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Politische Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft in evangelischer Sicht | APuZ 7/1965 | bpb.de

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APuZ 7/1965 Politische Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft in evangelischer Sicht Politische Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft in katholischer Sicht

Politische Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft in evangelischer Sicht

Erwin Wilkens

I. Evangelischer Beitrag zu einem Programm politischer Bildung und Erziehung Befragt man die evangelische nach ihrem Beitrag zur politischen Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft, so muß zunächst darauf hingewiesen werden, daß die Meinungsbreite innerhalb der evangelischen Kirche, bei ihren Theologen und kirchlichen Amtsträgern in politischen Fragen nicht eben gering ist. Und das gilt nicht nur für die Überzeugungen in politischen Einzelfragen. Vielmehr stehen wir in der evangelischen Theologie und Kirche seit Jahren in tiefgreifenden Auseinandersetzungen über ethische und sozialethische Prinzipienfragen. Daher kann auch der einzelne Autor für seine Ausführungen nicht die amtliche Autorität der evangelischen Kirche in Anspruch nehmen, er wird sich aber darum bemühen, aus einem gewissen common sense heraus zu sprechen. Auf jeden Fall spricht jedoch der Autor als evangelischer Theologe. Als solcher ist er weder Politiker noch Kulturpolitiker. Nun wird man auch einem Theologen politische Überzeugungen und eine gewisse kulturpolitische Programmatik nicht verwehren können. Bei passender Gelegenheit wird er auch bereit sein, darüber Auskunft zu geben. Sofern er sich aber als Theologe und damit als Amtsträger seiner Kirche äußert, muß er sich auf das beschränken, was ihm theologisch zwingend erscheint. Der evangelische Theologe ist also aus Gründen, die dem sachlichen sich aus Wesen der evangelischen Kirche und ihrer sozialethischen Überlegung ergeben, nicht in der Lage, ein fest umrissenes politisches, kulturpolitisches, gesellschaftliches und sozialpolitisches Gesamtprogramm zu vertreten, aus dem dann ein Bildungsprogramm und Ratschläge für die Bildungsmittel abzuleiten wären. Es kann sich in der Sicht der evangelischen Kirche hier also nur um einen für sie charakteristischen Beitrag zu der alle Gesellschafts-und Meinungsgruppen beanspruchenden Gesamtausgabe einer politischen Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft handeln. Ohne Zweifel gibt es Kulturwirkungen der Kirche, ihrer Predigt und ihrer religiösen Erziehung. Die christliche Gemeinde ist in bestimmter Hinsicht immer auch ein wesentlicher politischer Faktor gewesen. Die Ausstrahlun-gen christlicher Überzeugungen auf alle Gebiete menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens haben bestimmte Zeitalter, auch Völker und Völkergemeinschaften christlich geprägt. Niemand kann die große Bedeutung dieser Ausstrahlungen sowohl für die Kirche wie für die menschliche Gesellschaft übersehen. In mancherlei Hinsicht stehen wir auch heute noch unter den Auswirkungen dieser Ausstrahlungen. Es gibt auch keinen Grund, warum sich die Christen heute nicht weiterhin dazu bekennen sollten, auch wenn uns der Begriff des „christlichen Abendlandes" in mancherlei Hinsicht problematisch geworden ist. Aber nie können diese geschichtlichen Auswirkungen christlicher Überzeugungen als theologisch zwingend gerechtfertigt, nie kann ihre Fortsetzung für die Zukunft theologisch verbindlich gefordert werden.

Die Kirche ist nicht in erster Linie politische Erziehungsmacht, und sie ist es heute erst recht nicht. Die Zeiten, in denen sie aus einer einzigen Quelle heraus den ganzen Menschen, seine persönlichen Lebensbereiche und seine gesellschaftlichen Beziehungen, damit also auch das „Politische", formte, sind seit langem vorbei, wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat. Es gibt eben auch andere legitime Impulse für den politischen Bereich als unmittelbar kirchliche und spezifisch christliche. Deshalb haben Feststellungen, die ja immer wieder ausgesprochen werden, die evangelische Kirche habe für die Formung des politischen Bewußtseins in unserem Volke und für die Verankerung der demokratischen Idee keinen Beitrag geleistet, auch nur einen begrenzten Wert. Wenn man die säkularisierte Welt als solche anerkennt, dann kann man die Verantwortung für politische Fehlentwicklungen nicht allein, ich meine nicht einmal in erster Linie, bei der Kirche suchen. Sinnvoll und notwendig ist allein die Frage, ob die evangelische Kirche den ihr von ihrem Wesen her möglichen Beitrag für Staat, Politik und Gesellschaft entschlossen genug geleistet hat. Für heute wird man die Möglichkeit eines solchen Beitrages zum politischen Bewußtsein unseres Volkes nur mit einiger Zurückhaltung beurteilen können. Ist schon in der gegenwärtigen volkskirchlichen Situation die bindende Kraft der Kirche hinsichtlich ihrer eigentlichen geistlichen Verkündigungsaufgabe im Schwinden begriffen, so kann man von ihr erst recht keinen umfassenden politischen Erziehungseffekt erwarten. Was die Wiedergewinnung der Menschen als lebendige Glieder der Kirche und auch was die politische Aktivierung eben derselben Menschen angeht, so ist unser Land als Missionsland zu bezeichnen.

Damit breche ich meine Erwägungen zur Möglichkeit eines politischen Bildungsprogramms von der kirchlichen Grundlage her ab. Die Begründung für diese Warnung vor einer Überschätzung der politischen Leistungsfähigkeit der evangelischen Kirche und ihrer Theologie wird im weiteren Verlauf des Aufsatzes zu geben sein. Der positive Beitrag der evangelischen Sozialethik zur politischen Wirklichkeit wird mehr die geistigen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens und im Kern die Bestimmung des Menschen als eines geschichtlichen Wesens überhaupt betreffen. Es wird sich darum handeln, den einzelnen Christen zu einem entsprechenden Einsatz zu nötigen.

II. Christliche Grundsätze in der pluralistischen Gesellschaft Die bisherigen Erwägungen werden nicht so verstanden worden sein, als könnten sich evangelische Kirche und Theologie, besonders aber evangelische Christen, die in Politik und Öffentlichkeit tätig sind, aus dem Gespräch über die Rolle des Christlichen in der Politik ausschalten lassen. Die oft verhandelte Frage, ob sich die Kirche auch politisch zu verstehen hat, ist zu ungenau formuliert, als daß sie glatt mit ja oder nein beantwortet werden könnte. Die Kirche ist sicherlich in dem Sinne unpolitisch, daß sie weder zum Subjekt noch zum Objekt politischen Handelns gemacht werden möchte. Aber die Kirche ist dennoch nie unpolitisch in dem Sinne, daß sie ihr Wort auf den privaten Bereich einer frommen Innerlichkeit beschränken könnte. Die kirchliche Predigt muß in ihre Auseinandersetzung mit der Welt auch ihre politische und gesellschaftliche Umwelt mit einbeziehen. Das Politische und Gesellschaftliche ist ein Teil christlichen Lebens und Gehorsams. Das gehört zu den gemeinsamen Überzeugungen aller ernst zu nehmenden theologischen und kirchlichen Gruppen innerhalb der evangelischen Kirche. Der christliche Glaube kennt kein Lebensgebiet, das nicht in das Licht der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus und von dem einzelnen Christen auch in eine Beziehung zu seiner Zugehörigkeit zu Christus zu stellen wäre. In diesem Sinne formuliert Eugen Gerstenmaier, „daß die beflissene grundsätzliche Isolierung des Glaubens von der materiellen politischen Entscheidung ein Symptom des Säkularismus ist, mit dem wir nun einmal auf Kriegsfuß stehen"

Zugleich aber wird evangelischen Christen eine neuartige Privatisierung des Glaubens als angebliche protestantische Errungenschaft empfohlen. Dahinter steht vielfach die Auffassung, daß die Christen es dem pluralistischen Charakter unserer Gesellschaft schuldig seien, auf einen eigenen Beitrag zur Politik und zur Gesellschaft zu verzichten. Ich darf dabei anmerken, daß ich hier auf jede Begriffsbestimmung zur „pluralistischen Gesellschaft" verzichte. In unserem Zusammenhänge meine ich natürlich weniger die Vielheit von Interessengruppen als vielmehr das Vorhandensein verschiedener religiös-weltanschaulicher Meinungsgruppen, die auch auf Staat und Gesellschaft einwirken und hier in Politik, Gesetzgebung und Verwaltung eine Mitwirkung und Berücksichtigung beanspruchen.

Eine neue weltanschaulich-liberale Front in unserem Volk appelliert im Kampf gegen tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Klerikalismus an die Bundesgenossenschaft der evangelischen Seite und an deren größeren Toleranzwillen. Auf diese Weise aber würde evangelisches Christentum hinter die Erkenntnisse, die uns namentlich im Kirchenkampf des Dritten Reiches zugewachsen sind, wieder auf eine private Gesinnungsethik zurückgeworfen werden.

Evangelische Christen dürfen sich ebensowenig in eine falsche Abhängigkeit von dem politischen Willen der römisch-katholischen Seite wie in eine falsche Frontstellung gegen tatsächliche oder vermeintliche römisch-katholische Überforderungen bringen lassen. Wollte man zwei Grenzmarken bezeichnen, so wäre evangelische Sozialethik zwischen Klerikalismus und Liberalismus einzuordnen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß diese Begriffe von unterschiedlicher Qualität sind. „Liberalismus" — das ist eine durchaus respektable Größe unserer Geistesgeschichte; das hat mit Aufklärung und Vernunft, mit dem Menschenbild des Idealismus, mit Humanismus und Wissenschaft, mit den großartigen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts und einer von dorther noch vertretenen freiheitlichen Staats-und Gesellschaftsordnung zu tun. „Liberalismus" •— das ist eine mit Stolz getragene Eigenbezeichnung seiner Vertreter. Der liberale Rechtsstaat ist, gesellschaftlich betrachtet, eine besonders eindrucksvolle Frucht des Liberalismus. „Klerikalismus" ist demgegenüber im Bereich von Politik und Gesellschaft ein Schlagwort, eine mit Affekten geladene und zum Zwecke der Abschreckung benutzte antithetische Kampfparole. „Klerikalismus" ist keine Eigen-bezeichnung, sondern ein offensives Schimpfwort zur Weckung von Unbehagen. Es ist zur Kampfparole derer geworden, die sich eben mit der Benutzung dieses Schlagwortes oft als das entpuppen, was sie den „Klerikalen" gerade vorwerfen, nämlich als intolerante Vertreter eines gesellschaftlichen Monopolanspruches. Niemand will „klerikal" sein und den Vorwurf des „Klerikalismus" auf sich sitzen lassen. Es hat aber nach meinem Dafürhalten nicht sehr viel Sinn, das Vorhandensein einer klerikalen Gefahr lediglich zu bestreiten und damit auf der Ebene von Polemik und Antipolemik zu verbleiben. Zudem hat sich ja längst gezeigt, daß die Antiklerikalen bereits da die Alarmglocke gegen den „Klerikalismus" ziehen, wo die Kirchen und ihre Glieder ihnen unaufgebbar erscheinende Grundsätze für das Leben der Gesellschaft vertreten. Wir müssen uns also von den Schlagworten freimachen, um der Sache selbst besser an die Wurzel gehen zu können.

Tatsächlich können wir der Frage nicht ausweichen, wieweit sich eine Verknüpfung von Glaube, Politik und Gesellschaft in einem Volke vertreten und verwirklichen läßt, das nicht mehr ausschließlich aus Christen oder aus Bürgern besteht, bei denen in politischen und gesellschaftlichen Fragen eine sittliche Bindung im christlichen Sinne vorausgesetzt werden kann. Wie steht es mit der Anwendbarkeit christlicher Kriterien für Gemeinschaftsregulierungen in einer pluralistischen Gesellschaft? Haben sich die Kirchen und auch die einzelnen Christen nicht zu sehr daran gewöhnt, für ihre eigenen gesellschaftspolitischen Grundsätze und Ziele mit Hilfe der öffentlichen Gewalt auch die Nichtchristen bzw. die kirchlich und christlich nicht mehr gebundenen Bürger in Anspruch zu nehmen?

Das Problem als solches ist nicht neu. Es stellte sich bereits mit der Annahme der Toleranzidee durch den-Staat, der die verschiedenen christlichen Konfessionen paritätisch zu behandeln hatte, darüber aber gleichzeitig die mittelalterliche Idee des Corpus Christianum verlor und den Weg einer allgemeinen Säkularisierung beschritt. Doch blieb es immer noch möglich, wenigstens eine bleibende allgemeine Bindung an ein „christliches Sittengesetz", die Anerkennung einer entsprechenden gesellschaftlichen Konvention, ja die Zustimmung zu dem Christentum als einer bestimmenden Größe des „christlichen Abendlandes" oder der „christlichen Kultur" voraus-zusetzen. Hier haben wir es heute mit einem bewußten und entschlossenen Aufbegehren zu tun, mit dem Versuch, nicht nur die Kirche, sondern auch die von den Christen für das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft vertretenen Auffassungen auf die Ebene einer Sondermeinung neben vielen anderen zurückzudrängen oder gar unter dem Vorwand der Gewissensfreiheit als einen gesellschaftlichen Faktor überhaupt auszuschalten, Wir stehen am Beginn einer neuartigen und eingehenden Auseinandersetzung über die Gestaltung und Anwendung christlicher Grundsätze in der pluralistischen Gesellschaft.

Zur Förderung und Versachlichung dieser Auseinandersetzung sollten die Christen den ganzen Bereich potentieller und tatsächlicher, legitimer und illegitimer Einwirkungen der Kirche und ihrer Glieder auf weltliche Dinge kritisch überprüfen. Es könnte ja sein, daß wir dabei in der Tat nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für heute verwerfliche Formen eines politischen Klerikalismus entdeckten, die von vertretbaren oder gar unaufgebbaren Einwirkungen auf Staat und Gesellschaft zu unterscheiden wären. Und es könnte auch sein, daß es darüber zu einem fruchtbaren Ringen zwischen Christen und Agnostikern von heute kommt, um die beiderseitigen Überzeugungen für notwendige Gemeinschaftsregelungen im Interesse einer freiheitlichen Gesellschaft einander anzunähern. Wir brauchen in der pluralistischen Gesellschaft von heute in der Tat die offene Bereitschaft christlicher und nichtchristlicher Kräfte, ihre beiderseitigen Überzeugungen als konstruktiven Beitrag für einen möglicherweise anzustrebenden fruchtbaren Ausgleich in der politischen und gesellschaftlichen Praxis gegenseitig zu respektieren. Von Reinhold Niebuhr, dem amerikanischen Theologen, fand ich dazu kürzlich aus einem neuen Buch folgendes Zitat, das mir diese Situation einigermaßen zutreffend zu umschreiben scheint:

„Die Zusammenarbeit zwischen säkularisierter Welt und Frömmigkeit ist, aufs ganze gesehen, fruchtbar verlaufen, weil jede Seite mehr allgemeine Tugenden besitzt, als die Gegenseite zuzugeben bereit ist. Jedoch hat keine Seite versucht, die charakteristischen Eigenschaften der Gegenseite als Untugenden hinzustellen. Die Demokratie der gesamten westlichen Welt ist wahrscheinlich das Ergebnis ihrer Zusammenarbeit". „Wir haben erkannt, daß die politische Demokratie von der Frömmigkeit und der Weltlichkeit abhängt, denn jede trägt mit ihren charakteristischen Erkenntnissen zur Gestaltung einer freien Gesellschaft bei"

Für die zu leistende kritische Überprüfung christlicher Einwirkungen auf Staat und Gesellschaft sollen hier wenigstens drei Bereiche kurz genannt werden, in denen es vernünftigerweise um eine klärende Auseinandersetzung zwischen den Christen unter sich und dann auch zwischen den Christen auf der einen und ihren gesellschaftspolitischen Kritikern agnostischer Herkunft auf der anderen Seite gehen muß.

1. Ich denke zunächst an die Möglichkeiten mittelbarer Ausübung weltlicher Macht und Herrschaft durch die Kirche. Diese hat ihre klassische Form in erster Linie in der mittelalterlichen Zwei-Schwerter-Theorie gefunden. Sie beruhte auf einer Verkennung des Wesens der Kirche. Entgegen einer immer noch anzutreffenden Polemik hat die römisch-katholische Kirche diese Zwei-Schwerter-Theorie längst aufgegeben. Aber man wird fragen müssen, ob nicht bestimmte weitgehende Naturrechtstheorien in Verbindung mit der Lehramtskompetenz einer solchen mittelbaren Ausübung weltlicher Herrschaft nahe kommen oder wenigstens Vorschub leisten. Von daher besteht die Versuchung, zur Verwirklichung christlicher Lebensinhalte das für alle geltende Gesetz des Staates in Anspruch zu nehmen. Die Folge ist, daß die Spannung zwischen Recht und Moral nivelliert und der sittliche Sollgehalt christlichen Glaubens-gehorsams zur juristischen Norm erhoben wird.

2. Diese mit der Spannung von Recht und Moral gegebene Problematik ist nicht so leicht zu lösen, wie es vielen erscheint. Die kirchliche Predigt des Gesetzes führt zur Bindung des Christen an bestimmte Gehorsamspflichten in seinem weltlichen Stand und Beruf. Aber diese Predigt des Gesetzes gilt nicht nur den Christen, sie verkündigt auch allgemeinverbindliche Grunddaten für das Zusammenleben aller Menschen in Staat und Gesellschaft. Es muß für die weltliche Ordnung daran festgehalten werden, daß bestimmte Inhalte christlicher Erkenntnis und kirchlicher Predigt auch da allen Menschen gelten, wo der Glaube an Jesus Christus nicht angenommen wird. Es gibt von Gott vorgegebene, angeordnete und aufgegebene Grunddaten für das Zusammenleben der Men2) sehen, die für das weltliche Recht normativ sind. Dabei handelt es sich durchweg um „vernünftige" Sachverhalte, deren Mißachtung sich kein Staat und kein irdisches Gemeinwesen um ihres Bestandes willen erlauben können.

Hier werden sich evangelische Grundsätze am stärksten mit naturrechtlichen Positionen der römisch-katholischen Gesellschaftslehre berühren. Zugleich ist darauf zu vertrauen, daß diesen vernünftigen Sachverhalten auch Nicht-christen gegenüber eine Überzeugungskraft innewohnt, die eine Verständigung für die allgemeingültige Gesetzgebung möglich erscheinen läßt. Jedenfalls darf das ebenso beliebte wie populäre Argument der Agnostiker, durch derartige Grundsätze würden Nicht-christen und Andersdenkende für einseitige oder esoterische theologische Überzeugungen in Anspruch genommen, nicht zu einer falschen Toleranz und Gleichberechtigung aller Meinungen führen. Ich darf hier einmal den Bundesrichter Kurt Wüstenberg zitieren:

„Toleranz im Recht bedeutet . . . nicht . . .

meinungsloses gewähren lassen. ... Es gibt Grenzen der Toleranz, die durch letzte, für die gesamte Bevölkerung, unabhängig von allen Religionen und Weltanschauungsgruppen, verbindliche Werte bestimmt werden. An diesen Werten muß das Recht notwendig ausgerichtet sein, wenn es seine Ordnungsaufgabe erfüllen soll. Man kann auch sagen, daß diese Werte dem Recht selbst unmittelbar innewohnen. Der Staat, der völlige Wertfreiheit zur Richtschnur seiner Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung machen würde, würde seine Aufgabe und den Dienst, den er der Gemeinschaft der in ihm verbundenen Menschen schuldig ist, verfehlen"

3. Auch in dem weltanschaulich neutralen Staat von heute nimmt die Kirche öffentliche Ordnung und Gewalt zur Sicherung ihrer eigenen Institution und darüber hinaus für rechtlich geordnete Zugeständnisse von Privilegien zur öffentlichen Ausübung ihrer spezifischen Tätigkeiten in Anspruch. Man denke etwa an den gesetzlichen Sonntagsschutz, an den besonderen Schutz gottesdienstlicher Feiern und kirchlicher Gebäude, an den staatlich geordneten Religionsunterricht in öffentlichen Schulen sowie an die Einrichtung „christlicher" Schulen überhaupt und an die Übung, den Kirchen die Rechte einer Körperschaft öffentlichen Rechts zuzuerkennen. An dieser Stelle wird sich entscheiden, ob man dem „Christlichen" in Staat und Gesellschaft eine Sonderstellung, vielleicht mit Rücksicht auf die überwiegende Mehrheit, zubilligen will. Es geht hier um die Unwiderruflichkeit der christlichen Komponente in der europäischen und der von Europa geprägten Völkerwelt. Man wird zugeben müssen, daß gerade hier eine bestimmte Toleranzaufgabe gegenüber Minderheiten vorliegt und daß geistiges Ringen von Gewalteinwirkungen freigehalten werden muß.

Die notwendige Diskussion über die tragenden sittlichen Überzeugungen und Rechtsvorstellungen in einer pluralistischen Gesellschaft leidet zur Zeit noch darunter, daß es den Agnostikern bisher nicht gelungen ist, ihre eigenen weltanschaulichen und sittlichen Grundlagen für die unumgänglichen Gemeinschaftsregulierungen zu verdeutlichen. Sie haben sich darin als kein sehr fruchtbarer Gesprächspartner erwiesen. Die Proklamation der Gleichberechtigung aller nur irgendwie vorhandenen sittlichen Überzeugungen und die unterschiedslose Beanspruchung staatlichen und gesellschaftlichen Schutzes für alle denkbaren Moralprinzipien kann auch unter der Toleranzidee vernünftigerweise niemand wünschen. Die Phase der Polemik und die Neigung, für die Missionierung des Anders-denkenden auch das Gesetz des Staates in Anspruch zu nehmen, sind noch nicht überwunden. Die polemische Negation beschwört zugleich die Gefahr herauf, daß wir alle unter die fatale Herrschaft der nicht weniger klerikalistischen Unduldsamkeit eines ungeprüften weltanschaulichen Liberalismus geraten. Überhaupt ist in diesem ganzen Gespräch bisher viel zuwenig beachtet worden, daß es in unserer heutigen Gesellschaft auch sehr wirksame Formen eines säkularisierten Klerikalismus gibt. Man denke dabei etwa an einen monopolistischen Mißbrauch der modernen Massenkommunikationsmittel, an einen möglichen Machtmißbrauch durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessengruppen. Es gibt auch einen Klerikalismus der öffentlichen Meinung, wie er sich in den oft allzu oberflächlichen Diskussionen der letzten Zeit zum Verhältnis von Recht und Moral geradezu bestürzend gezeigt hat. Ich möchte dieses Kapitel freilich nicht beschließen, ohne noch einmal sehr deutlich unterstrichen zu haben, daß der Kirche und ihren Gliedern die Möglichkeit eines klerikalistischen Abgleitens, gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt, immer vor Augen stehen muß. Es gibt sicherlich die Gefahr eines Mißbrauchs geistlicher Macht für weltliche Zwecke, und es gibt umgekehrt die Gefahr einer falschen Beanspruchung weltlicher Macht für geistliche Zwecke. Die „Zwecke" mögen jeweils notwendig und respektabel sein; aber man darf hier keine Vermischung dulden, weder in den Zielen noch in den Mitteln. Die Kirche wäre schlecht beraten, wenn sie in irgendeiner Weise geistlichen Machtmißbrauch üben und dulden, wenn sie der Vergewaltigung Andersdenkender zuschauen oder gar das Wort reden würde.

III. Die spannungsvolle Innenstruktur evangelischer Ethik Wie kommt es nun auf evangelischer Seite zu einer zulänglichen Grundlegung der Sozial-ethik? Ich weise dazu auf die spannungsvolle Innenstruktur hin, die mir für die evangelische Ethik und Sozialethik besonders charakteristisch zu sein scheint, Gerade dieser dynamische Charakter macht die evangelische Ethik besonders dazu geeignet, an dem Gespräch über politisches Verhalten und politische Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft teilzunehmen.

Vorweg aber wenigstens ein kurzes Wort zu der tiefgreifenden Auseinandersetzung, die seit Jahren in der evangelischen Kirche über ihren politischen Dienst geführt wird. Diese Auseinandersetzung erscheint vielen als zuchtloser Streit über unterschiedliche politische Meinungen. Tatsächlich aber geht es um mehr. Nicht die politische Überzeugung, sondern das Verhältnis von Kirche und Welt steht zur Erörterung. Wiederaufrüstung, Atomwaffen, Ost-West-Spannung, Obrigkeit: jedesmal geht es um die Grundfrage der christlichen Ethik, nämlich wie der Gehorsam des neuen Menschen in Christus in der alten Welt möglich ist, und was es für die alte und vergehende sündige Welt bedeutet, daß in ihr eine Gemeinde lebt, die der neuen Welt in Christus schon jetzt angehört.

So betrachtet, gewinnt der innerkirchliche Streit mit einem Male ein ganz anderes Gesicht. Die großen Sachfragen der Politik sind für das kirchliche Gespräch wechselnde Anwendungsfälle für die grundlegenden Differenzen in den ethischen Ausgangspositionen. Stößt man durch die ärgerlichen Begleiterscheinungen hindurch, steht man vor einem Prinzipienstreit über die Gestalt des christlichen Gehorsams angesichts der uns alle bedrängenden Wirklichkeit der Weltlage. Wer diesen Streit einmal als ein Ringen um die Erkenntnis des Willens Gottes erfaßt hat, kann der hier aufbrechenden Leidenschaft seinen Respekt kaum versagen. Zugleich beginnt man zu ahnen, daß der kirchliche Dienst zu einer Vertiefung der politischen Aufgabe beitragen kann, auch wenn seine unmittelbare Verwendbarkeit nicht jedem gleich einleuchtet. Der Kirche ist aufgegeben, politisches Geschehen als ein Stück Geschichtshandeln Gottes zu werten und zugleich politisches Handeln als Aufgabe eines von Gott gebotenen Glaubensgehorsams zu beschreiben. Dieser Gehorsam nun vollzieht sich in einer Welt, in der der Wille Gottes für gewöhnlich nicht geschieht. Das Grundproblem aller theologischen Bemühungen um ethische und sozialethische Grundlagen ist die Frage nach den Folgen der Sünde. In der theologischen Betrachtung sind Schöpfung und Sünde grundsätzlich streng zu unterscheiden, aber in der Wirklichkeit und im Urteil für die sittlichen Möglichkeiten des Menschen in dieser Welt sind sie unscheidbar. Die Welt kann ohne die Dimension der Sünde überhaupt nicht zureichend beschrieben werden. Gerechtigkeit und Frieden sind immer durch Unrecht und Gewalttat gefährdet, daher ist dem Recht die Macht in einer bestimmten Weise zugeordnet; der irdische Friede kann nur bewahrt werden, wenn zugleich der Übeltäter abgewiesen wird; gegen den Mißbrauch von Macht und Gewalt müssen Gegengewichte geschaffen werden. Diese Gegengewichte müssen als Ausdruck einer Ordnung gesehen werden, die Gott der Welt gegeben hat, um sie äußerlich gegen die Sünde und deren Übermächtigwerden zu erhalten und den Kampf aller gegen alle zu verhindern. Aber wir müssen sofort hinzufugen, daß wir es in dieser Welt immer nur mit geschichtlichen Ordnungen zu tun haben, nicht aber mit Ordnungen, die der Welt von Natur in ewiger, unwandelbarer Gestalt vorgegeben sind. Auch die von Gott gewollte Ordnung dieser Welt ist immer nur in bestimmter geschichtlicher Gestalt erkennbar und realisierbar. Von daher erklärt sich der grundlegende Satz von Helmut Thielicke, daß die Ordnungen dieses Äons Strukturformen des gefallenen Daseins in dieser Welt seien und daß auch Gottes geoffenbartes Gesetz auf vorübergehende Notordnungen in dieser Welt zielt. Eine Verabsolutierung irdischer Ordnungen zu vermeiden, ist dem evangelischen Sozialethiker oberstes Gebot.

Diese von Gott gewollte und in ihren Grundlagen auch von ihm bestimmte Erhaltung der Welt geschieht nicht um ihrer selbst willen. Die sündige Welt, die sich ihrem Schöpfungszweck immer wieder entzieht und dauernd vor dem selbstverschuldeten Chaos bewahrt werden muß, wird auf die Errettung in Jesus Christus hin erhallen. Die Geduld Gottes mit der Welt dient dazu, allen Menschen die Botschaft vom Heil in Jesus Christus zugänglich zu machen. Man kann also sagen, daß Gott ein doppeltes Ziel mit dieser Welt verfolgt: ein vorläufiges der Erhaltung in einem notdürftig geordneten äußeren Leben, ein endgültiges und ewiges durch die Übermittlung des Heiles in Jesus Christus.

Die „Erhaltung" und die „Erlösung" sind die beiden großen Stichworte, die wir uns merken müssen, wenn wir das Verhältnis unserer Welt zu Gott in der rechten Weise beschreiben und nicht an irgendwelche Wunschgebilde geraten wollen. An dieser Stelle tritt die besonders von Luther geübte doppelte Weltschau des Glaubens ins Blickfeld, da der Christ die Herrschaft Gottes und die Macht der Sünde zusammenreimen muß und doch nicht zusammenreimen kann. Die tiefgegründete Erkenntnis von dem zweifachen Regiment Gottes, der mit der Welt doppelschichtig in dem Angebot des Heiles in Jesus Christus einerseits, in ihrer vorläufigen Erhaltung gegen die Sünde andererseits verfährt, führt zu einer Ethik, die die Wirklichkeit dieser Welt und ihre tatsächlichen Strukturverhältnisse ins Auge faßt.

Dem entspricht es nun auch, daß der Gehorsam des Christen, sein tatsächliches Leben in dieser Welt, unter einem doppelten Vorzeichen steht. Er wird von Gott für die Erhaltung dieser Welt in Anspruch genommen. Der Christ kann gar nicht davon absehen, daß diese Welt nur bis auf weiteres und gegen die Sünde, in einer ganz vorläufigen, dem vollkommenen Willen Gottes nie ganz genügenden Weise erhalten wird. Auch der Gehorsam des Christen ist da ganz notdürftig, voller Niederlagen, immer wieder neu gegen die Sünde erkämpft. Aber wir haben ja auch gesagt, daß die Erhaltung dieser Welt ein Ziel hat, das durch die Erlösung in Jesus Christus bestimmt ist. Die Erlösungsbotschaft tritt deshalb nicht so unverbunden neben die göttliche Erhaltung.

Entsprechend muß auch der Christ in jedem Augenblick seine Zugehörigkeit zu Jesus Christus zum Ausdruck bringen. Wir haben als Christen unablässig über die Frage nachzudenken, wie sich die Erlösung in Jesus Christus auch in den weltlichen Ordnungen schon auswirken kann. Damit sind wir für unser Handeln, für unseren christlichen Gehorsam, in eine lebendige Spannung hinein versetzt, in das Miteinander und Gegenüber von Erhaltung und Erlösung. Die Gestalt unseres christlichen Gehorsams will immer wieder neu errungen werden. Es ist von vornherein nie völlig ausgemacht, in welche Richtung ich mich zu entscheiden habe. Wir können die letzte Grenze, die letzte Verhüllung des Sieges Jesu Christi, die über dieser Welt liegen, nie ganz beseitigen. Für unser Handeln bleibt immer ein Rest von Ungewißheit und Unsicherheit. Unser Heil in Jesus Christus ist vollkommen und endgültig, aber unser Gehorsam im zeitlichen Ablauf dieses Lebens ist ganz unvoll-kommen. Es ist deshalb gar nicht zu verwundern, daß es über Fragen des praktischen Handelns auch unter Christen immer wieder zu Unterschieden und Meinungsverschiedenheiten kommt. Alles Handeln des Christen bleibt in Schuld und Irrtum hinein gebunden. Auch das ist ein Stück von der Vorläufigkeit dieser Welt, die wir nur deshalb ertragen können, weil der endgültige Sieg Jesu Christi, an den wir glauben, nicht wieder beseitigt werden kann.

Evangelische Sozialethik geht also nicht den Weg, aus Schöpfung und Offenbarung ein für alle Zeiten gültiges, theologisch ableitbares Ordnungsbild zu gewinnen. Wir müssen vielmehr sagen, daß diese unsere ganze dynamische Betrachtung der Welt und der Bestimmung des Menschen in ihr eine sog. „christliche" Ordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ausschließt. Das bedeutet für den Christen eine große Freiheit, indem er sich grundsätzlich in verschiedene Arten staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnung als Mitarbeiter einfügen kann. Infolgedessen muß er auch revolutionäre Umwälzungen, selbst wenn sie für das sittliche Urteil mit Unrecht und Gewalttat verquickt waren, im Geschichtsurteil des Glaubens als Handeln Gottes erkennen und als Stätte für neues menschliches Zusammenleben akzeptieren. Um der Liebe willen ist der Christ gehalten, in Beruf und Gesellschaft für das Wohl seiner Mitmenschen zu arbeiten, auch wenn er weiß, daß von der Gestalt des zukünftigen Reiches Gottes her alle Arbeit am irdischen Zusammenleben der Menschen fragwürdig ist. Wie die Kirche von ihrem eigentlichen Auftrag lebt, das Heil in Jesus Christus zu verkündigen, so ist der Christ in seiner ihn tragenden Hoffnung von irdischen Erfolgen und dem menschlichen Fortschritt unabhängig.

Für den kirchlichen Dienst an der Politik sind daraus nun einige wichtige Folgerungen zu ziehen:

1. Man darf nach allem die Kirche hinsichtlich ihrer „politischen Leistungsfähigkeit" nicht überfordern. Die theologisch-kirchliche Erwägung zu politischen Sachverhalten kann immer nur ganz bestimmte Grunderfordernisse herausstellen. Die Verwirklichung dieser Grunderfordernisse ist variabel und von einer ganzen Reihe von Paktoren subjektiver Art sowie zeitbedingter und situationsbezogener Notwendigkeiten abhängig. Auch die Gewissensentscheidung zur Anwendung derartiger Grunderfordernisse sowohl in der politischen Gesamthaltung wie auch in der Einzelentscheidung impliziert so viel an subjektivem Gehalt und verschiedenen Möglichkeiten, daß das Ergebnis nie mit dem Rang kirchlicher und dogmatischer Notwendigkeit ausgestattet werden kann. Die in den politischen Dingen erforderliche Übersetzung aus den ethischen Grunderkenntnissen heraus in die Entscheidung hinein kann nicht kirchlicherseits mit-geleistet werden, da sich die sittliche und politische Entscheidung ihrem Wesen nach der abstrakten theologischen Deduktion entzieht. Diese Art von Entscheidung kann deshalb dem einzelnen nicht abgenommen werden. Es gibt keine Identifizierung der Kirche und ihrer sozialtheologischen Erwägung mit einem bestimmten politischen Programm, und sei es auch mit einem Programm, dem man die christliche Motivation zugestehen muß. Von daher ergibt sich die Offenheit der Kirche für verschiedene Parteien. Die parteipolitische Zurückhaltung der evangelischen Kirche ist im Grundansatz evangelischer Ethik angelegt und zugleich Ausdruck einer Dienstbereitschaft für alle und an allen.

2. Man hat der evangelischen Kirche oft vorgeworfen, daß sie sich von daher den Aufgaben in der Welt gegenüber allzu reserviert verhalten und die irdischen Ordnungen einer falschen Eigengesetzlichkeit überlassen habe; dadurch sei der einzelne Christ in seinem Verhältnis zur Welt zu einem passiven Heilsindividualismus und zu einer unfruchtbaren Resignation gegenüber ihrer Verlorenheit verführt worden. Wie auch immer die Berechtigung einer solchen Kritik beurteilt werden mag, auf jeden Fall muß unterstrichen werden, daß der dynamische Grundcharakter der evangelischen Sozialethik den christlichen Dienst am weltlichen Zusammenleben der Menschen auf allen Ebenen und in allen Lebensbereichen einer starken Nötigung unterwirft. Wir werden das später noch näher zu bedenken haben.

3. Das Evangelium von Jesus Christus ist Heilsverkündigung und kein sozialrevolutionäres Programm, kein Gesetzeskatalog zur Umwandlung dieser Welt in eine christliche Gesellschaftsordnung. Jede derartige Zweck-bestimmung des Christentums, jede Ableitung von Normen aus ihm zur Verwirklichung einer christlichen Weltordnung muß schon daran scheitern, daß sich wesentliche christliche Lebensinhalte überhaupt nicht rechtlich interpretieren und gesetzlich verwirklichen lassen. Christliche Ethik muß hier einen Raum für personale, an den Glauben gebundene Entscheidungen lassen. Diese Grenze muß auch bei bestimmten Inhalten der Sozial-ethik und der Gesellschaftslehre respektiert werden. Glaubensbindungen und Gewissensüberzeugungen lassen sich nicht gesetzlich erzwingen und auch nicht institutionell sicherstellen. Für das Handeln in Staat und Gesellschaft ergibt sich hier die Notwendigkeit der Beschränkung, die Verpflichtung zur Toleranz, der Respekt vor der personalen Würde des einzelnen und seiner Gewissensfreiheit. Ich möchte aber betonen, daß es mir hier in der theologisch-christlichen Betrachtung keineswegs um die Proklamation von Gewissensfreiheit um ihrer selbst willen und auf Grund eines ganz bestimmten autonomen idealistischen Menschenbildes geht. Es liegt vielmehr in der Natur der Sache, im Wesen christlicher Ethik sowie in der relativen Leistungsfähigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungen, wenn wir hier einen größeren Raum für Entscheidungsfreiheiten, einen Spielraum des vernünftigen und gewissenhaften Ermessens, größere Offenheit für den jeweiligen Wechsel der Situation und auch die größere Bereitschaft für die lebendige Entwicklung nach vorn in Anspruch nehmen. Der Christ weiß, daß Gott der Herr der Geschichte ist und heute die Welt ebenso regiert, wie er sie gestern regiert hat und morgen regieren wird. Gottes Wille und Anforderungen begegnen uns jeden Tag und immer wieder neu.

5. Die Versuchung einer sog. „christlichen" Gesellschaftsordnung liegt darin, statt dessen mehr nach der in sich ruhenden unveränderlichen göttlichen Ordnung für diese Welt als einer lex aeterna zu suchen, nach einer metaphysisch gegründeten Seinsordnung. Auf diese Weise wird auch die innere Spannung im Ringen des Christen um die Überwindung der von der Sünde bedingten Strukturen dieser Welt zugunsten eines ausgewogenen Systems von Anforderungen und Leistungen aufgelöst. Die evangelische Überlegung geht darauf hinaus, auch bei den notwendigen staatlichen und gesellschaftlichen Gemeinschaftsregelungen mehr das unzulängliche Wagnis menschlichen Tuns zu betonen, das Ziel, eine vorläufige, verbesserungsbedürftige, möglichst erträgliche Ordnung für das menschliche Zusammenleben einzurichten.

IV. Die römisch-katholische Gesellschaftslehre im evangelischen Urteil Es gehört nicht zu meiner Aufgabe, einen Überblick über Ansatz, Grundbegriffe und Einzelheiten der römisch-katholischen Gesellschaftslehre zu geben. Es scheint mir aber doch hilfreich zu sein, wenn ich von den geschilderten evangelischen Grundlagen her kurz zu zeigen versuche, wo wir meinen, besondere Gefahrenpunkte in der römisch-katholischen Gesellschaftslehre sehen zu sollen. Dabei möchte ich aber zugleich zum Ausdruck bringen, daß uns durchaus bewußt ist, wie sehr im römisch-katholischen Raum selbst die Zulänglichkeit einer klassischen Naturrechtsidee zur Debatte steht.

Für die römisch-katholische Kirche ist die christliche Gesellschaftslehre „ein integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen" (Enzyklika Mater et magistra 1961). Oberstes Prinzip der katholischen Soziallehre ist es, daß der „Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein" muß und daß dieses oberste Prinzip die unantastbare Würde der menschlichen Person trägt und schützt (Mater et magistra § 219 f.). Hier ist also ein bestimmtes Menschenbild vorausgesetzt, das „mit Erkenntnis und freier Selbstbestimmung begabte Geistwesen" (§ 208), dessen letztes Ziel „seine natürliche und übernatürliche Vervollkommnung" ist (§ 246).

Dem evangelischen Beobachter ist es dabei sehr interessant, daß die moderne römisch-katholische Theologie stärker als zuvor die theologische Prägung der christlichen Gesellschaftslehre betont. Wie alles Geschöpfliche ist auch das Soziale heilsbedürftig und christusbezogen 4). Hier haben wir es ähnlich wie in einer bestimmten Richtung evangelischer Ethik mit einer Art von christozentrischer Betrachtung der Gesellschaftslehre zu tun. Joseph Höffner, der jetzige Bischof von Münster, nennt dazu in seiner „Christlichen Gesellschaftslehre" vier Gesichtspunkte:

1. Christus hat den ganzen Menschen erlöst und damit nicht nur seine Personalität, sondern auch seine soziale Wesensanlage, also die Bezogenheit des Menschen auf das Du und auf die Gemeinschaft. Die christliche Lehre vom Menschen würde verkürzt, wenn man ihn nur als Einzelseele sehen würde.

2. Auch nach dem Sündenfall gibt es eine in der gesellschaftlichen Veranlagung des Menschen grundgelegte, d. h. gottgewollte Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. 3. Diese gesellschaftliche Ordnung, die nach dem Heilsplan Gottes wiederherzustellen und zu vollenden ist, bleibt auf die Heilsordnung bezogen. Sehr interessant ist hier die Begründung. Nach der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno" von 1931 führt die Verkehrung der gottgewollten gesellschaftlichen Ordnung dazu, daß es einer ungeheuer großen Zahl von Menschen außerordentlich schwer gemacht wird, „das Eine Notwendige, ihr ewiges Heil zu wirken".

Es gibt „heilswidrige Verhältnisse" (z. B.

die Elendszustände in manchen Entwicklungsländern), die nach den Grundsätzen der christlichen Soziallehre gesellschaftlich neu geordnet werden müssen.

4. Der Ansatz der römisch-katholischen Sozial-lehre beim christlichen Verständnis vom Menschen und seinem Heilsziel folgt letztlich aus der Menschwerdung Christi. Christus trat als das fleischgewordene Wort Gottes auch in das geschichtliche und gesellschaftliche Leben der Menschheit ein.

Somit wäre es Verrat an Christus, dem menschgewordenen Wort Gottes, wollte der Christ die Ordnungskraft des Glaubens für das öffentliche Leben nicht nutzen. In diesem Zusammenhang heißt es bei Pius XII., daß die Kirche „das Lebensprinzip der menschlichen Gesellschaft" sei.

Man sieht also, wie sehr der modernen römisch-katholischen Gesellschaftslehre daran liegt, Schöpfung und Erlösung, Natur und Gnade, Grundsätze des Naturrechts und Offenbarungswahrheiten als Erkenntnisgrundlagen und Gestaltungsprinzipien für die Ordnung der Gesellschaft fruchtbar zu machen. Zugleich liegt ihr daran (und das ist der Unterschied zum christozentrischen Ansatz der theologischen Schule Karl Barths), die sozialphilosophische Komponente (also Schöpfung, Natur und Naturrecht) in gewisser Eigenständigkeit zu erhalten, zumal ja die Schöpfung und die menschliche Natur durch die Sünde nur relativ verdorben sind. Zugleich aber sollen doch die Zusammengehörigkeit und das Aufeinander-Angewiesen-Sein von Gesellschaftsordnung und Heilsordnung betont werden. Eine Schlüsselstellung nimmt hier das kirchliche Lehramt ein, da die Verkündigung und die Auslegung des natürlichen Sittengesetzes in die Zuständigkeit der Kirche fällt. So verfährt also die christliche Gesellschaftslehre, die seinswissenschaftliche und normative Disziplinen umfaßt, sowohl sozialphilosophisch wie sozial-theologisch. Deshalb kann es bei Bischof Joseph Höffner heißen, es gelte, „die christliche Soziallehre durch die Entfaltung spezifisch theologischer Kategorien über das Naturrecht hinaus zu entwickeln"

Trotz des für das evangelische Urteil reichlich gewagt erscheinenden Unternehmens, für die Ordnung der irdischen Gesellschaft durch Seinsananlogie über die sündige Verderbnis der Welt hinweg auf die ursprüngliche schöpfungsmäßige Seinsordnung zurückzugreifen und der menschlichen Gesellschaft auch die Erkenntnismöglichkeiten und Kräfte der Heilsordnung zuzuführen, warnt der heutige römisch-katholische Gesellschaftswissenschaftler vor jedem Sozialutopismus. „Ziel der christlichen Gesellschaftslehre", so heißt es bei

Höffner, „ist nicht ein irdisches Paradies, sondern jene soziale Ordnung, in welcher der Mensch am besten den Willen Gottes zu erfüllen und ein christliches Leben zu führen vermag" Damit hängt es denn auch zusammen, daß man die sozial-metaphysischen, die sozialethischen und die sozialtheologischen Grundlagen mit der Situation und dem Wandel der Zeit verbindet. Man muß zugeben, daß diese Tendenz zu einer stärkeren Beweglichkeit in der Anwendung christlicher Gesellschaftsprinzipien heute auf römisch-katholischer Seite im Wachsen begriffen ist. Es macht die Kunst der modernen römisch-katholischen Gesellschaftslehre aus, die gottgesetzten Werte und Ordnungen mit der Analyse der Verhältnisse in der jeweiligen Situation und mit den wechselnden Bedürfnissen der Zeit zu verbinden.

Soweit wollte ich meine Sicht von dem Ansatz moderner römisch-katholischer Gesellschaftslehre andeuten, ohne jetzt auf die weitere Darstellung und Entfaltung der verschiedenen Ordnungsprinzipien und des ganzen natur-rechtlichen Bereiches sowie des weiten Feldes des Ordnungsgefüges der Gesellschaft näher eingehen zu können. Wir müssen evangelischerseits zugestehen, daß es sich hier um eine eindrucksvolle Zusammenschau von Schöpfung und Heil, Natur und Erlösung, Vernunft und Gnade des Menschen handelt, um die Ordnung der Gesellschaft so weit wie möglich im Willen Gottes zu begründen. Wir haben auf evangelischer Seite oft sehr abenteuerliche Vorstellungen von der Perfektion und der Leistungsfähigkeit dieser römisch-katholischen Gesellschaftslehre. Daran scheinen mir übersteigerte Thesen römisch-katholischer Theologen und Politiker nicht ganz unschuldig zu sein. Im ganzen aber scheint mir bei einer unvoreingenommenen Betrachtung in der modernen römisch-katholischen Moraltheologie und Naturrechtslehre die Tendenz unverkennbar zu sein, den Bereich der naturrechtlich festliegenden Grundsätze gegenüber früheren Entwicklungen wieder möglichst stark einzugrenzen, um der geschichtlichen Variabilität einen um so größeren Raum zu schaffen. Jedenfalls haben wir auch im evangelischen Bereich immer wieder auf die spannungsvolle Situation des innerkatholischen Gespräches über Naturrecht und Gesellschaftslehre hinzuweisen.

Dennoch bleiben auch nach meinem Dafürhalten Signatur und Struktur römisch-katholischen Sozialdenkens soweit erhalten, daß es für das evangelische Urteil ein vielzu geschlossenes Ordnungsbild bietet, um ohne weiteres als gemeinchristliche Basis für das Handeln in Staat und Gesellschaft gelten zu können. Die Naturrechtsidee führt zu allzu optimistischen Vorstellungen von der Möglichkeit des Menschen, das in der Schöpfung angelegte Ordnungsbild der Welt auf dem Wege über die Seinsanalogie zu erkennen und so weit wie möglich zu verwirklichen. Die Tendenz ist unverkennbar, Normen und Prinzipien, Gesetze und Institutionen einzusetzen, um die Welt einer dem ursprünglichen göttlichen Schöpfungsbild entsprechenden Ordnung jedenfalls anzunähern. Dieses durch die ganze römisch-katholische Moraltheologie und Gesellschaftslehre hindurchgehende seinshafte Verständnis eines vorgegebenen naturrechtlichen Ordnungsgefüges oder geoffenbarten Heilsgefüges scheint mir das unaufgebbare Personalitätsprinzip und das Situationsprinzip in der Ethik in unangemessener Weise zugunsten institutionalisierender Tendenzen einzuschränken.

Die Folge ist eine für das evangelische Urteil zu starke Beanspruchung des Staates und anderer gesellschaftlicher Institutionen für die Verwirklichung eines vermeintlich christlichen Ordnungsbildes. Die Folge kann nur die sein, daß Andersdenkende einer über das Ziel hinausgehenden Nötigung unterworfen werden, christlichen Prinzipien und Ordnungsregulierungen zuzustimmen. Der Raum der freien Gewissensentscheidung kann auf diese Weise so sehr eingeschränkt werden, daß das Bild des Menschen gerade dadurch Schaden nimmt, daß man seine Verwirklichung erzwingen will. Insgeheim steht eben doch, so oder so, das Leitbild des „christlichen Staates" vor Augen. Man sieht sich natürlich auch von römisch-katholischer Seite her immer wieder zu Abstrichen und Kompromissen genötigt, die man sich abringt und, nicht immer mit gutem Gewissen, zugesteht. Darauf beruht auch der mancherorts vorhandene Verdacht, der römisch-katholische Volksteil sei darauf aus, bei nächster sich bietender Gelegenheit auf eine perfekte Lösung und Verwirklichung christlicher Ordnungsvorstellungen zuzugehen.

Ich habe diese kritischen Erwägungen keineswegs in vordergründiger polemischer Absicht angestellt, schon gar nicht, um die Möglichkeit evangelisch-katholischer Gemeinsamkeit in Fragen der Gesellschaftsordnung zu verneinen. Mir lag daran, deutlich zu machen, in welcher Richtung evangelische Besorgnisse und Anfragen an römisch-katholisches Gesellschaftsdenken zu suchen sind. Ich betone noch einmal, daß wir auf evangelischer Seite sehr beeindruckt sind von neuartigen Entwicklungen in der römisch-katholischen Gesellschaftslehre. Wir meinen aber, auf nach wie vor vorhandene Tendenzen, denen wir widersprechen müssen, aufmerksam machen zu sollen.

V. Der Mensch als Kriterium für das Handeln in Staat und Gesellschaft Die mehr personal bestimmte Methode verleiht der evangelischen Sozialethik den Charakter des Unentschiedenen, Lebendigen und Wandelbaren. Man sage aber nicht, daß nicht auch sie zur Klärung konkreter ethischer Grunderfordernisse für den Bereich der Politik und der Gesellschaft führe. Das Hauptgewicht evangelischer Sozialethik scheint zwar in gewissem Sinne bei den negativen Abgrenzungen zu liegen, aber es sind doch positive Ergänzungen möglich und erforderlich. Entscheidend für das Handeln in Staat und Gesellschaft ist — und hier berühren wir uns sehr eng mit der römisch-katholischen Gesellschaftslehre, selbstverständlich auch mit allen humanistisch begründeten politischen Grundlegungen — die Stellung und Bewertung des Menschen. Die Wirkungen auf den Menschen sind das eigentliche Kriterium bei einer christlichen Mitwirkung an den politischen Angelegenheiten. Ob der Mensch Mittel zum Zweck oder das eigentliche Kriterium ist, entscheidet schlechterdings über Wert und Unwert einer politischen Programmatik, politischer Einzelentscheidungen und politischer Bildung.

Es liegt ja zutage, daß sich an dieser Stelle die geistige Auseinandersetzung heute vollzieht. Das gilt einmal für das Ringen der beiden Weltblöcke Ost und West. Es liegt aber eine Ironie darin, daß der Osten viel stärker als der Westen davon durchdrungen ist, einem überzeugenden Menschenbild zu dienen, und auf seine Begründung eine respektable Intellektualität verwendet.

Doch der zugrunde liegende materialistische Monismus duldet kein Gegenüber des einzelnen zur Gesellschaft, der sittlichen Bindung zum Zwangsablauf der Geschichte, des Geistes zur Materie. Der Mensch und seine Ordnung, Recht und Gewissen, Eigentum und Arbeit, Sprache und Kultur: alles wird zur Funktion der ökonomisch verstandenen Gesellschaft, zum bloßen „Wie" des gesetzmäßigen Ablaufs der Geschichte. Das humanistische Pathos der marxistischen Frühzeit endet in einer Phrase, in einer Umkehrung der Begriffe und in einer grotesken Sprachverwirrung. Die Utopie einer diesseitigen Heilslehre will die Menschheit beglücken und löscht darüber hinaus aus, was den Menschen zum Menschen macht. Das Dogma von der Manipulierbarkeit des Menschen mordet die Seele.

Es wird alles darauf ankommen, ob wir im Westen bereit sind, an dieser Stelle dem Osten gegenüber unsere eigene geistige Mitte zu klären und darin für uns eine Frage aul Leben und Tod zu erkennen. Wie weit ist der Westen faktisch bereits in seinen Lebensgewohnheiten und seinem geistigen Zuschnitt dem marxistischen Grunddogma von der materialistischen Bestimmtheit des Menschen verfallen? Wir werden gewiß im wirtschaftlichen Fortschritt und in deh sozialen Errungenschaften, von den militärischen Machtmitteln ganz zu schweigen, mit dem Osten Schritt halten oder ihn gar überflügeln müssen. Entscheidend aber sind doch allein die sittlichen und geistigen Überzeugungen, der Wille, den Menschen nicht zu einer biologischen Existenzweise erniedrigen zu lassen. An diesem Punkt darf der Westen sich nicht vom Ostenda's; Gesetz des Handelns aufdrängen lassen.

Nach christlicher Überzeugung ist es nicht möglich, dem Osten einfach das liberale Menschenbild entgegenzusetzen. Weltanschaulicher Liberalismus ist auch keineswegs eine Errungenschaft des Protestantismus. Der einzelne schuldet den Erfordernissen des Zusammenlebens ein Mindestmaß an Verzicht auf eigene Freiheit. Die Sozialität gehört mit zum Bild des Menschen. Das Gebot Gottes stellt ihn in Bindungen, über die er nicht frei verfügen kann. Wesentlich aber ist, ob dem Menschen Raum für eigene wirksame Gewissensentscheidungen über sein Leben verbleibt und ob die sittliche Norm eine unabhängige Entscheidungskraft über politische und gesellschaftliche Fragen besitzt. Es ist deutlich, daß dies auch in der westlichen Welt zum Problem geworden ist. Unsere moderne freiheitliche Demokratie ist bereits weithin den Gesetzen der industrialisierten Massengesellschaft verfallen, die neue Abhängigkeiten von Mächten meist anonymer Natur schafft. Aber es ist doch ein qualitativer Unterschied, ob eine mit uneingeschränkten Machtmitteln und mit dem Willen zur Perfektion ausgestattete Staats-und Gesellschaftsideologie den einzelnen Menschen beschlagnahmt und nur noch zufällig, aus Inkonsequenz und aus Rücksicht auf gegenwärtig noch entgegenstehende Realitäten äußerstenfalls ein Minimum eigenen Existenz-raumes beläßt, oder ob die Grenze zwischen dem Recht des einzelnen auf der einen Seite und seiner Sozialverpflichtung auf der anderen Seite prinzipiell respektiert wird, wo auch immer sie verlaufen mag. Wird das Eigenleben des einzelnen Menschen von einer Weltanschauung absorbiert oder besteht Klarheit über das, was den Menschen zum Menschen macht?

Daneben stehen nun auch westliche Spielarten eines neuen Humanismus. So liegt in der Existentialphilosophie aller Prägungen ein leidenschaftliches Bemühen um den Menschen vor, das besonders den jungen Menschen beeindruckt. Der nichtchristliche Humanist versucht, unter Anwendung aller ihm zur Verfügung stehenden natürlichen Kräfte, sich in der Welt einzurichlen und die Welt zu formen. Der Christ trifft sich mit ihm in der Überzeugung, daß das Verständnis und die Bestimmung des Menschen als Grundprobleme des Lebens in der Welt anzusehen sind. Die Theologie steht daher vor der Aufgabe, die Diskussion über das Verhältnis von Christentum und Humanismus wieder neu aufzunehmen. Hierfür liegen seitens der evangelischen Theologie besonders gute Voraussetzungen vor. Sie vertritt kein eigenes geschlossenes, allein aus der theologischen Überlegung gewonnenes Menschenbild und einen darauf zu erbauenden exklusiven christlichen Humanismus, die allen anderen Bemühungen um den Menschen entgegenzustellen wären. Die theologische Bemühung muß die weltlichen und außerchristlichen Erkenntnisse vom Menschen verarbeiten und ist auf einen unvoreingenommenen Dialog bedacht. Doch werden wir bei der Beschreibung dessen, was den Menschen zum Menschen macht, notgedrungen wieder zur theologischen Dimension zurückgeführt. Was der Mensch ist, weiß er nicht von sich selbst. Die Wechselbeziehung zwischen Ich und Du gehört zum Wesen des Menschen; sie gründet im Reden Gottes mit ihm und im Hören auf diese göttliche Anrede. Personsein und Gottebenbildlichkeit sind identisch. Darauf beruhen einige wichtige Grundelemente des Menschenverständnisses, welche die Christenheit mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu vertreten hat. Wenn wir also für das Verhältnis zwischen Kirche und Staat Freiheit der kirchlichen Verkündigung, Freiheit der Glaubensentscheidung und Freiheit zur Entfaltung christlicher Lebensinhalte verlangen, so geschieht dies nicht eigentlich in einem bestimmten kirchenorganisatorischen Interesse. Hier zeigt sich also auch, daß es unmöglich ist, die Kirche als eine Interessengruppe unter anderen zu behandeln. Vielmehr geht es hier um göttliche Rechte, die jeder Staatsmacht gegenüber vertreten werden müssen. Sie verweisen den Staat zugleich in die Grenzen einer echten Diesseitigkeit und verwehren ihm jede auf das Gewissen übergreifende Totalität. Ein Staatswesen, das sich auf die ihm von Gott gesetzten Grenzen beschränkt, läßt den erforderlichen Raum für Glaubens-und Gewissensfreiheit von eigenen Eingriffen frei. Insofern ist die wirksame Anerkennung der Grundfreiheiten des Menschen für das Selbstverständnis eines Staatswesens symptomatisch. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, daß eine vom Staat erzwungene Beschränkung der Glaubens-und Gewissensfreiheit nie isoliert bleibt, sondern sich mit weiteren Freiheitsbeschränkungen verbindet (Unantastbarkeit des Hausfriedens, Redefreiheit, Koalitions-und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Wahl des Arbeitsplatzes, Wechsel des Wohnsitzes, Freizügigkeit). Glaubens-und Gewissensfreiheit ist darum die Tür zu einer umfassenden Mitverantwortung der Christen für das öffentliche Leben. Gott will den Menschen in einer irdischen Ordnung leben lassen, die ihm die Freiheit der Glaubensentscheidung für das Heil in Christus läßt. In diesem Satz liegen wesentliche Grundlinien für eine am Menschen ausgerichtete irdische Ordnung beschlossen. Um des Menschen willen ist eine wirksame Beschränkung und Kontrolle staatlicher Machtausübung erforderlich sowie für die Wahrung bestimmter menschlicher Grundfreiheiten einzutreten.

Ein Christ kann sich darum auch ein politisches, moralisches, vernünftiges und geschichtliches Urteil über Entscheidungen seines Staates nicht verwehren lassen. An dieser Stelle ist auch die Notwendigkeit für den evangelischen Christen verankert, politische Mitverantwortung zu übernehmen. Gerade diese Verankerung im Eintreten für Glaubens-und Gewissensfreiheit zeigt ja, wie eng die Aspekte der Erhaltung dieser Welt und der Erlösung auf das engste miteinander verknüpft sind, so sehr sie für die konkrete Gewinnung von Ordnungsprinzipien unterschieden werden müssen. Der Christ ist um der Heilsverkündigung willen genötigt, an der Gestalt menschlichen Zusammenlebens in Staat und Gesellschaft mitzuarbeiten, da ja hier im Feld des Vorletzten, wie man heute gern sagt, auch Entscheidungen für das Letzte fallen. Die Sorge für das Heil ist dem Christen ebenso aufgetragen wie die für das Wohl, um hier eine von Hans Asmussen geprägte und gern benutzte Formel zu übernehmen. Ja, überspitzt ausgedrückt kann man sagen, daß der Christ um des Heiles willen auch am Wohl mitzuarbeiten hat.

Wir nennen nun noch einige Bereiche politischen, staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, für die von diesen evangelischen Grund-positionen aus sich die Linien weiter ausziehen ließen. Sie sind immer zugleich auch Inhalt und Ziel politischer Bildung. 1. Rechtsstaat und Demokratie Es ist zuzugeben, daß der evangelische Beitrag und der Beitrag der evangelischen Theologie zur Durchdringung von Begriff und Wirklichkeit des Rechtsstaates und der Demokratie bisher immer noch nicht ausreichend ist. Das hat viele Gründe, von denen manche in der Tradition des Verhältnisses von Kirche und Staat begründet sein mögen. Es ist auch nicht zu übersehen, daß die Begriffe Rechtsstaat und Demokratie zum Teil stark weltanschaulich bestimmt und vielfach mit einer Art säkularisiertem Heilsaspekt versehen waren. Man hat sich vielleicht im evangelischen Bereich auch allzu lange darauf beschränkt, eine patriarchalisch bestimmte Obrigkeitstheologie zu treiben und dabei übersehen, daß der Begriff „Obrigkeit" theologische Inhalte umfaßt und noch nichts über Staatsform, Verfassung und politische Wirklichkeit aussagt. Um seiner theologischen Inhalte willen ist das Wort Obrigkeit auch anwendbar auf Demokratie, Rechtsstaat und republikanische Staatsform.

Die gemeinte Sache ist auch von dem Begriff Obrigkeit unabhängig. Die Sache aber ist der wichtigste und eigentliche Beitrag evangelischer Theologie zum Staatsverständnis. Es ist geradezu Aufgabe des kirchlichen Dienstes, deutlich zu machen, inwiefern auch eine über den demokratischen Auftrag des Volkes zustande gekommene und durch eine Parteien-demokratie bestellte Regierung in der theologischen Dimension von göttlicher Beauftragung lebt. Die nur allgemeine Erkenntnis, daß Gott Ordnung und staatliche Autorität in der Welt will, bleibt kraftlos, wenn sie nicht bedeutet, daß die bestimmten Inhaber staatlicher Macht in einem göttlichen Berufe stehen. Diese Grundhaltung macht die Kirche unabhängig vom Wechsel politischer Meinungen und von parteiischen Zweckmäßigkeitserwägungen. Auf ihr beruht auch die Freiheit, Gewissensanliegen zum politischen Handeln geltend zu machen und auch die modernen Regenten an ihre Gott unmittelbar geschuldete Verantwortung zu erinnern. Autorität und sittliche Verantwortung sind auch für den demokratischen Staat eine Lebensfrage. Beide aber gehören eng zusammen, sie bedingen einander und sind an Personen gebunden. Es läßt sich nicht leugnen, daß es, wie zu allen Zeiten, auch heute schicksalhafte Entscheidungssituationen gibt, in denen der Staatsmann in letzter Unabhängigkeit von Parteimeinungen und Parlamentsmehrheiten handeln muß. In einer solchen für die Zukunft entscheidenden Situation und in wagnis-haften Entscheidungen von schöpferischem Ausmaß ist die theologische Dimension staatlichen Handelns mit Händen greifbar. 2. Arbeit und Eigentum In der modernen Industriegesellschaft von heute spielen die äußeren Arbeitsverhältnisse für die Stellung und Bewertung des Menschen eine schlechthin entscheidende Rolle. Man muß aber zugleich den ganzen Fragenkomplex der sozialen Sicherheit hinzunehmen, der ja gerade durch die Besonderheiten der heutigen Industriegesellschaft seine eigentliche Signatur erhält. Es liegt auf der Hand, daß auch die evangelische Sozialethik gerade von dem, wie wir es genannt haben, inneren Kriterium „Der Mensch" her sich einen besonderen Zugang zu diesem weiten Gebiet erarbeiten muß. Durch die Sozialeinrichtungen der evangelischen Kirche ist hier viel gute Arbeit bereits geleistet worden. Aber hier sind weitere Wünsche hinsichtlich der praktischen Durchdringung und Anwendung erarbeiteter Grundsätze anzumelden. Daß dies durchaus im Blickfeld der evangelischen Sozialethik liegt, ist aus der bekannten Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Eigentums-frage vom Jahre 1962 zu ersehen. Auch auf die von evangelischer Seite geleistete Mitarbeit zu dem ganzen Fragenkomplex, der mit der Sonntagsheiligung und der gleitenden Arbeitswoche zusammenhängt, sei kurz verwiesen. Eine besondere Aufgabe gemeinsamer christlicher Bemühungen scheint mir in der Bewertung der Arbeit zu liegen. Hier ist eine nüchterne Stellung neu zu formulieren. Dabei darf an dem im Osten propagierten unmenschlichen Arbeitsenthusiasmus erinnert werden, während bei uns im Westen die Entseelung der Arbeit dazu führt, sie nur noch als notwendiges Übel, als Mittel zum Zweck zu betrachten. Wir weisen weiter auf die eng mit der Industriegesellschaft von heute verquickte Frage des Eigentums hin. Auch hier muß für die Beurteilung aller gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der Maßstab bei den Auswirkungen auf den Menschen gefunden werden. Das Eigentum schafft den Raum persönlicher Freiheit bis hin zu Fragen des Glaubens und des Gewissens. Es spielt eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung des Menschen hinsichtlich des Verhältnisses des einzelnen zur Gesellschaft. Bekanntlich verhält sich die evangelische Ethik einer naturrechtlich begründeten Eigentumsethik gegenüber reserviert. Wir glauben nicht, daß es richtig ist, das Privateigentum als eine ewig gültige Wesenseigentümlichkeit des Menschen zu proklamieren. Auf der anderen Seite aber muß dem marxistischen Grundirrtum ebensosehr widersprochen werden, daß das Privateigentum als solches böse sei und überhaupt nur mißbräuchlich verwendet werden könne. Jede Eigentumsform kann von der Macht mißbraucht werden und zur Vergewaltigung des Menschen führen. Die allein am Maßstab des Menschen zu gewinnenden sittlichen Gesichtspunkte für die Beurteilung der Eigentumsfrage, die jeweilige geschichtliche Situation, die konkreten Verfügungsverhältnisse und Besitzgestaltungen sind das Material für eine evangelische Eigentums-ethik und verleihen ihr eine innere Beweglichkeit und eine Bereitschaft zur Korrektur. Dabei ist eine Reihe von weiteren Faktoren zu bedenken, von denen noch einige angedeutet seien: Die Korrelation von Eigentum und Verantwortung, Besitz und Opfer; Arbeitsethos und Freudigkeit zur eigenen Schaffensinitiative; Zusammengehörigkeit, aber auch Unterscheidung zwischen privater Verfügungsberechtigung über das Eigentum auf der einen und seiner Sozialverpflichtung auf der anderen Seite. Dabei zeigt sich noch einmal eine der Wesenseigentümlichkeiten evangelischer Sozialethik. Die eigentliche letzte konkrete Entscheidung ergibt sich immer erst im Vollzug, in der Konfrontation innerer Kriterien mit den Bedingungen und Erfordernissen der Sache in einer bestimmten Situation. Wenn ich an die ganze gegenwärtige Diskussion zur Struktur der Landwirtschaft erinnere, so ist gleich deutlich, von welch großer Aktualität alle diese Erwägungen sind. 3. Überwindung der Ideologien Wir lenken schließlich noch zu einem wesentlichen Grundsatz evangelischer Sozialethik zurück, der weniger einen bestimmten Bereich als vielmehr die gesamte Kategorie betrifft, in der hier gedacht wird. Evangelische Sozial-ethik widerspricht jedem Versuch, Staat und Gesellschaft einer Weltanschauung zu unterwerfen. Es ist wohl deutlich geworden, warum wir auch einer christlichen Weltanschauung und einer vermeintlichen christlichen Gesellschaftsordnung widerstehen. Das hat seine Bedeutung auch für die politischen, innenpolitischen und parteipolitischen Auseinandersetzungen. Es entspricht evangelischer Sozialethik, die Auseinandersetzung nicht um weltanschaulich-ideologische Positionen zu führen. Das hat aber zur Folge, daß wir auch nicht aus einer Antiideologie heraus argumentieren können. Man kann das an einem aktuellen Beispiel erläutern. Im Zusammenhang mit den sozial-politischen Gesetzen des Jahres 1961 (Sozialhilfe-und Jugendwohlfahrtsgesetz) ist eine neue Auseinandersetzung um das Subsidiaritätsprinzip der römisch-katholischen Soziallehren entstanden. Ich lasse dabei völlig offen, ob sich bei diesen Gesetzen tatsächlich das Subsidiaritätsprinzip geltend gemacht hat oder ob es sich hier nicht viel mehr um den Versuch einer aus der Situation unserer Ge- Seilschaft heraus entwickelten Funktionsteilung handelt. Dem Subsidiaritätsprinzip darf evangelische Sozialethik nicht mit einem Antiprinzip begegnen. Ein Gesetz mit einer gesellschaftlichen Regelung ist nicht schon deshalb falsch, weil in ihm der Grundsatz der Subsidiarität angewendet worden ist. Unser heutiges politisches und gesellschaftliches (übrigens auch kirchliches) Leben ist angefüllt mit subsidiären Sachverhalten. Andernfalls lebten wir unter einer grauenvollen Staatsomnipotenz, die wir alle miteinander nicht wünschen. Das evangelische Gespräch mit den Katholiken zur Frage des Subsidiaritätsprinzips kann nur darum gehen, ob das hier angewandte Prinzip der konkret zu ordnenden Sache nützlich oder schädlich ist. Die Untunlichkeit der Anwendung subsidiärer Gesichtspunkte müßte, wenn überhaupt, an der Schädlichkeit ihrer Auswirkungen gezeigt werden und nicht an der lehrmäßigen Herkunft eines gesellschaftlichen Ordnungsprinzips.

In einer derartigen Versachlichung und Konkretisierung der Bemühungen um ein rechtes Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft sehe ich nicht den geringsten Dienst, den evangelische Sozialethik tun sollte. Dahinter steht die Überzeugung, daß ideologiefreie Sachgerechtigkeit in der politischen und gesellschaftlichen Arbeit bereits ein christliches Anliegen ist. Ich würde das nicht Pragmatismus nennen, da es sich auch bei sachgerechten politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen nie um wertfreien Opportunismus handeln kann.

VI. Zum geistigen Hintergrund unserer gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Situation

Zum Abschluß noch einige zusammenfassende Bemerkungen zum geistigen Hintergrund unserer gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Situation:

1. Die politische Aufgabe kann nur von einer geistigen und sittlichen Mitte her bewältigt werden. Daher ist politische Bildung zugleich auch ein Beitrag zur Klärung dieser geistigen Mitte. Im Kern geht es dabei um eine zureichende Erfassung der Bestimmung des Menschen. Auf der anderen Seite benötigt geistiges Leben zugleich eine ihm gemäße und seinen Raum schützende politische Ordnung. Es gibt also eine unausweichliche Nötigung zur politischen Mitarbeit für alle, die sich um die geistige Mitte des Menschen bemühen. Angesichts einer neu aufgebrochenen Polemik gegen einen christlichen Beitrag zur Politik ist die Gegenfrage zu stellen, ob uns heute mit einem neuartigen weltanschaulichen Liberalismus gedient ist. Was aus dem liberalen Gedankengut verwendbar ist, ist zum großen Teil Allgemeingut aller gesellschaftlich wirkenden Kräfte geworden. Was darüber hinaus sich heute als weltanschaulicher Liberalismus neu zu formieren versucht, hängt mit einem Menschenbild zusammen, in dem die Erfahrung der letzten Jahrzehnte und die Wirklichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur schwer erkennbar sind. Das geistige Klima von heute wird nicht mehr von den Restbeständen der Aufklärung, des Rationalismus und des Idealismus bestimmt. Dei begeisterte Glaube an den Fortschritt ist der quälenden Frage nach dem Sinn des Lebens gewichen.

Der Mensch bricht nicht mehr durch die Zeiten nach vorn hindurch, um die helle Zukunft als das endgültige Ziel seiner Bestimmung zu ergreifen. Der moderne Skeptiker, der nicht einmal mehr die Göttin Vernunft anbeten kann, erkennt sich als Objekt einer Welt voller Rätsel. Im großen und im kleinen verläuft für das Urteil des säkularisierten Menschen die Geschichte von Zufall zu Zufall. Der Mensch wird sich selbst zum größten aller Rätsel.

Neben diesen skeptischen Atheismus der müde gewordenen westlichen abendländischen Welt tritt der militante Atheismus des Ostens. Auch er ist befangen in der Zeitgebundenheit und in einer Reihe von Irrtümern der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Dabei verwendet er eine starke geistige Kraft darauf, die Grundlagen der Gesellschaft von bestimmten Voraussetzungen her zu erforschen, bestimmte Gesetze der Geschichte zu formulieren und einen neuen sozialistischen Menschen zu bilden. Uns muß deutlich vor Augen stehen, daß es in der christlichen Auseinandersetzung mit dem aufklärerischen Liberalismus, mit dem abendländischen Skeptizismus und mit dem militantatheistischen Sozialismus jedesmal um die Stellung und Bewertung des Menschen geht. An dieser Stelle scheiden sich die Geister zwischen Glaube und Weltanschauung. Je verbissener die irdische Weltanschauung daran festhält, den neuen Menschen schaffen zu können, desto mehr wird das wahre Menschenbild ausgelöscht.

2. Da ich als evangelischer Theologe urteile, kann ich nicht verschweigen, daß die evangelische Sozialethik auch weiterhin kritische Anfragen an die römisch-katholischen Soziallehren zu richten hat. Der entscheidende Punkt soll an einem Beispiel verdeutlicht werden, nämlich an dem der Ehe.

Es darf nicht fraglich sein, daß auch nach evangelischem Verständnis die auf die Liebe Christi gestellte Ehe ihrem Wesen und ihrer inneren Qualität nach Ausschließlichkeit und Unwiderruflichkeit umfaßt. Eine Ehetheorie, die die Scheidung als einen im Eheverständnis bereits angelegten, wie oft auch immer vorkommenden Normaltall oder gar als ein Recht ermöglichen würde, ist nicht evangelisch. Deshalb gehört die Unauflöslichkeit zu den vorgegebenen und unverfügbaren institutionellen Grundmerkmalen der Ehe. Dennoch ziehen wir daraus keine so weitgehenden Konsequenzen für den Bereich des Gesetzes wie die römisch-katholische Gesellschaftslehre. Die Ehe laßt sich ihrer Struktur nach mit keiner anderen Gemeinschaftsform vergleichen. Sie ist eine Ordnung sui generis. In ihr kommt es darauf an, daß Mann und Frau die ihnen geschenkte totale Einheit jeder für sich und beide zusammen in immer neuen Entscheidungen verwirklichen. Vorgegebene Institution und immer neue Verwirklichung bleiben die Pole im lebendigen Vollzug der Ehe. Die hier zu treffenden Entscheidungen müssen im ganzen freie Entscheidungen sein. Darum ist es nach unserer Auffassung nicht Aufgabe der christlichen Gemeinde, eine ihrer Einsicht in das Wesen der Ehe entsprechende Ehezucht unter allen Umständen und in jedem einzelnen Falle gesetzlich zu erzwingen. Die gesetzliche Ordnung hat eine bewahrende und erzieherische Funktion, aber die Ebene des Evangeliums darf mit ihr nicht vermischt oder verwechselt werden.

Damit möchte ich aber zugleich andeuten, daß unsere Überzeugung von der nur begrenzten Leistungsfähigkeit des Gesetzes nicht auf einem falschen Freiheitsideal, sondern auf einer anderen Struktur des ethischen Denkens beruht, als es nach unserer Auffassung in dem naturrechtlich bestimmten Ordnungssystem vorliegt. Vielleicht versteht man von da aus, daß im evangelischen Bereich hin und wieder schon da eine klerikalisierende Gefahr vermutet wird, wo es sich für das römisch-katholische Urteil nur um allgemeinverbindliche natur-rechtliche Sachverhalte handelt.

3. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß wir in der Welt von heute und in einer pluralistischen Gesellschaft eine größtmögliche Gemeinschaft aller derer suchen müssen, denen es um verantwortliche Gemeinschaftsregulierungen geht. Für eine solche Gemeinsamkeit zwischen der evangelischen und der römisch-katholischen Gesellschaftsbemühung bestehen heute gute Voraussetzungen. Die Praxis zeigt, daß eine Zusammenarbeit in viel größerem Maße möglich ist, als die beiderseitigen theoretischen Grundlegungen vermuten lassen. Aber auch die theoretischen Problemstellungen bewegen sich aufeinander zu. Die größere Aufgeschlossenheit auf Seiten der evangelischen Sozialethik für institutionelle Sachverhalte — ohne dabei ein irdisches Ordnungsgefüge zu verabsolutieren — auf der einen Seite und die größere Berücksichtigung des geschichtlichen, personalen und situationsgemäßen Faktors im Gesellschaftsdenken der römisch-katholischen Moraltheologie auf der anderen Seite führen zu einem überraschend großen Ausmaß an Übereinstimmung in den sozial-ethischen Denkbemühungen.

Ähnliches würde ich für die Annäherung christlicher und sozialistischer Bemühungen um die Ordnung in Staat und Gesellschaft sagen. Je mehr die deutsche Sozialdemokratie den Weg der Entideologisierung gegangen ist, desto stärker ist der ursprüngliche Ansatz des klassischen Marxismus wieder in Erscheinung getreten. An der Wiege des Marxismus hat ohne Zweifel ein echtes humanistisches Pathos gestanden. Der ursprüngliche Ansatz aber wurde um so mehr verschüttet, je stärker die Ideologie ihr Eigengewicht entwickelte. Das Ergebnis des Prozesses einer Entideologisierung aber ist der fortschreitende Zerfall des ursprünglichen Dogmengebäudes. Es bleibt eine Reihe von inneren Kriterien zurück, deren Anwendbarkeit je nach den Erfordernissen der geschichtlichen Situation variabel erscheint. Im Kern aber geht es auch hier um den Menschen, der nicht mehr Objekt eines Dogmas ist, dem vielmehr alle Bemühungen um eine rechte Ordnung in Staat und Gesellschaft helfen sollen, seiner Bestimmung in Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung zu dienen. Es liegt zutage, daß damit auch eine neue Situation für das Gespräch zwischen Christen und Sozialisten, zwischen christlicher und sozialistischer Motivation aller Gesellschaftsbemühungen entstanden ist.

Es ist mir nicht sicher, ob sich dasselbe auch für das Verhältnis zu den politischen Willens-trägern des Liberalismus sagen läßt. Hier hören wir nicht selten unter dem alten Schlagwort der „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" Stimmen, die offenbar die christliche Bindung aus der politischen Entscheidung überhaupt ausscheiden möchten. Manche von uns sehen darin eine Bestätigung der alten Erfahrung, daß sich der weltanschauliche Liberalismus mitunter besonders intolerant gebärdet. Im ganzen möchte ich hier die Situation als offen bezeichnen, da sich der heutige politische Liberalismus keineswegs mehr mit seiner rationalistischen und aufklärerischen Wurzel identifiziert. Um so wünschenswerter wären auch hier wirksamere und mehr erkennbare Bemühungen um die eigenen geistigen und sittlichen Grundlagen. Es liegt auf der Hand, daß evangelische Sozial-ethik die Begegnung mit politischen und gesellschaftlichen Zielen des Liberalismus nicht zu scheuen braucht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Mitarbeit, April 1962, S. 192.

  2. Reinhold Niebuhr, Pious and Secular American (deutsch: Frömmigkeit und Säkularisation), 1962, S. 11 und 17.

  3. Ehescheidung nach dem Gesetz, Lutherische Monatshefte, 1963, S. 264.

  4. Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 1962, S. 24.

  5. a. a. O., S. 23.

  6. a. a. O., S. 24.

Weitere Inhalte

Erwin Wilkens, geb. 11. Juli 1914 in Lingen (Ems), 1934— 1938 Studium der evangelischen Theologie, 1945— 1951 im Pfarrdienst der evang. -luth. Landeskirche Hannover, 1951— 1964 theologischer Referent und Oberkirchenrat im Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, seit 1964 in gleicher Eigenschaft in der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland.