Nach Arnold Bergstraesser erstrebt politische Bildung „eine innere Form der Persönlichkeit, welche befähigt, auf politische Entscheidungsfragen adäquat und zugleich produktiv einzugehen"
Wir wollen versuchen, unter allem Vorbehalt begrenzter persönlicher Sicht, hier eine Antwort zu geben, wobei wir zunächst klären müssen, was mit Politik in Hinsicht auf politische Bildung gemeint ist.
Das Politische in katholischer Sicht Über den Begriff der Politik ist viel geredet, geschrieben und gestritten worden. Man wird jedoch sagen dürfen, daß in Hinsicht auf die politische Bildung größere Einigkeit besteht als etwa in der juristischen Staatslehre. Gleichwohl sind auch unter unserem eingeschränkten Zweck die Meinungsverschiedenheiten noch groß genug
Die von Carl Schmitt ausgehende Definition der Kontinuierung von Politik durch ein Freund-Feind-Verhältnis darf jedenfalls für den Bereich der politischen Bildung als überwunden angesehen werden. Nach dem letzten Weltkrieg hat in Deutschland in der Theorie der politischen Bildung eine Sicht der Politik Bedeutung erlangt, die in der Harmonie der Menschlichkeit das Wesentliche erblickt und politische Bildung auf Erziehung zu dieser Harmonie aufzubauen trachtet. Gemeint ist die von Oetinger
Eine weitere Richtung versucht, das Politische von der Institution des Staates aus zu erfassen. Dabei wird jedoch heute die staatsbürgerliche Erziehung der Weimarer Republik übereinstimmend kritisiert, weil sie nur die Autoritätsstruktur und die statischen Elemente des Staates in den Blick genommen und dabei ungewollt ein steril verzerrtes Bild des Ganzen aufgerichtet hat. Grabowsky
Das katholische Denken hat in demselben Sinne das Wesen des Politischen immer mit dem Phänomen des Staates mehr als mit dem der Macht oder des Sozialen verbunden gesehen. Allerdings neigt sie nicht dazu, die „Bewegung" im Staat ausschließlich als das eigentlich Politische zu sehen. Sie sieht im demokratischen wie im anders geordneten Staat das Element der Bewegung als eines an, was neben dem anderen, dem statischen Element zu sehen ist. Auch der demokratische Staat, der Staat in der pluralistischen Gesellschaft, der Staat in einer Gesellschaft mit vielerlei treibenden Gruppen und Verbänden, bleibt Staat mit natürlichem Autoritätsanspruch und darauf aufbauenden Ordnungsund Bewahrungsaufgaben. Auch der demokratische Bürger muß sein „produktives Eingehen" auf die Politik im Sinne von Arnold Bergstraesser häufig in der Anerkennung der beharrenden Ordnung leisten, nämlich im Gehorsam. Zweifellos ist diese Seite der Einordnung des einzelnen in den staatlichen Verband in der katholischen Staats-und Sozial-lehre des 19. Jahrhunderts vielfach überbetont worden, und man hat das Element der geschichtlichen Entwicklung, der Dynamik, zu wenig gesehen. Heute aber wird man sagen dürfen, daß in der katholischen politischen Ethik die Überbetonung des Statischen entschwunden und einer ausgependelten, gleichen Beurteilung von Statik und Dynamik in der Politik gewichen ist. Ob eine solche Ausgeglichenheit auch im allgemeinen in Deutschland festzustellen ist, bleibe dahingestellt.
Damit haben wir eine erste Begriffsbestimmung des Politischen aus dem Geiste des katholischen Gesellschaftsdenkens heraus angezielt. Das Wesen einer sittlich normativ gebundenen Sicht des Politischen ist damit jedoch noch nicht getroffen.
Wenn heute innerhalb der politischen Wissenschaften Theoretiker wie Eric Voegelin
Über den katholischen Gemeinwohlbegriff wird später noch eingehender zu reden sein.
Wenn man heute in der politischen Wissenschaft in der Theorie der politischen Bildung bei Hennis ebenso wie bei Sternberger wieder teleologische Gesichtspunkte als den Schwerpunkt des Wesens des Politischen in das Spiel bringt, nähert man sich der Sache nach an katholische Sozial-und Staatslehre an. Man gibt damit zugleich dem „Staat in Bewegung"
eine Richtung. Man eröffnet ein Gespräch mit der Sozialphilosophie, das auch neue Fragen an die christliche Ethik stellt. Die Frage, was z. B. Friede ist, woraus er im einzelnen besteht und wie er unter Menschen zu verwirklichen ist, kann nur unter Einschluß des Gesprächsbeitrages jener ethischen Grundhaltungen beantwortet werden, die in der zum Frieden strebenden Gesellschaft verwurzelt sind und zugleich für alle Menschen verstehbar gemacht werden können, die in dieser Gesellschaft leben. In diesem Sinne, als Beitrag der katholischen Kirche zum Gespräch über den teleologischen Wesenskern der Politik, kann auch wohl eine solch offizielle Äußerung des Papstes wie das politische Rundschreiben „Pacem in terris'1
Dieselbe Haltung der Gesprächsbereitschaft mit der Welt zeigt schließlich die erste Enzyklika Pauls VI. vom 6. August 1964
Mit dieser Definition der Politik nach katholischer Lehre haben wir zugleich einige Positionen in der heutigen politischen Theorie umrissen, nicht um darzutun, daß sich nun in unserer Gesellschaft das Denken auf die Grundlagen der katholischen politischen Ethik zu bewegt, sondern mehr, um daran im Wege der Unterscheidung die Sicht der katholischen Kirche aufzuzeigen. Wir kommen zu dem Ergebnis, daß unsere heutige pluralistische Gesellschaft mit dem katholischen Denkansatz zusammen leben und zusammen denken kann.
Die katholische Sozialethik ist in unserer (pluralistischen Gesellschaft realisierbar geblieben und ein Faktor eines auf die Sache bezogenen Gesprächs geworden.
Wenn auch manche Vorurteile und Voreingenommenheiten hier und da noch mii spielen, so darf die Situation im gesamten doch als nüchtern abgeklärt angesehen werden, besonders, wenn man etwa unsere Zeit mit der von vor 70 oder 80 Jahren vergleicht. Als Johannes XXIII. im Jahre 1961 sein Sozialrundschreiben „Mater et magistra" und später seine politische Enzyklika „Pacem in terris"
verkündete, war die gesamte Welt, die guten Willens ist, sehr aufgeschlossen zuzuhören, was der Papst zur Ordnung dieser Gesellschaft und zur Herstellung des politischen Friedens zu sagen hatte. Als vor mehr als 70 Jahren dagegen Leo XIII. als Schlußstrich seines großen staats-und sozialethischen Verkündigungswerkes die Sozialenzyklika „Rerum novarum" vorlegte, war die Welt keineswegs so offen dafür, sondern in großen Teilen von vornherein mit dem Vorurteil belastet, die katholische Kirche sei eine Kraft von gestern und könne darum zur Gestaltung des Heute von vornherein nichts Vernünftiges anzubieten haben.
Was ist christliche Politik?
Nach diesen kurzen Ausführungen zu dem, was Politik ist, ist nun die Frage nach dem spezifischen Gehalt einer christlichen Politik zu stellen, wie sie in der katholischen Kirche verstanden wird. Es dürfte selbstverständlich sein, daß es sich bei den nachfolgenden Ausführungen niemals um die Darstellung einer amtlich festgelegten Auffassung handeln kann. Es wird vielmehr versucht, aus der päpstlichen Lehre und der katholischen Sozial-wie Staatsphilosophie einen Extrakt der communis opinio zu ziehen, dem man aber ruhig in allen Einzelheiten und in jeder Einzelheit, besonders auf Grund persönlicher Gewissenshaltung, widersprechen kann. Fangen wir mit dem an, was christliche Politik nach katholischer Auffassung nicht sein kann und nicht sein darf
Christliche Politik ist nach katholischer Auffassung zunächst keine Politik, welche die Maßstäbe ihres politischen Tuns direkt oder gar ausschließlich aus dem Evangelium des Neuen Testaments zu nehmen versucht. In ihrer Unmittelbarkeit mag diese Feststellung zunächst überraschend sein und gar den Schluß nahelegen, also sei dann überhaupt christliche Politik ein Widerspruch in sich.
Diese Schwierigkeit löst sich aber sofort auf, wenn wir bedenken, daß Politik Gestaltung des Diesseits ist. Es darf nicht übersehen werden, daß das Neue ’ Testament den Christen nicht außerhalb der bestehenden weltlichen Ordnung stellt, sondern den Menschen durch die Gnade zugleich auf eine weitere, neue Ebene hinaufhebt. „Nicht zum Auflösen, sondern zum Erfüllen bin ich gekommen" (Matth. 5, 18), heißt es gerade in der Bergpredigt, die so oft Ausgangspunkt für solche Christen ist, welche mit dem Geist der Nächstenliebe allein die menschliche Ordnung gestalten wollen. Also ist kein Platz für alle Auffassungen, die glauben, das Evangelium gegen die irdischen Wirklichkeiten ausspielen zu können. Christliche Politik ist kein bequemer Weg, auf dem man es sich leisten kann, die Sachgerechtigkeit und Eigengesetzlichkeit der politischen Gestaltung gering zu erachten oder gar ganz links liegen zu lassen. Christliche Politik streicht im Gegenteil nichts ab von dem, was zur Eigenart und zum Wesen des Politischen gehört. Sie nimmt etwas hinzu, was das Ganze durchstrahlen und durchformen soll. Wie sich das im einzelnen auswirkt, davon später. Wir werden feststellen, daß eine Umordnung des Ganzen erfolgt, ohne daß die Eigengesetzlichkeit der Politik Schaden leidet.
Christliche Politik ist weiter keine Gruppen-politik der Christen gegen die Nichtchristen. Das müßte sich eigentlich schon aus dem Vorangegangenen ergeben haben. Wenn christliche Sicht der Politik nichts wegnimmt, ‘sondern eine neue Formkraft in das Ganze einbringt, dann sind die Ergebnisse auch immer für das Ganze gedacht und aus dem berechtigten Anspruch des Ganzen selbst entwickelt. Darum braucht der Nichtchrist keine Angst zu haben, daß er mittels einer Politik von Christen, die auch über sein politisches Schicksal mitbestimmen können, unversehens in ein christliches Leben eingeordnet werde, ohne es zu wollen. Also sind auch christliche Politik und weltanschaulich pluralistische Gesellschaft zwei Erscheinungen, die sich im Blick eines katholischen Politikers nicht zu stoßen brauchen. Er macht für das Ganze Politik, er kann und soll die soziale Wirklichkeit ganz so, wie sie ist, zur Kenntnis und zum Ausgang seines Tuns nehmen. Er fühlt sich selbst jedoch nach einer Wirklichkeit zudem verpflichtet, von der ein Nichtchrist nichts weiß oder gar nichts wissen will. Warum sollte man bestreiten, daß dem christlichen Politiker das Lebensrecht des Christen innerhalb der ganzen Ordnung ein besonders wesentliches Anliegen ist. So wie jeder Politiker, wenn er für das Ganze Politik zu machen sucht, alle mit einbezieht und doch besonders an das Recht der Menschen denkt, die in ähnlicher Lage sind oder aus gleicher Lage kommen wie er, so wird der Christ besonders an die Berücksichtigung des Lebensrechts der Christen denken, selbstverständlich unter voller Berücksichtigung des Lebensrechts aller anderen. Das hat eine ganz konkrete Folge. Der Politiker, der Christ ist, kennt die Kirche und sieht sie als eine Größe im gesellschaftlichen Geflecht an, der die Politik ebenso wie allen anderen gesellschaftlichen Größen Gerechtigkeit widerfahren lassen muß.
Christliche Politik ist schließlich kein Abzeichen, das sich solche Politiker anheften, die sich mehr dünken als ihre Kollegen. Jeder, der weiß, daß Christentum auf dieser Erde ein Anspruch an den Menschen ist, der über das Natürliche hinausgeht und vom einzelnen in aller Regel nicht vollkommen erfüllt wird — obwohl der Anspruch dahin geht —, der sollte eigentlich dem Mißverständnis nicht erliegen, eine bequeme Besserstellung in dem Prädikat des Christlichen zu sehen. Ein Staatsmann, Politiker, eine Partei, eine Gewerkschaft, die sich nicht nur als Christen bekennen, sondern christlich nennen, dürfen diese Bezeichnung niemals als erhöhten Anspruch zu eigenen Gunsten mißverstehen, sondern immer nur als eine erhöhte Anforderung an sich selbst betrachten. Man unterstellt sich damit, unbeschadet der voll anerkannten sachlichen Anforderung an den Staat, an die Politik, an Parteien, an Gewerkschaften, noch einem zusätzlichen Anspruch öffentlich und setzt sich auch weiteren Maßstäben der Kritik aus. Wer einmal in einer schwierigen Situation gestanden hat und sich dabei mit christlichem Maßstab kritisieren lassen mußte, weiß, was das bedeuten kann. Ob sachliche Meinungsverschiedenheiten unter Freunden die Entscheidung erschweren, ob Meinungsverschiedenheiten über Persönlichkeiten bestehen, wenn im Kampf mit Gegnern einmal hart gefochten werden muß und die Leidenschaft irgendwo über die Stränge schlägt, immer muß man sich leicht entgegenhalten lassen: „Das will ein Christ sein". Indem der Politiker die Bezeichnung christlich für sich in Anspruch nimmt, fordert er zur Kritik seines Tuns mit gerade diesem Maßstab auch heraus und legt ihn selbst an sich an. Wenn wir diese Bemerkungen darüber, was christliche Politik nicht ist und nicht sein soll, in eine Aussage zusammenfassen wollen, dann können wir etwa sagen: Christliche Politik ist keine Sonderpolitik von oder für Christen; sie soll und will vielmehr dem Gesamtbereich dessen, was zur Politik gehört, einen eigenen Geist und ein eigenes Ziel hinzugeben, ohne seine Eigenständigkeit anzutasten oder gar aufzulösen.
Nach dem, was denn im einzelnen eine christliche Politik Besonderes in die Politik einbringt, haben wir jetzt zu fragen.
Im Mittelpunkt der Mensch Die Politik ist ihrem Wesen nach ein Teil der Weltgestaltung, und zwar jener, welcher die Ordnung der im Staat zusammenlebenden Menschen betrifft, soweit diese Ordnung planbar ist und mit den dem Staate adäquaten Mitteln der äußeren Ordnung für alle als Teile des Ganzen hergestellt werden kann.
Das ist zwar keine exakte Begriffsbestimmung, gibt aber doch wohl einen wesentlichen Grundzug des Politischen wieder. Wenn Politik so „Weltgestaltung" ist, dann wird das Grundverständnis eines jeden Menschen, das er von der Welt, ihrer Herkunft, ihrer Ursache, ihrem möglichen Ende und ihrem Ziel hat, auch immer Ausgangspunkt seines Verständnisses der Politik sein, mag er das zugeben oder auch nicht. Ist jemand von einem in Weisheit und Überlegenheit gesetzten Anfang der Welt überzeugt, wie der Christ ihn in der Schöpfung sieht, so wird er bei der Gestaltung der äußeren Ordnung mit dem Mittel der Politik bewußt und unbewußt auch auf diesem Gebiete nach Seinsgesetzen, nach Strukturprinzipien des Ganzen fragen und diese suchen. Er wird immer zu fragen geneigt sein: Wie muß dieses oder jenes richtig geordnet werden? und nicht nur: Wie ist es am zweckmäßigsten oder am einfachsten zu regeln? Lehnt jemand hingegen einen sinnvoll und in Weisheit gesetzten Anfang der Welt ab oder ist es ihm gleichgültig, wie es sich damit verhält, dann wird er eher dazu neigen, in der Politik nur ein aufregendes und folgenreiches Spiel zu sehen, dessen Inhalt ihn manchmal weniger interessiert, als es die Ablaufgesetze und der Erfolg tun.
Der Christ geht von der Schöpfung der Welt durch Gott aus und hat damit einen wesentlichen Ausgangspunkt für Weltgestaltung und Politik gewonnen. Er will der Welt „gerecht" werden, d. h., nicht gegen die in die Schöpfung gelegten Grundgesetze verstoßen, sondern diese entdecken und klar zum Ausdruck bringen.
Was wir jetzt allgemein über die Welt sagten, gilt natürlich in besonderem Maße vom Menschen. Was jemand vom Menschen denkt, das bestimmt seine Politik. Sieht er den Menschen als eine Person an, über die niemand anders als letztlich Gott verfügen kann, dann sind ihm die Rechte dieses Menschen selbstverständlicher Ausgangspunkt und ebenso selbstverständliche Grenze aller Politik. Geht er dagegen etwa von einer nur stufenmäßigen Unterscheidung des Menschen vom Tier aus, dann kann ihm das Menschenrecht nur allzu leicht zeitgebunden und veränderlich erscheinen oder nur als ein nützliches Mittel, um den Kampf des einen Menschen gegen den anderen in sinnvolle und friedliche Grenzen zu verweisen.
Der Christ kennt den Menschen als von Gott geschaffenes Wesen mit einem Persönlichkeitskern, der einen jeden von uns letztlich allein vor dem Schöpfer verantwortlich sein läßt und ihn im letzten über jede planbare, von Menschen gemachte Ordnung erhaben macht. Damit ist der Mensch für den Christen Mittelpunkt und Ziel aller Weltgestaltung einschließlich der Politik und weist dieser zugleich souverän ihre Grenze an. Dieses so-genannte Personalitätsprinzip ist leicht ausgesprochen, aber schwer zu verwirklichen. Es hat nichts mit ideologieverdächtigem Menschenbild zu tun, sondern ist in allen geschichtlichen Situationen von Menschen und Völkern gleich wahr. Seine Bedeutung liegt wohl weniger in den daraus zu schlagenden Münzen kleiner politischer Einzelziele. Es bestimmt vielmehr das große Gesamtziel der Politik eindeutiger. Wenn heute, wie wir sahen, z. B. die Rede davon ist, daß das Ziel aller Politik der Friede ist, dann wird für den Christen kraft seines Wissens vom Menschen eindeutiger, welche Maßstäbe dieser Friede von der Personqualität der Menschen erhält, wie er unter Menschen beschaffen sein muß und wie er nicht beschaffen sein darf, wenn er dem Anspruch standhalten will, human zu sein.
Der Christ weiß aber auch, daß der Mensch seinem Wesen nach auf Ergänzung mit anderen angelegt ist. Das führt die katholische Soziallehre zu dem Grundsatz der Solidarität;
im sogenannten Solidaritätsprinzip wird die gegenseitige Verbundenheit der Menschen und aller sozialen Gruppen und Vereinigungen als ein Grundprinzip allen Gesellschaftslebens gesehen. Kraft seiner vom Schöpfer in ihn gelegten Sozialanlage ist der Mensch immer und überall auf die Familie und den Staat hin angelegt und kann außerdem kraft eben dieser Sozialanlage viele weitere menschliche Zusammenschlüsse stiften, die zusam-men mit Familie und Staat die Gesellschaft freier Menschen ergeben.
Solidarität und Politik stehen ebenso wie Personalität und Politik in einem teleologischen Grundbezug. Trotz der Wesensmitte der Personalität des Menschen hat die Politik Ordnung des Ganzen zu sein, die dem einzelnen im Grunde Hilfe bietet, indem sie ihm zum Wohle des anderen und zum Wohle eines Ganzen, dessen Ordnung auf alle positiv zurückwirkt, auch Opfer abverlangt.
Überdies weiß der Christ, daß Familie und Staat von Gott mit einer Autorität ausgestattet sind, die auf den Schöpfer selbst zurückgeht. Da Gott den einzelnen Menschen frei und letztlich nur ihm verantwortlich geschaffen hat, kann eine rechtmäßige Autorität, die verbindlich über den Menschen gesetzt ist, ohne daß er sich ihr im Grunde entziehen kann, zu Recht nur dann bestehen, wenn sie von Gott in die Freiheit des Menschen hineingestiftet wurde und damit auf den zurückgeht, dem der Mensch sein Dasein und seine Freiheit verdankt. Muß so die naturgegebene Autorität von Familie und Staat auf Gott zurückgehen, dann ist sie für den Menschen in hohem Maße verbindlich.
Diese christliche Lehre vom Wesen des Menschen und von der Begründung der Autorität unter Menschen, von der natürlichen Gegebenheit Familie und der des Staates, hat konkrete Auswirkungen für die Politik.
Sie stellt den Menschen qualitativ über den Staat und alle menschliche Gesellschaft. Daraus folgt für die praktische Ordnung des Ganzen der Grundsatz der Subsidiarität. Er besagt, daß alle gesellschaftliche und staatliche Tätigkeit als „subsidium", als Hilfe für den Menschen verstanden werden muß und darum sinnvollerweise dann einsetzen muß — nicht früher und nicht später —, wenn der Mensch sich als hilfsbedürftig erweist. Um die Freiheit der Person dabei nicht über Gebühr einzuschränken, soll möglichst „Hilfe zur Selbsthilfe" geleistet, der Mensch also in den Stand gesetzt werden, sich von der gesellschaftlichen und staatlichen Hilfe wieder frei zu machen, statt sich an sie zu binden. Wo Hilfe zur Selbsthilfe nicht ausreicht, sollen möglichst solche Wege beschritten werden, die Selbstverantwortlichkeit und Freiheit nach Gebühr zum Tragen bringen. Nächste Träger der Hilfe für den Menschen sind kleine Lebenskreise, in denen er steht: Familie, Vereine, Gemeinde, durch freien Entschluß der Menschen zustande gekommene caritative Verbände usw. Wird dem Menschen von Menschen seiner persönlichen Wahl geholfen, die bei dem Katholiken ebenso wie bei dem Nicht-katholiken auf Menschen seines Glaubens fallen kann oder auch nicht, dann ist die Hilfe mit möglichst wenig Verlust an Freiheit erkauft. Das also etwa meint das vielberufene, manchmal allzu magisch beschworene und vor allem häufig als technische Regel mißverstandene Subsidiaritätsprinzip, das der Sache nach, ohne daß unbedingt auch das Wort genannt sein muß, immer ein Grundprinzip christlicher Politik in katholischer Sicht wie überhaupt sachgerechter und humaner Politik sein wird, da die Freiheit und die Selbstverantwortung des Menschen immer respektiert werden müssen, und zwar nicht nur in der Theorie, sondern vor allem in der Praxis der gesellschaftlichen Freiheit für den einzelnen Menschen, der Bewegungsspielraum für seine Entscheidungen behalten muß.
Diese Seite des Subsidiaritätsprinzips wird in ihrem Sinngehalt häufig herausgestellt. Weniger herausgestellt wird die Tatsache, daß darin auch ein bestimmter Gesellschaftsbegriff beschlossen liegt. Die Gesellschaft des Subsidiaritätsprinzips ist eine solche, zu der Einzelpersonen, Familien, frei gestiftete Zusammenschlüsse und menschliche Gruppierungen zusammen mit dem Staat als ebenbürtige Partner gehören, die Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Existenz haben. Der Staat gehört zu dieser Gesellschaft hinzu, steht nicht neben ihr oder gar im Gegensatz dazu. Politik ist Formung der Gesellschaft zu ihrer eigenen Ordnung mit dem Willen, dem Gewachsenen, dem historisch Gewordenen möglichst wenig Gewalt anzutun.
Wie der Christ so den Menschen mit dem Grundsatz der Subsidiarität qualitativ eindeutig über den Staat und die übrigen gesellschaftlichen Gruppierungen stellt, ebenso eindeutig stellt er im Rahmen der Gesellschaft auch die Familie und den Staat qualitativ über die freien Ausprägungen der menschlichen Sozialanlage, die Vereine und Zusammenschlüsse, die nicht von der Natur schon im Menschen mitgedacht sind, sondern ihre Existenz in hohem Maße der menschlichen Freiheit und dem Ermessen verdanken. Familie und Staat sind natürliche Gemeinschaften. Sie können beide nicht entfallen, solange Menschen auf der Erde leben. Diese Tatsache gibt beiden gleiche Würde. Sie bewahrt davor, daß man mit Hilfe der einen Gemeinschaft die andere ausschalten oder herabsetzen will. Sie weist dem Staat eine eindeutige Grenze seiner Eingriffsrechte in Rechte der Familie an. Der Gedanke der Subsidiarität muß zudem dazu führen, daß die Familie trotz gleicher Würde mit dem Staat in der praktischen Hilfe für den Menschen den Vorrang hat, weil sie die Hilfe freier, persönlicher und menschlicher leisten kann.
Die Würde der Familienautorität und der Staatsautorität ist in Gott verankert. Das muß der Ausgangspunkt der Haltung eines jeden Christen auch zum Staat sein, mag er politisch interessiert sein oder auch nicht. Die unmittelbaren Auswirkungen dieses sehr allgemeinen Tatbestandes sind nicht zu übersehen. Staatliche Strafgewalt findet von hier aus eine Grundbeurteilung, die sich von der anderer politischer Grundanschauung wesentlich unterscheiden kann, ebenso wie etwa Familienlastenausgleich. Die Würde des Staates ist zugleich auch seine Grenze. Da man dem Staat, dessen Autorität auf Gott zurückgeht, gehorchen muß, nicht nur „um der Strafe, sondern um des Gewissens willen" (Röm. 13, 5), wie es der Apostel lehrt, ist ein Wort des anderen Apostelfürsten auch gegenüber einem Staat von Bedeutung, der die durch die Autorität Gottes und seine Weltordnung gegebene Machtbegrenzung mißachtet: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg. 5, 29).
Die christliche Lehre von der Würde der Staatsgewalt hat darum schon von den Anfängen des Christentums im alten Rom bis heute stets eine Lehre vom berechtigten Widerstand gegen die maßlose, sich total setzende Staatsgewalt im Gefolge gehabt, die in unseren Tagen für den Widerstand gegen Hitler besonders aktuell geworden und es bis heute geblieben ist.
Der Widerstand, der in der Freisetzung des eigenen Gewissens von den ungerechten Staatsbefehlen besteht, ist unmittelbar in dem Vorrang der sittlichen Grundordnung der Welt vor einer damit im Widerspruch stehenden, nur menschlichen Ordnung zu sehen. Das Gewissen steht frei zu Gott, auch wenn die Welt in Irrtum, Verblendung oder böser Tat anderes möchte.
Der aktive Widerstand, der die politische Ordnung um jeden gerechten Preis umgestalten will, ist nicht so sehr im Personalitätsprinzip, sondern mehr in der Solidarität des Menschen mit seiner politischen Ordnung begründet. Maßgebend ist für die katholische politische Ethik der Grundgedanke, daß Widerstand nicht Revolte eines einzelnen gegen eine Gesamtordnung ist, sondern Stiftung dieser Gesamtordnung selbst, wenn sie sich hat pervertieren lassen und darum eine radikale Neuorientierung mit ungewöhnlichen Mitteln erfahren muß. Wie diese ungewöhnlichen Mittel im einzelnen beschaffen sind, wo die Grenzen eines ethisch verantwortlichen Widerstandes liegen, vermag hier in der Kürze nicht dargestellt zu werden.
So. sind einige praktische Folgen aus der christlichen Sicht vom Wesen des Menschen angedeutet, die bei einer grundsätzlich anderen Sicht vom Wesen des Menschen nicht in gleicher Weise gegeben sind. Aber man dürfte schon hier einsehen können, daß alle bisher behandelten Aussagen über eine Politik in katholischer Sicht nicht ausschließlich dem Katholiken oder dem getauften und glaubenden Christen offenstehen. Politik ist Welt-gestaltung und den Gesetzen des Diesseits unterworfen, sagten wir schon. Sie muß sich auch mit dem Argument aus dem Diesseits, mit der Vernunft einzulassen bereit sein und sich vor der kritischen Vernunft des anderen ausweisen. Der andere ist nur dann in der Lage, zuzustimmen und in ein kritisches Gespräch einzutreten, wenn ihm das Argument aus dem Diesseits entgegentritt, das ihm entspricht. Das Argument aus dem Glauben tritt für den Christen bekräftigend hinzu und wird vor einer letzten Instanz für ihn allein wichtig; es kann aber nie das Argument aus der Vernunft ersetzen oder ersparen.
Aber der Christ kennt nicht nur Wesen und Würde des Menschen, er kennt auch seine Grenzen.
Realismus gegen Utopie Der Christ weiß um die erste Sünde, um die Verführbarkeit und Schwäche des menschlichen Strebens, um die Begrenzung und Verdunklung der Vernunft, um die Unmöglichkeit, auf dieser Erde Vollendung und Harmonie zu finden.
Diese Kenntnis der Erbsünde bewahrt den Christen vor übertriebenen Hoffnungen an die Politik und an den Fortschritt. Sie bewahrt ihn vor der „Utopie", vor einem Wunschbild von vollständiger, durchkonstruierter, fehlerfreier Ordnung, die in der Zukunft liegt. Die Utopie ist eine im politischen Denken häufig aufgetretene und wirksam gewordene Vorstellung, die manchen Menschen Entschlußkraft zum Handeln vermittelt. Es wird auch heute noch hin und wieder eine Lanze für sie gebrochen. Man sagt, nur oder auch aus der Utopie könne sich politischer Fortschritt ergeben, wenn sie auch niemals voll und ganz Wirklichkeit werden könne. Aber die Utopie hat eine selten beachtete Nebenwirkung, die sich als gefährlich für die Politik erweist. Wer ihr verfällt, distanziert sich zugunsten des vollkommenen Zukunftsbildes zwangsläufig von der unvollkommenen Gegenwart und verliert das Verhältnis des ungezwungenen Umgangs mit ihr ebenso wie zu den Enttäuschungen und Menschlichkeiten des Alltags, der für den Politiker wesentlich ist. Vor einer solchen Utopie also ist der Christ durch die Kenntnis der Erbsünde bewahrt. Für ihn ist klar, daß es nie ein Paradies auf Erden geben wird.
Gleichermaßen bewahrt ist der katholische Christ aber durch sein Wissen von der Schöpfung auch vor einer einseitigen Betonung der Mängelseiten des Menschen, wie sie Theorien und Politiker des unbegrenzten Machtstaats oft erfüllt hat. Gegen solche pessimistischen Lehren wehrt sich das christliche Wissen um die menschliche Person.
Jenseits von Utopie und Pessimismus liegt der Realismus, die tatsächliche Annahme des Gegebenen ohne Wunschbilder, welcher die echte Politik bestimmt und immer bestimmt hat. Der katholische Christ versucht, eine jede gegebene Staatswirklichkeit zunächst einmal zum Ausgangspunkt der Politik zu machen und stößt sich einmal nicht an Formfragen. Der Katholizismus hat die Lehre von der sittlichen Neutralität der Staatsformen begründet; sie besagt, daß ein jeder Staat nach dem Inhalt dessen, was er von Gerechtigkeit und Ordnung verwirklicht, beurteilt werden muß, und nicht nur nach der äußeren Form, ob Monarchie, ob Demokratie, sittlich beurteilt werden darf. Er hat auch die Christen immer angehalten, etwa nach Revolution und Umsturz die neue Regierung anzunehmen, soweit sie inhaltlich gerecht regiert. Mit einer solchen Annahme ist natürlich keine Billigung vorangegangenen Unrechts verbunden. Das Unrecht der Vergangenheit soll jedoch nicht zu neuer Unruhe in der Zukunft führen. Eine solch nüchterne politische Haltung hängt mit dem Wissen um menschliche Begrenztheit und Unvollkommenheit unmittelbar zusammen und gibt die entschiedene Kraft, das Unrecht um des Unrechts willen zu bekämpfen, dem rechten Inhalt in der Politik aber unabhängig von persönlichen Gefühlen unverzögert seinen Lauf zu lassen.
Wer dagegen meint, der Mensch sei nur gut und nur zum Guten fähig, auch wer meint, die Menschheit sei in sich verderbt und ohne den Glauben zu nichts Gutem fähig, wird die Realität der Politik verfehlen.
So ist die Frage „Was ist der Mensch?" für die Politik im Grunde entscheidend.
Aber auch die Sicht des Ziels allen Menschenlebens hat für die Politik Bedeutung. Weiß man mit den Christen vom ewigen Ziel des Menschen nach dem Tode und zugleich vom Gericht des irdischen Tuns, in das die menschliche, persönliche Verantwortung vor Gott einmündet, dann wird man für die freie, ungehinderte Ausübung der Religion und für die volle Gewissensfreiheit eines jeden auch in gesellschaftlichen, politischen Handlungen eine tiefe, innere Zustimmung mitbringen.
Sieht man dagegen den Menschen nur als Wesen, dessen Ziel auf der Erde beschlossen ist, dann kann man von der Bedeutung der gleichen Rechte nicht ebenso tief überzeugt sein, mag man sie auch verstandesmäßig anerkennen und bejahen.
Ziel der Politik ist das Gemeinwohl Diese kurzen Striche haben uns erkennen lassen, was christliche Politik nach katholischer Auffassung bedeutet: Für den Christen ist ein besonderer sinnvoller Ausgangsrahmen der Politik gegeben, der aus einer bestimmten Sicht vom Wesen und von der Würde wie vom Ziel des Menschen folgt. Dieser Ausgangsrahmen läßt auch den Sinn allen politischen Tuns erkennen: Es kommt darauf an, mit Hilfe der gegebenen Familien-und Staats-autorität möglichst einem jeden Menschen seine sittliche Freiheit zu sichern und ihn zur Erfüllung seiner Sozialanlage in einem geordneten Zusammenleben zu führen. Dieser Ausgangsrahmen ist schließlich insofern menschlich, als er der vernünftigen Diskussion mit . jedermann offensteht und darauf angewiesen ist.
Das geordnete Zusammenleben, das der Politik besonders aufgegeben ist, heißt Gemeinwohl. Es hat im wesentlichen folgende Züge
Das Gemeinwohl muß für Individualität Raum lassen, aber auch besonders die womöglich divergierenden Züge und Ziele des einzel-haften Menschseins zusammenfügen und ord-nen. Das Gemeinwohl ist das „Integrationsprinzip"
Daraus ergibt sich, daß das Gemeinwohl sich nicht zwangsläufig als Folge eines gesellschaftlichen Prozesses, eines Kräfteausgleichs o. ä. ergibt, sondern durch Sachwalter hergestellt werden muß, die sich dem Gemeinwohl als Ziel ihres Handelns verpflichtet wissen. Hier findet alle Gemeinschaftsautorität ihre einsichtige Begründung, mag sie im einzelnen ihrem Wesen nach auf Grund der Schöpfungsordnung ursprünglich bestehen oder auch vom freien Willen des Menschen abgeleitet sein. Vor allem die Staatsgewalt ist als Autorität durch die Natur begründet und somit vom Schöpfer mitgestiftet, zugleich aber im Hinblick auf ihr Ziel durch das Gemeinwohl gerechtfertigt. „Die Existenzberechtigung aller öffentlichen Gewalt ruht in der Verwirklichung des Gemeinwohls"
Das Gemeinwohl betrifft das Wohl des ganzen Menschen. Darum erschöpft es sich keineswegs in der Ordnung nur etwa des wirtschaftlichen Bereichs, in der gerechten und alle Menschen und Gruppen zufriedenstellenden Verteilung des Sozialprodukts, sondern umfaßt „den Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer Werte ermöglichen oder erleichtern"
Das Gemeinwohl ist das Wohl von konkret zusammenlebenden Menschen, die am wesentlichsten durch die menschliche Natur verbunden sind, ihre konkrete Einheit miteinander aber aktuell auf der Grundlage bestimmter geographischer, historischer, kultureller, nationaler, soziologischer und zivilisatorischer Gemeinsamkeiten erfahren. Darum kann das Gemeinwohl nicht auf die Verwirklichung des in der Menschennatur immer und überall verwurzelten Rechtes eingeschränkt werden. Dieses Menschenrecht erfährt in der Geschichte sich entfaltende Ausformungen, die nicht überall gleicherweise vor sich gehen, sondern von kulturellen und historischen Entwicklungen mit abhängen. Darüber hinaus verpflichtet das Gemeinwohl dazu, die in einem Volk historisch gewachsenen Kulturwerte ebenso zu fördern und zur Entfaltung zu bringen wie die grundlegenden Menschtumswerte. Was Johannes XXIII. in bezug auf Form und Ordnung des Staates ausgedrückt hat, gilt allgemein für das Gemeinwohl. Es müssen danach „der augenblickliche Zustand und die Lage eines jeden Volkes in Betracht gezogen werden, die je nach Ort und Zeit verschieden sind"
Das Gemeinwohl umfaßt das Wohl der Menschen nur, insoweit sie als Glieder der Gesellschaft zusammenleben. Der Mensch hat als individuales Wesen einen wesenhaft persönlich zu bestimmenden und damit, vom Gemeinwohl aus betrachtet, privaten Lebensraum. Dieser ist vom Gemeinwohl zu respektieren, wie es etwa in dem ausdrücklichen Bekenntnis zu den Grundrechten des einzelnen Menschen geschieht. Der Raum der Freiheit und Unantastbarkeit der individualen Rechte der menschlichen Person ist aber nicht nur vom Gemeinwohl ausgespart, sondern hat für dieses eine positive, schöpferische Bedeutung, auf die auch um des Gemeinwohls willen nicht verzichtet werden kann. Die freie, persönliche Entscheidung des Menschen, die im Rahmen der Seinsstruktur des Menschen und seiner sittlichen Ordnung erfolgt, setzt Kräfte für die Ordnung des Gemeinwohls frei, mag es sich um Berufsentscheidung, Eheschließung, einen Vereinsbeitritt, Selbstbildung oder auch um die kleinen Entscheidungen des Alltags handeln, die den Menschen auf das Ganze gesehen viel mehr formen und entfalten als ihm im Augenblick bewußt sein mag. Unter der so gelegten Voraussetzung ist auch der häufig gehörte Satz zu verstehen, daß das Gemeinwohl dem Einzelwohl vorzugehen habe. Dieser Satz kann niemals bedeuten, daß das Gemeinwohl von sich aus nach willkürlichem Ermessen den verbleibenden Raum des einzelnen, für sein Einzelwohl zu sorgen, bestimmen und eingrenzen könne. Vielmehr bedeutet er, daß der Mensch speziell in seinen Gliedschaftsfunktionen in der Gesellschaft eben Glied eines Ganzen ist und darum sein Leben insoweit nach der Ordnung des Ganzen ausrichten muß.
Der Politiker und der politisch interessierte Mensch, der vom Gemeinwohl als dem Sinn der Politik ausgeht und bestimmt wird, sieht die Aufgabe der Politik darin, nach Möglichkeit eine ausgeglichene Ordnung unter den Menschen darzustellen. Er hat sich damit abgesetzt von jenen Theoretikern und Praktikern der Politik, die von einem unauflösbaren „Pluralismus" nicht nur als Gegebenheit und Ausgangslage, sondern auch als Zielzustand der Politik ausgehen. Danach soll nur Spannung, Machtauseinandersetzung, Gegnerschaft, „Freund-Feind-Verhältnis" die Politik bestimmen und bestimmen können. Demgegenüber sollte der katholische Politiker die pluralistische Ausgangslage verschiedener Weltanschauungen, Standpunkte, Traditionen, Vorstellungen und Interessen als sehr real ansehen, sich auch tief der Freiheit des Menschen verpflichtet und so gehalten wissen, die vorhandenen Spannungen nicht unangemessen etwa durch Zwang zu zerstören. Aber er sieht gerade die Aufgabe der Politik darin, von verschiedenen Ausgangspositionen die Menschen zu einer Einheit zu führen, die für jeden annehmbar ist und doch die Wesensgesetze des Menschlichen nicht außer acht läßt, sondern nach Möglichkeit klar zum Tragen bringt. Der Gemeinwohlbegriff, der die christliche Politik bestimmt, geht also von der Einheit des Staates und des Politischen aus, unterdrückt aber jene Spannungen nicht in unangemessener Weise, die in der pluralistischen Gesellschaft vorgefunden werden.
Der einzelne und die Gesellschaft Er ist auch noch durch eine andere Spannung bestimmt, die bereits erörtert wurde, nämlich die Spannung zwischen den einzelnen Subjekten der staatlich geeinten Gesellschaft. Mensch, Familie, Verein, Betrieb, Gemeinde sind solche Subjekte. Sie sind aktive Träger der Sorge für das Gemeinwohl genauso wie der Staat. Der Gemeinwohlbegriff nimmt das Bild einer Gesellschaft nicht an, das die Sozialphilosophie in der Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Sozialismus in den letzten hundert Jahren immer unausgesprochen zugrunde legte, wenn sie sich die Frage stellte: „Was geht vor — der einzelne oder die Gesellschaft?". Wenn man so fragt, geht man davon aus, daß nur die einzelnen Menschen einer großen, sonst nicht weiter gegliederten Gesellschaft gegenüberstehen. Dem steht im katholischen Gemeinwohlbegriff ein Bild der Gesellschaft gegenüber, das diese Frage nicht annimmt, sondern sich der viel schwierigeren, aber realeren Frage verpflichtet weiß: „Wie kann das vielfältig gestufte und gegliederte Ganze des menschlichen gesellschaftlichen Lebens in einer Ordnung zusammengefaßt und gehalten werden, welche die Verschiedenheit der Glieder nicht zur Sprengkraft des Ganzen werden läßt und doch das Lebensrecht aller Träger gesellschaftlichen Lebens respektiert?" In der so formulierten Frage kommt die Spannung zum Ausdruck, die wir hier meinen. Christliche Politik versucht jeweils für die gegenwärtige Stunde eine Antwort zu geben, die für diese Situation tragbar und gültig ist. Sie mißt aber gleichzeitig an Maßstäben, die über die augenblickliche Stunde hinausweisen und im Kern überzeitlich gültig sind, weil sie durch die Schöpfung in die Natur des Menschen hineingelegt worden sind.
Damit ist der Christ vor anderen einseitigen Lehren als Ausgangspunkt der Politik bewahrt. Er kann den Menschen nicht im Sinn des „Individualismus" als „Nur-einzelnen" ansehen und seiner Sozialnatur damit mittelbar Schaden zufügen. Er kann auch nicht einem „Kollektivismus" erliegen, der die Personnatur des Menschen durch Alleinbetonung der Sozialnatur verkennt. Er ist vor einem „Nachtwächterstaat" gewappnet, der sich nicht für die Zielgerichtetheit des Menschen und der Gesellschaft interessiert, und wird auch vor einem „Versorgungsstaat" zurückschrecken, der die Freiheit des Menschen dadurch verkümmern läßt, daß er dem einzelnen die Sorge für sich selbst weitgehend abnimmt. Er wird schließlich jedem „totalen Staat" entschiedenen Widerstand leisten, in dem der einzelne sein Recht auf persönliche Führung seines Lebens verliert.
Alles, was wir sagten, ging im Denken und in der Sprache von einem durch die Heilswirklichkeit Christi geprägten Denken aus. Wer die Taufe und das Evangelium in der katholischen Kirche angenommen hat, sieht die Welt so. Wir sagten aber auch schon, daß die einzelnen Aussagen auch von einem Denken und Glauben erreicht und erkannt werden können, das katholische Kirche, Taufe und Evangelium nicht kennt, sondern vielleicht sogar ablehnt. Der Anfang der Welt und ihr Sinngefüge, die Natur des Menschen und ihre Ausprägungen, die rechtmäßige Autorität von Familie und Staat und ihre Begründung in Gott, all das ist natürlich erkennbar und erreichbar und ist christliche Grundauffassung zugleich. Darum kann man den paradoxen Satz wagen: Wie christliche Politik nicht eine Politik von Christen nur für Christen ist, so ist sie auch nicht eine Politik, die ausschließlich von Christen gemacht werden kann.
Damit das nicht mißverstanden wird, müssen wir nach der spezifischen Rolle der Heilswirklichkeit des Neuen Testamentes für die Politik fragen. Wer in sie hineinberufen worden ist und sie angenommen hat, für den hat das Natürliche seine Bedeutung behalten; es wird von ihm jedoch von einer neuen Ebene der unmittelbaren Verbundenheit mit Gott in Gnade, Sakrament und Offenbarung gesehen, beurteilt und gestaltet. Darum meinen wir, daß die größte Bedeutung der Wirklichkeit des Neuen Testaments für die Politik darin besteht, daß sie die religiös-sittliche Haltung des christlichen Politikers bei seinem politischen Handeln grundlegend bestimmt. Was er tut, tut er um der Politik, um der Ordnung des Ganzen willen. Er tut es für alle, die zu diesem Ganzen gehören. Er fragt und entscheidet nach den Gesetzen und den Regeln, die von der Natur, von der Erfahrung und seiner eigenen Vernunft bestimmt werden.
Aber er handelt aus einem Geist, der durch das Neue Testament entscheidend bestimmt sein muß. Sein Verhältnis zur Macht, zur Wahrheit, zum Recht, zur Freiheit, zum Gewissen anderer, zur Schuld und zur Strafe, zum politischen Gegner, zum Konkurrenten unter den politischen Freunden, zum Volk und zu einzelnen Bittstellern und Interessenten muß vom Neuen Testament sichtlich getragen sein, wenn er wirklich christlicher Politiker ist.
Das ist ganz sicher der entscheidende Kern der Antwort auf die Frage nach dem ausdrücklich Christlichen in der Politik. Neben der persönlichen Verpflichtung des Politikers gegenüber dem Neuen Testament gibt es aber auch eine höchst bedeutsame sachliche Gebundenheit daran für den Gläubigen. Der Christ weiß, wie begrenzt und verdunkelt die menschliche Erkenntnis seit der Erbsünde ist.
Er weiß weiter, daß Gott durch die Offenbarung die menschliche Erkenntnis unmittelbar bereichert hat. Die Offenbarung ist ein Grundstock der Wahrheit, der unbedingt sicher ist und somit eine Grenze für die menschliche Irrtumsfähigkeit bildet. Wenn der Mensch z. B. mit seinen natürlichen Mitteln etwas erkennt, was dem Inhalt der Offenbarung widerspricht, so kann er sicher sein, daß er irrt. Für den gläubigen Christen gewinnt so das Neue Testament nach katholischer Auffassung die Bedeutung einer „negativen Norm", einer Grenze der Fehlerhaftigkeit natürlicher Erkenntnis. Das ist für die Praxis auch des Politikers höchst folgenreich. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn im Römerbrief des Heiligen Paulus, der zum Neuen Testament gehört, vom Staat gesagt wird, er „führt nicht umsonst das Schwert" (Röm. 13, 4), so ist der Christ damit gegenüber allem Irrtum gewappnet, der den Menschen dahin führen könnte, die Berechtigung der staatlichen Strafgewalt zu bestreiten. Der Christ weiß aus einer mit der Vernunft gewonnenen Erkenntnis um die Staatsgewalt und ihre Rechte. Das Neue Testament bewahrt ihn aber vor einer bestimmten Möglichkeit des Irrtums.
Statt des einen Beispiels könnten viele angeführt werden. Sie reichen von der Frage der Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe bis zu der Notwendigkeit und Berechtigung der menschlichen Arbeit gegen Verdienst und zur Berechtigung des Steuerwesens.
Aber wohlgemerkt: das Neue Testament ist kein System, kein Abriß menschlicher Politik; denn es steht unter einem ganz anderen Sinn: dem Menschen das ewige Heil zu künden und den Weg dahin zu zeigen. Sozusagen nebenher finden sich eingeschlossen auch Aussagen, die für Staat und Politik bedeutsam sind und an dem Wahrheitsgehalt des Neuen Testaments teilhaben.
Und noch in ganz anderer Hinsicht hat — wie schon erwähnt wurde — die Heilswirklichkeit Christi für den Christen politische Bedeutung: Er kennt die Kirche; er kennt ihren Auftrag, die Menschen zur ewigen Heimat zu führen, ihre Würde und ihre Notwendigkeit, in dieser Welt zu leben. Er respektiert ihre Rechte der Freiheit und Eigenständigkeit ihrer Verkündigung, ihrer Sakramentenspendung. Er kennt die Würde der kirchlichen Ämter. Kurzum: er erkennt die Kirche als einen Träger auch irdisch belangvoller Gemeinwohltätigkeit an und weiß, daß sie zur Gesellschaft gehört. Damit hat für die Christen die Spannung innerhalb der Gesellschaft um einen realen Träger zugenommen. Er ist bereit, sich dieser Situation zu stellen. Wenn er grundsätzlich von der Fruchtbarkeit dieser Spannung für das Gemeinwohl ausgeht und weiß, daß jeder Träger etwas hinzugeben kann, dann ist die Erweiterung des Kreises der Träger von Gemeinwohlfunktionen um die Kirche ein Gewinn. Wenn wir nun zu der paradoxen Behauptung zurückkehren, wonach auch ein Nichtchrist aus der Möglichkeit, christliche Politik zu betreiben, grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist, dann sehen wir, wie haltlos die Schlagworte sind, die eine Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens" oder gar „Klerikalismus" als zwangsläufige schädliche Folge christlicher Politik aus katholischer Haltung hinzustellen versuchen. Wir bestreiten nicht, daß es diese Gefahren gibt. Die Versuchung besteht in einem Hang zur Verkürzung der irdischen Wirklichkeit, die ganz eindeutig ihr Recht auf Eigendasein hat. Die spezifisch katholische Gefährdung ist wohl darin zu sehen, daß aus der Allgemeinzugänglichkeit und Allgemein-
Verbindlichkeit der natürlichen Wirklichkeit, die unabhängig ist von Taufe und Glaube, auf eine ebensolche Allgemeinzugänglichkeit und sogar Allgemeinverbindlichkeit der übernatürlichen Wirklichkeit geschlossen und entsprechend gehandelt wird.
Wenn so „Klerikalismus" und „Konfessionalismus" als bestimmte Gefährdungen katholisch und christlich politischen Denkens bestehen, so muß man sich natürlich doch gegen die ideologisierende Behauptung wehren, christliches oder katholisches Denken sei mit solchen Verzerrungen der Wirklichkeit notwendig oder regelmäßig verbunden.
Katholische Kirche und Demokratie Diesen Ausführungen über Wesen und Inhalt christlicher Politik nach katholischer Auffassung soll noch einiges über die Einstellung der katholischen Kirche zur Demokratie angeschlossen werden
Die Behauptungen, die katholische Kirche sei gegen die Demokratie, wollen ja kein Ende nehmen. Wenn wir nach den Gründen fragen und dabei von den offensichtlich bösartigen und feindseligen Argumenten absehen, so bleibt im wesentlichen das Mißverständnis übrig, das aus der geschichtlichen Situation des 19. Jahrhunderts in unsere Tage hinüber-wirkt. Die Haltung nämlich, die Papst und Kirche zu den damaligen, zeitgebundenen Kräften der demokratischen Bewegung eingenommen haben, wird als allgemeine Haltung zur Staatsform Demokratie mißdeutet, obwohl insbesondere Leo XIII. klar zwischen beiden Dingen getrennt hat.
Zunächst ist der katholischen Kirche von vielen Anhängern der Demokratie übel vermerkt worden, daß sie in der Zeit des Ablösungsprozesses von der Monarchie in Europa nicht in den Chor derer einstimmte, die Monarchie in jedem Fall für überlebt, ungerecht und des freien Menschen unwürdig hielten. Demgegenüber die Haltung der Kirche: „Es liegt ja keinerlei Grund vor, warum die Kirche die Herrschaft eines einzigen oder mehrerer nicht billigen sollte, sofern sie nur gerecht ist und Sorge trägt für das Gemeinwohl"
Schließlich ist der katholischen Sozial-und Staatslehre ein Grundsatz eigen, der sich scheinbar hemmend für die Durchsetzung der Demokratie gegenüber der Monarchie auswirken mußte, der Grundsatz nämlich, daß gesellschaftliche Ruhe und gesellschaftlicher Friede nicht ohne Grund gestört werden sollen
Nun ist es ganz offenkundig und aus anderen Ausführungen eindeutig zu entnehmen, daß Leo XIII. damit keineswegs hat sagen wollen, die Staatsform dürfe niemals geändert oder Änderungen von den Katholiken niemals angestrebt werden. Gegen einen solchen starren „Legitimismus" hat sich der gleiche Papst leidenschaftlich verwahrt
Gerechtigkeit und Gemeinwohl lassen sich in vielen verschiedenen Formen verwirklichen.
„Innerhalb der Schranken des allgemein verpflichtenden göttlichen Gesetzes, das nicht nur die einzelnen, sondern auch die Völker bindet, besteht ein weiter Spielraum und freie Gestaltungsmöglichkeit für die verschiedenartigsten politischen Anschauungen"
Papst Johannes XXIII. hat das in „Pacem in terris" noch deutlicher auf den Sinn hin konkretisiert: „Um tatsächlich festzustellen, in welcher Form ein Staat regiert werden und wie er seine Aufgaben erfüllen soll, müssen vielmehr der augenblickliche Zustand und die Lage eines jeden Volkes in Betracht gezogen werden, die je nach Ort und Zeit verschieden sind"
Allerdings hatte Leo XIII. das gleiche auch schon ausgesprochen. Die Neutralität der Kirche gegenüber den verschiedenen Staatsformen besteht, um der geschichtlichen Lage eines jeden Volkes gerecht werden zu können. Kein Staatsvolk kann es sich erlauben, nur auf Grund von Tradition, kein Staatsvolk kann es sich gestatten, ohne Rücksichtnahme auf die Tradition des eigenen Volkes seine Staatsform zu bestimmen.
Was es so für die Staaten an Freiheit zu beachten gilt, muß auch für die einzelnen Katholiken und ihre politischen Gruppierungen gelten. „Wenn es sich aber um rein politische Fragen handelt, um die beste Staatsform, um diese oder jene Staatsverfassung, so kann man diesbezüglich in aller Ehrlichkeit verschiedener Meinung sein". „Daher verbietet es die Gerechtigkeit, Männern . . . einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie bezüglich der erwähnten Probleme anderer Meinung sind“
Für diese These haben die Katholiken noch vor weniger Jahren Verdächtigungen hinnehmen müssen, sie träten nicht entschieden genug für die Demokratie ein. Heute, nachdem die Problematik der Entwicklungsländer neu in unseren Blick getreten ist, ist das Verständnis dafür gewachsen, daß es auch außerhalb der Demokratie Formen gerechter Staatsordnung gibt, die sich aus der — vielleicht demokratiefremden — Tradition des eigenen Volkes ergeben. Damit hat der Neutralitätssatz eine unvorhergesehene, neue Aktualität erlangt und die Brauchbarkeit des politischen Denkens der Katholiken für verschiedene historische Situationen erwiesen.
Muß nach dieser Behandlung der Einstellung der Kirche zu den verschiedenen Staatsformen noch eigens betont werden, daß die Demokratie bei Wahrung von Gerechtigkeit und Gemeinwohl von ihr genau so offen angenommen wird wie andere Staatsformen? „Es ist kaum notwendig zu erwähnen, daß nach den Weisungen der Kirche, , bei Wahrung der katholischen Lehre über Ursprung und Handhabung der öffentlichen Gewalt es nicht verboten ist, Regierungen von gemäßigter demokratischer Form zu begünstigen', und daß , die Kirche keine von den verschiedenen Regierungsformen ablehnt, vorausgesetzt, daß sie in sich geeignet sind, dem Wohl der Bürger zu dienen'(Leo XIII., Enzykl. Libertas, 20. Juni 1888, Schluß)"
Es können „die Staatsmänner nach Willen und Urteil des Volkes bestimmt werden"
Wie bei jeder sittlichen Entscheidung ist das Gewissen des einzelnen oberste Instanz auch bei der Wahrnehmung der Wahlpflicht. „Jeder hat nach dem Urteil seines eigenen Gewissens zu wählen"
Das gleiche, was so für den einzelnen gilt, gilt auch für die Kirche als handelnde und mitentscheidende Körperschaft. „Zweifellos will die Kirche außer und über den politischen Parteien stehen"
So lassen also die Worte der Päpste zur Verantwortung des Bürgers in der Demokratie schon hinsichtlich seiner Entscheidung als Wähler zwischen den Parteien an Deutlichkeit nichts zu wünschen. Aber wie die christliche Moral sich nirgendwo damit zufrieden gibt, daß der Mensch bestimmte Gebote legalistisch erfüllt, so kann auch der Bürger in der Demokratie nicht damit rechnen, nach richtiger Wahlentscheidung schon alles getan zu haben, was von ihm gefordert wird. Er soll hier wie überall alles tun, was ihm nach seiner persönlichen Eignung und Situation zur möglichst vollkommenen Verwirklichung des Guten möglich ist. „Die Kirche billigt es sehr, daß die einzelnen . . . soviel als sie können, zum Schutze, zur Erhaltung und zur Blüte des Staates beitragen"
Daß dabei die besondere Gnade Gottes, die den Christen in die Kirche berufen hat, auch besondere Verantwortung zur Folge hat, wird nicht verschwiegen. „Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Katholiken im praktischen Leben zahlreichere und größere Pflichten haben als die, welchen das Licht des katholischen Glaubens durch Irrtum getrübt ist oder gar nicht leuchtet"
Der Sinn der Demokratie darf bei all dem niemals aus dem Auge verloren werden. Drücken wir es wiederum mit den Worten Johannes’ XXIII. aus, der vom Frieden in der Gesellschaft etwas gesagt hat, was auch für den Sinn der Demokratie gilt: „Wir meinen ein Ordnungsgefüge, das in der Wahrheit gegründet, nach den Richtlinien der Gerechtigkeit erbaut, von lebendiger Liebe erfüllt ist und sich schließlich in der Freiheit verwirklicht"
Das demokratische Prinzip hat er noch weitergehend als seine Vorgänger der menschlichen Natur besonders entsprechend herausgestellt, wenn er sagt, „daß mit der Würde der menschlichen Person das Recht verknüpft ist, am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen"
Zwischen dem Neutralitätssatz, den Johannes wiederholt, und dieser These von der Angemessenheit der Demokratie für die Würde der menschlichen Person besteht eine fruchtbare Spannung: Es ist Raum für die geschichtliche Lage und freie Entscheidung eines Volkes. Zugleich ist das Ziel der Entwicklung eines Volkes angegeben: Der freien Entscheidung jeden Bürgers auch innerhalb eines demokratisch geordneten Staates Raum zu gewähren.