Immer deutlicher tritt in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts der enge Zusammenhang zutage, der zwischen der staatlichen Bildungspolitik und den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen besteht, auch wenn man in manchen traditionsgebundenen Ländern Europas dieser Tatsache in der praktischen Schulpolitik und bei den Zukunftsplanungen des Bildungswesens erst zögernd Rechnung trägt. Im Unterschied dazu betrachten diejenigen Länder, die sich in einem besonders rasanten Tempo der sozialökonomischen Transformation befinden und in denen außerdem eine revolutionäre gesellschaftspolitische Zielvorstellung am Werke ist, die Wirtschafts-, Sozial-und Bildungspolitik nicht als getrennte und voneinander unabhängige Bereiche, sondern als ein einheitliches System, in dem alle Teile eng aufeinander bezogen sind. Das gilt in besonderem Maße für die Sowjetunion, in der die erwähnte Verknüpfung schon seit einigen Jahrzehnten besteht. In dem von Lenin geprägten und von Stalin übernommenen Begriff der „sozialistischen Kulturrevolution", der eine sozialrevolutionäre und eine bildungspolitische Zielsetzung enthält, fand sich sogar eine einprägsame Formulierung für jene sozialkulturelle Komponente der Wandlung Rußlands vom überwiegend agrarischen zum industrialisierten Land, die das Hauptkennzeichen der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert darstellt.
Unsere folgenden Betrachtungen basieren auf dieser Einheit der wirtschafts-, gesellschaftsund bildungspolitischen Ziele und Maßnahmen, was nicht heißen soll, daß zwischen ihnen zu allen Zeiten der sowjetrussischen Geschichte eine gleich enge Verbindung bestanden hat und die Abhängigkeit der einzelnen Faktoren untereinander stets gleich-bleibend war. Wir fragen danach, welchen Anteil die staatliche Bildungspolitik an der sozialen Umschichtung in Rußland seit der Revolution von 1917 hatte und welche Rolle ihr im gegenwärtigen Stadium der sowjetischen Gesellschaftsentwicklung zukommt. Indem wir damit einen Teilaspekt der gesamten sowjetischen Bildungspolitik herausgreifen, lassen wir die im engeren Sinne pädagogischen Probleme, wie z. B. die geistige Umformung der Menschen seit der Revolution oder den Wandel der Bildungsgehalte in den Lehrplänen der Schulen, weitgehend außer acht. Uns interessieren vor allem soziologische Fragen des Bildungswesens und der Bildungspolitik, so etwa: Welche Rolle spielt die Schulbildung für den sozialen Aufstieg in der Sowjetunion? Welche Schichtung nach dem Grad der erworbenen Ausbildung weist die sowjetische Bevölkerung auf? Welche Zukunftskonzeption entwickelt die kommunistische Führung im Hinblick auf das Ausbildungsniveau der sowjetischen Gesellschaft?
Abbildung 10
Abbildung 10
Um ein möglichst konkretes Bild zu gewinnen, müßte man noch eine Reihe weiterer Fragen stellen: Herrscht in der Sowjetunion tatsächINHALT lieh eine Gleichheit der Bildungschancen? Wie wirken sich die sehr erheblichen Unterschiede von Stadt und Land, von Provinzstädten, Republikzentren und Millionenstädten auf den Bildungsgang der Jugend aus? Wie sieht die soziale Struktur in den verschiedenen Schultypen mit Sondercharakter aus, etwa in den Internatsschulen oder in den Schulen mit erweitertem Fremdsprachenunterricht? Welches Berufsschicksal haben die Absolventen der zehnjährigen sowjetischen Mittelschule — nicht alle können studieren, steigen sie deswegen sozial ab? Besteht in den nichtrussischen Republiken der UdSSR ein Zusammenhang zwischen der nationalen Zugehörigkeit, den Bildungsmöglichkeiten und der späteren sozialen Stellung? Aus welchen Schichten rekrutiert sich heute die sowjetische Lehrerschaft der verschiedenen Schulstufen, nachdem bis in die dreißiger Jahre ein deutliches Übergewicht der Lehrer mit bäuerlicher und kleinbürgerlicher Abkunft festzustellen ist?
Zur soziologischen Erforschung des sowjetischen Bildiingswesens
Abbildung 1
Abbildung 1
Eine Antwort auf diese und ähnliche Fragen wird allerdings erheblich durch die Tatsache erschwert, daß es eine Soziologie des sowjetischenBildungswesens bis heute nicht gibt. Ansätze in dieser Richtung, die in den zwanziger Jahren bestanden haben, sind in der Stalin-Ära nicht weitergeführt worden
(Quelle: Anm. 36)
(Quelle: Anm. 36)
Solange mit solchen Veröffentlichungen nicht zu rechnen ist, muß die westliche Forschung, die sich bildungssoziologischen Problemen in der Sowjetunion zuwendet, alle Möglichkeiten auszuschöpfen suchen, die sich ihr aus anderen zugänglichen Quellen ergeben. Dazu gehören z. B. die von der sowjetischen Statistik publizierten Daten, die von anderen Wissenschaften (z. B.der Nationalökonomie) erarbeiteten Resultate, die vereinzelt vorliegenden Augenzeugenberichte westlicher Beobachter und nicht zuletzt die verschiedenen amtlichen Verlautbarungen schulpolitischer Art, die einer soziologischen Analyse unterzogen werden können. Darauf aufbauende Untersuchungen sind zweifellos wichtiger als fragwürdige Versuche einer „pädagogischen Feldforschung" in einem System, das sich Fremden immer noch äußerst ungern öffnet
Die egalitär-demokratische und proletarisch-revolutionäre Phase nach 1917
Schulen
(Quelle: Anm. 9)
Schulen
(Quelle: Anm. 9)
Es gehört zu den Gemeinplätzen der neueren russischen Sozial-und Bildungsgeschichte, daß sie durch die kulturelle Zweiteilung der russischen Bevölkerung in eine dünne Oberschicht der „europäisch" Gebildeten und in die Masse des „ungebildeten" einfachen Volkes gekennzeichnet ist. Im Schulwesen entsprach dieser Kluft die scharfe Trennung zwischen der elementaren Volksschule und den Gymnasien (bzw. Realschulen), die erst in den letzten Jahren des Zarenreiches etwas gemildert wurde. Der standesgebundene Charakter des Schulwesens blieb bis zur Revolution auch deswegen weitgehend erhalten, weil der allgemeine Zuschnitt des durch Rang-und Dienstordnung bestimmten gesellschaftlichen Lebens eine solche Einstellung in weiten Kreisen der Bevölkerung begünstigte.
(Quelle: Anm. 34)
(Quelle: Anm. 34)
Trotzdem war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch in Rußland der gesamteuropäische Prozeß einer Demokratisierung der Bildung nicht zu übersehen. Nicht zuletzt dank der volksaufklärerischen Tätigkeit der russischen Intelligenz, dem Ausbau der Erwachsenenbildung und der Verbreitung populärer Literatur im russischen Dorf kam es zu einer schrittweisen Emanzipation des bis dahin „ungebildeten" Volkes, die sich u. a. auch in der wachsenden Beschickung der Gymnasien, Realschulen, Universitäten und Hochschulen durch die Kinder der „niederen Stände" äußerte
(Quelle: Anm. 37)
(Quelle: Anm. 37)
Die bolschewistische Revolution von 1917 erscheint unter bildungspolitischem und bildungssoziologischem Aspekt in einem doppelten Licht: Während einerseits eine Reihe von Maßnahmen, die in den ersten Jahren des Sowjetregimes getroffen wurden, als konsequente und radikale Fortsetzung des erwähnten Demokratisierungsvorganges anzusehen sind, schränkte umgekehrt das ideologische Prinzip einer proletarischen Klassenauslese den demokratischen Grundsatz der gleichen Bildungschancen für alle wieder ein. Wie in den großen schulpolitischen Entwürfen Condorcets und Lepeletiers während der Franzö-sischen Revolution die demokratische und die sozialistische Konzeption einander modellhaft gegenübertraten, so stehen in den bildungspolitischen Manifesten Lenins, Lunatscharskijs und Krupskajas zwischen 1917 und 1919 die egalitär-demokratischen und die proletarisch-revolutionären Zielsetzungen oft unverbunden und in deutlicher Spannung nebeneinander. So folgte z. B. alsbald auf die Öffnung der Hochschulen für alle Bewerber ohne Rücksicht auf Vorbildung und soziale Herkunft im August 1918 eine allmählich immer engmaschiger werdende und bis ins einzelne bürokratisch normierte politische und soziale Auslese für die Mittelschulen, Fach-und Hochschulen. Mit dem ausdrücklichen Ziel einer „Proletarisierung der Hochschulen" (im sozialen wie nicht minder im parteipolitischen Sinne) wurden 1919 neben der neunjährigen Einheits-Arbeitsschule als besondere Vorstudienanstalten die Arbeiterfakultäten errichtet, deren Absolventen gegenüber den anderen Studienbewerbern privilegiert waren
Das bildungspolitische Hauptproblem der früh-sowjetischen Periode stellte zweifellos das rund sechzigprozentige Analphabetentum der Bevölkerung (1917) dar. Indem diese Frage in annähernd zwei Jahrzehnten dank der Einführung einer obligatorischen vierjährigen Mindestschulpflicht (ab 1930) und der Analphabetenbekämpfung unter den Erwachsenen zum größten Teil gelost wurde
Es gab verschiedene Ursachen für diese erstaunliche Erscheinung, die in so deutlichem Widerspruch zu den sozialpolitischen Zielen der Sowjetregierung in dieser Phase stand. Die wichtigste ist zweifellos in der unvollkommenen Struktur des sowjetischen Schulsystems als solcher zu suchen. Solange zwischen der vierjährigen Grundschule und den weiterführenden Schulen schon rein zahlenmäßig eine derartig tiefe Kluft bestand, wie das noch am Ende der NEP-Zeit der Fall war
Da am Ende der NEP-Periode die Resultate der sozialen Klassenauslese auf den verschiedenen Bildungsstufen kaum den Erwartungen der Kommunistischen Partei entsprochen hatten, setzte im Jahre 1928, im Zusammenhang mit der Fünfjahrplanpolitik, eine zweite Proletarisierungswelle, vor allem in den Hochschulen und Fachschulen, ein. Die Heranbildung einer „proletarischen Intelligenz", die sich aus politisch zuverlässigen „roten Spezialisten" zusammensetzte, wurde zu einer vordringlichen Aufgabe der Partei erklärt. Ähnlich wie im Jahre 1919 das revolutionäre Proletariat mit Hilfe der Arbeiterfakultäten die Hochschulen erobern sollte, unternahm es die Parteiführung seit dem Sommer 1928, in einer Kette dicht aufeinanderfolgender Maßnahmen das soziale Profil der Hochschulen und Technika entscheidend umzugestalten. Der „Arbeiterkern" unter den neuaufgenommenen Studenten an den Technischen Hochschulen wurde zuerst auf 65, dann auf 70 Prozent erhöht
Von erheblicher politischer Bedeutung war auch die 1928 begonnene und bis 1931 alljährlich durchgeführte Kommandierung von Parteimitgliedern, Gewerkschaftsangehörigen und Komsomolzen zum Hoch-und Fachschulstudium, mit deren Hilfe das „politische Aktiv" an den Lehranstalten verstärkt und die „feindliche Klassenideologie" ausgeschaltet werden sollte. Aufgrund all dieser Maßnahmen erhöhte sich auch die Zahl der an den Arbeiterfakultäten Studierenden von 70 000 im Jahre 1929 auf 339 000 im Jahre 1932
Als Resultat der gezielten sozial-und bildungspolitischen Maßnahmen während der ersten sowjetischen Fünfjahrespläne bleibt festzuhalten, daß die russische Intelligenz einen tiefgreifenden sozialen und geistigen Strukturwandel erlebte, ja, daß genau genommen die typische neue sowjetische „Semi-intelligencija",d. h. die Schicht technisch-administrativer Spezialisten
Soziale Differenzierung im Zeichen der Stalinschen Kaderpolitik
Abbildung 3
Abbildung 3
Jener eben skizzierte Strukturwandel der russischen Intelligenz war eine Begleiterscheinung der seit 1928 planmäßig betriebenen staatlichen Kaderpolitik. Seit dem Beschluß des ZK der KPdSU (B) vom 12. Juli 1928, der „eine krasse Disproportion zwischen dem Bedarf an qualifizierten Fachleuten und dem Stand der Ausbildung neuer Spezialistenkader" festgestellt hatte, bildet die Kaderausbildung einen wesentlichen Bestandteil des in der Sowjetunion herrschenden zentralen Planwirtschaftssystems. Ihre Aufgabe besteht darin, den Bedarf der Volkswirtschaft an geschulten Arbeitskräften mittels einer planmäßigen Ausbildungslenkung und einer zentralen Verteilung der Ausgebildeten optimal zu befriedigen. In der Kaderausbildung überschneiden sich demnach Bildungsund Arbeitskräftepolitik,wobei von der letzteren ein entscheidender Einfluß auf die Zielsetzung, Art und Dauer der einzelnen Bildungswege ausgeht. Unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Planwirtschaft ist es daher gerechtfertigt, das gesamte Bildungswesen als ein Mittel zur „Produktion und Reproduktion qualifizierter Arbeitskraft" zu bezeichnen und in der Kaderausbildung das Kernstück der sowjetischen Bildungspolitik seit 1928 zu erblicken.
Uns interessieren hier die soziologischen Auswirkungen der neuen bildungspolitischen Maßnahmen der Sowjetregierung unter Stalin. Drei Ereignisse in dem Jahrzehnt von 1931 bis 1940 waren dabei von gravierender Bedeutung: 1. Der Ausbau und die innere „Stabilisierung" des allgemeinbildenden Schulwesens; 2. die Aufhebung der sozialen Zulassungsklausel für die Hochschulen und Fachschulen (1935), auf die fünf Jahre später die Einführung eines Schulgeldes und von Studiengebühren für die höheren Ausbildungsstufen folgte; 3. die „Mobilisierung" von Jugendlichen in Stadt und Land zur Berufsausbildung in den Schulen der „staatlichen Arbeitsreserven" seit 1940.
Nach der frühsowjetischen Phase der Schulexperimente gewann 1934 das sowjetische Schulsystem für das nächste Vierteljahrhundert feste Gestalt. Die horizontale Gliederung des allgemeinbildenden Schulwesens — vierjährige Grundschule, siebenjährige unvollständige Mittelschule und zehnjährige vollständige Mittelschule — erfüllte dabei den Zweck, auf möglichst fest umrissene Berufsgruppen vorzubereiten und die soziale Mobilität in bestimmte, vom Staate gewünschte Bahnen zu lenken. Das wird sofort ersichtlich, wenn man sich die Aufgaben ansieht, die den einzelnen Schultypen zugedacht waren: Auf dem Minimalfundament der vierjährigen Grundschule, die allmählich zu einer siebenjährigen Pflichtschule erweitert wurde, bauten die verschiedenen kurz-oder langfristigen beruflichen Ausbildungskurse auf, denen die Ausbildung der unteren Arbeiterkategorien oblag. Wer eine Schule weniger als sieben Jahre besucht hatte, wurde entweder Kolchosbauer oder unqualifizierter Industriearbeiter; nach sieben Schuljahren konnte man ein qualifizierter Arbeiter oder niederer Angestellter werden. Von der Siebenjahresschule führte der weitere Bildungsgang zum Technikum, das die verschiedenen „mittleren Spezialisten" in Industrie, Landwirtschaft, Verwaltung, und Volksbildung stellte. Die zehnjährige vollständige Mittelschule schließlich berechtigte mehr oder minder ausschließlich zum Universitäts-und Hochschulstudium
Im ganzen ergab sich also seit der Mitte der dreißiger Jahre eine ziemlich übersichtliche und eindeutige Zuordnung der verschiedenen Schulstufen und Bildungswege zu der künftigen Berufsstellung, die nunmehr ihrerseits immer stärker von dem Grad der erworbenen Schulbildung abhing, während die vorher dominierenden Kriterien — proletarische oder bäuerliche Herkunft sowie politische Bewährung — an Bedeutung verloren. Diese Verschiebung von den sozialen und parteipolitischen Auslesekriterien zum Ausbildungs-und
Leistungsprinzip kam in den amtlichen Zulassungsbedingungen für das Hochschul-und Fachschulstudium zum Ausdruck, die im Dezember 1935 erlassen wurden und in denen die bisherigen sozialen Begrenzungen fortfielen. Für die Aufnahme zum Studium war künftig lediglich der in einer Prüfung nachzuweisende Kenntnisstand und nicht mehr außerdem die soziale Herkunft entscheidend. Das Leistungsprinzip im Sinne der intellektuellen Befähigung und des vorhandenen Schulwissens wurde auch durch die Einfüh-rung von Schülermedaillen in Gold und Silber für die besten Mittelschulabsolventen, die dadurch bei der Studienzulassung privilegiert wurden, noch stärker unterstrichen
Während die eben genannten Maßnahmen als Mittel zur Verbesserung des akademischen Niveaus der Hochschulen auch für sich allein verständlich sind, erhebt sich bei den ab 1. September 1940 eingeführten Gebühren für den Besuch der Klassen 8 bis 10 der Mittel-schule, der Technika und der Hochschulen
Im Unterschied zu der egalitär-demokratischen und proletarisch-revolutionären Phase des jungen Sowjetstaates kann man daher die Ära Stalins als Periode einer differenziert-demokratischenBildungspolitik mit der Tendenz zur Stabilisierung der neuen sozialen Schichtung bezeichnen. Der Aufstieg durch Schulbildung aus der Arbeiterschaft und der Kolchosbauernschaft in die Intelligenz blieb zwar nach wie vor möglich, aber er wurde erheblich schwerer, da eine planmäßige staatliche Förderung wegfiel. Eine faktische Gleichheit der Bildungschancen konnte schon deshalb nicht bestehen, weil die Bildungsmöglichkeiten der Landjugend trotz des zügigen Ausbaus der ländlichen Mittelschulen nach wie vor erheblich hinter denen der städtischen Jugend zurückblieben. Das ist auch bis in die Gegenwart im wesentlichen so geblieben
Ausbildungsstand und Sozialstruktur der sowjetischen Bevölkerung
Bildungsstand der sowjetischen Bevölkerung (Quelle: Anm. 29)
Bildungsstand der sowjetischen Bevölkerung (Quelle: Anm. 29)
Zusammen mit der Beseitigung des Analphabetentums und der Anhebung des allgemeinen Bildungsminimums vollzog sich eine Differenzierung des Bildungsstandes der sowjetischen Bevölkerung nach der Höhe der erworbenen Schulbildung. Die sowjetische Terminologie unterscheidet die folgenden Bildungsstufen: 1. unvollständige mittlere Bildung: Abschluß der Siebenjahresschule, ab 1963 der Achtjahresschule; 2. vollständige mittlere Bildung: Abschluß der Zehnjahresschule; 3. mittlere Fach-bildung: Abschluß eines Technikums oder einer anderen mittleren Fachschule; 4. Hochschulbildung: Absolvierung einer Universität oder Hochschule
Die Volkszählung vom Januar 1959 vermittelte zum erstenmal genauere Angaben über den Bildungsstand der sowjetischen Bevölkerung:
Danach hat knapp die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung der UdSSR mehr als vier Jahre die Schule besucht, etwa 40 Prozent verfügen über eine mindestens siebenjährige Schulbildung, 16 Prozent über eine mindestens zehnjährige und 2, 5 Prozent über eine abgeschlossene Hochschulbildung
Die Volkszählung ergab ferner, daß die Bildungsunterschiede von Stadt und Land nach wie vor beträchtlich sind. Gegenüber dem Jahre 1939 ist die Anzahl der Personen mit Hochschulbildung in der Stadt um 331 Prozent, auf dem Lande um 275 Prozent gestiegen. Nur knapp jeder fünfte Landbewohner verfügt über eine mindestens siebenjährige Schulbildung, in der Stadt hingegen jede dritte Person. Bemerkenswert ist dagegen der ziemlich gleichmäßige Bildungsstand beider Geschlechter und der starke Anteil der Frauen an der höheren Bildung. Unter den Personen mit Hochschulbildung sind 49 Prozent Frauen, unter denen mit mittlerer Fachbildung sogar 56, 6 Prozent, vor allem infolge des hohen weiblichen Anteils an den pädagogischen und medizinischen Berufen.
Interessant ist auch der Anteil der einzelnen Unionsrepubliken am höheren Bildungsstand. Erheblich über dem Durchschnitt der UdSSR bei Personen mit Hochschulbildung (18 auf 1 000 Einwohner) liegen die Georgische SSR mit 38, die Armenische mit 28, die Aserbeidschanische mit 21, die Lettische mit 21 und die Estnische mit 21; weit unter dem Durchschnitt die Moldauische SSR mit 10, die Tadschikische mit 10, die Kasachische mit 12 und die Weiß-russische mit 12 auf 1 000 Einwohner. Hier machen sich die kulturellen Unterschiede und das Vorhandensein einer eigenständigen nationalen Bildungstradition deutlich bemerkbar.
Schwieriger als die einfache Aufschlüsselung der sowjetischen Bevölkerung nach dem schulischen Ausbildungsstand erweist sich eine Analyse des Ausbildungsniveaus unter dem Gesichtspunkt der sozialen Schichtung. Hier wirken sich einmal die Mängel der sowjetischen Theorie der sozialen Schichtung aus, die von den drei globalen Hauptgruppen — Arbeiter, Bauern und Angestellte — ausgeht und sehr bald auf Schwierigkeiten stößt, wenn sie genaue Kategorien etwa für die Intelligenz als eigene Sozialschicht aufstellen muß
Diese Ungenauigkeiten einbeziehend, lassen sich die folgenden wichtigsten Resultate der Volkszählung von 1959 über den Ausbildungs-Stand der einzelnen sozialen Schichten und Berufsgruppen hervorheben:
Während in der obigen Tabelle die Gesamtzahl der Bevölkerung zugrundegelegt ist, ergeben sich für die erwerbstätige Bevölkerung folgende Zahlen über den Bildungsstand:
In den einzelnen Volkswirtschafts-und Produktionszweigen besaßen die berufstätigen Personen folgende Schulbildung:
Die aufgeführten Zahlen zeigen eindeutig zwei parallel laufende Entwicklungstendenzen: 1. Das allgemeine Bildungsniveau der in Industrie und Landwirtschaft beschäftigten Arbeiter und Kolchosbauern ist in einem stetigen Wachstum begriffen, da die Ausgangslage äußerst niedrig war und die Einführung der siebenjährigen Schulpflicht in den vierziger Jahren sich immer mehr auswirkt. Im Jahre 1959 verfügten von 1 000 mit körperlicher Arbeit beschäftigten Personen 302 über eine sieben-bis zehnjährige Schulbildung — aber nur 14 hatten eine Fachschule oder eine Hochschule besucht. Diese Tatsache wäre nicht weiter überraschend, wenn es nicht das proklamierte Ziel der Kommunistischen Partei wäre, die Unterschiede in der Ausbildung weitgehend aufzuheben und — wie es in der offiziellen Sprache heißt — „das kulturell-technische Niveau der Arbeitermassen dem der Intelligenz anzugleichen". 2. Wie die Zahlen der sowjetischen Statistik aber ebenso deutlich machen, steigt das Ausbildungsniveau der mit geistiger Arbeit beschäftigten Personen ebenfalls weiter an: 476 Personen dieser Kategorie besaßen 1959 eine Hochschul-oder Fachschulausbildung (gegenüber nur 14 in der Gruppe der körperlich Arbeitenden) und 408 verfügten über eine sieben-bis zehnjährige allgemeine Schulbildung. Daraus wird noch einmal die entscheidende Bedeutung ersichtlich, die der Absolvierung einer „Spezialistenausbildung" für die Zugehörigkeit zur Intelligenz zukommt, und zugleich die Schwierigkeit deutlich, die sich für eine Bildungspolitik mit egalitären Zielsetzungen ergibt, wie sie seit 1958 wieder stärker in Erscheinung treten.
Soziologische Aspekte der Schulreform Chruschtschows
Abbildung 5
Abbildung 5
Unter den Gründen, die im Jahre 1958 die sowjetische Partei-und Staatsführung dazu bewogen haben, nach etwa zweijähriger Vorbereitung mit einer tiefgreifenden Reform des Bildungswesens zu beginnen, spielten auch sozialpolitische Überlegungen eine nicht unerhebliche Rolle
Die Wiederbelebung egalitärer Tendenzen in der kommunistischen Bildungspolitik, von der im einzelnen noch zu sprechen ist, wurde entscheidend gefördert durch akute wirtschaftsund arbeitspolitische Probleme, die sich aus der wachsenden Diskrepanz zwischen der Absolventenzahl der Mittelschulen und den Aufnahmekontingenten der Hochschulen ergaben und die zu einem „Überhang" arbeitsfähiger, aber kaum arbeitswilliger jugendlicher Kräfte geführt haben. Während bis etwa 1952 jeder sowjetische Abiturient, d. h. ein Absolvent der Zehnjahresschule, damit rechnen konnte, einen Studienplatz zu erhalten, lautete bereits vier Jahre später das Verhältnis von Mittelschulabsolventen zu Hochschulvakanzen wie 5: 1. Chruschtschow teilte 1958 mit, daß zwischen 1954 und 1957 rund 2, 5 Millionen Mittelschulabsolventen nicht in die Hoch-und Fachschulen eintreten konnten; „die Mehrheit ist, nachdem sie das Reifezeugnis erhalten hat, nicht für das Leben vorbereitet und weiß nicht, welchen Weg sie einschlagen soll"
Die durch das Schulgesetz vom 24. Dezember 1958 und zahlreiche Verordnungen der folgenden Jahre von der Sowjetregierung beschlossenen Maßnahmen zur Reorganisation des Bildungswesens und zur Neuregelung der Zugänge zum Hoch-und Fachschulstudium lassen sich nicht ohne weiteres auf eine Formel bringen 40). Unter bildungssoziologischem Aspekt fallen zwei Momente besonders ins Auge: 1. Ein weiteres Anheben des Bildungsniveaus der gesamten Bevölkerung mit dem Ziel, hier zu einer Annäherung der sozialen Gruppen zu gelangen; 2. neue Selektionskriterien bei der Gewinnung des „Spezialistennachwuchses", die den „gesellschaftlichen Merkmalen" neben dem intellektuellen Leistungsvermögen erneut Gewicht beimessen.
Aus den vorhin erläuterten Ergebnissen der sowjetischen Volkszählung von 1959 ging hervor, daß bis dahin nur etwa 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der UdSSR eine mehr als siebenjährige Schulbildung besaßen. Die laufende Schulreform und die im Programm der KPdSU von 1961 festgelegten langfristigen Maßnahmen bezwecken daher eine Erhöhung des allgemeinen Bildungsminimums, und zwar in zwei Etappen: Mit Beginn des Schuljahres 1963/64 wurde die achtjährige Schulpflicht eingeführt (obwohl sie noch nicht in allen Bezirken faktisch verwirklicht wird); bis 1970 soll darüber hinaus eine elfjährige „mittlere Bildung" für alle Kinder im schulpflichtigen Alter realisiert werden, teils im normalen Tagesunterricht, teils in Abendschulen. Parallel hierzu soll, wie es im Parteiprogramm heißt, bis 1970 „die Schulbildung im Umfang von acht Jahren für den Teil der Jugend, der in der Volkswirtschaft beschäftigt ist und keine entsprechende Bildung besitzt, verwirklicht werden; im darauffolgenden Jahrzehnt muß für alle die Möglichkeit geboten werden, eine vollständige mittlere Bildung zu erhalten"
Damit sind die beiden Bereiche gekennzeichnet, in denen sich die angestrebte „Erhöhung des kulturell-technischen Niveaus" der Bevölkerung abspielen soll: die verlängerte Schulbildung der Jugend und die Erwachsenenbildüng allgemeiner und beruflicher Art. Die vorgesehene elfjährige Schulzeit für alle Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr würde bis 1970 eine Erhöhung de Schülerzahl in den allgemeinbildenden Schulen, den Berufsschulen und den mittleren Fachschulen von 35, 6 Millionen im Jahre 1960 auf 59 bis 60 Millionen im Jahre 1970 mit sich bringen — was das für den Schulbau und die Lehrerausbildung bedeutet, liegt auf der Hand 41a).
Nicht minder bedeutsam, wenn auch in der Praxis weit schwerer zu realisieren, sind die Bestrebungen zur höheren Qualifizierung der erwerbstätigen Erwachsenen. Gerade in diesem Bereich liegt auch ein Schwerpunkt der neueren soziologischen Untersuchungen sowjetischer Wissenschaftler, deren Resultate gezeigt haben, welche Produktionsbedeutung dem Ausbildungsniveau der Arbeiter zukommt und welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen sich die kommunistische Parteiführung von einer Anhebung des Bildungsstandes der Arbeiterschaft erhofft
zu. Die sowjetischen berufsbegleitenden Bildungseinrichtungen haben außerdem die Aufgabe, eine permanente Anpassung des beruflichen Wissens und Könnens an
Stadt- und Landbevölkerung (Quelle: Anm. 32)
Stadt- und Landbevölkerung (Quelle: Anm. 32)
die sich heute viel rascher wandelnden Anforderungen des Berufslebens zu gewährleisten. Hier liegt auch das primäre staatliche Interesse an den Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Als dritte Aufgabe kann der abseits einer fach-bezogenen und berufsorientierten Fortbildung
liegende „freie" Bildungserwerb betrachtet
Abbildung 7
Abbildung 7
werden, in dem Bildung eine Art „Luxus" darstellt, ohne daß eine unmittelbare Beziehung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität besteht. Hier spielen die von den „gesellschaftlichen Organisationen" getragenen verschiedenen Einrichtungen der Volksbildung, wie z. B. die „Universitäten der Kultur", eine zunehmende Rolle
Wenn auf diese Weise die gegenwärtige sowjetische Bildungspolitik zwar den Produktionseffektder qualifizierten Ausbildung nach wie vor an die erste Stelle setzt, daneben aber auch Bildung als „Luxus" gelten läßt, so trägt sie damit insofern den Entwicklungstendenzen der sowjetischen Gesellschaft Rechnung, als deren Mitglieder sich einen zunehmenden Raum individueller Freizeit erobern und nicht ohne weiteres geneigt sind, die Freizeit lediglich als „mächtigen Faktor der Produktivitäts
Steigerung" anzusehen. Solche Bestrebungen finden sogar ihre ideologische Rechtfertigung durch die vom Geiste des utopischen Sozialismus und Kommunismus beseelten Visionen der kommunistischen Kultur der Zukunft, wie sie z. B. Strumilin vertritt, in dessen Vorstellung eine „vernünftig geplante" Freizeit bei einem höchstens vierstündigen Arbeitstag alle Möglichkeiten für die allseitige Entfaltung des Menschen bietet
Die Maßnahmen zur „Erhöhung des kulturell-technischen Niveaus" der Arbeiterschaft und der Bauern, von denen bisher die Rede war, tragen in den Augen der kommunistischen Führung auch unmittelbar zur Aufhebung der sozialen Unterschiede zwischen der sowjetischen Intelligenz und der körperlich arbeitenden Masse des Volkes bei. Obwohl von sowjetischen Politikern und Gesellschaftswissenschaftlern seit langem die Existenz sozialer Klassen und darauf beruhender Gegensätze in der Sowjetunion geleugnet wird, ist man sich der tiefgreifenden Unterschiede in den Lebensverhältnissen der einzelnen sozialen Gruppen durchaus bewußt, da sie jedem offen vor Augen liegen. Diese Unterschiede werden auf die noch fortbestehende Kluft zwischen den geistigen Berufen mit leitender Funktion einerseits und den vorwiegend körperlich arbeitenden, ausführenden Kräften andererseits zurückgeführt, die mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zusammenhängt und zugleich auf dem großen Bildungsunterschied beruht.
Von zwei Seiten her, meint man nun, würde dieser aus der kapitalistischen Vergangenheit übernommene Dualismus „unterspült" und schließlich ganz beseitigt werden: „Beim Hinüberwachsen vom Sozialismus zum Kommunismus muß die gesamte Masse der Arbeiter und Bauern anfangs auf das Niveau der Techniker und später sogar auf das der Ingenieure und der anderen hochqualifizierten Spezialisten gehoben werden"
Wir können an dieser Stelle die verlockende Erörterung der damit aufgeworfenen Probleme der „klassenlosen Gesellschaft" im Sinne von Marx und seiner russischen Nachfolger nicht näher aufgreifen, sondern müssen uns erneut der sowjetischen Realität zuwenden. Dabei fragen wir nach den soziologischen Auswirkungen der jüngsten Bildungsreformen in der für sie charakteristischen Spannung von Gleichheitsideologie und elitären Tendenzen.
Im Grunde genommen verbirgt sich dahinter das Dilemma einer Bildungspolitik, die am Ideal der klassenlosen Gesellschaft orientiert ist und zugleich einem ökonomischen und sozialpolitischen Planungssystem huldigt. Zahlreiche Maßnahmen aus den auf das Schulgesetz von 1958 folgenden Jahren mit ihrem scheinbar widerspruchsvollen Inhalt erklären sich aus dieser doppelten Zielsetzung.
Wir fassen drei Fragenkomplexe näher ins Auge: die Zugänge zum Hoschulstudium, die Rolle der Sonderschultypen und die integrative Funktion der sowjetischen Schule.
Zwanzig Jahre lang — von 1935 bis 1954 — galten bei der Zulassung zum Hochschulstudiumausschließlich die intellektuellen Leistungen, die in Aufnahmeprüfungen nachgewiesen werden mußten, wobei die Inhaber von Gold-und Silbermedaillen unter den Abiturienten und die besten Absolventen der Technika auch hiervon befreit waren. Von 1955 an erfolgte schrittweise eine Änderung der Zulassungsbestimmungen
Wenn man diese Verlagerung von rein „akademischen" Auswahlkriterien zu einer kombinierten Auslese nach Schulleistungen und sozialen Kriterien (Arbeitspraxis, gesellschaftliche Charakteristik) und die Intensivierung des berufsbegleitenden Abend-und Fernstudiums mit seiner Bevorzugung der „Praktiker" zusammennimmt
Es erscheint allerdings äußerst fraglich, ob diese Hoffnung in Erfüllung gehen wird oder ob es sich dabei nicht vielmehr um einen „idealistischen" Irrtum handelt. Obwohl ein „Durchgang durch die Produktion" für die meisten künftigen Studenten obligatorisch ist, gibt es zahlreiche Umgehungswege (etwa rein formale Arbeitsnachweise) für die Abkömmlinge der Oberschicht, die sich nach wie vor in einer günstigeren Ausgangsposition befinden, da die Begrenzung der direkten Zugänge zur Hochschule und der Umweg über die Praxis diejenigen schärfer treffen dürfte, die nicht einen gesicherten materiellen Rückhalt in der Familie besitzen. Hinzu kommt, daß diejenigen, die von der Gefahr des sozialen Abstiegs aufgrund einer Verweigerung des Studiums bedroht sind, alles daran setzen dürften, durch größere Anstrengungen (darunter auch durch „Beziehungen") diese Gefahr abzuwenden. Die neuen Regulativen haben einen starken Filter bei der Auslese des Hochschulnachwuchses eingebaut, aber ihre Erfolgsaussichten für eine soziale Umschichtung im Sinne einer „Reproletarisierung" bleiben — zumindest vorläufig — ungewiß.
Bisher war von den Modalitäten des Hochschulzuganges unter dem Gesichtspunkt der davon ausgehenden sozialen Wirkungen die Rede. Nun kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß diese Überlegungen, so sehr sie etwa bei Chruschtschow persönlich eine Rolle gespielt haben, trotzdem den dominierenden staatsökonomischen Zielsetzungen untergeordnet bleiben. Die gesamte Reform des Schulund Hochschulwesens kann als Beitrag zu einer Rationalisierung der langfristigen Arbeitskräftepolitik aufgefaßt werden, deren Bedürfnisse einen unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung der Ausbildungswege ausüben. So ist z. B. die Einfügung einer speziellen beruflichen Ausbildung in das Lehrprogramm der allgemeinbildenden Mittelschule — entgegen den ursprünglichen Absichten einer breiten polytechnischen Bildung — darauf zurückzuführen, daß der erwähnte Überhang an Studienbewerbern beseitigt und zugleich eine bessere Versorgung der Industrie-und Landwirtschaftsbetriebe mit Nachwuchskräften ermöglicht werden sollte.
Dabei ist nun, deutlich erkennbar seit 1960, der Gedanke einer straffen Berufslenkung und damit verbunden die Bindung der Jugend an bestimmte Produktionszweige und Berufe, besonders in der Landwirtschaft, die an akutem Nachwuchsmangel leidet, immer stärker in den Vordergrund getreten. Auf diese Weise erfolgt aber eine weitere Begrenzung in der Wahl der Ausbildungswege, die bisher vorwiegend negativ begründet war, d. h. auf der Kontingentierung der Ausbildungsplätze in den Berufsschulen, mittleren Fachschulen und Hochschulen beruhte. Jetzt tritt ein dirigistisches Verfahren hinzu. Auch hier zeigt sich jedoch — wie aus zahlreichen Berichten der sowjetischen Tages-und Fachpresse hervorgeht —, daß die tatsächlichen Erfolge in der Berufslenkung erheblich hinter den Vorstellungen der Planer zurückbleiben. Nur ein verhältnismäßig geringer Teil der Mittelschulabsolventen ergreift tatsächlich den während der Produktionsausbildung erlernten Beruf, während die meisten versuchen, ihre anders-lautenden individuellen Wünsche zu realisieren. Für erhebliche Teile der sowjetischen Jugend, besonders auf dem Lande, wird durch diese Maßnahmen der Weg zur höheren Bildung erschwert, da in sehr vielen Fällen nur noch das berufsbegleitende Fern-oder Abendstudium übrigbleibt. An dieser Stelle wird auch die ambivalente Wirküng und Bedeutung dieses „Zweiten Bildungsweges" sichtbar, der einerseits echte Chancen für eine höhere Ausbildung und damit auch für ein besseres berufliches Fortkommen der bereits Erwerbstätigen eröffnet, andererseits aber — insbesondere für die Jugend — aus planökonomi-sehen und finanziellen Gründen Hindernisse auf dem direkten Bildungsweg von der Grundschule bis zum Hochschuldiplom aufrichtet.
Wir haben von der Spannung zwischen gewissen egalitären Absichten der kommunistischen Führung und den ihnen oft entgegenstehenden realen Kräften der sowjetischen Gesellschaft gesprochen, wie sie insbesondere in den Ansprüchen der Oberschicht zum Ausdruck gelangen. Diese Ansprüche finden ihre Stütze in dem vielfältigen Bedarf einer immer komplizierter werdenden Wirtschaft, Wissenschaft und Technik an hochqualifizierten Spitzenkräften, wodurch die Bildungspolitik gezwungen wird, eine Begabtenauslese und Talentförderung zu betreiben und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Damit kommt ein wichtiges Problem, nämlich die Frage einer „Elitebildung", ins Spiel, wobei der Elitebegriff hier nicht politisch, sondern fachlich zu verstehen ist.
Das sowjetische Schulsystem kannte schon seit den zwanziger Jahren den Sonderweg für künstlerisch talentierte Kinder, die frühzeitig in Schulen für Kunst, Musik und Tanz besonders gefördert wurden. Eine ältere Form von Spezialanstalten bildeten auch die Schulen für den Offiziersnachswuchs, die während des Zweiten Weltkrieges als Suworow-und Nachimow-Schulen bekannt wurden. Der Besuch beider, ihrer Art nach so entgegengesetzten Sonderschulformen, gewährleistete in den meisten Fällen nahezu automatisch die Zugehörigkeit zur sowjetischen Oberschicht. In der Schulreformdiskussion von 1958 ist von verschiedenen Seiten, insbesondere von Vertretern der Wissenschaft, auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, auch für früh erkennbare mathematische und naturwissenschaftliche Talente besondere Schulen einzurichten; auch Chruschtschow in seinem Memorandum und das Zentralkomitee der Partei in seinen Thesen zur Reform empfahlen einen solchen Weg. Das Schulgesetz vom 24. Dezember 1958 erwähnte solche Einrichtungen jedoch nicht mehr, sei es, weil nachträglich ideologische Bedenken gegen eine zu starke Auflockerung des Einheitsschulsystems gekommen sind, sei es, daß man erst praktikable Wege erproben wollte.
In den folgenden Jahren traten jedoch neben die herkömmlichen und weiter ausgebauten Formen der Begabtenförderung in den Zirkeln und Arbeitsgemeinschaften außerschulischer Art
Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz auf so hohem Ausleseniveau stehende Form der Begabtenschulen stellen die seit 1957 stark ausgebauten Schulen mit erweitertem Fremdsprachenunterrichtdar, deren Zahl bis 1965 auf 700 steigen soll
Damit ist bereits zum Ausdruck gebracht, daß die Kommunistische Partei aus .den genannten Gründen der politischen und ökonomischen Ratio die elitären Tendenzen dieser Ausbildungswege offenbar in Kauf nimmt. Denn es ist kaum zweifelhaft, daß sich mit diesen neuen Sonderschulformen der sowjetischen Oberschicht Möglichkeiten eröffnen, ihren höheren Bildungsstand weiterhin aufrechtzuerhalten. Nicht alle Kinder, die von ihren Eltern auf eine „bessere" Schule geschickt werden, sind deshalb begabter als ihre Altersgenossen in der Normalschule. Da die Beschickung dieser Schulen in starkem Maße von dem Willen der Eltern abhängt, besitzen diejenigen, die den Wert einer solchen Ausbildung zu schätzen wissen, also in erster Linie die Kreise der Intelligenz, von vornherein bessere Chancen
Im Unterschied zu den eben erwähnten Sonderschulformen gehören die Internatsschulen, die 1956 ins Leben gerufen worden sind, nicht zu den Anstalten mit spezifischen Auslesefunktionen. Bis in die jüngste Zeit, da ihre Schüler-zahl auf etwa eine Million gestiegen ist
Dieses Fernziel einer vollsozialisierten Erziehung, das der kommunistischen Parteiführung aufgrund ihrer ideologischen Prämissen vorschwebt, darf als Gegenwirkung zu den bisher behandelten differenzierenden Tendenzen im sowjetischen Bildungswesen nicht zu gering bewertet werden. Es ist in diesem Zusammenhang notwendig, die große integrative Rolle der sowjetischen Schule zu betonen, die sie im Sinne einer staatsbürgerlichen Bewußtseinsbildung über alle sozialen und Bildungsunterschiede hinweg spielt. Diese allen modernen demokratischen Gesellschaften eigene Funktion der Schule erhält im kommunistischen Sowjetsystem ihre besondere Bedeutung dadurch, daß hier die politisch-ideologische Einheitsschulung eine wesentliche Voraussetzung der Herrschaft der Partei bildet. Indem den heranwachsenden jungen Staatsbürgern die Vorstellung einer homogenen, nichtantagonistischen Gesellschaft mit dem Endziel einer Aufhebung aller Klassenunterschiede suggeriert wird, soll die Aufmerksamkeit von dem entscheidenden Problem der politischen Macht abgelenkt werden. Die auf allen Bildungsstufen — von der Grundschule bis zur Hochschule — betriebene Erziehung im Sinne der sozialen Harmonie kann dabei eine gewisse Wirkung nicht verfehlen; oft besteht sie ihre Probe in der Realität jedoch auch nicht. Die Diskrepanz zwischen Sein und Bewußtsein und die verhüllende Rolle der Ideologie gilt, ganz wie Marx es beschrieben hat, auch für die sowjetische Gesellschaft.
Die sowjetische Variante der modernen Leistungs-und Bildungsgesellschaft
Stadtbevölkerung und Landbevölkerung
(Quelle: Anm. 33)
Stadtbevölkerung und Landbevölkerung
(Quelle: Anm. 33)
Unsere Ausführungen haben den engen Zusammenhang deutlich gemacht, der auf allen Entwicklungsetappen der sowjetischne Bildungspolitik zwischen den gesellschaftlichen Idealen des Kommunismus, den ökonomischen Zielsetzungen der Sowjetregierung und den daraus resultierenden spezifisch schulpolitischen Maßnahmen bestanden hat. Wenn abschließend versucht werden soll, einige für die gegenwärtige sowjetische Gesellschaft charakteristische und für die absehbare Zukunft bedeutsame bildungssoziologische Befunde unter einem internationalen Aspekt hervorzuheben, so geschieht dies aufgrund der Über-zeugung, daß wir es im Falle der Sowjetunion mit einer Variante der modernen Leistungsund Bildungsgesellschaft zu tun haben, die — trotz aller bestehenden Unterschiede — in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts in den „entwickelten" Ländern des Westens und Ostens immer stärker gemeinsame Züge aufweist.
Das gilt zunächst für den Vorgang, den man gewöhnlich als „Demokratisierung der Bildung"bezeichnet, womit der allgemeine, nicht an soziale Privilegien gebundene Zugang zu den Kulturgütern aufgrund gewisser Mindestvoraussetzungen an Bildung gemeint ist, die durch die allgemeine Schulpflicht geschaffen werden. Die Demokratisierung der Bildung im Sinne einer faktischen Gleichheit der Bildungschancen über das untere Minimalniveau hinaus ist hingegen auch in der Sowjetunion noch nicht wenn die -voll verwirklicht, auch Hemm nisse und Schranken teilweise woanders liegen als in einigen westeuropäischen Ländern. Abgesehen von objektiven Hindernissen, unter denen die Unterschiede von Stadt und Land am schwersten wiegen, gibt es solche, die aus dem Wesen der staatlichen Bildungspolitik selbst fließen.
Es ist deshalb wichtig, beide Seiten gerade der jüngsten bildungspolitischen Maßnahmen zu sehen: Während einerseits — stärker als in der Stalin-Ära — grundsätzlich offene Bildungswege (u. a. über die verschiedenen Einrichtungen der nebenberuflichen Ausbildung) angestrebt werden, zwingt das ökonomische Planungssystem zu einer Lenkung der Ausbildung und der Berufswahl unter dem Primat der gesellschaftlichen vor den individuellen Interessen. Diese Spannung zwischen einer entschieden demokratischen Konzeption und einem staatlichen Dirigismus ist unter den Gegebenheiten des sowjetischen Systems auch nicht aufzulösen. Anders ausgedrückt: der Zugang zu höheren Bildungsstufen ist in der Sowjetunion erheblich breiter als etwa in Westdeutschland; die Möglichkeit der Wahl des gewünschten Studienweges oder der Fachrichtung ist dagegen eng begrenzt. Die Idee der Bildungsplanung — nicht nur im Sinne der Finanzvorausberechnung oder der Bedarfsfeststellung — gewinnt auch in den westlichen Demokratien immer mehr an Boden. Es ist notwendig, die dabei möglichen Gefahren für die individuelle Freiheit der Entscheidung, die das sowjetische Beispiel demonstriert, nicht aus den Augen zu verlieren.
Ein weiteres Problem von übergreifender Bedeutung stellt die unter dem Stichwort „education permanente“ bekannte Erscheinung in entwickelten den Industrienationen der Welt dar. Da die beruflichen Anforderungen im Laufe des Lebens wachsen und sich ändern, ist die noch bis vor einigen Jahrzehnten klare Teilung in eine abgeschlossene Ausbildungsund eine daran anschließende Berufsphase nicht mehr rein aufrechtzuerhalten. Immer mehr gewinnt daher nach Abschluß der vollen Schulzeit die nebenberufliche Fortbildung an Boden, die ein wesentliches Element der Leistungssteigerung und damit auch des sozialen Aufstiegs bildet. In der Sowjetunion hat — neben den USA — diese permanente Fortbildung in Form von beruflichen und außerberuflichen Kursen, Schulen und Studiengängen die größte Verbreitung gefunden. Damit bekommt auch das Freizeitproblem, dem sich die sowjetische Gesellschaft in wachsendem Maße gegenübersieht, einen spezifischen Akzent, wie schon an früherer Stelle angedeutet worden ist. Die arbeitsfreie Zeit ist in starkem Maße Lernfreizeit, und es scheint, als ob sich hier der politische Erziehungswille des Staates mit der Bildungsfreudigkeit seiner Bürger trifft. Auch dieses Phänomen des sowjetischen Lebens ist seinem Wesen nach ambivalent: Während einerseits die totale Erfassung der arbeitsfreien Zeit einer gleichförmigen Be-wußtseinsbildung Vorschub leisten kann, ist andererseits das Moment der freien geistigen Bildung im Lernprozeß und in einer kultivierten Freizeitgestaltung auf keinen Fall zu unterschätzen.
Damit sind jedoch bereits die Grenzen einer bildungssoziologischen Untersuchung überschritten. Die Frage, ob höhere Bildung mehr Freiheit verlangt und ob diese gesellschaftlich relevant werden kann, ob es Ansatzpunkte für eine Pluralität in der Sphäre des Geistigen gibt und wo der Einfluß der Parteiideologie seine Grenzen hat — all dies gehört zu den erregenden Problemen der sowjetischen Gegenwart, denen hier nicht mehr nachgegangen werden kann, auf deren Bedeutung aber nachdrücklich hingewiesen sei