandsliebe, den des andern für einen bösen „Nationalismus" — und sie verschleiert das eigentliche pädagogische Problem, das hier vorliegt: daß es nämlich die gleiche psychologisch-soziologische Gegebenheit ist, auf der das notwendige politisch-integrative Verhalten, das mit-bürgerliche Zusammenwirken am demokratischen Staat beruht wie jener exzessive Nationalismus, den es zu überwinden gilt.
So ist gerade um der logischen Klarheit und wissenschaftlichen Sauberkeit willen eine Begriffsbildung notwendig, die sich mehr an die Terminologie der Angelsachsen hält: diese nämlich verwenden den Begriff „nationalism" eben in jenem ambivalenten Sinn, weil sie — bei all ihrem unreflektierten Nationalismus — nicht so leidenschaftlich in den Nationalismus verstrickt worden sind wie die Kontinentaleuropäer, Innerhalb dieses Oberbegriffs, der sonst fehlen würde, muß erst zwischen verschiedenen Graden und Arten des Nationalismus unterschieden werden, die natürlich der verschiedenen moralischen Beurteilung unterliegen. Das ist sowohl soziologisch als auch pädagogisch richtiger und fruchtbarer.
Die Voraussetzung der Demokratie: Hingabe an eine überindividuelle Ordnung
Daraus ergibt sich eine zweite These für die hier in Rede stehende Theorie des Nationalismus:
Wenn heute nämlich die Sorge unserer politischen Pädagogen nicht mehr so sehr einem nationalen Fanatismus gilt als vielmehr dem Mangel an politischem Interesse und Engagement gerade unter der gebildeten Jugend, so liegt das an der — aus der Zeitlage verständlichen — Vernachlässigung eines wichtigen politisch-pädagogischen Prinzips: dem zur Skepsis gegen die überlieferten Gewalten und zu freier individueller Entscheidung Erzogenen fehlt der Antrieb zu diesem Engagement, wenn er nicht zugleich das Bild einer der Hingabe werten Ordnung erfahren und die Fähigkeit zur Hingabe an sie entwickelt hat. Hier ist wiederum die gleiche anthropologische Gegebenheit Grundlage sowohl jenes unerläßlichen Engagements als auch seines Umschlags in Fanatismus. Darum liegt der pädagogische Ansatz an einer anderen Stelle als bisher gesucht: nicht im Rückzug auf das sich selbst bestimmende Individuum, sondern in der richtigen Rangordnung der dem Menschen notwendigen Bindungen an überindividuelle Gegebenheiten, Gruppen, Institutionen, Ordnungen. Denn der Mensch bedarf der Bindung an eine solche überindividuelle Gruppe oder Ordnung. Aus dem Dienst an ihr rechtfertigt er sich, gewinnt er das notwendige Selbstwertgefühl, schöpft er den Sinn seines Lebens, der nicht einfach in der Befriedigung individueller Bedürfnisse bestehen kann. Erst die Integration in eine solche das Individuum bindende und verpflichtende Gruppe oder Gemeinschaft, die als wertvoll empfunden und geliebt wird, veranlaßt den einzelnen zu jenem Verhalten, das die Pädagogen als politisches Engagement bezeichnen und anstreben. Eine Gesellschaft von nach gut gelernten Spielregeln konkurrierenden Egoisten ist noch kein demokratischer Staat und noch keine Nation.
Daß dabei die eigene Gruppe, Gesellschaft oder Nation als besonders wertvoll empfunden wird, ja den andern gegenüber mit einem bestimmten Vorzug ausgezeichnet erscheint, mag auf der einen Seite den Ausgangspunkt zu jener maßlosen nationalen Selbstüberschätzung bilden, die ein Volk verblendet, um es zu vernichten; es ist doch zugleich auch die Vorbedingung für die Hingabe, die „Liebe" zu dieser Gruppe oder Nation, die eine solche Gruppe erst integriert, eine Nation zur Nation macht.
Darin liegt ein allgemeines Konstruktionsprinzip der menschlichen Gesellschaft und nicht an sich schon Hoffart oder Dünkel. Selbst der Kosmopolit, der über das nationale Vorurteil erhaben ist, sein Volk hätte besondere Vorzüge vor den anderen Völkern, fühlt sich doch als Glied einer Gruppe von Menschen, die mit ihm gemeinsam nationale Vorurteile bei den anderen, noch nicht Aufgeklärten, bekämpft. Diese Zugehörigkeit zu den Fortschrittlichen, über das Vorurteil Erhabenen, ist seine Rechtfertigung und die Quelle seines Selbstwertgefühls. In der psychologischen und sozialpsychologischen Literatur ist es üblich geworden, ein solches Bedürfnis nach Sicherung und Bestätigung des Ich durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe als das Kennzeichen einer weniger vollkommenen, nicht souverän rationalen, einer „ichschwachen", autoritätsbedürftigen Persönlichkeit darzustellen, als die Schwäche eines primitiven, minderwertigen Persönlichkeitstyps, die durch Erziehung und Aufklärung allmählich verdrängt werden könne, ähnlich wie der Aberglaube durch naturwissenschaftliche Bildung mit der Zeit zurückgedrängt worden ist
Allein das ist nur die eine Seite des hier vorliegenden sozialpsychologischen Sachverhaltes. Wer nämlich die Hingabe an überindividuelle Ordnungen so ins Reich der menschlichen Schwäche und Pathologie verweist, dem muß das Werk der Religionsstifter und Staatsgründer, der Erwecker von Volkern und geistigen Bewegungen als Ausfluß ichschwacher, pathologischer Persönlichkeiten erscheinen, als Versäumnis der Erziehung und Aufklärung, die doch die Menschheit von dem Bedürfnis nach Selbstbestätigung durch Hingabe allmählich hätten befreien sollen. Die großen gesellschaftlichen Gruppen, Religionen, Nationen, Träger von Kulturen, und damit diese Kulturen selbst, wären so das Ergebnis eines noch unterentwickelten Menschentyps. Jeder weiß, daß solche Zusammenhänge bestehen. Aber sind dann nicht jene Schwäche der Persönlichkeit, jenes Autoritäts-und Hingabebedürfnis — bei allen Problemen, die sie aufwerfen — notwendige Bauelemente, unentbehrliche Bindemittel für das Zustande-kommen von Gesellschaften und Kulturen: nicht nur Fluch, sondern auch Segen für die Menschheit? Auch hier also darf sich die politische Pädagogik ihre Aufgabe nicht zu leicht machen. Ihre Kunst wird in dem Gleichgewicht bestehen, das sie zwischen der Vorurteilsfreiheit und Selbstbestimmung des Individuums auf der einen Seite und der Hingabefähigkeit an überindividuelle Ordnungen auf der andern herzustellen weiß.
Sache des Volkscharakters oder der Situation?
Man fragt sich — und das führt zu einer dritten These unserer Überlegungen —ob eine sozialpsychologische Typologie, die einen ichschwachen, autoritätsbedürftigen Persönlichkeitstyp postuliert, überhaupt berechtigt ist. Pädagogisch unfruchtbar ist sie auf jeden Fall. Zum Begriff eines Persönlichkeitstyps gehört es nämlich, daß er sich nicht in einen andern Typ dieser Art verwandeln kann: Der Leptosome kann nicht zum Pykniker, der Melancholiker nicht zum Sanguiniker werden. Der Wandel von einem ichschwachen, bin-dungs-und autoritätsbedürftigen Zustand zur individuellen Entscheidungsfreiheit und -fähigkeit aber ist eine wichtige und realisierbare Aufgabe politischer Erziehung.
Jene Typologie erinnert vielmehr an das Verfahren, das in der außenpolitischen Propaganda mancher Nationen noch üblich ist, wenn sie friedliebende von kriegslüsternen Nationen unterscheidet. Ob friedliebend oder aggressiv, das hängt nicht von einem — wissenschaftlich ohnehin fragwürdigen — Volkscharakter ab, als vielmehr von der Situation, die ein Volk oder eine Gruppe, welcher Art immer, friedlich oder aggressiv, weltbürgerlich oder nationalistisch reagieren läßt.
Die Geschichte zeigt, wie sich die gleiche Nation in einer bestimmten Lage so, in einer andern entgegengesetzt verhält. Wir sehen verschiedene Nationen auf die gleiche Lage ähnlich reagieren. Nicht nur auf Nationen, sondern auch auf Gruppen anderer Art wirkt ein Druck von außen, eine Bedrohung ihrer Existenz, eine Verletzung ihres Selbstbewußtseins im Sinne einer Steigerung der Integrationskräfte, einer Erhitzung des Nationalismus. Gefestigte und gereifte, im Besitz eines sicheren Nationalstaats befindliche Nationen wundern sich über den leidenschaftlichen Nationalismus solcher Völker, die sich erst im Stadium des Erwachens, der Abgrenzung gegen die Umwelt, des Ringens um einen eigenen Nationalstaat befinden. Sie vergessen meist, daß sie in dem entsprechenden Stadium ihrer Selbstkonstituierung einen ähnlichen Nationalismus zur Schau getragen haben und in einer jederzeit möglichen Extremsituation vor seinem Wiederaufflammen selber nicht sicher sind.
Einige Illustrationen zu diesen Reaktionsweisen: Nicht nur das „Volk der Denker und Dichter" ist — durch Machteinsatz zu einem Nationalstaat gelangt — unter dem Eindruck, bei der Verteilung der Welt zu spät gekommen und dazu von Feinden umringt zu sein, zu einem leidenschaftlichen, kriegs-und todbereiten Nationalismus erwacht; auch die Juden, in der tausendjährigen Zerstreuung zu duldenden Aposteln des Weltfriedens und der Völkerverständigung geworden, halten ihren von allen Seiten bedrohten Nationalstaat Israel nur mit Hilfe eines Nationalismus, der überraschend viele — sogar militaristische — Züge mit dem Nationalismus anderer Nationen gemein hat. Auf die Niederlage von 1871 haben die Franzosen im Prinzip nicht viel anders reagiert als die Deutschen auf die ihre von 1918: mit einer Dolchstoßlegende, mit Antisemitismus (Dreyfus-Affäre), mit dem Streben nach Erneuerung vergangener, vermeintlich national echterer Zustände (die Franzosen: des mittelalterlichen, königlichen Frankreich, die Deutschen: des vorchristlichen Germanentums), schließlich mit der Beschwörung mystischer Kräfte (ob „la terre et les morts" oder „Blut und Boden") und sogar mit der Herausstellung eines charismatischen Führers. Für die stimulierende Wirkung von Druck und Gefahr auf den Nationalismus brauchen wohl kaum noch Beispiele angeführt zu werden: Was die Koalitionskriege in den Heeren der Französischen Revolution wecken, ist Nationalismus. Die Unterwerfung durch Napoleon läßt den deutschen Nationalismus erwachen. Die Hitlersche Invasion rettet den Stalinismus, indem sie den unwillig Ertragenen mit der altrussischen Reaktion gegen den Antichrist aus dem Westen versteift.
Höchst aufschlußreich für diese Abhängigkeit des Nationalismus — nicht von einem vagen Volkscharakter, sondern von der geschichtlichen Situation — ist die Selbstkonstituierung der modernen Nationen, die als nationales Erwachen oder Risorgimento wie eine Kettenreaktion von West nach Ost durch Europa ging, um sich heute in Asien und Afrika in Gestalt der Emanzipation von den Kolonial-mächten fortzusetzen. Sie hat sich überall in den gleichen Phasen und Formen vollzogen und hat überall den gleichen Typ von Nationalismus hervorgerufen, den man als Risorgimento-Nationalismus von anderen seiner Erscheinungsformen unterscheiden kann. Dieser Vorgang läßt sich nicht mit dem plötzlichen Auftreten von Massen autoritätsbedürftiger Persönlichkeitstypen erklären, sondern nur mit dem Übergang zur industriellen Produktion. Sie nämlich erfordert, an Stelle früherer, der Agrarwirtschaft adäquater, feudaler Gesellschaftsstrukturen, die Integration aller Bevölkerungsschichten in eine mit gemeinsamem Bewußtsein und Willen erfüllte, arbeitsteilige Gesellschaft. Eine solche Integration konnte nur mit Hilfe einer Ideologie erfolgen, und diese Ideologie war der Nationalismus. An anderer Stelle habe ich dieses Erwachen der Völker in seinem Zusammenhang und die nach Zeitstil und Situation jeweils verschiedene, im ganzen aber gleiche Rolle des Nationalismus darin darzustellen versucht
Das in Europa offensichtlich schon eingetretene Ende des Risorgimento schafft zusammen mit der inzwischen erfolgten Weiterentwicklung der Technik, die eine Selbstverteidigung und Wirtschaftsautarkie in der Größenordnung der bisherigen Nationalstaaten illusorisch macht, eine für die Überwindung des Nationalismus höchst fruchtbare Situation. Sie zwingt — über Ehrgeiz und Sentimentalität des Risorgimento-Nationalismus hinweg — zu größeren Zusammenschlüssen und relativiert die bisher zu Religionen hochgespielten Nationsbegriffe. Es macht schon viel aus, wenn die Gedanken der Völker nun auch um größere Einheiten zu kreisen beginnen, wie Europa oder wie die ideologisch begründeten Großnationen des heraufsteigenden Zeitalters, auch wenn das zunächst nur die Überwindung des einen Nationalismus durch einen andern bedeutet. Im Westen sind so immerhin schon Zusammenschlüsse ehemaliger „Erbfeinde"
möglich geworden; im Osten, wo der Risorgimento-Nationalismus — etwa im deutsch-tschechischen und im deutsch-polnischen Verhältnis — noch lebendiger, zum Teil auch künstlich konserviert ist, wird gleichwohl der gegenseitige Haß als Ergebnis einer Ausnahme-Situation, eben der des Risorgimento, erkennbar.
Für eine politische Pädagogik, die das Verhältnis zur eigenen Nation wie zu den anderen Völkern normalisieren will, ist eine aus solchen Zusammenhängen gewonnene Erkenntnis von der Epochen-und Situationsbedingtheit des Nationalismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen von grundlegender Bedeutung. Gerade die porträthaften Züge, mit denen einzelne Nationen bei der Schilderung ihres Risorgimento hervortreten, erwecken Verständnis und Respekt für sie, lassen den Einsatz für sie als sinnvoll, aber auch den Risorgimento-Nationalismus als zeit-typisch und relativ erkennen. Es ist experimentell nachgewiesen worden, daß derart sachliche, die Völker als Gestalten, in ihren Möglichkeiten und Grenzen hervortreten lassende Darstellungen ein dauernderes Verhältnis der Achtung zu ihnen stiften als das übersehen ihrer Verschiedenartigkeit oder eine Verwischung ihres Gruppencharakters
An diesem scheinbaren Paradox zeigt sich wiederum das oben schon angedeutete Geheimnis der politischen Pädagogik: Nicht das Verschweigen der im Bereich des Nationalen gegebenen Tatbestände, der großgruppenhaften Gliederung der menschlichen Gesellschaft, sondern im Gegenteil: die Einordnung dieser Tatbestände in ein Gefüge von Werten und Normen, in eine Rangordnung, das die Nationale relativiert und ihm doch eine Funktion zuweist, ist die beste Gewähr sowohl gegen die Absolutsetzung des Nationalen wie gegen den Verlust der Hingabefähigkeit an über-individuelle Institutionen und Ordnungen.
Der integrale Nationalismus
An solchen Prozessen der Nationbildung oder Ethnogenese, aber auch an den dabei auftretenden Krisen, läßt sich die Grenze ablesen, an der die für das Zustandekommen einer Nation notwendige Integrationskraft in jene exzessive Form des Nationalismus um-schlägt, die die Nation vernichtet, indem sie ihr die moralische Grundlage entzieht. Für eine politische Pädagogik, die sich ihres Problems, nämlich des Gleichgewichts zwischen individueller Selbstbestimmung und Hingabe-fähigkeit an die überindividuelle Ordnung, bewußt ist, kommt es auf die Bestimmung dieser Grenze wesentlich an.
Diese Grenze ist dort erreicht, wo — in einer Extremsituation der Niederlage, der Bedrohung von innen oder außen oder der Krise des Selbstbewußtseins — die Nation absolut-gesetzt, an die Spitze der Werteordnung gerückt wird. Für diesen Umschlag in die Absolutsetzung der Nation gibt es gerade in der neueren europäischen Geschichte aufschlußreiche Beispiele: den französischen Nationalismus nach 1871, den deutschen Nationalsozialismus nach 1918. Nach dem klassischen französischen Modell dafür hat man diese Erscheinungsform des Nationalismus als den integralen Nationalismus bezeichnet.
Charles Maurras hat das Wort geprägt, Maurice Barres die Ideologie des integralen Nationalismus formuliert. An Barres ist deutlich zu erkennen, wie hier eine als relativ immerhin noch bewußte Kategorie, nämlich das Nationale, absolutgesetzt wird. Spätere Ausprägungen des integralen Nationalismus, etwa die nationalsozialistische, haben nicht einmal mehr ein Bewußtsein dieser Relativität und ihrer gewollten Überspielung besessen, weil sie an eine darüberstehende Ordnung nicht glaubten. Daß eine solche Absolutsetzung auch an anderen Kategorien vorgenom-men werden kann als an der nationalen, zeigt das Beispiel des Kommunismus, dessen Verheißung, die klassenlose Gesellschaft des kommunistischen Endzeitalters, ebenfalls zum obersten Wert und damit zum absoluten Maßstab der kommunistischen Moral erhoben worden ist. Nach ihr ist alles, was der Herbeiführung jener klassenlosen Gesellschaft, also dem Sieg des Kommunismus, dient, gut und gerechtfertigt, alles dagegen, was dieses Ziel verhindert oder verzögert, unmoralisch.
Die Absolutsetzung der Nation haben wir Deutschen am Nationalsozialismus erlebt. „Recht ist, was meinem Volke nützt", war die einprägsame Formel dafür. Sie macht deutlich, daß die Erhebung der Nation zum absoluten Wert das gesamte Werte-und Normensystem, also Recht und Moral, auf den einen absolut-gesetzten Wert ausrichtet, d. h. alle anderen, überlieferten, über die Nation hinausweisenden Werte-und Normensysteme außer Kraft setzt. Damit wird jeder Heroismus und jede Selbstaufopferung, aber auch jedes Unrecht und jedes Verbrechen im Dienst der Nation gerechtfertigt, ja zur Pflicht erhoben. Freiheit und Leben des einzelnen, die Existenz ganzer Gruppen und Völker sind so dem einen absolutgesetzten Wert untergeordnet und damit geopfert worden.
Das politisch-pädagogische Problem an dieser Absolutsetzung einer Nation oder irgendeiner Idee, einer „guten" Sache liegt aber darin, daß sie oft gar nicht die Ausgeburt des verbrecherischen Sinnes von Bösewichten ist, die auf diese Weise das Böse zu oberst und das Gute zu unterst kehren wollen, sondern daß sie gerade einem hohen Gut zuliebe erfolgt. Darin eben liegt ihre faszinierende Wirkung zumal auf junge Menschen, und nicht auf die Schlechtesten, die sich — wenn sie nicht durch das Trauma einer ganzen Ge-neration dagegen immunisiert sind — nach gläubiger Hingabe an eine solche gute Sache, an ein faszinierendes, Kämpfe und Opfer erforderndes Ziel sehnen, dem zu dienen das Selbstwertgefühl begründet und das dem eigenen, noch unorientierten Leben Sinn und Richtung gibt. Hier scheint sogar — wie die zahlreichen Beispiele aus der Geschichte für einen solchen Vorgang lehren — eine Art Regelmechanismus der menschlichen Gesellschaft vorzuliegen, der auf diese Weise gesellschaftliche Gruppen zu außerordentlichem Einsatz aller Kräfte für irgendein gemeinsames Ziel, für die Selbsterhaltung oder Rettung einer bedrohten Gruppe veranlaßt. Toynbee hat diese Reaktionsweise von Völkern und Kulturen mit seinem Modell von der „challenge" und der Antwort darauf umschrieben und die Entstehung großer geschichtlicher Leistungen, Kulturen, Religionen darauf zurückgeführt.
Die pädagogische Antwort auf eine derart von einem absolutgesetzten Wert faszinierte, in Schuld und Mitschuld getriebene Generation mag dann darin bestehen, daß man diese oder die nachfolgende Generation gegen jede Wirkung dieser Art zu immunisieren sucht. Technisch gesprochen: man schaltet den Regelmechanismus aus, der die menschliche Gesellschaft steuert, sie in große, arbeitsteilige, zu vervielfachter wirtschaftlicher, kultureller, geistiger Leistung befähigte Gruppen gliedert. Aber es fragt sich, ob diese pädagogische Reaktion die einzig mögliche und ob sie richtig ist. Eine ihrer Wirkungen deutet sich in der unter Politikern und Pädagogen eben entbrannten Diskussion darüber an, wie der Mangel an dem für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unerläßlichen Gruppenbewußtsein — Nationalbewußtsein — zu beheben sei.
Dahinter aber steht die andere Frage, ob eine solche Ausschaltung von gesellschaftlichen Mechanismen und Konstruktionsprinzipien, auf denen das Leben und Funktionieren der menschlichen Gesellschaft beruht, auf die Dauer überhaupt möglich ist. Auch dafür nämlich gibt es in der Geschichte Beispiele genug, daß sich solche Konstruktionsprinzipien über kurz oder lang wieder Geltung verschaffen. Eine realistische Pädagogik wird also mit dem Kräftespiel rechnen, das in der menschlichen Gesellschaft wirkt, und es auf dem wünschenswerten Kurs zu halten, vor dem Umschlag ins Absolute zu bewahren suchen, anstatt eine utopische Welt anzusteuern, die aus lauter selbständig und kritisch denkenden, sich in jeder Situation völlig in der Gewalt habenden Individuen besteht.
Auf unser Problem angewendet: Die Korrektur für die Absolutsetzung der Nation kann nicht durch ihr völliges Gegenteil, also durch ihre absolute Leugnung erfolgen. Der integrale Nationalismus ist nicht durch einen a-Nationalismus zu überwinden. Es gibt nämlich kein ideologisches Vakuum: Das Nicht-vorhandensein eines Weltbildes, Werte-und Normensystems — also einer Ideologie — macht gegen Ideologien anfällig. Die Auflösung alter Bindungen und Strukturen ruft neue geradezu herbei, wie freigesetzte chemische Elemente danach streben, sofort wieder neue Verbindungen einzugehen. So waren die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Desintegration religiöser Verbände, die Abschaffung der Zünfte und der Patrimonialgerichtsbarkeit Vorbedingungen für das Entstehen der modernen, egalitären Nationen und ihres Nationalismus. Denn diese Emanzipationsprozesse erst setzten die Kräfte frei, die nun für die Integration in neue gesellschaftliche Gebilde, eben die bürgerlichen Nationen, zur Verfügung standen.
Es gehört also offenbar zur Eigenart der menschlichen Gesellschaft, in Großgruppen gegliedert zu sein und dazu immer neue, bald an diesem, bald an jenem Merkmal orientierte Integrationskräfte — Nationalismen — zu entwickeln. Daher besteht wenig Hoffnung auf ein endgültiges und vollständiges Ausbleiben jeder nationalismus-ähnlichen Integrationskraft. Der vermeintlich beseitigte Nationalismus wird in anderer Form, an Merkmalen anderer Art orientiert, aber mit den gleichen Wirkungen und Gefahren über kurz oder lang wieder da sein. Denn die in ihm ausgeprägte Integrationskraft großer Gruppen ist eines der Konstruktionsprinzipien der menschlichen Gesellschaft. Hier nun liegt ein entscheidendes Kriterium für die Überwindung des Nationalismus durch politische Erziehung. Eine Tabuierung, d. h. eine allgemeine, vage Verurteilung des Nationalismus, ist unrealistisch und gefährlich, weil sie notwendige Kräfte großgesellschaftlicher Integration und Struktur ignoriert. Mit einer pauschalen Ablehnung notwendiger gesellschaftlicher Konstruktionsprinzipien und Kräfte macht man die Überwindung des eigentlichen Übels unmöglich. Es ist vielmehr nötig, jene genaue Grenze zu kennen, an der die unentbehrliche Integrationskraft der gro-ßen gesellschaftlichen Gruppen durch deren Absolutsetzung in den integralen Nationalismus umschlägt.
Die pädagogischen Kräfte auf diese Grenze zu konzentrieren, den Umschlag an sich guter und in einer normalen Jugend lebendiger Kräfte in dieses Aussetzen der moralischen Schwerkraft an Gegenüberstellungen aus der kon-kreten, zum Teil erlebten Geschichte zu zeigen, das dürfte eine bessere Gewähr gegen die Absolutsetzung der Nation oder eines anderen Wertes bedeuten als die pauschale Ablehnung und Verächtlichmachung der die gesellschaftlichen Großgruppen integrierenden Kräfte wie der sie steuernden Gesetzmäßigkeiten.
Der Nationalsozialismus
Eine der Erscheinungsformen des integralen Nationalismus ist der deutsche Nationalsozialismus. Auch er hat nämlich die Nation absolutgesetzt und daraus die äußersten, von keinem anderen Volk so extrem übersteigerten Konsequenzen gezogen. Die Auseinandersetzung mit ihm, die Sicherung der Deutschen und der übrigen Welt vor seiner Wiederkehr, die Selbstreinigung vor der Schuld und Schande, die er über die Deutschen gehäuft hat, ist eine der wesentlichsten Aufgaben, die der politischen Erziehung der Deutschen gestellt sind. Darum können Überlegungen, die dem Nationalismus als einem Problem der politischen Pädagogik gelten, an der Rolle nicht vorbeigehen, die der Nationalsozialismus in dieser politischen Pädagogik spielt. An seiner Überwindung muß sich diese Pädagogik bewähren.
Die Deutschen sind in ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus gespalten. Von seiner leidenschaftlichen Verurteilung, der schon die geistige Verwandtschaft mit einer der verschiedenen, von ihm usurpierten Ideen als moralischer Defekt gilt, bis zu seiner trotzigen Rechtfertigung gibt es die verschiedensten Grade und Färbungen. Die „Bewältigung der Vergangenheit" fällt besonders der Generation schwer, die ihn noch miterlebt, zum Teil miterlitten, zum Teil aber auch mitgetragen hat. Gradmesser für ihre Unausgeglichenheit ist auch das schwierige Verhältnis zu den unmittelbaren Opfern des Nationalsozialismus, den Juden, die zwischen überströmendem Schuldgefühl und verstockter Ablehnung wie von einem Tabu umgeben sind.
Einer wirklichen Bewältigung dieser Vergangenheit steht die Emotion beiderlei Art im Wege. Denn solange der Nationalsozialismus nur dem moralischen, nicht aber dem historischen Urteil unterworfen und die dem Historiker notwendige Verstehenshaltung als Sympathie für ihn und damit schon als moralischer Defekt gedeutet wird, ist gerade das nicht möglich, was allein die Voraussetzung für eine wirkliche Überwindung dieses Phänomens darstellt: eine sachliche Analyse.
So verständlich und achtungswert die Ablehnung des historischen und die alleinige Geltung des moralischen Urteils über den Nationalsozialismus erscheint: sie ist nicht nur jener „Bewältigung der Vergangenheit" durch die beteiligte Generation hinderlich, sie erweist auch der politischen Erziehung der kommenden einen schlechten Dienst. Einmal nämlich verfehlt eine Schwarz-Weiß-Technik, wenn sie das abzulehnende Verbrechen nicht psychologisch verstehbar macht, ihren Zweck. Ein Seelenkenner wie Shakespeare hat darum die abscheulichsten Verbrecher als Menschen psychologisch verständlich gemacht und erst dadurch wirklich Abscheu vor dem Verbrechen erregt; er wußte, daß unverständliches Böse-sein die notwendige Identifikation nicht zustande kommen läßt und daß es erst diese Selbstidentifikation mit dem Übeltäter ist, die es dem Menschen ermöglicht, das analoge Böse in der eigenen Seele zu überwinden. Zum zweiten aber gewinnt eine Erscheinung wie der Nationalsozialismus, wenn sie als das absolut und unverständlich Böse wie außerhalb der Geschichte angesiedelt wird, einen dämonischen Charakter. Das Dämonische aber entzieht sich dem sittlichen Urteil. Es bleibt für die Entwicklung von Abwehrkräften im Menschen bedeutungslos. Erste Voraussetzung einer wirklichen politischen und moralischen Überwindung des Nationalsozialismus ist also sein Einbau in einen verstehbaren Geschichtsablauf.
Es gibt Versuche eines solchen Einbaues, die — gerade weil sie nicht zu früh und nicht ausschließlich mit moralischen Urteilen an den Gegenstand herangehen — keineswegs eine Rechtfertigung oder Verharmlosung des Nationalsozialismus bedeuten. Den einleuchtendsten davon stellt die Deutung der neueren europäischen Geschichte als einer Folge von Hegemonialkriegen dar, wie sie Ludwig Dehio in seinem Buch „Gleichgewicht oder Hegemonie" unternommen hat
Es könnte nun scheinen, daß es diese Einordnung des Nationalsozialismus — sowohl in einen allgemein europäischen Geschichtsverlauf als auch in die Parallelität der großen ideologiegesteuerten Systeme — der politischen Pädagogik erschweren müßte, ihre Zöglinge gegen ähnlich totalitäre Systeme kritisch zu machen und zu immunisieren. Das Gegenteil ist der Fall:
Einmal schon, weil — wie erwähnt — das sittliche Urteil durch Dämonisierung des zu verurteilenden Gegenstandes ausgeschaltet wird. Ein unverständliches, dämonisches, außerhalb der Geschichte stehendes Übel wird — man kann das in Diskussionen mit intelligenter Jugend beobachten — nicht nur mit naiver Selbstgerechtigkeit abgelehnt, sondern auch mit einer trügerischen Selbstsicherheit, die die Gefahr im eigenen Innern, in der eigenen Gesellschaft und Generation nicht ahnt. Wer nämlich das Anliegen, mit dem der Nationalsozialismus Millionen, auch Gutgläubiger, faszinieren konnte, nicht versteht, dem fehlt — um es mit einem Bild zu sagen — der Primäraffekt, der für die Immunisierung gegen Tuberkulose Voraussetzung ist. Zum andern wird eine größere Differenzierung des Bildes vom Nationalsozialismus der politischen Pädagogik ihre Aufgabe leichter machen als jener unscharfe, einheitliche Block, in dem alle nur irgendwie „nationalen" Ideen und Bewegungen unter dem Schlagwort Nationalsozialismus subsumiert und tabuiert worden sind, auch wenn sie ihm innerlich fremd, ja feindlich gegenüberstanden und von ihm teils usurpiert, teils bekämpft und unterdrückt wurden. Wer will es denn heute wahrhaben, daß unter den Motiven der Widerstandskämpfer die Sorge um die Nation, um ihre Existenz und Ehre, eine hervorragende Rolle spielte! Wie falsch ist es etwa, die in den zwanziger und dreißiger Jahren noch mögliche Idee von der Gesundung der Gesellschaft durch Rückkehr zur bäuerlichen Scholle schlechthin mit nationalsozialistischer Bluboromantik zu identifizieren, da es damals doch die europäische Bewegung des Ruralismus gab, da die Formel „la terre et les morts" ähnliche Gedanken enthielt und da sowohl Makarenkos pädagogische Mission wie der Aufbau des Staates Israel durch die Chaluzim aus den gleichen Quellen schöpften. Natürlich ist das alles heute durch Technisierung und Strukturwandel der Landwirtschaft überholt; es ist trotzdem historisch falsch, es allein dem Nationalsozialismus als Fehler oder Verdienst anzurechnen. Ähnliches gilt von der Jugendbewegung, die als Vorläuferin des Nazismus zu definieren ebenso verworren ist wie ihre Erklärung aus der Homoerotik. Man macht es sich zu leicht, die — möglicherweise guten — Argumente gegen einen Arbeitsdienst von Jugendlichen durch den schlichten Hinweis zu ersetzen, er sei eine Erfindung des Nationalsozialismus: er ist es nicht. Schließlich ist eine zu ausschließliche Identifizierung der Weimarer Republik mit Demokratie schlechthin pädagogisch ungeschickt: Nicht alles, was damals für den Reichsgedanken (als Überwindung des Nationalstaats), für eine konservative Revolution (welche Parallele zum Gaullismus!) oder für eine Erneuerung aus den Kräften des Volkstums eintrat, war nationalsozialistisch; oft war es das Gegenteil davon, was Hitler genau wußte.
Der heutigen jungen Generation ist vielfach gar nicht mehr verständlich, was hinter solchen, im Trauma nach 1918 gewiß oft schwärmerischen und nebulösen Ideen gesucht wurde: eine Gesundung der von Desintegration bedrohten Gesellschaft aus den — wie man damals sagte — organischen Kräften der Familie, der Gemeinde, des Standes, der Geschichte, eines Volkstum genannten Gefüges von Gruppen und Gemeinschaften, die sich selbst von unten auf formten und verwalteten. Gerade hinter dem Begriff Volkstum standen also oft tief verwurzelte demokratische Traditionen, die — wie die der Siebenbürger Sachsen, aber auch verschiedener binnendeutscher Stämme — älter waren als die Weimarer Demokratie. Davon hat etwa Theodor Heuß sehr viel mehr verstanden als jene Politologen, die nur den einen Typ der Demokratie kennen und anerkennen und Vorbehalte gegen ihn als schlechthin antidemokratisch bezeichnen. Solche Simplifizierungen tauchen das öffentliche Leben in eine Atmosphäre der Ketzerriecherei und erinnern in ihrer Methode verzweifelt an den Stil des zu bekämpfenden Gegners selbst, der ja auch alles, was ihm nicht paßte, mit „Juden, Jesuiten und Freimaurern" in einen Topf warf. Die Kunst politischer Führung und Erziehung besteht demgegenüber gerade darin, zu differenzieren, in unserem Falle: das, was wirklich Nationalsozialismus ist, eng und scharf herauszuarbeiten, allem andern aber die Möglichkeit zur Selbstklärung und zur Eingliederung in die demokratische Gesellschaft zu geben.
Für eine theoretische Bewältigung des Phänomens Nationalsozialismus, die als Voraussetzung einer darauf gerichteten Pädagogik unerläßlich ist, werden also vor allem zwei Dinge geleistet werden müssen: einmal der Einbau des Nationalsozialismus in einen verstehbaren Geschichtsablauf, zum andern eine schärfere Differenzierung der Erscheinungen, die nach 1945 aus begreiflichen Gründen in einen undifferenzierten Komplex zusammengeworfen und mit einem Tabu umgeben worden sind, das sich nunmehr als ein Hindernis für die wirkliche geistige Bewältigung dieser Vergangenheit wie für die politische Erziehung überhaupt erweist.
Nationalismus im internationalen Vergleich
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist gewiß das zentrale, aber nicht das einzige Problem dieser politischen Pädagogik. Eine Theorie des Nationalismus, die für eine solche Pädagogik die notwendigen Voraussetzungen schaffen will, darf sich nicht völlig von diesem zeit-und situationsbedingten Problem beherrschen lassen. Sie muß zunächst viel mehr, als es in der Diskussion über Nation und Nationalismus üblich ist, mit internationalen Vergleichen arbeiten.
In Gesprächen mit jungen Deutschen, die von Nation und von irgendeiner Bindung an sie nichts wissen wollen, weil sie das alles für nationalsozialistisch oder überholt halten, fällt es auf, wie wenig sie oft gerade in diesen Fragen über die eigene nationale Erfahrung hinausblicken können. So erscheint ihnen zum Beispiel das nationale Pathos in deutschen Reden und Gedichten des 19. Jahrhunderts als eine deutsche Eigenart; sie belachen sie oder entrüsten sich darüber, als wäre es eine eigene Schwäche, die es zu überwinden gälte oder die nun glücklich überwunden sei. Ernst Moritz Arndts Aufforderungen zur deutschen Einheit über Stämme und Kleinstaaten hinweg, selbst die umstrittene deutsche Nationalhymne, werden als Äußerungen eines unerträglichen Pathos und sittlich fragwürdigen Nationalismus mit moralischer Entrüstung abgelehnt, einfach deswegen, weil die heutigen, gegen all das allergischen Deutschen übersehen, daß es sich hier um den im 19. Jahrhundert bei allen Völkern üblichen Zeitstil handelt und daß solche, heute kitschig oder überheblich anmutenden Äußerungen überall die zeitbedingte Aufgabe hatten, die neu auftretenden bürgerlichen Gesellschaften zu Sprachvölkern und Nationalstaaten zu organisieren. Erst mit Hilfe internationaler Vergleiche kann also die politische Pädagogik ihren Zöglingen Einsicht in den richtigen Stellenwert, in die Relativität, aber auch in die innere Notwendigkeit der nationalen Integration und Selbst-konstituierung vermitteln. Ihre theoretischen Grundlagen können darum nicht breit genug angelegt sein. Die Theorie des Nationalismus wird sich zu einer Theorie der sozialen Gebilde erweitern müssen, an denen der Nationalismus in Erscheinung tritt, die er integriert und desintegriert, entstehen, Geltung gewinnen und zugrunde gehen läßt. Mit anderen Worten: soweit die politische Pädagogik mit dem Problem Nationalismus konfrontiert ist, bedarf sie des Unterbaus durch eine Theorie der großen, politisch relevanten Gruppen.
Um eine Soziologie der Großgruppen
Eine solche Theorie ist allerdings — trotz bedeutsamer Ansätze, etwa bei Max Weber — erst in den Anfängen. Dafür sind wahrscheinlich zwei Gründe maßgebend: Einmal hat sich die Soziologie in den letzten Jahrzehnten vornehmlich mit der kleinen Gruppe, ihrer Dynamik, ihrem Zusammenhalt, ihrer arbeitsund rollenteiligen Funktion beschäftigt und dabei wichtige Einsichten gewonnen, die sich freilich nicht ohne weiteres auf Großgruppen übertragen lassen. Zum andern aber hat es die Soziologie, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, vor allem mit den gesellschaftlichen Problemen zu tun gehabt, die sie in ihrer Entstehungszeit, im 19. Jahrhundert, vor-fand: mit der Gliederung der Gesellschaft in soziale Schichten und mit den zwischen diesen herrschenden Problemen und Antagonismen. Die Gliederung der Gesellschaft in Nationen blieb als Thema vor allem der Historie überlassen. Nur bestimmte Konfliktsituationen und Konfliktzonen — etwa Nationalitäten-und Rassenprobleme — haben soziologische Studien größeren Umfangs über dieses Nebeneinander von Gruppen hervorgerufen.
Soweit es eine Soziologie der ethnischen, nationalen oder nationähnlichen Großgruppen gibt, ist ihre Bedeutung für die Politik — etwa bei der Regelung von Rassen-oder Nationalitätenproblemen — wie für die politische Pädagogik noch nicht hinreichend erkannt. Die politische Soziologie, so wie sie heute verstanden wird, beschäftigt sich — ihrer Mission für die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft, für das Funktionieren ihres Apparates bewußt — vornehmlich mit den großen Interessengruppen, Verbänden, Parteien, mit ihrer Willens-und Machtbildung, mit den zwischen ihnen herrschenden Spiel-und Kampf-regeln, mit den Institutionen der Machtverteilung und Machtausübung. Konflikte zwischen nationalen und nationähnlichen Gruppen, Nationalitäten-und Rassenprobleme sind von dieser Thematik aus mehr als moralische oder intellektuelle Defekte, als Rückstände alter Gesellschaftsformen verstanden worden, die im Abbau begriffen seien, und werden charakteristischerweise in soziologischen Handbüchern — wenn überhaupt — unter dem Stichwort „Vorurteile" behandelt. Dabei handelt es sich doch um eine immanente Großgruppendynamik, um anthropologische und soziologische Sachverhalte, Gesetzlichkeiten, Verhaltens-und Reaktionsweisen, die nicht durch Aufklärung oder gutes Zureden außer Kraft gesetzt, wohl aber erforscht und gesteuert werden können.
Eine Soziologie der nationalen und nation-ähnlichen Großgruppen, die der politischen Pädagogik als Grundlage für ihre Auseinandersetzung mit dem Phänomen Nationalismus dienen könnte, hätte also zunächst die Aufgabe, den ganzen hier in Rede stehenden Bereich von dem Gewirr an Vorurteilen, an festen emotionalen und moralischen Akzenten, an Begriffen, die vom moralischen Urteil aus und nicht von der Logik gebildet sind, zu säubern, und jene soziologische Anthropologie zu entwickeln, von der aus erst an den Menschen bestimmte Forderungen gerichtet werden können. Erst wenn die gesellschaftlichen Konstruktionsprinzipien, die darin wal-tenden. sozialpsychologischen Regelmechanismen bekannt sind, dann kann jener Bereich sauber herausgegrenzt und unmittelbar erzieherisch gestaltet werden, der der freien Willensentscheidung des Menschen unterliegt.
Im zweiten Band meiner Studie über den Nationalismus habe ich eine solche Soziologie der nationalen und quasinationalen Groß-gruppen, vor allem auf empirischem Material aus der Geschichte des Nationalismus aufgebaut, zu entwickeln versucht
Jedenfalls wird es die Aufgabe einer Soziologie der Großgruppen und der sie zusammenhaltenden Kräfte sein, eine neue Phase der politischen Erziehung unterbauen zu helfen. Daß heute ein kritischer Punkt des Über-gangs zu einer solchen Phase erreicht ist, scheint aus den eingangs erwähnten Hinweisen führender Politiker, aber auch aus der Frage vieler Pädagogen hervorzugehen, wie denn in der jungen Generation politisches Interesse und Engagement zu wecken sei. Dazu ist mehr notwendig als der Wille zur Selbstbehauptung des Individuums gegen autoritäre Tendenzen im Staat und im eigenen Innern. Es bedarf dazu des Bildes einer überindividuellen Ordnung, die den einzelnen verpflichtet und ihn im Dienst an ihr eine Lebensaufgabe finden läßt. Das sollte nicht der gegenwärtige Zustand der Gesellschaft oder des Regimes sein, den es zu verteidigen, gelte, noch weniger einer der durch Mißbrauch abgewerteten Begriffe wie Volkstum und Vaterland. Es sollte eher das Bild einer zukünftigen Ordnung sein, die erst durch Kämpfe und Opfer, und eben auch durch jenes Interesse und Engagement, zu erreichen ist. Ein solches Bild wird die lange verschwiegene Stufe der Nation als der unmittelbar verpflichtenden Ordnung nicht umgehen dürfen. Aber es wird sie in höhere, noch zu verwirklichende Ordnungen eingebaut zeigen, vor allem aber in ein über den Nationen stehendes System von Normen, das eine Nation nicht ungestraft außer Kraft setzen darf, indem sie sich selbst absolutsetzt.