Politisch-philosophischer Essay
In den letzten Jahren ist immer mehr von Wandlungen in den weltpolitischen Verhältnissen die Rede. Zum Beispiel werden Vergleiche der jetzigen „Entspannung" zwischen den USA und der Sowjetunion mit der Periode der Hochspannung in der Stalin-Ära angestellt. Es ist zu fragen, ob solche Vergleiche nicht ein wenig zu kurzatmig sind und ob man nicht zum besseren Verständnis der Gegenwart den Blick auf eine längere Zeitspanne richten muß. Man darf nämlich nicht außer acht lassen, daß nur selten wirklich umwälzende Wandlungen eintreten und daß auch dann sehr vieles aus der Vergangenheit bleibt oder nachwirkt. Es wird also nützlich sein, an Hand von Beobachtungen einer längeren Periode und einer Analyse der Gegenwart einmal an das komplementäre Verhältnis von Dauer und Wandlung zu erinnern, um Kriterien für eine Beurteilung des Welt-geschehens zu gewinnen.
I. Streiflichter auf die letzten hundert Jahre
Für die unentbehrliche Rückschau solcher Betrachtungsweise ist das Jahr 1964 ein passender Ausgangspunkt. Vor 25 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, vor 50 Jahren der Erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der Konflikt um den Ausbau der Sozialpolitik zwischen Bismarck und seinem Herrscher, in dessen Verlauf der deutsche Reichsgründer aus dem Kanzleramt vertrieben wurde, vor 100 Jahren begann mit dem deutsch-dänischen Krieg die Durchsetzung des Nationalgedankens im Mittelteil Europas, repräsentiert durch die Gründung des Deutschen Reichs und die Einigung Italiens. Damit sollen jedoch keine inneren Zusammenhänge konstruiert werden. Es wäre ein wahnwitziges Vorhaben, Ablauf und Zusammenhänge der Geschichte in einigen Seiten einfangen zu wollen. Der Blick soll deshalb im folgenden nur auf einige Erscheinungen — teilweise nur in Stichworten aufgeführt — gerichtet werden, die die Wandlungen von der Vergangenheit zur Gegenwart besonders deutlich charakterisieren. 1. Europäisches Konzert, Staats-und Gesellschaftssystem 1864— 1914
Europa war vor 100 Jahren noch unbestritten das Zentrum der Welt und blieb es fast bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Die Pentarchie der Großmächte, die sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte, das „Europäische Konzert", bestehend aus Großbritannien, Frankreich, Österreich -Ungarn Preußen (beziehungsweise seit 1871 dem Deutschen Reich) und Rußland, war immer noch vorhanden. Sie wurde nach 1871 durch Hinzutritt Italiens gewissermaßen als einem Juniorpartner ergänzt; dabei ist nicht zu vergessen, daß auch die erstgenannten Fünf nicht ganz gleichrangig waren, sondern recht unterschiedliche Bedeutung hatten. Zur Großmächtegruppe traten dann in den siebziger Jahren noch die USA hinzu, die sich zwar bewußt aus den europäischen Angelegenheiten fernhielten, jedoch im Pazifik Weltpolitik betrieben.
Anfang dieses Jahrhunderts trat Japan als Großmacht nach den Siegen über Ruß-land und China ebenfalls auf die Welt-bühne; sein Einfluß blieb aber auf den Fernen Osten beschränkt. Die europäische Großmächtegruppe überdauerte — wenn auch unter zeitweiligem Ausschluß des einen oder anderen Mitglieds — den Ersten Weltkrieg und verfügte noch 1938 die Abtrennung des Sudetengebietes von der Tschechoslowakei. Man kann dieses Europäische Konzert, das heißt in diesem Falle „Übereinstimmung", als eine primitive Form der Organisation Europas — und eines großen Teils der Welt — betrachten. Immer wieder haben nämlich die europäischen Großmächte seit einigen Jahrhunderten gemeinsame Entschlüsse zu gemeinsamem Vorgehen gefaßt und vielfach als eine Art Direktorium den kleineren Nationen Kollektivbeschlüsse auferlegt; sie haben sich dabei gern auf das „Allgemeine Wohl Europas" berufen. Dieses System funktionierte aber nur dann, wenn sie untereinander keine Konflikte hatten. Sobald stärkere Interessengegensätze unter ihnen auftraten — und das war den kleineren Staaten in Europa gar nicht angenehm —, waren Ordnung und Frieden Europas in Gefahr oder gar dahin.
Nun einige Stichworte zur Charakterisierung der damaligen Welt: Weithin in Europa — ausgenommen Frankreich seit der Französischen Revolution — Fortdauer der aus Jahrhunderten überlieferten monarchisch-aristokratisch-ständischen Ordnung im Staat bei gleichzeitigem Heraufkommen egalitärer und demokratischer Strömungen; verstärkte Fortsetzung der von England ausgegangenen Industrialisierung; Umbildung der Sozialstruktur durch zunehmende Bedeutung der Arbeitnehmerschaft; Entstehung der sozialistischen Parteien sowohl wie der sozialstaatlichen Be-strebungen, letztere anknüpfend an die Bis-marcksche Sozialgesetzgebung; Verdunkelung des Bewußtseins der europäischen Kulturge-meinschaft zugunsten eines übersteigerten Nationalgedankens; Aufkommen der national-staatlichen Tendenzen im Donau-und Balkan-raum; Wettlauf der europäischen Mächte zur Aufteilung und Beherrschung Asiens und Afrikas; schließlich gegenseitiger Argwohn von West-, Mittel-und Ostmächten — endend im Ersten Weltkrieg. 2. Folgewirkungen des Ersten Weltkrieges Einige wesentliche Wirkungen und Folgen des Ersten Weltkriegs können hier ebenfalls nur in Stichworten angezeigt werden: Zerfall Österreich -Ungarns, des Osmanischen Reichs, teilweiser Zerfall des Russischen Reichs, territoriale Verluste des Deutschen Reichs — resultierend in einer unglücklichen Grenzziehung, die einen Reichsteil zur Exklave machte; Machtergreifung der Kommunisten in Rußland; Erschütterung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in ganz Mittel-und Osteuropa, weithin Abschaffung der Monarchie und der mit ihr verbundenen ständischen Ordnung, fast allenthalben in Europa Übergang zum rein parlamentarischen Regierungssystem; durch die Kriegsfolgen und durch die sozialen Wandlungen veranlaßte außerordentliche Intensivierung der staatlichen Eingriffe in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, gekennzeichnet durch ein Anwachsen der öffentlichen Ausgaben von rund 10 Prozent des Sozialprodukts vor dem Ersten Weltkrieg auf etwa 25 Prozent; dieser Anteil beläuft sich jetzt in der westlichen Welt bei Einbeziehung der Sozialversicherung auf 30— 40 Prozent, in den Staaten des kommunistischen Ostens aber auf etwa 60 Prozent — hauptsächlich infolge Einbeziehung fast sämtlicher wirtschaftlicher Investitionen in den öffentlichen Haushalt; weiterhin: Auf-gliederung der nichtfarbigen Teile des Britischen Reichs in selbständige „Dominien", die allmählich zu souveränen Staaten wurden; Erschütterung des Ansehens der europäischen Staaten in der kolonialen Welt; wirtschaftliche und politische Schwächung Europas bei weiterem Anwachsen der wirtschaftlichen Macht der Vereinigten Staaten, die im Zuge ihres Eintretens für die damaligen Westalliierten eine große Flotten-und Militärmacht und aus einem Schuldnerstaat zu einem Gläubigerland geworden waren.
Hierzu nur einige Zahlen:
Die Gold-und Devisenreserven Westeuropas waren von 6, 1 Milliarden Dollar (gegenwärtiger Parität) im Jahr 1913 auf 2, 3 Milliarden Dollar im Jahr 1924 gesunken, die der USA von 2, 9 Milliarden Dollar auf 6, 7 Milliarden Dollar gestiegen.
Nicht zu vergessen ist der erste Versuch der sehr mangelhaft konstruierten Gesellschaft der Staaten, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, indem sie sich mit dem Völkerbund eine Art von Statut und gemeinsamer Organisation zulegte. Bezeichnenderweise war der Sitz in Genf. Der Völkerbund war im wesentlichen noch als eine europäisch-abendländische Institution konzipiert. Dieser Versuch hatte bei weitem nicht die erwartete Wirkung, da die Vereinigten Staaten den Hauptvertreter dieses Gedankens, ihren Präsidenten Wilson, nicht unterstützten, dem Völkerbund nicht beitraten und sich wieder von der europäischen Politik distanzierten.
Damit ist bereits eine der Ursachen, die zum Zweiten Weltkrieg führten, gekennzeichnet.
Weitere Momente in diesem Prozeß sind:
Die unverständige, ja zeitweise rachsüchtige Einstellung der damaligen Sieger-Mächte, insbesondere Frankreichs gegenüber Deutschland mit dem Versuch, ungeheure, wirtschaftlich untragbare Reparationen aus dem Besiegten herauszuziehen und ihn in der Rüstung dauernd zu beschränken, das heißt zu „diskriminieren"; der Unwille breiter Schichten in Deutschland, sich als besiegt anzusehen (Dolchstoßlegende); der mangelnde Realismus wichtiger Parteien und ihr Unwille, Kompromisse mit den anderen einzugehen; die ungenügende Rücksicht auf nationale Minderheiten in manchen Staaten; das schließliche Scheitern des parlamentarischen Systems besonders in Deutschland, aber auch anderwärts in Europa; das Aufkommen totalitärer Ideologien und Diktaturen in nichtkommunistischen Staaten; die Abneigung in Frankreich und Großbritannien, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zwecks Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts ausreichend aufzurüsten; gleichzeitig widerwilliges Eingehen auf immer höher geschraubte Forderungen von Hitler-Deutschland; die irrsinnige Verkennung der Kräfte-verhältnisse in der Welt durch Nationalsozialisten und Faschisten.
Weiterhin aber außerhalb Europas:
Der imperialistische Ausdehnungsdrang Japans nach China und Südostasien und — wie schon gesagt — das Abseitsstehen der Vereinigten Staaten.
Man sieht schon aus dieser aphoristischen und sehr unvollständigen Zusammenstellung für die Vergangenheit, wie außerordentlich schwierig es ist, das Geflecht der wirkenden Ursachen und ihrer Folgen zu überblicken. Es ist auch keineswegs leichter, einen Überblick über die in der Gegenwart wirkenden Faktoren zu erhalten. Manches wird bekannt, aber sehr viel liegt in den Panzerschränken der Staatsmänner und manches andere noch in ihren oft sorgsam gehüteten sonstigen Meinungen und Absichten verborgen. Man würde sich sehr wundern — wie einmal ein amtierender Bundesminister in einer Ausschuß-Sitzung bei Besprechungen der Haltung eines hohen Bundesbeamten sagte —, wenn man wüßte, was alles in den Köpfen der im Sitzungsraum Anwesenden vor sich geht, aber nicht geäußert wird. 3. Weltpolitische Situation nach dem Zweiten Weltkrieg Der Zweite Weltkrieg war nicht mehr wie der Erste ein eigentlich europäischer Krieg mit Auswirkung auf andere Erdteile, sondern im Anfang auch ein asiatischer Krieg, der schon 1931 mit der Besetzung der Mandschurei durch Japan und 1937 mit dem Eindringen japanischer Truppen in das chinesische Kernland begonnen hatte.
Das Vorspiel zum Krieg im Westen begann mit dem Angriff Italiens auf Äthiopien 1935, der Einverleibung Österreichs und des Sudetenlandes in das Deutsche Reich Frühjahr und Herbst 1938, der Degradierung von Böhmen und Mähren zum Protektorat des Deutschen Reiches (März 1939) und der Annexion Albaniens durch Italien April 1939. Ende August 1939 einigten sich Hitler und Stalin weitgehend über die Aufteilung ganz Ost-europas in Interessensphären; mit dem deutschen Einmarsch in Polen und der Kriegserklärung Englands und Frankreichs nahm der Weltkrieg seinen Anfang. Er weitete sich zum globalen Krieg aus mit dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion Juni 1941 und dem Überfall der Japaner auf Pearl Flarbor Dezember 1941, dem die Kriegserklärung Hitlers an die USA folgte. Durch diese und andere Akte wurde von Hitler und seinen Bundesgenossen selbst die Weltkoalition der USA, der Sowjetunion, des Britischen Reichs, des französischen Exilreichs und zahlreicher anderer Staaten herbeigeführt, die nach entsetzlichen Geschehnissen den Weltkrieg auf beiden Schauplätzen 1945 beendete — und mit ihm die Weltmachtträume der drei besiegten Großmächte.
Ohne die gewaltigen wirtschaftlichen und militärischen Hilfsmittel der USA, an denen die Alliierten mit rund 40 Milliarden Dollar (damaligen höheren Wertes) an Pacht-und Leihlieferungen partizipierten, wäre aber die Niederwerfung ihrer Gegner kaum möglich gewesen. Als wirklicher Sieger waren zunächst die USA anzusehen. Aber schon vor dem Kriegsende modifizierte sich das Kräfte-verhältnis. Der zweite große Sieger, die Sowjetunion, war in ihrem eigenen Territorium und in ihrem durch „Befreiung" der osteuropäischen Staaten und Besetzung Ost-und Mitteldeutschlands zugewachsenen Einflußbereich nun völlig gesichert. Sie hat ihre neu erworbene Machtstellung in Ost-und Mitteleuropa, insbesondere im östlichen und mittleren Teil Deutschlands, nach eigenem Gutdünken sofort auf das ausgiebigste zu nutzen begonnen; sie führte in den „befreiten" und besetzten Staaten und Gebietsteilen unter tatkräftiger Mitwirkung einheimischer, meist in Moskau ausgebildeter Kommunistenführer in schnell aufeinander folgenden Maßnahmen das kommunistische System ein — ohne Rücksicht auf die vagen Abmachungen der Hauptalliierten in der Deklaration über das befreite Europa, in der die Wiederherstellung der Demokratie und der persönlichen Freiheit vorgesehen war.
Damit hatte bereits am Kriegsende die Entzweiung der Alliierten begonnen; sie wurde noch angestachelt durch das bald deutlicher werdende Streben der Sowjetunion nach weiterer Ausdehnung ihrer Interessensphäre in Europa, in Vorderasien, im Mittelmeergebiet und in Ostasien. Der Gegensatz der philosophischen und sozialen Grundauffassungen zwischen Ost und West, der sich im gemeinsamen Krieg etwas verdunkelt hatte, trat alsbald wieder in ganzer Schärfe hervor.
Die Polarisierung der Welt in zwei entgegengesetzte Mächtegruppen setzte mithin kurz nach Kriegsende ein. Kontinentaleuropa war verwüstet und entkräftet. Großbritannien, das sehr geschwächt war, sah sich in seiner wirtschaftlichen und finanziellen Bedrängnis genötigt, Einflußbereiche und Hilfsverpflichtungen in Südosteuropa, im Nahen Osten und in Asien — vor allem zugunsten der USA — aufzugeben. Die ehemaligen Großmächte Deutschland, Italien und Japan waren im Zeichen der bedingungslosen Kapitulation unter Vormundschaft der Siegermächte in dieser oder jener Kombination gestellt; Deutschland war dazu noch in Besatzungszonen der einzelnen Siegermächte aufgespalten.
In der Defensivstellung und in manchen weltpolitisch kritischen Situationen wie der Berlin-Blockade und dem Koreakrieg bildete sich Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre die Allianz der westlichen Staaten, verbunden mit massiver wirtschaftlicher Hilfe der USA an das ganze freie Europa — einschließlich der westlichen Teile Deutschlands — und auch an weite Teile der übrigen Welt.
Im Verlaufe der wirtschaftlichen und politischen Gesundung Westeuropas, teilweise auch Ostasiens, wurden die entmachteten und bevormundeten Staaten — zuerst Italien 1948, dann Japan 1951, schließlich die Bundesrepublik Deutschland 1955 — in die Gesellschaft der Staaten wieder eingegliedert, und sie wurden in der oder jener Weise zu Vertragspartnern, ja Verbündeten der westlichen Gruppe der ehemaligen Gegner.
Die teils freiwillig gewährte, schon seit längerem vorbereitete und versprochene, teils im Kampf ertrotzte Emanzipation zunächst der asiatischen, dann auch der afrikanischen Kolonien setzte — erleichtert durch die Ost-West-Spannung — ein. Die Herrschaft Europas über weite Bezirke der Welt ist damit zu Ende gegangen, und eine große Gruppe von Staaten, die sich aus der Rivalität von Ost und West heraushalten wollte, ist entstanden.
II. Struktur und Entwicklungstendenz der heutigen Weltpolitik
In Auswirkung der beiden Weltkriege und der ihnen folgenden Entwicklungen sehen wir also eine Welt, die ganz anders ist, als sie vor 50 oder gar vor 100 Jahren war. Ferner ist zu bemerken: Die Verhältnisse zwischen den Mächten und Staatengruppen haben sich auch gegenüber der ersten Periode nach Kriegsende in vielerlei Hinsicht, aber nicht von Grund auf gewandelt, sie dauern vielmehr in ihrer Substanz an, allerdings sind nunmehr mancherlei Veränderungen feststellbar, die künftige Verschiebungen in dem jetzigen Weltstaatensystem erahnen lassen. 1. Ost-West-Verhältnis im Zeichen des „Atomaren Patt" und der Kräftigung Europas Bis vor wenigen Jahren stand im Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit der Welt die Spannung (oder der Kalte Krieg) zwischen Ost und West, insbesondere den beiden Weltmächten USA und Sowjetunion, die in dem ersten Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs als einzige wirkliche und selbständig handlungsfähige Faktoren aus der ehemaligen Gruppe der Großmächte von 1914 geblieben waren. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre haben sich aber früher getroffene Entscheidungen und Maßnahmen schneller und stärker als vorauszusehen war ausgewirkt, und außerdem sind neue Momente zutage getreten:
Europa als Ganzes ist wieder wirtschaftlich gesundet, nicht zum wenigsten infolge der amerikanischen Hilfe, die sich — Militärhilfe eingerechnet — auf rund 42 Milliarden Dollar belief. Westeuropa hat wirksame Institutionen der intereuropäischen Zusammenarbeit geschaffen, wie den seinerzeitigen Europäischen Wirtschaftsrat (OEEC) auf nachdrückliches Zureden der USA hin, sodann aus eigener Initiative den Europa-Rat; beiden haben sowohl die Mitgliedstaaten als auch ihre einzelnen Bürger in der Beseitigung von Barrieren wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Natur unerhört viel zu verdanken. Es kam dann die „supranationale" Gemeinschaft der Sechs im Kern Kontinental-Europas — beruhend auf einer allmählichen Aussöhnung Frankreichs mit Deutschland — zuerst in Gestalt der Montanunion von 1952, dann in Form der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und von Euratom 1957. Diese Sechsergemeinschaft ist Völker-und staatsrechtlich schwer zu definieren und einzuordnen; sie stellt wohl ein auf bestimmte öffentliche Aufgaben, hauptsächlich wirtschaftlicher Natur, beschränktes System gemeinsamer Organe souveräner Staaten dar, das sich als ein Ubergangssystem zu einer Art von föderativem Gebilde versteht und ausweist. Weitgehende Versuche, auch die militärische und die außenpolitische Gewalt in diesem Kreise mehr oder weniger weitgehend zu fusionieren, sind bisher nicht gelungen. Es ist auf viele Ursachen, aber nicht zum wenigsten auf diesen Zusammenschluß der Sechs sowie auf die zuerst genannten europäischen Institutionen im weiteren Kreis zurückzuführen, daß nicht nur die Gemeinschaft der Sechs nunmehr einen gewissen Faktor in der Weltwirtschaftspolitik und auch der allgemeinen Weltpolitik darstellt, sondern daß auch ihre Mitglieder, insbesondere Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, sowie Westeuropa als Ganzes aus dem Tiefstand ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse und ihres Einflusses wieder herausgekommen sind. Europäer, die viel in anderen Erdteilen herumkommen, versichern, daß dort Europa weit mehr als eine Einheit angesehen wird, als es — von hier aus gesehen — tatsächlich der Fall ist.
Der Wiederaufstieg Westeuropas war aber — außer durch die amerikanische Wirtschaftshilfe und durch eigene Anstrengungen — nur dadurch möglich geworden, daß dieser Erdteil durch die USA in vielen einzelnen bilateralen Zusicherungen und insbesondere im Rahmen des Nordatlantikvertrags von 1949 militärisch gegen die seit 1945 für eine Reihe von Jahren besonders aktive Expansionstendenz der Sowjetunion geschützt wurde. Daß dieses Bündnis Nordamerikas mit Westeuropa im Interesse aller Partner fortbestehen muß, wird von keinem von ihnen — auch nicht von Präsident de Gaulle — geleugnet. Wohl ist zur Zeit viel von Krisen in der NATO die Rede. Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß die militärische und bürokratische Organisation der NATO nicht unmittelbar im Vertrag selbst vorgesehen ist, sondern im Verlauf der Zeit entsprechend den jeweiligen Notwendigkeiten von den Bündnispartnern geschaffen wurde.
Vieles von den internen Schwierigkeiten innerhalb der NATO erklärt sich aus einer im Laufe der letzten zehn Jahre eingetretenen Wandlung der Gegebenheiten:
Bei Abschluß des Bündnisses waren die USA noch allein im Besitz der Atombombe und außerdem von einem eventuellen Angreifer weit entfernt; sie hatten weniger die Rolle des starken Bundesgenossen als vielmehr die des Beschützers inne. Seit Jahren aber besteht das sogenannte atomare Patt — das „Gleichgewicht des Schreckens". Die Sowjetunion ist nämlich ebenfalls in dieser Hinsicht stark gerüstet; sie besitzt Langstreckenraketen, und der Weg über den Nordpol ist für Luftangriffe möglich. Die Lage der Interessen hat sich also für die USA und Europa teilweise verändert; auch die USA sind verwundbar geworden und müssen diesen Umstand bei ihren eigenen Entscheidungen berücksichtigen. Der frühere Außenminister Herter sagte im April 1959, er könne sich nicht vorstellen, daß ein Präsident die nuklearen Waffen einsetzen würde, wenn nicht die USA selbst in Gefahr wären. An Stelle der Strategie der „massiven, sofortigen Vergeltung" trat in den USA die Doktrin der abgestuften Vergeltung mit jeweils adäquaten Mitteln; eine neue Gesamtkonzeption steht noch aus.
Deswegen drängen verschiedene Kräfte quer durch Europa auf eine gleichberechtigte Beteiligung an der strategischen Verteidigungsplanung sowie auf eine eigenständige, entweder nationale oder auch europäische Atom-macht. Die Engländer haben mit einer nationalen Atommacht bekanntlich schon zu Beginn der fünfziger Jahre — mit Hilfe der Amerikaner übrigens — den Anfang gemacht. Die Franzosen folgen nach; grundlegende Beschlüsse und erste Maßnahmen wurden bereits in der 4. Republik, also vor de Gaulle, getroffen. Andere politische Kräfte in Europa würden sich mit der Beteiligung an der in den Händen der USA liegenden Entscheidung über die strategische Planung und den eventuellen Einsatz der Atommacht — in der oder jener Form — begnügen; diesem Wunsche kommt die von den USA vorgeschlagene schwimmende Multilateral Force (MLF) entgegen, die eine stärkere Bindung eines kleinen Teils des Atompotentials der USA an Europa bezweckt. Andere wiederum sehen es als am ehesten zweckgerecht, wenn durch Fusionierung bestehender oder sich bildender nationaler Atomwaffen eine integrierte europäische Atomwaffe gebildet würde, die mit derjenigen der USA zu kooperieren hätte — im Zeichen der Partnerschaft. Sie betrachten die MLF als Vorläufer. Manche Kreise und auch einzelne europäische Staaten wollen aus vielerlei Beweggründen und Neigungen mit der Atomwaffe nichts zu tun haben.
Mit der Entstehung des atomaren Patt hat sich aber auch das gegenseitige Verhältnis zwischen den beiden potentiellen Hauptgegnern verändert. Bundeskanzler Adenauer hat etwa 1952 in einer Sitzung des Außenpolitischen Ausschusses des Bundesrates geradezu prophetisch gesagt, daß die entsetzliche Erfindung der Atombombe vielleicht ein Gutes habe, nämlich Kriege zu verhindern, weil beide Gegner mit ihrer Auslöschung rechnen müßten. Dies scheint nunmehr auch auf sowjetischer Seite eingesehen zu werden. Die neue Lage zwang dort sogar zu einer Art Revision der marxistisch-leninistischen Doktrin oder vielleicht zu ihrer Ergänzung, wenn man so will. Sie lautet nach einer Antwort des Zentral-komitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vom 16. Juli 1963 an die chinesischen Kommunisten: „Die Atombombe hält sich nicht an das Klassenprinzip. Sie tötet jeden in dem Gebiet, das sie verwüstet." Die gleichen Worte hat Chruschtschow im vergangenen Herbst im Gespräch mit Guy Mollet, dem früheren französischen Ministerpräsidenten, gebraucht, wie dieser in einem Vortrag vor der Außenpolitischen Gesellschaft in Bonn Anfang 1964 mitteilte.
Mit der Erkenntnis der Möglichkeit eines Doppel-Selbst-Mords der Atommächte erwuchs auch die Einsicht, daß die Weltmächte durch andere Staaten in einen Atomkrieg verwikkelt werden könnten. Damit entdeckten die USA und die Sowjetunion ein gemeinsames Interesse, nämlich zu verhindern, daß über die jetzigen Inhaber hinaus die Atommacht in die Hand von weiteren Staaten gelangt, und sie haben deshalb zusammen mit Großbritannien das Atomteststopabkommen abgeschlossen, dem sich außer Frankreich und Rotchina praktisch alle Staaten der Welt angeschlossen haben.
Seit der Kraftprobe anläßlich der Kuba-Affäre (Herbst 1962) wird versucht, die politische Koexistenz der Weltmächte auf verschiedenen Wegen zu realisieren und zu bekräftigen. Die direkte Fernschreibverbindung, „der heiße Draht", zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml war der Anfang, dem das Atomteststopabkommen folgte. Es kamen zeitlich koordinierte einseitige Erklärungen der Atomweltmächte über Einschränkung der Produktion von Plutonium und angereichertem Uran im April 1964. Von der Möglichkeit, noch andere Schritte zu unternehmen, wird des öfteren gesprochen. Niemand vermag noch abzusehen, ob und welche Änderungen in der sowjetischen Politik nach dem Sturz Chruschtschows und der Zündung des ersten rotchinesischen Atom-Sprengkörpers, die von den Amerikanern einige Zeit vorher angekündigt worden war, eintreten werden. 2. Deutsche Frage und ideologischer Gegensatz von Ost und West Das Bestreben der jetzigen Weltmächte — und auch wohl ihrer Verbündeten — ihre Beziehungen zu entspannen, ist durch einige sehr wichtige ungelöste Fragen und Gegensätze begrenzt: einmal durch die Frage der deutschen Wiedervereinigung, zum zweiten durch die kommunistische Einstellung zum Staats-und Gesellschaftssystem des Westens. Beide Haltungen hängen in vielem zusammen.
Deutschland ist infolge der Abmachungen der seinerzeitigen Sieger-und Besatzungsmächte am Kriegsende gespalten; während die westlichen Mächte 1949 die Wiedervereinigung ihrer Besatzungszonen gestatteten und sogar veranlaßten, hat dies die östliche Siegermacht nicht getan.
Die durch Inkrafttreten des Deutschland-vertrags im Mai 1955 bewirkte Abschaffung der „Obersten Gewalt" der westlichen Alliierten konnte — in unserem eigenen Interesse — nicht auf die Vorbehaltsrechte der Alliierten in bezug auf Berlin, auf den Friedensvertrag und die Grenzen Deutschlands erstreckt werden; diese von uns ausdrücklich nur hingenommenen Rechte der Sieger sind Verantwortlichkeiten der Alliierten geworden und geblieben.
Die Sorge, daß irgendwelche politische Aktionen von uns selbst und von anderen Staaten — verbündet oder nicht — die Spaltung verlängern oder vertiefen könnten, begleitet die deutsche staatliche Tätigkeit beinahe seit dem Zusammenbruch von 1945. Sie trat in das volle Licht der Öffentlichkeit beim Scheitern der gesamtdeutschen Ministerpräsidentenkonferenz in München (Frühjahr 1947), als die Ministerpräsidenten der Länder der Sowjetischen Besatzungszone diese Konferenz, noch bevor sie in Gang gebracht wurde, wieder verließen. Es ist auch viel zu wenig bekannt, daß 1948 (während der sich verschärfenden sowjetischen Blockade West-Berlins) bei der Beratung der westalliierten Vorschläge zum Zusammenschluß der Länder der drei westlichen Besatzungszonen in bundesstaatlicher Form die Ministerpräsidenten zunächst mit ihrer Einwilligung zögerten, um nicht irgendwie die Wiedervereinigung zu gefährden; sie nahmen schließlich — besonders unter dem Einfluß des gewählten, aber infolge sowjetischen Einspruchs noch nicht amtierenden Oberbürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter — sowohl im Interesse der Sicherung Berlins als auch im Interesse der Freiheit und Sicherheit der Bewohner der westlichen Zonen die Vorschläge der Westalliierten an. Auch bei den Verhandlungen und den parlamentarischen Auseinandersetzungen über die Verträge zur europäischen Zusammenarbeit und Integration und zum deutschen Verteidigungsbeitrag — zuerst in Form der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und dann des Beitritts zur NATO — kam diese Sorge um die mögliche Rückwirkung auf die Wiedervereinigung immer wieder in der verschiedensten Weise zum Ausdruck — positiv und negativ.
Seitdem mittels der genannten und mittels anderer Verträge und sonstiger gesetzlicher Bindungen die Bundesrepublik wieder die volle Entscheidungsgewalt über ihre Angelegenheiten erlangt hat, ist die Außenpolitik nicht leichter, sondern zunehmend immer schwieriger geworden. Erst mit Rückgewinnung der „Souveränität" wurde die Bundesrepublik mit der ganzen heutigen Weltlage konfrontiert. Und nun erst treten die Folgen der Spaltung im vollen Ausmaß mehr und mehr zutage. In unserem eigenen Interesse liegen, wie seinerzeit bei den Beratungen über den Deutschland-Vertrag Präsident Wilhelm Kaisen als Vorsitzender des Bundesratsausschusses für Auswärtige Angelegenheiten besorgt vom Bundeskanzler bestätigt wissen wollte, die Aufrechterhaltung der oben angeführten Vorbehaltsrechte. Mehr und mehr zeigte sich aber auch, daß dadurch unsere außenpolitische Freiheit in mancher Hinsicht mehr begrenzt ist, als es bei unseren großen und kleinen Nachbarn und bei anderen Staaten in aller Welt der Fall ist. Es versteht sich von selbst, daß wir bei wichtigen politischen Angelegenheiten uns die Spaltung Deutschlands sowohl wie die Verantwortlichkeit der Alliierten immer vor Augen halten müssen. Daher kommt es, daß die Bundesrepublik des öfteren es nicht ganz leicht hat, ihre eigenen Absichten mit den Meinungen und den Interessen der großen Drei des Westens, die nicht immer in jedem Punkt übereinstimmen und die zudem jeweils mit Vorgängen ihrer Innenpolitik verknüpft sind, abzustimmen. Auch unser Verhältnis zur vierten Siegermacht, der Sowjetunion, ist zufolge diesen Umständen ganz besonders geartet.
Die neuerliche Interessengleichheit der beiden Weltmächte in der Frage der Verhinderung eines Atomkriegs, aber auch die ganze Entwicklung in den fünfziger Jahren hat — das ist nicht zu übersehen — bei manchen zu einer gewissen pragmatischen Hinnahme des bestehenden Zustands, des Status quo der Machtbereiche, geführt, wenn auch unter immer wieder erneuter Wahrung des Rechtsstandpunktes sowohl von Seiten der Bundesrepublik als auch ihrer Verbündeten. Auf alle Fälle hält niemand es für möglich und vertretbar, den jetzigen Zustand durch einen Krieg, der zwangsläufig in einen Atomkrieg auslaufen würde, zu ändern. Die Akzente in der Frage, ob Entspannung durch „Annäherung", oder besser durch Wiedervereinigung, oder aber ob Wiedervereinigung durch „Entspannung" anzustreben ist und bewirkt wer-den kann, werden — wie man sieht — bei den verschiedenen Beteiligten je nach der politischen Lage und dem jeweiligen vordringlichen Interesse verschieden gesetzt und sie werden unter Umständen auch von jedem der Beteiligten im Verlaufe der Diskussion verschoben. Auf längere Sicht gesehen ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, daß sich die gemeinsamen Interessen der beiden Weltmächte, aber auch vieler ihrer beiderseitigen Allianzpartner, noch verstärken und Änderungen der jetzigen Haltung in der deutschen Frage bewirken könnten, wenn andere nichteuropäischen Mächte sich Atomwaffen beschaffen. Nur aus einem Einvernehmen der westlichen und der östlichen Mächtegruppe sind Verbesserungen des bestehenden Zustands Deutschlands zu erwarten.
Die seit Kriegsende praktisch unveränderte, seit Jahren sogar versteifte Haltung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung Deutschlands entspringt sicherlich einer ganzen Anzahl von Motiven. Sehr deutlich wird von ihr ausgesprochen, daß die Sowjetunion die durch den Kriegsausgang herbeigeführten Machtverhältnisse beibehalten will. In der Präambel zum „Freundschafts-und Beistandspakt" zwischen Moskau und Pankow vom 12. Juni 1964 kommt dies Motiv in den Worten zum Ausdruck: „ ... um der Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Friedens durch die eine Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs anstrebenden revanchistischen und militaristischen Kräfte wirksam entgegenzutreten". Ein weiteres Motiv: Die kommunistischen Führer — und ihre Anhänger — können es sich nicht vorstellen, daß sie ein Gebiet, das irgendwie einmal kommunitisch geworden ist, wieder in die Hände einer nichtkommunistischen Gesellschaftsordnung zurückfallen lassen dürfen — auch wenn seine Bewohner dies wünschen. Hier hat für sie die „Selbstbestimmung" ihre Grenze.
Die marxistisch-leninistische Philosophie ist offenbar nicht gewillt, die Idee aufzugeben, daß der Kommunismus das zwangsläufige Endziel der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit sei. Der Westen und die übrige nicht-kommunistische Welt sind also mit zwei Aussagen des Ostens konfrontiert: Einerseits wird — wie schon gelegentlich zu Zeiten Lenins, in den dreißiger Jahren und auch im Zweiten Weltkrieg — die „friedliche Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung" — unter Widerspruch Rotchinas — gefordert, andererseits wird die Möglichkeit einer „ideologischen Koexistenz" gegenwärtig gerade von Seiten der Sowjetunion prinzipiell bestritten.
Wie beides auf die Dauer zu vereinbaren sein soll, nämlich „friedliche" Koexistenz und philosophisch-ideologische Nichtkoexistenz, mögen die Götter verstehen. Möglicherweise kommt in der gegenwärtigen heftigen Ableugnung einer „ideologischen" Koexistenz die Furcht zum Vorschein, daß im Bewußtsein der Intelligenzschichten der Sowjetunion und der kommunistischen Welt im Laufe der Zeit die eigene ideologische Grundlage des Gemeinwesens relativiert und bis zu einem gewissen Grad ausgehöhlt werden könnte. 3. Polyzentrismus in und zwischen den Mächtegruppen Gleichzeitig mit der tatsächlichen, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen zu bewertenden Stabilisierung der Machtverhältnisse zwischen Ost und West und mit den Entspannungstendenzen vollzieht sich innerhalb und zwischen den beiden Mächtegruppen eine gewisse Auflockerung.
Im Osten entwickelt sich der „Polyzentrismus".
Dieser Begriff ist von einem westeuropäischen Kommunistenführer, Togliatti, geprägt worden.
Die westlichen Sowjetologen verwendeten zeitweise den Begriff „Autokephalie", der dem Begriffsschatz der orthodoxen Kirche entnommen ist. Er besagt, daß die einzelnen orthodoxen Nationalkirchen ihr eigenes Ober-haupt haben und nicht einem „Papst“ unterstehen, wobei die spirituelle Einheit durchaus gewahrt bleibt. Beide Begriffe besagen hier, daß die einzelnen kommunistischen Länder ihren eigenen Weg zu dem gemeinsamen Ziel gehen können, das heißt, daß sie nationale und historische Besonderheiten in Abweichung vom sowjetischen Weg bei gleichbleibender übereinstimmender Zielsetzung berücksichtigen dürfen.
Den ersten Anstoß zu diesem Polyzentrismus im Osten gab Jugoslawien, indem es sich seit 1948 den Weisungen des Kremls nicht mehr fügte. Jugoslawien tanzt seitdem auf allen Hochzeiten: von den USA — und anderen westlichen Ländern — empfängt es Wirtschaftshilfe und zeitweise auch Militärhilfe;
es ist ein wichtiger Promotor und Sprecher der „neutralen" Welt, und in das „sozialistische Lager", das heißt in die Gesellschaft der kommunistischen Staaten, ist es auch wieder ausgenommen. Das ist wirklich eine weltpolitische Glanzleistung. 1956 gewann Polen seine „Autokephalie" — besonders ausge-prägt dadurch, daß das Kolchosensystem in der Landwirtschaft so gut wie abgeschafft wurde und daß die katholische Kirche ein gewisses, schwer in Kürze zu charakterisierendes " Standing” behalten konnte. Ungarn erlangte trotz der sowjetischen Niederwerfung des Aufstandes ebenfalls eine gewisse Eigenständigkeit. Rumänien ist im Begriffe, mehr und mehr einen eigenen Weg zu gehen. Auch die Tschechoslowakei hat ihre Besonderheiten. Am wenigsten eigenständig scheinen Bulgarien und die Sowjetzone zu sein. Albanien löste sich 1961 völlig aus der Oberherrlichkeit des Kreml und unterhält besondere Beziehungen zu den Herrschern in Peking.
Ob aber das Verhältnis zwischen Sowjetunion und Rotchina noch mit dem Begriff Polyzentrismus oder dem der Autokephalie zu decken ist, ist sehr zu bezweifeln. Eher noch ist es mit dem „Schisma", der seinerzeitigen Trennung von Rom und Byzanz, vielleicht am zutreffendsten mit dem Verhältnis von Katholizismus und Protestantismus in den Zeitläufen ihres besonders gepflegten Gegensatzes zu vergleichen. Fragen der reinen Lehre, Probleme der Machtpolitik und des Unterschieds der wirtschaftlichen Entwicklung, Angelegenheiten der Vergangenheit und der territorialen Besitz-und Grenzverhältnisse sowie die Verschiedenheiten zweier Kultursysteme von verschiedener geschichtlicher Tiefe mögen hier hineinspielen; wer kann das ganz durchschauen?
Immerhin, sie paßt jetzt in eine Entwicklung hinein, die im weiteren Verlauf der Darstellung zu streifen ist, nämlich die der Querverbindungen zwischen verschiedenen Staaten der kommunistischen und nicht-kommunistischen Welt.
Auch im Westen hat sich seit einigen Jahren eine Art von Polyzentrismus entfaltet; seine Ursachen und Auswirkungen werden in diesem Kapitel unter Abschnitt 1. u. 4. erörtert. Die Hoffnungen, in der NATO eine gemeinsame Außenpolitik in wichtigen Angelegenheiten zu entwickeln, haben sich nicht erfüllt, wenn es auch Ansätze dazu bei einzelnen Fragen gibt. Die Einhelligkeit ist allerdings da, wenn es gefährlich wird, wie zum Beispiel in der „Kubakrise" Herbst 1962. Aber in zahlreichen und nicht unwichtigen Einzelfragen legen die westlichen Länder mehr und mehr eine beachtliche Eigenwilligkeit an den Tag. Der französische Staatspräsident wird in dieser Hinsicht häufig erwähnt; man kann jedoch nicht umhin, zu bemerken, daß er von den verschiedensten politischen Richtungen in allen möglichen Ländern zu vielen seiner Meinungsäußerungen immer wieder Beifall erhält. Man weiß, daß in Großbritannien zum Beispiel viele Maßgebende und breite Schichten des Volkes höchst zufrieden waren, als de Gaulle Anfang 1963 die Einbeziehung ihres Landes in die EWG ablehnte — unter den jetzigen Gegebenheiten, keineswegs absolut. Zu beobachten sind auch sehr unterschiedliche Haltungen der westlichen Staaten zu den Fragen des Handels und der Kredite im Verhältnis zu kommunistischen Ländern; hier scheint England gern aus der Reihe zu tanzen, und andere schließen sich an.
Die weitere Folge der oben dargestellten Wandlungen im Ost-West-Verhältnis und im Verhältnis Moskau—Peking ist, daß sich auch zwischen den einzelnen größeren und kleineren Mächten der beiden Blöcke zunehmend mehr Beziehungen wirtschaftlicher und kultureller Art herausbilden, die früher kaum denkbar schienen. Begonnen hat dies 1956 mit Hilfe-leistungen der USA an Polen, nämlich mit Getreidelieferungen, teilweise auf Geschenk-basis. Zu erwähnen ist hier besonders auch die Anerkennung Rotchinas durch Frankreich Anfang 1964. Dieser Schritt hat großes Aufsehen in der ganzen Welt hervorgerufen, er wurde im Westen viel kritisiert. Aber es ist ganz vergessen worden, daß die USA 1950 nicht weit davon entfernt waren, Rotchina anzuerkennen und ihm damit den Weg in die Vereinten Nationen und den Weltsicher-heitsrat zu öffnen. Dieser Schritt wurde wegen der Tötung amerikanischer Militärs und der Verhaftung des amerikanischen Generalkonsuls in der Mandschurei aufgeschoben und schließlich aufgegeben, als der Koreakrieg begann. In der Folgezeit hat die amerikanische 7. Flotte sowohl Nationalchina (= Formosa) vor einer Invasion durch Rotchina, als auch letzteres vor einer Landung der Nationalchinesen geschützt.
Unter dem Beifall der USA und des ganzen Westens hat die Bundesrepublik Deutschland 1963 begonnen, offizielle Handelsvertretungen mit kommunistischen Ländern auszutauschen: zunächst mit Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Es ist bekannt, daß Erwägungen und Fühlungnahmen wegen Abschluß eines Handelsvertrages mit dem kommunistischen China, der wohl ebenfalls zu einem Austausch von offiziellen Handelskommissionen geführt hätte, angestellt wurden. Sie sind offenbar zur Zeit aus Rücksichtnahme auf die derzeitige Einstellung der USA als aufgeschoben, aber nicht aufgehoben zu betrachten.
In den letzten Monaten hat andererseits Rumänien bewiesen, daß es sich frei genug fühlt, engere wirtschaftliche Beziehungen, die nicht ohne politische Auswirkungen sein können, sowohl zu den USA wie zu Frankreich anzuknüpfen. Andere Ostblockstaaten dürften ähnliche Tendenzen verfolgen. Hierin kommt wohl auch der Umstand zum Vorschein, daß bis zum Zweiten Weltkrieg die Handelsstruktur der osteuropäischen Staaten auf den Westen ausgerichtet war; der Handel mit der Sowjetunion war geringfügig. Die Um-lenkung der Handelsströme auf die Sowjetunion und in geringerem Grade auf die osteuropäischen Staaten selbst war politisch bedingt. Aber schon seit einigen Jahren ist zu bemerken, daß der Handel des Ostblocks mit dem Westen in der relativen Bedeutung zunimmt, vor allem auch derjenige der Sowjetunion selbst. Letztere braucht erheblich stärkere Einfuhren aus dem Westen — womöglich auf Kredit —, um in letzter Zeit stärker zutage tretende Schwächen ihrer Wirtschaft zu überwinden, vor allem auf dem Gebiete der chemischen Industrie (Düngemittel) und der Landwirtschaft.
Gefördert wird die Entspannung und die Beziehung zum Westen durch die im Vergleich zur Stalin-Ara weit größere Durchlässigkeit des „Eisernen Vorhangs" — bei der „Mauer" in Berlin ist es allerdings genau umgekehrt —; der Touristenverkehr von West nach Ost — umgekehrt weit weniger — kam in größerem Umfang in Gang, die Reisen von Politikern und Staatsmännern haben ungemein zugenommen, Literaten, Künstler und Gelehrte aller Sparten sowie die Männer der christlichen Kirchen begegnen sich. Mancherlei neue Versionen treten in der wirtschaftspolitischen Theorie, aber auch in der eigentlichen Philosophie im Osten ans Licht, die der Wirklichkeit des Lebens mehr Rechnung tragen. Westliche Modeströmungen auf verschiedenen gesellschaftlichen Gebieten sind nicht mehr gänzlich auszusperren. 4. Europäischer Zusammenhalt und Beziehungen zwischen Europa und Amerika Trotz allem Polyzentrismus im Westen dürfte als ein Grundzug der weiteren Entwicklung die Tendenz zum europäischen Zusammenhalt, ja zu einer Einigung gelten. Dieser Prozeß ist schwierig. Es geht zu wie bei der berühmten Echternacher Springprozession: drei Schritte vorwärts, einer — oder manchmal zwei — zurück. Uber die Art und Weise, in der der bisher erzielte Zusammenhalt im wirtschaftlichen Gebiet auf andere öffentliche Aufgaben erstreckt werden soll, ist man zur Zeit gar nicht einig, auch nicht darüber, ob und wie die nicht in der Gemeinschaft der Sechs vertretenen Staaten einzubeziehen oder zuzulassen sind. Die Lust, miteinander Krieg zu führen, ist jedoch den westeuropäischen Staaten im Zeitalter der modernen Kriegsmittel und in der Nachbarschaft des kommunistischen Giganten auf alle Fälle vergangen. Der Anteil Westeuropas an der Weltindustrieproduktion beläuft sich auf etwa 28 Prozent, derjenige Osteuropas (hier eingeschlossen die Sowjetunion) auf etwa 24 Prozent. Vor dem Ersten Weltkrieg war das Verhältnis West zu Ost 49 Prozent zu 7 Prozent. Bestätigt wird diese etwas künstliche Berechnung durch die Produktionsziffern für Stahl. Westeuropa erzeugte vor dem Ersten Weltkrieg 35 Mio. t, Osteuropa etwa 7 Mio. t. Jetzt (1963) weist Westeuropa 108 Mio. t, Osteuropa 106 Mio. t auf.
Die Schwierigkeiten, die der Einigung Europas entgegenstehen und die in den letzten 24 Monaten oft dramatisch in Erscheinung traten, sind aber nichts Neues. Sie sind seit Gründung der Europäischen Bewegung bald nach Kriegsende und seit Beginn der Verhandlungen der europäischen Staaten über Zusammenarbeitsund Integrationsverträge immer wieder in dieser oder jener Form mehr oder weniger kräftig in Erscheinung getreten. Das Erbe der Vergangenheit von Jahrhunderten, in denen Europa nach allen Seiten in die Welt hinaus explodierte, wirkt nach, es wirken alte Rivalitäten sich immer wieder einmal aus, es gibt den Unterschied der Interessenlage größerer und kleinerer Staaten mit verschieden weitem Einflußbereich, es gibt den Unterschied verschiedener politischer und wirtschaftlicher Strukturen sowie Denk-und Erziehungsweisen, es gibt militärisch Verbündete und Neutrale verschiedener Art.
Versucht man, eine Bilanz des in der wirtschaftlichen Einigung Erzielten zu ziehen, so ist festzustellen, daß nach wie vor die EWG im Kern Europas ein Gravitationszentrum ersten Ranges darstellt, so mühevoll auch manchmal die Entscheidungen in ihr selbst zu treffen sind. Mehr und mehr sieht sich die „Konkurrenz", die Europäische Freihandelszone (die Assoziation der um die EWG herum gelagerten Randstaaten), veranlaßt, Prinzipien der EWG in einigem Umfang für sich selbst anzunehmen. Einzelne EFTA-Staaten stehen in Verhandlungen wegen einer besonderen Verbindung zur EWG, wie zum Beispiel Österreich. Andere EFTA-Staaten halten ihre Anträge auf Beitritt oder Assoziation aufrecht. Andere wiederum denken angestrengt darüber nach, wie sie eine irgendwie geartete Verbindung herstellen können. Es hat sogar den Anschein, daß alle EFTA-Staaten nunmehr am Fortbestehen der EWG interessiert sind, so auch Großbritannien. Diese Einstellungen haben ihre Wurzel darin, daß nun einmal die europäischen Staaten untereinander von altersher im großen und ganzen gesehen wirtschaftlich außerordentlich eng miteinander verflochten sind, wie es bei keiner anderen Weltregion der Fall ist.
Der für die wirtschaftliche Integration eingeführte Grad der politischen Zusammenarbeit reicht für sie selbst durchaus. Sie bedarf zu ihrer Vollendung an sich nicht einer Einigung auf anderen Gebieten. Wünschenswert wären allerdings eine stärkere Demokratisierung durch erhöhten Einfluß des Europäischen Parlaments sowie die Fusionierung der drei Gemeinschaften. Wenn aber ein stärkerer Zusammenhalt einer Anzahl europäischer Staaten auf dem Gebiet der Verteidigung und den mit ihr zusammenhängenden Angelegenheiten der Außenpolitik sich als notwendig erweist, so ist es nicht unbedingt erforderlich, daß er sich auf den gleichen Kreis von Staaten erstreckt, die in der EWG zusammengefaßt sind — und auch nicht, daß dieser Zusammenhalt mit den gleichen Methoden bewirkt und ausgeführt wird wie in der EWG. Ersteres geht schon deswegen nicht, weil möglichervreise „Neutrale" wegen der engen gegenseitigen wirtschaftlichen Verflechtung in ein engeres, wie auch immer gestaltetes Verhältnis zur EWG treten werden. Letzteres dürfte nicht möglich sein, weil auf den neuen Gebieten noch kaum Erfahrungen vorliegen und weil die Meinungen über die Methode noch sehr unterschiedlich sind. Immerhin sollte es möglich sein, sich hier auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, wenn weitergehende Vorstellungen einzelner Staaten nicht allgemein angenommen werden.
Voraussetzung für die Aufspaltung in eine „wirtschaftlich-politische" und in eine „außenund verteidigungspolitische" Union ist, daß beide sich in ihre jeweiligen Angelegenheiten nicht einmischen. Mit den Augen eines Staats-theoretikers gesehen ist eine solche Aufspaltung nicht gerade ideal. Sie ist aber praktisch für eine zu erwartende längere Übergangszeit — und sehr europäisch. Es wäre nichts anderes als die Fortsetzung des bisherigen Systems der europäischen und atlantischen Staatenorganisationen mit seiner Aufspaltung von öffentlichen Aufgaben jeweils in einem verschiedenen Kreis von Teilnehmern. Bei der skizzierten Lösung wäre allerdings ernsthaft zu erwägen, ob nicht eine Revision der bisherigen Staatenorganisationen vorzunehmen, manches aufzulösen oder Bestehendes mit dem neu zu Schaffenden zu verbinden wäre, so zum Beispiel die Westeuropäische Union (die Sechs plus Großbritannien).
Dafür, daß eine politische Union nicht zustande kam, wird von weiten, aber keineswegs allen Kreisen der europäischen Öffentlichkeit der französische Staatspräsident verantwortlich gemacht. Aber auch holländische und belgische sowie italienische Staatsmänner dürften zu einem gewissen Grade verantwortlich sein, weil sie nämlich einerseits bisher eine andere Lösung als die supranationale nicht konzedieren und nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückgehen wollten und weil sie andererseits die Einbeziehung Großbritanniens in die EWG als Voraussetzung einer politischen Union ansehen — Großbritanniens, das der supranationalen Lösung noch am wenigsten geneigt ist. Diese Haltung wurde hier als widersprüchlich empfunden; es gibt Anzeichen dafür, daß sie sich ändert. Es wird wohl so sein, daß beide Seiten bei dieser Frage Fehler gemacht haben; denn der französische Vorschlag — der sogenannte Fouchet-Plan — nahm in einer späteren Fassung manches von dem wieder zurück, was er schon einmal in Aussicht genommen hatte. Dazu kam dann die Absage de Gaulles in der Frage des Beitritts Großbritanniens zur EWG, der zwar noch keineswegs feststand und der von französischer Seite vielleicht unnötigerweise mit anderen poltischen Schritten Großbritanniens auf dem Gebiet der Verteidigung und mit seinem „besonderen" Verhältnis zu Amerika in Verbindung gebracht worden war.
Der deutsch-französische Vertrag über Zusammenarbeit vom Januar 1963, in dem Grundlinien des 1962 fast fertiggestellten Vertrags über eine politische Union enthalten sind und zu dem der Beitritt anderer Staaten nach zusätzlichen Äußerungen der Staatsmänner offengehalten ist, geriet durch die Absage de Gaulles an Großbritannien leider von vornherein in ein schiefes Licht, und die von ihm kürzlich festgestellte, nicht befriedigende Wirksamkeit des Vertrags resultiert aus Versäumnissen und Mißverständnissen sowohl beim einen wie beim anderen Partner. Dazu kam das Gerede, daß mit dem Vertrag eine französische oder aber eine französisch-deutsche Hegemonie eingeleitet werde. Es gibt nun weder eine moralische noch rechtliche Verpflichtung — solange sie nicht vertraglich vereinbart ist —, daß europäische Staaten, weil sie zur europäischen Kulturgemeinschaft gehören, sich einer wirtschaftlichen oder politischen Union anzuschließen haben. Umgekehrt kann es an sich vom europäischen Standpunkt aus keinem Staat verwehrt werden, sich mit einem anderen oder mehreren im kleineren oder größeren Kreis zur gemeinsamen Erfüllung dieser oder jener Aufgaben zusammenzuschließen; es ist lediglich eine Frage der politischen Klugheit und Zweckmäßigkeit — darin eingeschlossen auch die Überlegung, welche negativen Rückwirkungen ein solches Unternehmen auf die Einstellung der anderen Staaten haben könnte. Weiterhin ist zu bedenken, daß — wie früher dargestellt — für die Bundesrepublik andere außen-politische Vorbedingungen gelten als für Frankreich, wie die gebotene Rücksichtnahme auf die Vorbehaltsrechte und Einstellung aller drei Westalliierten und auf die Teilung Deutschlands.
Wie dem auch sei, das deutsch-französische Abkommen hat viele Seiten; es besiegelt unter anderem ein Verhältnis, das sich mehr und mehr zur Grundlage eines europäischen Zusammenhalts entwickelt hat — ausgehend vom Angebot Robert Schumans an Konrad Adenauer vom Mai 1950, die Kohle-und Stahlindustrie beider Staaten unter gemeinsame Kontrolle zu stellen, wobei andere europäische Staaten zur Beteiligung eingeladen wurden. Das Prinzip als solches hat seinerzeit auch den Beifall des nicht im Amt befindlichen Generals de Gaulle erhalten, und schon vorher, im Jahre 1946, hat Churchill eine solche deutsch-französische Partnerschaft als ersten Schritt bei der „Neugründung der europäischen Familie" empfohlen. Dies gilt, wenn man sich die traurigen Verhältnisse der Vergangenheit zwischen beiden Staaten vor Augen hält, nach wie vor.
In vielem hat sich der Vertrag für Deutschland günstig ausgewirkt. Unsere Botschafter in den Großstaaten sollen — wie man hört — zum Beispiel seitdem aufmerksamer behandelt werden als vorher, und vielleicht konnten manche anderen Beziehungen der Bundesrepublik nur dadurch wieder ausgenommen oder verbessert werden, weil eben dieses besondere Verhältnis besteht. Es dürfte aber noch eine Zeit brauchen, bis sich die Mißverständnisse sowohl bei den Partnern wie bei den anderen europäischen und atlantischen Verbündeten geklärt haben.
Eine große Rolle bei allen diesen Fragen spielt jeweils die Beziehung der einzelnen europäischen Staaten zu den Vereinigten Staaten von Amerika, denen unter anderem auch ein Festhalten an ihrer Hegemonialrolle im atlantischen Bündnis vorgeworfen wird. Richtungweisende Persönlichkeiten in den USA, darunter in besonders klarer Weise der ermordete Präsident Kennedy, haben jedoch die Wünschbarkeit einer Eigenständigkeit Europas — bei aller zwangsläufigen Interdependenz — schon seit längerem erkannt.
Nach seinen Worten in der Paulskirche in Frankfurt im Sommer 1963 würden die USA „Westeuropa gern als Weltmacht sehen, die mit einer Stimme spricht und die Mitverantwortung für die Weltpolitik übernimmt". Damit setzen die USA die mit der wirtschaftlichen Hilfe Ende der vierziger Jahre begonnene und verfolgte weltpolitische Absicht konsequent fort. Westeuropa oder vielmehr ein wesentlicher Teil davon hat aber noch nicht den Weg zu den von führenden europäischen und amerikanischen Kreisen aufgestellten Zielen gefunden oder nicht in genügender Weise fortgesetzt. Präsident Johnson hat die Einstellung Kennedys wiederholt bekräftigt.
Die Mißtöne und Vorwürfe erklären sich wohl wie folgt: Allenthalben braucht es eine gewisse Zeit, um gewohnte Vorstellungen und Praktiken zu ändern, insbesondere in den weniger hohen Schichten der staatlichen Hierarchien, um sie einer neuen Erkenntnis der Wirklich-keit anzupassen; es wird hüben wie drüben aus einem Anlaß dies und bei einem anderen Anlaß jenes gesagt, ohne daß die Hintergründe ganz klar werden. Auch bei einer größeren Eigenständigkeit braucht Europa auf die Dauer ein sehr enges Verhältnis zu den USA, ebenso wie diese mehr als früher ein sehr enges Verhältnis zu Europa brauchen. Beide brauchen auch einen engen gegenseitigen Handelsaustausch. Gerade Europa ist sehr abhängig von der Zufuhr von Rohstoffen und Nahrungsmitteln aus Amerika und aller Welt, und diese geht über die hauptsächlich von den Flotten der Vereinigten Staaten geschützten Weltmeere. Uber all das ist auch Präsident de Gaulle sich im klaren, wie aus manchen seiner Äußerungen zu ersehen ist. 5. Perspektiven in der Welt der Entwicklungsländer und der nicht-verpflichteten Staaten Ebenso wie die Wandlung gegenüber der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg besonders durch die Umgestaltung Rußlands in einen kommunistischen Staat gekennzeichnet war, wird die Änderung nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch das Wiedererstehen einer vielfältigen asiatischen, nahöstlichen und schließlich afrikanischen Staatenwelt — zusätzlich zur Ausbreitung des Kommunismus auf andere Staaten — charakterisiert.
In Asien war in der Periode des abendländischen Imperialismus außer Japan nur Thailand selbständig geblieben; das Reich der Mitte war durch die sogenannten ungleichen Verträge in seiner Handlungsfähigkeit sehr geschwächt gewesen und nur durch die amerikanische Politik der Offenen Tür vor einer völligen Aufteilung bewahrt worden. Festland-China fiel 1949 in die Hände der chinesischen Kommunistischen Partei. An Rotchina grenzen kommunistische Länder, die aus ihren Nationalstaaten losgelöst wurden, so Nordkorea und Nord-Vietnam. In anderen Staaten des indo-chinesischen Subkontinents herrscht offener Kampf um die Macht, angeführt von kommunistischen Parteien und Partisanen-gruppen. Der ganze Subkontinent ist bedroht.
Im Nahen Osten und Nordafrika sind nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängige arabisch-islamische Staaten entstanden, dazu der teils christliche, teils islamische Libanon und außerdem der Staat Israel. Die ersteren verbindet außer dem Arabismus und der islamischen Religion die Feindschaft gegen Israel. Eine neue Staatengesellschaft ist in Afrika südlich der Sahara — allerdings in den künstlichen Grenzen der auf Stammeszugehörigkeit keine Rücksicht nehmenden, von den Europäern abgeteilten Hoheitsbezirke — entstanden.
All die neu entstandenen Staaten einschließlich Rotchina sind wirtschaftlich mehr oder weniger unterentwickelt. Viele — besonders in Afrika — sind klein und innen-und außen-politisch sehr schwach und unstabil. Zu den Entwicklungsländern gehören auch die meisten lateinamerikanischen Staaten. Zusammen zählt die unterentwickelte Weltprovinz mit etwa 75 Staaten und 2, 1 Milliarden Bewohnern rund 70 Prozent der Weltbevölkerung. Auf sie entfallen aber zur Zeit nur etwa 15 Prozent der gesamten Weltindustrieproduktion und kaum 10 Prozent der Welterzeugung von Stahl. Das Volkseinkommen pro Kopf beträgt in der Gesamtheit der unterentwickelten Länder mit rund 100 Dollar pro Kopf im Durchschnitt nur ein Zehntel des Pro-Kopf-Einkommens der industrialisierten Länder einschließlich des kommunistischen Teils Europas. Natürlich gibt es auch in beiden Gruppen sehr erhebliche Abstufungen. Rotchina steht nach eigenen Angaben mit rund 75 Dollar pro Kopf am Ende der Skala, die USA mit etwa 2700 Dollar jedoch an der Spitze der industrialisierten Länder.
Politisch zählt sich ein gutes Drittel der unterentwickelten Weltprovinz — gemessen an der Bevölkerung — zur kommunistischen Gruppe, ein weiteres Drittel ist bewußt neutral, ein knappes Drittel kann man als dem Westen verbunden oder zuneigend ansehen. Innerhalb der neutralen, nicht blockgebundenen Gruppe gibt es aber Schattierungen; manche neigen zu Rotchina, manche zu Moskau, manche zum Westen.
In dieser Weltprovinz sind im nächsten halben Jahrhundert erhebliche Wandlungen und auch Verschiebungen der Machtverhältnisse zu erwarten. Die Entwicklungsländer streben an, ihre Wirtschaft zusammen mit ihrem sozialen und kulturellen Gefüge vorwärts zu bringen, sich stärker in den Welthandel einzuschalten und damit eine größere Rolle auch in der Weltpolitik zu spielen. Es läßt sich schon jetzt voraussehen, daß im Laufe der nächsten Jahrzehnte einige dieser Entwicklungsländer erhebliche Fortschritte machen werden und daß das eine oder andere eine bedeutende Rolle in der Weltpolitik spielen wird, so daß am Ende dieses Jahrtausends die Reihenfolge der Weltmächte sich von zwei auf etwa vier oder fünf (Europa einbezogen, wenn es sich fester zusammenschließt) erhöhen wird. Zu denken ist hier besonders an Festland-China mit jetzt etwa 700 Millionen Ein-wohnern, unter welchem Wirtschafts-und Staatssystem es auch leben mag. Diese Prophezeiung scheint kühn, ist es aber im Grund gar nicht; bedenkt man nämlich, daß noch 1914, also vor 50 Jahren, Rußland und Japan als damalige Entwicklungsländer zusammen nur rund 5, 3 Prozent Anteil an der Weltproduktion von Stahl hatten und daß sie jetzt zusammen einen Anteil von 30 Prozent aufweisen. Rußland stand damals an fünfter Stelle — nach USA, England, Deutschland und Frankreich —, Japan so ziemlich am Ende. Jetzt steht die Sowjetunion an zweiter Stelle, und Japan hat in diesem Jahr — vielleicht nur vorübergehend — Deutschland von der dritten verdrängt. Stelle Sie scheinen beide in einem Kopf-an-Kopf-Rennen begriffen. China steht zur Zeit wahrscheinlich erst an siebter Stelle. Vor der Machtergreifung der kommunistischen Partei war es bereits als 5. Großmacht neben den USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, ausgestattet mit dem gleichen Veto-Recht, in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ausgenommen worden. Diesen Platz hat die chinesische National-regierung, die auf Formosa ihren Ausweichsitz hat, inne; sie hat dort etwas erreicht, was ihr auf dem Festland nach Ende der inneren Wirren Ende der zwanziger Jahre und in den Kriegen seit 1931 kaum glücken konnte, nämlich eine wirkliche Bodenreform. Im industriellen Fortschritt scheint Formosa in Asien nur von Japan übertroffen zu werden.
In Indien dürfte die industrielle Entwicklung zufolge vieler Umstände, die im Klima, religiöser und sozialer Tradition, der Vielzahl von Sprachen, wohl auch der natürlichen Ausstattung begründet sind, langsamer vor sich gehen. Dazu kommt die Notwendigkeit einer stärkeren Aufrüstung, nachdem Indien und China in Grenzkonflikte verwickelt sind.
In Afrika haben eine größere Anzahl der neuen Länder, die früher unter kolonialer Herrschaft von Mitgliedstaaten der EWG standen, ihre frühere Assoziierung mit der EWG fortgesetzt, vor allem im Hinblick auf den erleichterten Absatz ihrer Produkte wie auch auf die vielgestaltige Hilfe, die sie zur Entwicklung ihres wirtschaftlichen und kulturellen Lebens erhalten. Jedoch wird man in manchen Regionen lange Zeit hindurch mit einer Periode unstabiler politischer Verhältnisse zu rechnen haben. In Lateinamerika, in dem einzelne Länder bereits halb industrialisiert sind und dessen Pro-Kopf-Volkseinkommen an der Spitze der Entwicklungsländer steht, sind wohl stärkere wirtschaftliche Fortschritte zu erwarten.
Wenn auch die Entwicklungsländer politisch in viele Gruppen und Untergruppen zerfallen und wenn es auch unter ihnen manche Interessenkonflikte und Machtkämpfe gibt, so sind sie doch weitgehend einig in einem gemeinsamen Interesse gegenüber den industrialisierten Staaten, und zwar sowohl des politischen Westens wie des Ostens. Erstmals auf weltweiter Ebene ist auf der Welthandelskonferenz in Genf im Frühjahr 1964 eine neue zusätzliche Gliederung der Welt in Erscheinung getreten, nämlich die Gliederung in Süd und Nord. Dabei stellte sich heraus, dem daß Süden des Erdballs der industrialisierte kommunistische Ostteil des Nordens wirtschaftlich weit weniger interessant erschien als der kapitalistische Westen. Kein Wunder, denn jeder Blick in die Welthandelsstatistik zeigt, daß die unterentwickelten Länder nur einen sehr kleinen Austausch mit dem kommunistischen Osten haben und daß sie im Handel hauptsächlich vom „Westen" abhängen. Sie haben sich auf der Konferenz und schon vorher in Sonderberatungen bei ihren Forderungen eingehend aufeinander abgestimmt, während die Weststaaten sich wenig vorbereitet hatten und erst gegen Ende der Konferenz zu einer gemeinsamen Haltung aufraffen konnten; der Osten, der sehr intensiv die Einberufung der Konferenz innerhalb der Vereinten Nationen betrieben hatte, verhielt sich ziemlich passiv. Den Entwicklungsländern liegt vor allem daran, ihrem Export in die Industrieländer (hauptsächlich Rohstoffe) eine gewisse Zoll-bevorzugung zu verschaffen; sie wünschen insbesondere den Abbau der ihrem Export entgegenstehenden Handelshindernisse und außerdem eine Stützung der Preise ihrer Rohstoffe, die ja größeren — und manchmal sehr beträchtlichen — Schwankungen unterliegen als die der Industriewaren. Sie erleiden dadurch in manchen Jahren schwere Verluste in ihrer Handelsbilanz, die sie verständlicherweise an ihrem wirtschaftlichen Fortschritt hindern. Diesen beiden Forderungen haben die Industrieländer schließlich zugestimmt, während für die gleichzeitige dringliche Forderung auf Begünstigung des einsetzenden Industrieexports der Entwicklungsländer zunächst nur eingehende Untersuchungen vorgesehen wurden. Die innerhalb der OECD (der westlichen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in der auch Japan nunmehr Mitglied ist) schon vor einigen Jahren aufgestellte Norm, daß 1 Pro-zent des Sozialprodukts der Industrieländer für die Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt werden soll, wurde von beiden Seiten bekräftigt. Die Forderungen der Entwicklungsländer scheinen allerdings zunächst weiter gegangen zu sein.
Es ist damit zu rechnen, daß die Welthandels-konferenz eine ständige Einrichtung im Rahmen der Vereinten Nationen werden wird. Sie soll alle zwei Jahre tagen und in der Zwischenzeit durch einen Ausschuß von 55 Staaten vorbereitende Arbeiten leisten. Ferner wird erwartet, daß der Klub der Entwicklungsländer von fast 80 Staaten in den UN mit ihren rund 120 Mitgliedstaaten einen recht erheblichen Einfluß auch in politischen Angelegenheiten auszuüben vermag, nachdem er sich konstituiert hat.
III. Wesen und Aufbau der Staatengesellschaft der heutigen Welt
Aus den vorhergehenden Abschnitten ist wohl schon erkennbar geworden, daß die Weltpolitik von heute in manch anderen Formen betrieben wird als 100 und auch noch 50 Jahre zuvor. Jetzt ist nicht nur von Großmächten und Staaten, sondern auch von internationalen Staatenorganisationen, Blöcken, Gruppen und Gemeinschaften die Rede. Es wird somit von Nutzen sein, zu versuchen, die Struktur des heutigen Staatensystems systematisch darzustellen.
Die Gesellschaft der Staaten, in der früher nur der Unterschied von Großmächten und anderen Staaten bestand, weist nun weit mehr „RangStufen" als früher auf, und sie ist dabei doch „demokratischer" geworden, das heißt, die mittleren, kleineren und sogar die ganz kleinen Staaten haben nun ebenfalls eine Stimme im „Reichstag der Weltpolitik" — im Gegensatz zu der Situation vor 1914. Bei der ersten NATO-Parlamentarier-Konferenz im Jahre 1955 hat der Sprecher der norwegischen Delegation, Finn Moe, diesen Sachverhalt sehr klar wie folgt umschrieben: „Das Verhältnis zwischen den kleinen und großen Mächten ist in der internationalen Politik immer schwierig gewesen. In Konsequenz der Souveränität ergibt sich eine gesetzliche Gleichheit der Staaten ohne Rücksicht auf Größe, Bevölkerung, wirtschaftliche und militärische Hilfsquellen. In der Geschichte der internationalen Beziehungen hat der Einfluß der Macht und der Größe das Prinzip der Gleichheit jedoch überwogen. Die Weltpolitik ist praktisch die ausschließliche Angelegenheit der Großmächte gewesen. Erst in den letzten 30 Jahren sind die kleineren Nationen durch die Gründung internationaler Staatenorganisationen fähig geworden, selber dabei eine Rolle zu spielen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind aber auch Organisationen von regionalem Charakter errichtet worden für Zwecke, welche sich auf die vitalsten Interessen der Mitgliedstaaten beziehen. In einer Organisation dieser Art nimmt die Beziehung zwischen den größeren und kleineren Mächten eine neue Bedeutung an. Die kleineren Nationen werden notwendigerweise eine aktive Rolle zu spielen versuchen und einen Einfluß auf die Formulierung der gemeinsamen Politik nehmen wollen. Die Mitgliedstaaten verlieren infolgedessen einiges von ihrer Aktionsfreiheit mit Bezug auf die internationalen Probleme in demselben Grad, als sie an der politischen Konsultation teilnehmen. So führen die neuen Rechte der kleinen Mächte zu erhöhten Verantwortlichkeiten und konfrontieren sie mit neuen ungewohnten Problemen in ihrer Außenpolitik." 1. Die Hierarchie der Staaten Zunächst ein Wort zu den Rangstufen. Es gilt in der Staatenwelt das gleiche wie in der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Vor dem Gesetz sind die Menschen sowohl wie die Staaten gleich, aber manche sind — wie ein altes Witzwort sagt — eben „gleicher". Auch innerhalb der gleichen Rangstufen gibt es feine Unterschiede, die schwer zu beschreiben, aber tatsächlich vorhanden sind. Bei der Bewertung dieses relativen individuellen Ranges der verschiedenen Staaten fallen neben Bevölkerungszahl die wirtschaftliche Leistung und die auf beiden beruhende militärische Kraft, aber auch viele andere Faktoren ins Gewicht, so vor allem die kulturellen Leistungen und die geschichtliche Vergangenheit mit ihren Erfolgen und Mißerfolgen, ihren guten und bösen Taten (sozusagen der „Lebenslauf" der Nation). Alle diese Faktoren, die in ihrem Ensemble nur gefühlsmäßig abschätzbar sind, ergeben das „Ansehen", das „Prestige" der einzelnen Mächte. Dies ist aber bei jeder von ihnen keine für alle Erdregionen feststehende Größe, sie kann in der einen Region größer sein als in einer anderen, und sie kann auch zeitlich sehr schwanken. So ist zum Beispiel das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in den meisten Entwicklungsländern der verschiedenen Kontinente viel höher — zum Teil aus Gründen, die wir selber gar nicht schätzen — als bei manchen Mitgliedern der mit ihr verbündeten Staaten-gruppe. An der Spitze der jetzigen Hierarchie der Staatengesellschaft der Welt stehen die zwei Weltmächte — manchmal auch als „Super-Großmächte" bezeichnet —, die USA und die Sowjetunion, mit Bevölkerungen um 200 Millionen herum, starker Industrie und vollentfalteter Atommacht. Man kann aber bereits von Anwärtern auf diesen Status sprechen, nämlich Festland-China, unter welchem Regime es auch sein wird, und Europa, im kleineren oder größeren Kreis, wenn es auf dem Weg der Einigung fortschreitet.
Die anderen früheren Großmächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Japan befinden sich nunmehr im zweiten Rang;
sie sind Großstaaten, die aber auch über ihre jeweiligen Erdregionen hinaus aus diesen oder jenen Gründen und Gegebenheiten noch oder wieder eine erhebliche Bedeutung haben. Großbritannien und Frankreich haben dabei als ehemalige Groß-Kolonialmächte mit den nachwirkenden besonderen Beziehungen und Verpflichtungen gegenüber zahlreichen neuen Staaten und neuerdings als „Atommächte zweiter Klasse" immer noch — oder wieder — eine Art Sonderstatus als Großmächte, wenn auch nicht in dem Sinne, der für die zwei erstgenannten Staaten gilt. Manche der Schwierigkeiten in der europäischen Einigungspolitik und im atlantischen Bündnis erklären sich aus dieser Sachlage. Die besonderen Umstände, in denen sich die Bundesrepublik Deutschland zufolge der deutschen Teilung und der alliierten Vorbehaltsrechte befindet, sind in früheren Abschnitten dargestellt. Es bestehen jedoch kaum Chancen, daß Großbritannien und Frankreich sowohl wie die anderen Großstaaten wieder zu voller Parität mit der ersten Gruppe gelangen, es sei denn bei weitgehender Vereinigung mit Nachbar-staaten. Als Voraussetzung für den Weltmachtstatus ist nämlich eine Bevölkerungszahl von mindestens 100 bis 150 Millionen zusammen mit einer vollentfalteten starken Industrie, die heutzutage nun einmal auch ein Atompotential einschließt, anzunehmen.
Zu dieser zweiten Gruppe der Großstaaten sind heute bereits Festland-China in seinem jetzigen Status und Indien zu rechnen. Der Bevölkerungszahl nach läge die Voraussetzung für die erste Rangstufe vor, es fehlt jedoch die wirtschaftliche und industrielle Kraft. Auf längere Sicht hin gesehen dürfte Festland-China eher, Indien jedoch aus vielerlei Gründen erst später in den ersten Rang aufrücken können.
Dann gibt es Staaten, die zufolge ihrer Bevölkerungszahl und ihrer individuellen politischen Bedeutung und wirtschaftlichen Entwicklungschance jetzt bereits die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit in stärkerem Maße als andere auf sich ziehen, wie zum Beispiel Brasilien, Argentinien und Mexiko in Lateinamerika, Indonesien und Pakistan in Asien, Ägypten im Nahen Osten, Nigeria und Äthiopien, aber auch der Kongo — dieser zunächst in negativer Weise — in Schwarz-Afrika. Mittlere Staaten in Europa allerdings, in der Größenordnung von 5 bis 15 Millionen Einwohnern mit hohem wissenschaftlichen und industriellen Standard, dürften noch auf längere Frist hin besonders wegen ihrer Bedeutung im Welthandel ein erhebliches Gewicht in der Staatengesellschaft behalten und zunächst im Range den vorher genannten Staaten mit weit größerer Bevölkerung, aber unterentwickelter Industrie mindestens gleichstehen.
Wie bereits in den zitierten Ausführungen von Finn Moe dargelegt, stehen die mittleren und die zahlreichen kleineren und sehr kleinen Staaten durch die anschließend zu behandelnden regionalen Staatenorganisationen, denen manchmal auch Staaten der zwei ersten Rangstufen angehören, in einem Wirkungsbereich, der ihren früheren Einfluß auf die Weltpolitik in vieler Hinsicht erheblich übersteigt. Die Staaten aller Größenordnungen haben dort und auch in den Vereinten Nationen und ihren Nebenorganisationen das gleiche Stimmgewicht, und sie können bei ihrer großen Zahl die Entscheidungen der Gesamtheit sehr stark beeinflussen und zumindest beachtliche Kompromisse durchsetzen.
Ein sehr wesentlicher Unterschied des jetzigen Weltstaatensystems zu demjenigen vor dem Ersten Weltkrieg besteht in folgendem: Die früheren Großmächte und die anderen Staaten waren — abgesehen von den Resten der alten asiatischen Staatenwelt — trotz aller Rivalitäten und nationalen Unterschiede von einer geistigen Prägung. Sie gehörten zur abendländischen, von Christentum und Humanismus geformten Kulturgemeinschaft, wirtschaftlich waren sie damals sämtlich kapitalistisch orientiert — das war jedenfalls der vorherrschende Grundzug. Diese Gemeinsamkeit war eigentlich die Voraussetzung dafür, daß das europäische Konzert der Großmächte eine Entschei18 düng treffen und bei den anderen Staaten durchsetzen konnte. Jetzt aber gibt es den ideologischen Gegensatz zwischen Kommunismus und allen anderen „Weltanschauungen", und innerhalb der letzteren erlangten die nicht-abendländischen Auffassungen (samt deren Auswirkungen auf Mentalität und Moralität der Einzelmenschen und Gruppen) des Islam, des Hinduismus, des Buddhismus und des Konfuzianismus infolge der Wiedererstehung der Staaten dieser Kulturbereiche wieder stärkere Bedeutung und Wirksamkeit.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß im Gegensatz zu früher die gemeinsamen Begriffe und Auffassungen in der Staatengesellschaft weit weniger zahlreich sind. Bei der unterschiedlichen geistigen Prägung der führenden Personen der jetzigen Staatenwelt kann die leitende Rolle einer Gruppe von Welt-und Großmächten auf Weltebene nur in besonderen Fällen, wie zum Beispiel beim Atomteststop-Abkommen — aber auch nicht vollständig —, wieder zum Zuge kommen. Der politische Polyzentrismus der Welt ist weitgehend bedingt durch ihren geistigen Polyzentrismus. 2. Internationale Staatenorganisationen der Erdregionen und Fachbereiche Neben die Staaten der verschiedenen Rangstufen sind als Mitträger der Weltpolitik — man könnte schon sagen der „Weltverwaltung" — die internationalen, teils weltumfassenden, teils regionalen Staatenorganisationen getreten. Diese Entwicklung hat bereits im vorigen Jahrhundert mit der Schaffung des Weltpostvereins im Gefolge der technischen Aufschließung der Welt begonnen. Es gibt heute eine geradezu unglaubliche Fülle von Staatenorganisationen; sie sind weit zahlreicher als die Staaten selbst, denn bei den Vereinten Nationen sind 147 Organisationen im Jahre 1962 registriert! Bemerkt sei, daß es außerdem noch 1326 private (non-governmental) internationale Vereinigungen gibt. Der Beamtenstab von 71 der ersteren zählt rund 25 000 Personen, derjenige von rund 500 der letzteren rund 7000 Personen. Es sieht so aus, als gehe zwischen den Staaten das gleiche vor sich wie zwischen den Individuen innerhalb der Staaten. Man organisiert sich für alles nur Mögliche und Denkbare! Wert und Rang dieser Organisationen sind sehr unterschiedlich. Jedenfalls trägt das Vorhandensein dieses neuen Elements sehr zur Relativierung und Demokratisierung der Staaten-welt bei.
Im folgenden werden nun einige der wichtigsten Organisationen und Gruppen aufgeführt, soweit sie einen internationalen Beamten-apparat aufweisen und eine allgemein-politische oder verteidigungspolitische oder wirtschaftliche Bedeutung haben. Im Westen haben wir die NATO und die Westeuropäische Union, den Europarat und die OECD. Die Gemeinschaft der Sechs in ihren drei Formen hat allerdings bereits einen anderen Charakter — man kann sie wohl als einen Bundesstaat „im Werden" ansehen. Ergänzt wird das westliche Staatensystem durch ein westlich-mittelöstliches Bündnis, den Centopakt, und ein westlich-fernöstliches Bündnis, die SEATO. Im Osten gibt es den Warschauer Pakt und den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON). Der amerikanische Kontinent ist verbunden durch den Pakt von Rio, der ein Verteidigungsabkommen darstellt, und die Organisation der amerikanischen Staaten (OAS). Im Nahen Osten besteht die Arabische Liga als Organisation der arabischen Staaten. In Afrika ist 1963 eine ganz neue Organisation aller afrikanischen Staaten (Organisation der Afrikanischen Einheit) entstanden, ohne daß jedoch vorherige Teilorganisationen verschwunden wären. Inwieweit die Bandung-Konferenz als Organisation der afroasiatischen Staaten, von der seinerzeit die Sowjetunion ausgeschlossen wurde, hierher zu rechnen ist, ist schwierig zu entscheiden; sie hat zwar ein permanentes Büro, hat aber bisher nur einmal (1955) getagt, eine 2. Tagung ist für Frühjahr 1965 einberufen. Die Konferenz der nicht verpflichteten (neutralistischen)
Länder quer durch die Kontinente — umfassend 47 Staaten — unter einer gewissen Führung von Indien, Indonesien, Ägypten und Jugoslawien tagte im Oktober dieses Jahres in Kairo.
Etwas ganz Besonderes ist das " Commonwealth". Bisher ist niemand imstande gewesen, das eigentliche Wesen dieses Gebildes einigermaßen befriedigend zu definieren. Sogar in Großbritannien selbst streitet man sich darüber, ob das Commonwealth demnächst sterben oder ob es noch sehr lange und sehr kräftig leben wird. Es umfaßt die Länder, die einmal zum britischen Empire gehörten, soweit sie nicht ausgetreten sind. In ihm sind praktisch alle Rassen, alle Religionen und alle Staatsauffassungen vertreten; es gibt in ihm westliche, der NATO angehörende Staaten, enragierte neutrale Länder, und niemand weiß genau, ob nicht dieser oder jener Staat bereits mehr oder weniger kommunistisch ist oder es noch wird. Das Commonwealth wird als eine UNO im kleinen angesehen. Während es bisher keine gemeinsame Organe außer der ad hoc zusammentretenden Konferenz der Ministerpräsidenten besaß, werden jetzt Vorschläge, interessanterweise auf Initiative afrikanischer Mitglieder, ausgearbeitet, eine Art von gemeinsamem Sekretariat und Informationszentrum zu schaffen. 3. Die Vereinten Nationen und ihre Nebenorganisationen Als weltumspannende Staatenorganisation ist die der Vereinten Nationen mit Nebenorganisationen gedacht. Sie ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in mehreren Schüben der Universalität ziemlich nahe gekommen; seitdem Italien und Japan ausgenommen sind, fehlt von den im Zweiten Weltkrieg unterlegenen Staaten noch Deutschland. Die Bundesrepublik Deutschland ist jedoch in sämtlichen Nebenorganisationen Mitglied. Außerdem fehlen die anderen geteilten Staaten der indochinesischen Region. China ist durch die Nationalregierung auf Formosa vertreten. Führt man die eingangs erwähnte Analogie zu den Verhältnissen in den Einzelstaaten fort, so stellen die diversenStaatenorganisationen von der Weltebene aus gesehen dasselbe dar wie Interessenverbände, Parteien und dergleichen im Einzelstaat; die Vereinten Nationen selbst repräsentieren die politische Gesamtheit der Welt. Verglichen jedenfalls mit der Verfassung der Welt vor dem Ersten Weltkrieg sind die Vereinten Nationen, so problematisch sie noch sind, ein bedeutender Fortschritt; sie kennzeichnen eine tiefgehende und durchaus zukunftsträchtige Wandlung. Manches von dem, was vor 50 Jahren einmal Funktion der Großmächtegruppe war, ist auf die Vereinten Nationen übergegangen, und manch anderes ist ihnen an Aufgaben dazu-gewachsen. Im Sicherheitsrat, dem außer den im vorhergehenden Abschnitt aufgezählten fünf Großmächten noch jährlich von der Vollversammlung gewählte Staaten angehören, kann das Veto von einem einzigen der Fünf einen Sachbeschluß verhindern; jedoch hat die Vollversammlung in solchen Fällen dennoch eine Aktion der Organisation ermöglicht und die Juristen der verschiedenen „Parteien" streiten sich, ob letzteres mit der Satzung vereinbar ist. Trotz der Ost-West-Spannung und des Kalten Krieges, wodurch die Tätigkeit der Weltorganisation zum Teil beeinträchtigt worden ist, hat sie in sehr vielen Fällen kritische Situationen in der Welt gemeistert; manche Fragen werden allerdings als vorerst unlösbar mühsam in der Schwebe gehalten. Die Organisation ist jedoch darauf angewiesen, daß sie zumindest durch eine der Weltmächte und einflußreiche andere Staaten tatkräftig gestützt wird. Durch ihre Nebenorganisationen kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Art tragen die Vereinten Nationen in steigendem Maße dazu bei, daß wichtige Voraussetzungen für gemeinsame Aufgaben der Menschheit geschaffen und bereits durchgeführt werden.
Wenn die Vereinten Nationen nicht so wirksam geworden sind, wie der große Teil ihrer Gründer es erhofft hatten, so beruht das auf der vorher gekennzeichneten Verschiedenheit der weltanschaulichen Einstellung der Mitglieder. Erst wenn es möglich ist, zwischen und über den verschiedenen Grundhaltungen gemeinsame Vorstellungen zu entdecken und fortzubilden, und wenn diese nicht mehr als völlig gegensätzlich betrachtet werden, ist eine stärkere Wirksamkeit der Weltorganisation der Staaten zu erwarten.
IV. Wandlungen im kulturellen Bereich
1. Wechselseitige Anerkennung der Kultur-werte der Erdregionen in der UNESCO Ein außerordentlich wichtiger Ansatz zur Ausformung einer die Verschiedenheiten überwölbenden Gemeinschaftlichkeit der Geister, die für die weitere Entwicklung der Weltstaatengesellschaft die Voraussetzung ist, findet sich in der Nebenorganisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO). In der Präambel ihres Statuts ist die Rede von der Bewahrung des Welterbes an Werken der Literatur, Kunst, Geschichte und Wissenschaft. Die Präambel stellt ausdrücklich fest, daß die Unkenntnis der Kultur-und Lebensformen anderer Völker und Kontinente viel zu Verdacht und Mißtrauen zwischen den Völkern beiträgt und daß eine weite Verbreitung einer positiven Kenntnis und die Erziehung der Menschheit zu Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden unentbehrlich für die Würde des Menschen sei.
In dieser Zielsetzung der UNESCO liegt eine gegenseitige Anerkennung der geistigen Werte der großen Philosophien und Religionen der Welt. Diese Anerkennung des gemeinsamen Erbes der Menschheit ist nicht nur eine Angelegenheit der Schriftgelehrten, sie hat auch große praktische Bedeutung. Wir in Europa und Amerika haben zwar das europäisch-westliche Problem, das Verständnis für die verschiedenen religiösen, philosophischen und nationalen Auffassungen noch nicht ganz bewältigt und müssen uns manchmal noch sehr bemühen, wirkliche innere Toleranz zu üben. Wir sind aber in der Praxis bereits konfrontiert mit den asiatischen Versionen von Kultur und Philosophie, wir müssen uns auf zunächst fremd erscheinende Auffassungen einstellen, wenn wir nach Wiederherstellung der asiatischen Staatenwelt und bei dem Neuentstehen einer afrikanischen Staaten-welt zusammenleben wollen, und das ist angesichts der Schrumpfung des Erdballs und der immer mehr sich verstärkenden gegenseitigen Abhängigkeit unumgänglich. Ein chinesischer katholischer Erzbischof zitierte vor einigen Jahren in Bonn bei Betrachtungen über die gegenwärtige Entwicklung in der Welt nicht so sehr die Bibel und Aristoteles, sondern Konfuzius, und er sagte: Konfuzius ist unser Aristoteles, er bringt unsere Version der christlichen Lehre von der natürlichen Erkenntnis und Ethik.
Der in der Präambel des UNESCO-Statuts enthaltene Grundsatz gibt allen Mitgliedern der Weltstaatengesellschaft Stoff zum Nach-und Umdenken, insbesondere auch für diejenigen, die zum abendländischen Kulturkreis gehören. Diese waren im Höhepunkt des Imperialismus und Kolonialismus sehr geneigt, ja überzeugt, daß die Zivilisation identisch mit den abendländischen Kulturwerten sei; ein Beispiel hierfür ist das Manifest, das der amerikanische Flottenkommandant im Auftrag seiner Regierung bei der nicht ganz gewaltlosen Öffnung Japans für den Weltverkehr im vorigen Vielen Jahrhundert erlassen hat.
Abendländern ist auch heute noch nicht bewußt, daß der Hauptteil der heutigen Entwicklungsländer Asiens, so vor allem China und Indien, bis zur Entfaltung der modernen Technik auf der Basis der Naturwissenschaften nicht nur Europa gleichkamen, sondern daß sie ihre eigenen hohen kulturellen Werte besitzen, beruhend auf den altüberlieferten Philosophien und Religionen. Es ist auch daran zu erinnern, daß Europa durch Vermittlung islamischer Gelehrter im Mittelalter einen Teil des geistigen Erbes der Antike zusammen mit vielen Errungenschaften der Medizin, der
Astronomie und der Technik des Nahen Ostens und des übrigen Asiens erhielt. Das Wiedererstehen der selbständigen asiatischen Staatenwelt bringt natürlicherweise für sie eine Rückbesinnung auf das überlieferte geistige und kulturelle Erbe mit sich. 2. Gemeinsames kulturelles Welterbe und Ökumenisches Konzil Die der Präambel der UNESCO zugrunde-liegende Erkenntnis ist bisher über einen nicht gerade großen Kreis von Philosophen, Gelehrten, Staatsmännern, kulturell Interessierten in aller Welt nicht hinausgedrungen. Es ist deshalb von großer Bedeutung für die geistige Entwicklung in der Welt, daß sich in einer so umfassenden religiösen Gemeinschaft wie in der Katholischen Kirche neuerdings — und zwar aus ihren eigenen, noch tiefer wurzelnden Grundlagen heraus — offenbar eine ähnliche Auffassung durchzusetzen beginnt. Diese Auffassung könnte, wenn sie die Gemüter der Menschen stärker erfaßt, die in der Präambel erwähnten Ziele tief verankern. Papst Paul VI. verwirklichte anläßlich des Pfingstfestes 1964 seine Absicht, neben dem Sekretariat für die Einheit der Christen auch ein Sekretariat für die Nicht-Christen zu errichten. Dies war wohl auch seines Vorgängers Plan, dessen Persönlichkeit die ganze Welt zutiefst beeindruckt hat. Bei der Eröffnung der 2. Konzils-Session im September 1963 sprach der Papst von „dem gemeinsamen religiösen Erbe der Christen", ferner davon, daß die Kirche „alles Wahre, Gute und Menschliche" in den anderen Religionen gebührend schätze.
Es muß berufeneren Personen überlassen werden, das, was auf dem ökumenischen Konzil sich angebahnt hat, in seiner Bedeutung für die heutige und zukünftige Welt in vielen Bereichen des menschlichen und geistigen Lebens zu würdigen. Möglicherweise kommt dort etwas wieder zum Vorschein, was schon im 2. Jahrhundert der Philosoph Justinus Martyr ausgesprochen hat, nämlich, daß „die keimhafte Wahrheit", der „logos spermatikos", auch in anderen Philosophien und Religionen enthalten sei.
Es gibt Anzeichen, daß andere christliche Kirchen, die schon früher Schritte auf dem Wege zur Verständigung und Einigung versuchten — beschränkt zunächst in Gestalt der Ökumene auf die christliche Welt —, ebenfalls ihren Weg fortsetzen werden. Ferner gibt es hier und da Anzeichen, daß in der nicht-christlichen Welt mancherlei Tendenzen bestehen, Verhärtungen der Doktrin und der Praxis abzustreifen und aus dem ursprünglichen Sinn der Lehren heraus eine Erneuerung herbeizuführen. Von indischen Gelehrten kann man hören, In-dien brauche neben dem wirtschaftlichen Fortschritt vor allem eine Reform seiner religiösen Lehren und Handlungsweisen von innen her; ohne letzteres werde das erstere nicht ausreichend gelingen können.
V. Maßstäbe zur Beurteilung des Weltgeschehens
Jeder, der mit politischen Fragen praktisch oder theoretisch oder in beiderlei Weise zu tun und in Diskussionen Rede und Antwort zu stehen hat, bemerkt immer wieder:
Es besteht ein lebhaftes Bedürfnis, nicht nur — wie eben versucht — einen gewissen Über-blick in wesentlichen Grundlinien über das vielgestaltige Weltgeschehen zu erhalten, sondern auch die Vorgänge in ihren tieferen Ursachen besser zu verstehen. Es erhebt sich das Problem, Maßstäbe zur Beurteilung aufzufinden. Dies ist um so notwendiger, als man oft bei Diskussionen den Eindruck hat, daß viele Interessierte zu „idealistische" Forderungen an die Politik und ihre Träger richten.
Viele wundern sich, daß auch in den „höheren Ebenen" des Staates und der Staatengesellschaft Fehler und Irrtümer, ja sogar noch viel Schlimmeres passieren können. Es kann an dieser Stelle nicht untersucht werden, warum dies besonders für die deutsche Mentalität festzustellen ist; in manchen anderen Nationen scheint man pragmatischer zu denken.
Mit der Forderung, Maßstäbe zu finden, soll allerdings nicht gesagt werden, daß ein solcher Versuch etwas ganz Neues wäre. Die Gelehrten und Weisen der hier einschlägigen Geisteswissenschaften — von Aristoteles und Konfuzius angefangen — haben von jeher über das Wesen des Staates und der Politik meditiert, ebenso haben die Politiker von jeher ihre ganz individuellen, manchmal nicht sehr überzeugenden Methoden, tieferschürfenden Fragen aus dem Volk zu begegnen. Jeder, der auf das Problem stößt, wird auf Grund seiner eigenen Erfahrungen, Beobachtungen und Studien es auf seine Weise und für seine Zeit versuchen müssen.
Ausgehend vom Gesichtspunkt, daß in der Gesellschaft der Staaten im wesentlichen nichts anderes vor sich geht, als was sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt — im Staate und in den von der politischen Gemeinschaft geschützten privaten Gemeinschaften und Assoziationen — ereignet, sollen im folgenden aus Eigenschaften der menschlichen Natur, das heißt aus Begriffen, die jedem Menschen und nicht nur dem Schriftgelehrten geläufig sind, Beurteilungsmaßstäbe abgeleitet werden. Dabei soll insbesondere auch versucht werden, die der Gesamt-betrachtung zugrunde gelegten Erscheinungen und Probleme von Dauer und Wandlung aufzuhellen. 1. Gewöhnung und Gewohnheit bewirken Tradition und Dauer Es gibt einen Wesenszug in der Menschen-natur, der stark auf die „Dauer" hinwirkt, der förderlich ist für die Aufrechterhaltung des Bestehenden, nämlich die Gewöhnung, aus der die Gewohnheit und weiterhin die Tradition resultieren. Der Anthropologe Arnold Gehlen hat einmal dargelegt, der Mensch sei ein instinktschwaches Lebewesen, der Instinkt werde bei ihm weithin durch gewohnte Verhaltensweisen ersetzt, die ihm zahllose einzelne und bewußte Entscheidungen ersparen. Im Volksmund gibt es übrigens hierfür eine sehr einfache und drastische Aussage, wie zum Beispiel: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier"
oder: „Die Gewohnheit ist die zweite Natur des Menschen" (russisches Sprichwort). Die Gewohnheit stabilisiert Verhaltensweisen in den zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen, sie hält gefühlsbedingte Reaktionen mehr oder weniger in Schranken. Die Gewohnheit stabilisiert aber auch das intellektuelle Leben, nämlich die Vorstellungen und Ideen über das Wesen des Menschen, der Gesellschaft und der Welt einschließlich derjenigen über das richtige Verhalten, das heißt über Sitte, Moral, Recht.
Wenn eine Lehre nicht einwurzelt und wenn ein Gesetz nicht gewohntes Recht wird, sind sie nicht viel wert. Die Wirkungs-und Überzeugungskraft der Dogmen und Lehren sowohl wie der Normen, Gebote und Verbote in allen Bereichen des Lebens entspringen zu einem großen Teil der Gewohnheit und Tradition. In der Verwaltung von Staat und Wirtschaft und von anderen Lebensbereichen beziehen „der Vorgang", das „Schema", das „Formular" aus der hilfreichen Gewöhnung ihre Berechtigung; ohne „Präzedenzfall" und „Präjudiz" kann keine Regierung und kein Gericht auskommen. Die Tradition sichert schließlich das vielschichtige und vielgestaltige kulturelle Erbe der Vergangenheit. Vielleicht ist die Gewohnheit die stärkste Kraft, die die Gesellschaft und Gemeinschaft zusammenhält, stärker auch als die Staatsgewalt, die schließlich weitgehend auf der Gewohnheit beruht. Jede Revolution beweist dies; sie bricht zwar mit einer bestehenden Gewohnheit, rechnet aber sofort wieder mit der Gewöhnung an die neue Ordnung. Die Schwäche und Unstabilität von neuen Staaten und Staats-autoritäten beruht darauf, daß dieser Prozeß der Verfestigung seine Zeit braucht.
Die ungeheure Kraft der Gewöhnung beruht darauf, daß sie mit der „Nachahmung" und der „Folgsamkeit" verschwistert ist. Zusammen mit diesen letzteren bildet die Gewöhnung die Grundlage dafür, daß eine tatsächliche, fortwährend geübte Verhaltensweise oder ein längere Zeit bestehender Zustand nicht nur als „seiend", sondern auch als „sein sollend" empfunden werden. Gewohnheit beinhaltet also und erzeugt sogar sehr schnell eine Norm, eine Regel, einen Anspruch, ein Recht. Dies ist die „normative Kraft des Faktischen", die wohl als eine der Wurzeln von Moral und Recht anzusehen ist; die zweite Haupt-wurzel ist die Erkenntnis der Gegebenheiten und Notwendigkeiten, die zur „Regelung"
veranlaßt. Die normative Kraft des Faktischen wirkt besonders stark im zwischenstaatlichen Leben. Die Beziehungen zwischen den Staaten beruhen hauptsächlich auf dem Gewohnheitsrecht, einer ständigen Übung, die als normativ angesehen wird und so wirkt. Das Vertragsrecht ist hier etwas Ergänzendes und Sekundäres, vielfach stellt es nur das Gewohnheitsrecht fest — durch Kodifizierung. Da es noch keine übergeordnete Autorität über den Staaten gibt, die prüfen kann und darf, ob eine tatsächlich bestehende Regierung in einem Staat verfassungsmäßig, das heißt rechtens eingesetzt ist, bleibt den Staaten nichts anderes übrig, als die vorhandenen Regierungen als das anzusehen, wofür diese sich selbst halten und mit ihnen die beiderseitigen Angelegenheiten zu regeln und Beziehungen zu ihnen zu unterhalten, wenn es für nötig befunden wird. Wenn man es nicht nötig bat, kann man solche nicht als legal betrachtete Staaten und Staatsautoritäten als „Räuberbanden", als „Usurpatoren", als „Marionettenregimes" oder sonst etwas ansehen und sie ignorieren; man kann es ablehnen, mit ihnen in Verbindung zu treten. Solche Ausnahmen von der Regel der Faktizität gibt es immer wieder.
Für Deutschland ist diese normative Kraft des Faktischen eine Gefahr, die zu einer Verfestigung des bestehenden Zustands führen kann. Wir müssen davon ausgehen, daß Deutschland in den Grenzen besteht, wie sie im Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg völkerrechtlich umschrieben worden sind, ferner daß das deutsche Volk wie andere Völker auch nach Völkergewohnheitsrecht wie auch nach den Statuten der Vereinten Nationen das Recht der Selbstbestimmung hat und daß keine auswärtige Macht es darin beschränken darf. Nur ein neuer Friedensvertrag mit Deutschland kann andere Grenzen festsetzen; die Westalliierten haben zugesichert, daß ein solcher Vertrag nur mit Zustimmung Deutschlands abgeschlossen werden wird. Wegen der in diesem Falle gefährlichen normativen Kraft des Tatsächlichen sind unsere eigenen Rechts-verwahrungen wie die unserer Verbündeten sehr wichtig. Sie wirken zumindest hemmend und verzögernd auf die Verfestigung des bestehenden Zustands sowohl im Bewußtsein der Interessierten wie auch der nicht Interessierten. Für erstere, insbesondere die Sowjetunion, läge zudem die Erwägung nahe, daß für ein normales Zusammenleben es nicht gerade förderlich ist, wenn ein volkreiches, wirtschaftlich und politisch wichtiges Land nicht mit dem Zustand zufrieden ist, in dem es sich durch Einwirken außenstehender Kräfte auf einen Teil der Nation befindet. Bei nicht interessierten Staaten kommt uns dabei zugute, daß sie meist ein erhebliches Interesse daran haben, mit dem freien Deutschland und seinen Verbündeten gut zu stehen, weil diese mehr in Handel und Politik und auch in Hilfe zu bieten haben.
Gewohnheit und Tradition können somit positiv, aber auch negativ bewertet werden, sie können eine wohltätige, aber auch eine schädliche Dauer beinhalten. Gegenseitige Abneigungen von Nationen zum Beispiel, die auf Verschiedenheiten altüberlieferter Sitten und Gebräuche, des Glaubens und der Einstellung zum Leben, der Sprache und der Rasse sowie auf Zusammenstößen, Siegen oder Niederlagen in der Vergangenheit beruhen, können, wie die Gegenwart in Zypern zeigt, für sie selbst und ihre Umgebung recht gefährlich werden;
das gleiche gilt übrigens von eingewurzelten Abneigungen mehrerer Schichten und Gruppen innerhalb der Nationen, wie es sich zur Zeit bei der Rassenfrage in Amerika zeigt. 2. Neue Erkenntnis führt zur Wandlung Eine andere Fähigkeit des Menschen stellt eine der Kräfte dar, die immer wieder Wand-B lungen und Änderungen des Bestehenden bewirken. Das ist seine Fähigkeit zum Denken, sein unermüdliches Streben, sich Klarheit über das Wesen des Menschen, die Menschengesellschaft und die Kräfte der Natur zu verschaffen und die Welt als Ganzes, ihren Ursprung und Zusammenhalt zu deuten. Er braucht dann allerdings die Gunst der Umstände und den Einsatz anderer Kräfte, des Willens und der Fähigkeit, Bundesgenossen zu gewinnen, um Erkanntes durchzusetzen, Gewohntes zu ändern. Die großen Wandlungen in der Geschichte der Menschheit sind letzten Endes auf die großen Religionsgründer, Philosophen und Denker, neuerdings und in Zukunft wohl auch auf die Naturwissenschaftler zurückzuführen. Aus neuen Einsichten und ihren Realisierungen kann allerdings sowohl eine wohltätige als auch eine schädliche Wandlung erwachsen.
(„Denken ist Glückssache", sagt der Berliner Volksmund.) Oft wird, was erst Wohltat war, zur Plage. Der Denkende, aber noch mehr sein von ihm angelernter Epigone, neigt nämlich dazu, die von ihm aufgefundenen Erkenntnisse, Erklärungen und Formeln zu überspitzen und als absolut und endgültig anzusehen. Dies ist die Gefahr der Definition, der scharfen Begriffsabgrenzung, der „Klärung der Begriffe", wie Konfuzius sagt, die allerdings zum Wesen der Wissenschaft und der Philosophie gehört; es ist gewissermaßen die Berufsgefahr der Wissenschaftler und derjenigen, die die Formeln im praktischen Leben handhaben. Die Gefahr der „Überspitzung" und „Verabsolutierung" ist in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung, in der Medizin sowohl wie in der Politik und der Erziehung, aber auch in der Literatur und Kunst, kurz, in allen Sparten vorhanden, und sie wird verfestigt und permanent gemacht durch die Gewöhnung. Diese Gefahr hat sehr deutlich Nikolaus Cusanus — Humanist, Staatsmann und Kardinal des 15. Jahrhunderts — erkannt, als er lehrte, daß alle endliche Erkenntnis „wesenhaft ungenau" sei, nur eine „Annäherung an das Wirkliche", eine „Kunst der Vermutung" (ars conjecturae). Diese Worte sollten wohl allen Doktrinen und Theorien vorausgeschickt werden. Der Cusaner nahm auch die Theologen davon nicht aus. Kaiser Konstantin hat das lange vorher, mehr als ein Jahrtausend früher, erkannt, als er vor dem Konzil von Nicäa die streitenden Kirchen-parteien vor allzu verstandesmäßiger Aus-deutung und Verfeinerung der überlieferten Lehre warnte: „Man hätte weder von Anfang an über solche Dinge fragen noch auch auf die Frage eine Antwort geben sollen; denn wenn auch solche Fragen, zu denen keine Vorschrift eines Gesetzes zwingt, sondern nur die Streitsucht unnützen Nichtstuns verleitet, aufgestellt werden können, damit die Geisteskraft daran geübt werde, so müssen wir sie doch im Innern unseres Herzens verschließen und dürfen sie nicht leichthin in öffentliche Versammlungen bringen oder unbedachtsam den Ohren des Volkes anvertrauen. Denn wie wenige gibt es, die imstande wären, die Tragweite so bedeutender und überaus schwieriger Fragen genau zu überschauen oder entsprechend darzulegen? ... Ober wer könnte solch spitzfindigen Fragen entgegentreten, ohne daß er sich der Gefahr aussetzte, auszugleiten?
Darum muß man in solchen Fällen das viele Reden vermeiden, damit nicht, sei es, daß wir bei unserer natürlichen Schwäche den aufgestellten Satz nicht erklären können, oder daß unsere Zuhörer wegen ihrer geringen Fassungskraft zu einem genauen Verständnis unserer Worte nicht gelangen, aus dem einen oder anderen von beiden Gründen das Volk in die Zwangslage versetzt werde, entweder zu lästern oder sich zu spalten ....
Um aber eure Einsicht durch ein kleines Beispiel zu mahnen, so höret: Ihr wißt doch wohl, daß auch die Philosophen insgesamt einer Lehre beipflichten, oft aber in irgendwelchen Aussprüchen über einzelne Punkte verschiedener Ansicht sind und doch, auch wenn sie sich kraft ihrer wissenschaftlichen Tüchtigkeit trennen, durch die Einheit der ganzen Lehre sich wieder miteinander verständigen ... Was ihr über diese so unbedeutenden Fragen untereinander ausklügelt, möget ihr auch hierin nicht einer Meinung sein, sollte in eurem Geiste verbleiben, wohl verwahrt in eurem geheimsten Denken."
Sicherlich hat der Herrscher damals die Streitpunkte vom Standpunkt des staatlichen Gemeinwohls aus verniedlicht und die Philosophen wohl auch überschätzt, aber er hat offensichtlich nicht nur als Staatsmann, sondern auch als Philosoph und Christ diesen Brief von sehr individueller Handschrift geschrieben. Manches wäre dem Christentum erspart geblieben, wenn dieser Brief auf den Pulten der Führenden in Lehre und Amt geblieben wäre. Andererseits aber ist zu bedenken: Hätte das Abendland nicht die theoretisie-renden geistlichen Gelehrten gehabt, so wäre das geistige Erbe der Antike mit seinem Drang zur Wissenschaft und rationalen Welt-erklärung vielleicht verlorengegangen, wie dies in benachbarten Kulturkreisen tatsächlich geschah, und wer weiß, ob oder wann die moderne Wissenschaft erstanden wäre.
Die Überspitzung und „Verabsolutierung" der Begriffe und „Dogmen" hat immer wieder die Spaltungen in den Lehr-und Glaubenssystemen, im Herzen der Nationen und Staaten herbeigeführt, und sie hat insbesondere die tiefgehenden Unterschiede zwischen den großen Kultur-Regionen der Menschheit bewirkt und verfestigt.
Wir sehen aber nunmehr in manchen Bereichen der Welt von heute Wandlungen in den bestehenden Lehrsystemen, in den hoch-getürmten und vielgliedrigen Dogmengebäuden der Weltanschauungen und — oder Gesellschaftsauffassungen, vor sich gehen. Diese Änderungen vollziehen sich in vielerlei Weise. Es kann geschehen durch Rückkehr zum tiefsten Grund der Lehre; die bisher gefundenen Formeln und Dogmen brauchen dann gar nicht neu gefaßt zu werden, sie werden jedoch in einem tieferen Sinne aufgeiaßt, und dabei werden zahlreiche Änderungen der bisherigen Praxis beschlossen. Dies geht offenbar zur Zeit in der Katholischen Kirche, aber auch sonst in der Christenheit vor sich. Bei anderen „Philosophien" hat man den Eindruck, daß manche Teile der Lehre zwar ebenfalls nicht neu gefaßt, aber weniger erwähnt werden und zeitweilig oder ständig in den Winkel gestellt werden, oder aber, daß praktisch anders gehandelt wird, als es dem System entspricht, das heißt in letzterem Fall, es werden neben den offiziellen Dogmen und Wertskalen auch noch die „abgeschafften" und verleugneten Maßstäbe der Vergangenheit gebraucht. Das ist die sogenannte „doppelte Moral". (Nebenbei bemerkt kommt das mit schöner Regelmäßigkeit auch in Bereichen anderer Philosophie und Kultur vor, auch unser liebes, altes Abendland bietet Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart genügend.) Aus Änderung der Doktrin und der Praxis können Spaltungen entstehen. Wir sehen das zur Zeit im kommunistischen Bereich. Weiterhin: es kann auch vorkommen, daß bestehende Gedanken-systeme Elemente anderer Systeme in sich aufnehmen und miteinander verschmelzen;
so wird zum Beispiel gelegentlich in England, aber auch hier, darauf hingewiesen, daß der Liberalismus eigentlich seine Aufgabe erfüllt habe, seitdem einerseits die konservative und andererseits die sozialistische Staatsauffassung die liberalen Gedanken in sich ausgenommen hätten.
Mir scheint, daß kaum jemals ein geschlossenes Denk-und Deutungssystem ganz verschwindet. Es bleiben Keime am Leben, und sie können sich unter Umständen wieder entfalten. Das gilt sogar von ganz überholten Auffassungen; man denke nur an die Rolle, welche die Astrologie in unserem „wissenschaftlichen" Zeitalter noch oder wieder spielt. Das zähe Leben von Dogmensystemen und Verhaltensweisen ist aber ein Trost, wenn man auf die Welt des Kommunismus blickt. Dieser hat in Osteuropa, in Rußland und in China die von altersher überlieferten „Weltanschauungen" einschließlich der aus ihnen abgeleiteten Sitten und Morallehren samt Sprichwörter zwar überlagert, aber keineswegs verdrängt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß nicht nur — wie jetzt — ein zeitweiliger Modus vivendi, eine Art Nebeneinanderleben entsteht, sondern daß er sich als Dauerzustand erweist. Hierzu eine Anekdote, die einen tieferen Sinn haben dürfte:
Bundeskanzler Adenauer hat Herbst 1955 nach seinem Besuch in Moskau, bei dem er die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur vierten Siegermacht vereinbart hatte, in einer gemeinsamen Sitzung der Bundestags-und Bundesratsausschüsse für auswärtige Angelegenheiten folgendes berichtet: Bulganin und Chruschtschow seien ihm fortwährend in den Ohren gelegen — wie letzterer es auch anderswo zu tun pflegte — mit dem marxistisch-leninistischen Glaubenssatz, in 100 Jahren werde die ganze Welt kommunistisch sein. Adenauer hat schließlich diese Gebetsmühle mit der Bemerkung zum Stillstand gebracht: „In 100 Jahren gibt es weder Kapitalismus, noch Kommunismus, sondern etwas Drittes." Dazu sei bemerkt: Es mag einmal auch etwas Drittes geben, in manchen Entwicklungsländern scheint sich so etwas anzubahnen. Es ist jedoch eher wahrscheinlich, daß in 100 Jahren der Kapitalismus, der sich schließlich von einer Ausbeutungsgesellschaft zum „Wohlfahrtsstaat" entwickelt hat, und der Kommunismus, der sich seit Lenin schon mehrmals in der Praxis gehäutet hat, viel näher als jetzt — oder gar früher — nebeneinander laufen werden, ohne aber ihre „Dogmen" aufzugeben.
Der Kommunismus schickt sich gerade an, Elemente des individuellen Anreizes und der rationalen Kalkulation von Gewinn und Verlust in sein Wirtschaftssystem aufzunehmen, der Kapitalismus nimmt wahrscheinlich weiterhin Elemente der „Planung" in sich auf, und der Wohlfahrtsstaat ist in vielen westlichen Ländern mit wachsender Produktion sicherlich noch ausbaufähig; sicher gehören auch Maßnahmen zur Sicherung und Ermöglichung eines Eigentums der Arbeitnehmer dazu.
3. Gegenseitigkeit und Zusammenhalt als Hauptformen und -normen des sozialen Zusammenlebens In unzähligen Dokumentationen und Erklärungen, in juristischen Formeln und politischen Erwägungen begegnen uns die Begriffe der „Gegenseitigkeit" und des „Zusammenhalts" (der Solidarität). Sie werden bezeichnenderweise ganz selbstverständlich und unreflektiert gebraucht. Gerade dies weist darauf hin, daß sie eine für das menschliche Zusammenleben fundamentale Bedeutung haben und als Beurteilungsmaßstäbe gelten.
a) Die Gegenseitigkeit Der Grundgehalt der Gegenseitigkeit läßt sich mit der bekannten Formel ausdrücken: „Ich gebe, damit du gibst" (das berühmte do ut des). Buchstäblich unzählige Akte des täglichen Lebens der Menschen ebenso wie ihrer Institutionen untereinander werden durch sie umfaßt. Der eine gibt, leistet oder unterläßt etwas, damit der andere etwas anderes leistet, gibt oder unterläßt. Die Gegenseitigkeit beruht darauf, daß die Menschen ihrer Natur nach aufeinander angewiesen sind, daß sie als einzelne — nur auf ihre eigenen Möglichkeiten gestellt — ein erbärmliches Dasein führen und zugrunde gehen würden. Ein ganz wesentlicher und weitgreifender Teil des menschlichen, sozialen und zwischenstaatlichen Zusammenlebens, insbesondere des Wirtschaftsablaufs, der Beziehungen der Gruppen und Verbände im Staate, der Staaten untereinander, des Welthandels und Weltverkehrs ist durch die Gegenseitigkeit ermöglicht. Ihre „Mechanik" ist so primitiv, einfach und elementar, daß sie sozusagen von selbst funktioniert, sie braucht an sich keinen „Mechaniker", der in sie eingreift, das heißt, keine Autorität von oben. Wird nämlich die Gegenleistung von einem Partner nicht erbracht, dann wird der andere trachten, wieder zu dem von ihm Geleisteten zu kommen, und er wird sich hüten, ein zweites Mal einen gegenseitigen Austausch vorzuschlagen. Gibt ein Staat für ein Zugeständnis seinerseits kein Zugeständnis, so wird der andere sein Zugeständnis zurückziehen, und die von beiden Seiten vorher erstrebte bessere Gestaltung des Zusammenlebens unterbleibt. Es kommt vor, daß einer, statt etwas zu geben, ohne Gegenleistung vom anderen etwas nimmt. Der Betroffene wird das ihm Genommene, wenn er kann, wieder an sich nehmen. Wird ein Mensch oder ein Staat angegriffen, wird der Betroffene sich wehren. Die Gegenseitigkeit präsentiert sich also in zwei Formen: in der positiven Form der Ermöglichung des Zusammenlebens sowie in der negativen Form der Gegenwirkung gegen eine Störung des Zusammenlebens.
Aus diesen Beispielen erhellt, daß die Gegenseitigkeit primär etwas ist, das aus der Natur, der Existenz, dem „Sein" des Menschen entspringt.
Sekundär — auf dem Weg über die Erkenntnis — wird dieses Seinsverhältnis zur Grundnorm des Verhaltens, von Moral und Recht. Der Mensch ist ja — und darin liegt der Kerngedanke des abendländisch-christlichen Naturrechts — bereits durch seine Vernunft und nicht erst durch positive Gebote und Verbote einer höheren Autorität fähig, die wesentlichen Voraussetzungen seines Lebens zu erkennen und daraus die Schlußfolgerungen für sein Verhalten zu ziehen, das heißt sie als Regeln, als Gebote, anzuerkennen und die entsprechenden Verbote zu setzen. Sekundär sind die Normen auch insofern, als die entscheidende Gewährleistung ihrer Innehaltung auf der Natur des Menschen selbst beruht, nämlich auf dieser geschilderten Gegenwirkung gegen eine tatsächliche Verneinung und Störung des menschlichen Zusammenlebens.
Die Gewährleistung, die die „Gemeinschaft", der Staat, in seinem Rechts-und Straf-System zwecks Innehaltung der aus der Gegenseitigkeit abgeleiteten Normen übernommen hat, ist im Grunde genommen subsidiär. Sie ist im Laufe der Menschengeschichte aus den Notwendigkeiten des Zusammenlebens heraus entstanden, sie ist die Folge der allmählichen Entfaltung des „Staatsgedankens", der fortwährenden Erweiterung der staatlichen Funktion. Man sollte sich nicht der Vorstellung hingeben, daß die Wirksamkeit des gesetzten Rechts ausschließlich oder hauptsächlich auf dem Willen des Staates, auf seiner Garantie beruhe. Das bürgerliche Recht ist weithin nichts anderes als kodifiziertes Naturrecht und Gewohnheitsrecht — in allen Staaten, allerdings immer wieder ergänzt, verfeinert und formuliert von den wissenschaftlichen und beamteten Juristen, den Gesetzgebern und den Gerichten. Ganze Pyramiden von rechtlichen Normen in den verschiedenen Stufen der staatlichen Gemeinschaft sind auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit aufgebaut, und es wäre der Mühe wert, sie einmal schematisch-bildlich aufzuzeichnen. Die wichtigste rechtliche Form der Gegenseitigkeit, die deren Wesen aufs beste widerspiegelt, ist die Form des Vertrags im Leben des Bürgers, des Staats und der Völker. Auch die völkerrechtlichen Rechtsfiguren der Repressalien und der Retorsion gehören ebenso hier herein wie das Recht der Notwehr im privaten Leben und die völkerrechtsgemäße Verteidigung des Staates gegenüber Angriffen. Solange eine übergeordnete, mit wirksamen Institutionen und Machtmitteln ausgestattete Staatengemeinschaft nicht besteht, kann das Recht des Staates auf Verteidigung nicht bestritten werden; es beruht im Grunde genommen ebenfalls auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Auch beim Bestehen eines Weltstaates würde dieses Recht so wenig ganz erlöschen wie das des Einzelmenschen im Staate.
Die philosophische Auffassung von einem aus der Natur des Menschen abzuleitenden natürlichen Recht verbindet unseren Kulturkreis mit den anderen großen Philosophien und Religionen der Menschheit. Der Grundsatz der Gegenseitigkeit findet sich als „goldene Regel" — kaum verschieden stilisiert — überall. Er lautet in der christlichen und konfuzianischen Fassung völlig gleich: Was du nicht willst, das man dir tu', das füg'auch keinem andern zu. Es gibt aber auch die positive Fassung: Was du willst, das man dir tue, das tue auch dem andern.
Eine Ausnahme gibt es jedoch in den philosophischen Systemen, auf die auf der 2. NATO-Parlamentarier-Konferenz in Paris 1956 ein gelehrtes Mitglied der amerikanischen Delegation hingewiesen hat. Dieser Teilnehmer zitierte die „goldene Regel" in Fassungen der einzelnen großen Philosophien und legte danach dar, daß die Staatsethik der Sowjetunion diese Regel nicht anerkenne.
Interessanterweise wurde diese Darlegung einige Jahre später insofern bestätigt, als Chruschtschow auf eine Äußerung des damaligen amerikanischen Außenministers hin dessen Formel „Keine Konzession ohne Gegenkonzession" sehr verächtlich abtat und sie als kaukasische Roßtäuschermethode bezeichnete. Diese Haltung des Marxisten findet sich übrigens auch anderwärts gelegentlich.
Das " do ut des" wird oft mit verächtlichem Unterton zitiert, so besonders, wenn politische Vorgänge — etwa die Aushandlung von Ministerlisten in Koalitionen --kritisiert werden. Sicherlich ist bei solchen Vorgängen manchmal die Methode des Gebens und Nehmens nicht ganz dem Sinngehalt entsprechend oder wird zu sehr strapaziert.
Tatsächlich sieht die Formel auf den ersten Blick etwas egoistisch aus, in Wirklichkeit ermöglicht sie aber — wie darzulegen versucht wurde — in vielen Hinsichten das menschliche Zusammenleben. Sie reicht allerdings keineswegs voll aus und bedarf von jeher des ergänzenden Prinzips des Zusammenhalts, der Solidarität.
Der tiefere Grund der Verneinung der Gegenseitigkeit durch den Marxismus liegt wohl darin, daß dessen Grundlehre den Menschen als ein durch und durch soziales Wesen ansieht und die Gesellschafts-und Wirtschaftsverfassung der nichtkommunistischen Welt als falsch und nicht adäquat dem Wesen der Dinge auffaßt. Das Kollektiv, die Gemeinschaft, der Staat hat nach der marxistischen Doktrin für den einzelnen wie in einer Riesenfamilie zu sorgen, ihm nach seinen Bedürfnissen zuzuteilen, und der einzelne schafft für die Gemeinschaft nach seinen Fähigkeiten. Es wird zugegeben, daß dies auch in der kommunistischen Welt noch nicht erreicht ist, aber es bleibt das Idealbild. Eine Gegenseitigkeit kann es hier theoretisch wenigstens nicht geben, es gibt nur die Solidarität. Wir sollten uns aber nicht so sehr über diese kommunistische Vorstellung des Verhältnisses von Mensch und Gemeinschaft wundern, denn auch in der abendländischen Staatsphilosophie gab es seit dem „Leviathan" von Thomas Hobbes genug Theoretiker, welche die Gemeinschaft, den Staat, in ähnlicher Weise verabsolutiert haben — und es gab auch die entsprechenden Praktiker bis Hitler! b) Zusammenhalt (Solidarität)
Damit kommen wir nun zur zweiten Form, durch die das menschliche Zusammenleben ermöglicht wird, dem „Zusammenhalt" in der mit Autorität gegenüber dem Einzelmenschen ausgestatteten „Gemeinschaft". Damit soll dasjenige bezeichnet werden, was den eigentlichen Inhalt der Gemeinschaft ausmacht, was auch als „Integrierung" seit der Staatslehre von Smend bezeichnet wird oder was auch unter dem Teilbegriff „Solidarität" erscheint. Es soll mit diesem Begriff das erfaßt werden, womit das „Gemeinwohl", das den Staat rechtfertigt, überhaupt erst ermöglicht wird. Hier handelt es sich darum — wiederum von der Natur des Menschen ausgehend —, daß das Zusammenleben nicht allein durch gegenseitige Leistungen der einzelnen, die sich aufrechnen lassen, gesichert werden kann, sondern daß die Gemeinschaft dasjenige zu vollbringen hat, was die Einzelmenschen mittels gegenseitigen Austausches nicht zu vollbringen vermögen. Unter Gemeinschaft werden hier die sozialen Gebilde verstanden, die auf Dauer angelegt sind und eine — sei es moralische, sei es rechtliche und zwingende — Autorität über ihre Mitglieder besitzen. Vielleicht ist für diesen Sachgehalt, der so alt ist wie die Menschheit und für den schon viele Begriffe gebildet worden sind, der Begriff Zusammenhalt gerade als Pendant zu demjenigen der Gegenseitigkeit gut zu verwenden; der Verfasser kam darauf, als er in einem Artikel über den schwedischen Wohlfahrtsstaat das genau entsprechende Wort „samhälle" fand, das allerdings dort nicht nur das Prinzip, sondern auch seine konkrete Ausgestaltung und Verkörperung in Gemeinde, Provinz und Staat umfaßt.
Damit aber die Gemeinschaft Leistungen vollziehen kann, müssen ihre Mitglieder Beiträge je nach ihren Fähigkeiten an sie leisten, sei es durch Naturalabgaben wie früher und manchmal auch jetzt noch — im Notstand —, sei es durch Steuern, sei es durch persönliche Dienste. Hier können die einzelnen Leistungen und Gegenleistungen zwischen Mitglied und Gemeinschaft nicht wie bei den gegenseitigen Leistungen der Mitglieder untereinander ausgerechnet werden. Unter Umständen sind sogar Opfer notwendig, die einzelne oder viele für die Gesamtheit erbringen, wobei jedoch die selbstverständliche Voraussetzung zugrunde liegt, daß andere Mitglieder ebenfalls dazu bereit sind sowie daß die Gemeinschaft für alle eintritt.
Auch bei dieser Form des Zusammenlebens handelt es sich primär um eine notwendige Weise des menschlichen Seins, die aber nicht so elementar ist wie die der Gegenseitigkeit, wenn man von der ursprünglichen Form, wie sie in der Familie in ihren verschiedenen Erscheinungsarten gegeben ist, einmal absieht. Sie ist in der historischen Entwicklung jeweils auf die Stufen der Gemeinschaft, die in den einzelnen Zeitperioden erreicht wurde, beschränkt, in den Urzeiten auf die Großfamilie, den Clan, den Stamm, später hat sich diese Weise des Zusammenlebens auf die Staaten und die Großreiche ausgedehnt. Der Zusammenhalt ist also nicht nur theoretisch, sondern auch historisch gesehen subsidiär, er wird aber mit Anwachsen der Menschheit und zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung immer wichtiger.
Die Bildung und Erhaltung der Gemeinschaft sowohl wie der Umfang ihrer Aufgaben auf ihren verschiedenen Ebenen hängen nämlich weitgehend ab von der Einsicht, daß sie samt ihrer jeweiligen Aufgabe für das Wohl der Gesamtheit der Mitglieder notwendig ist; wiederum ergibt sich also aus Verhältnissen des Seins auf dem Wege über die Erkenntnis die Norm, das „Sollen".
Eine solche Einsicht ist allerdings keineswegs gleichmäßig bei allen Mitgliedern einer Gemeinschaft vorauszusetzen. Man braucht hier nur an das Problem der Steuermoral — unerhört verschieden in den einzelnen Staaten der Erde — oder auch an das Problem der Wehrwilligkeit zu erinnern. Desgleichen gibt es bei den Organen der Gemeinschaft keineswegs jeweils von vorneherein Einmütigkeit über den Umfang der gemeinschaftlichen Aufgaben, es gibt bei einer beabsichtigten Ausdehnung mehr oder weniger heftige Debatten vor dem endgültigen Beschluß. Die Gewähr des Funktionierens der Gemeinschaft beruht viel weniger als bei den Beziehungen zwischen den einzelnen auf der Mechanik der menschlichen Reaktion, der Gegenwirkung.
Die aus Sinn und Zweck der Gemeinschaft abgeleitete Regelung wird hier schließlich durch die Autorität und gegebenenfalls die Zwangs-gewalt der Gemeinschaft, das heißt ihrer Organe, gesichert. Die Erscheinungsform dieser Regelung ist das Gesetz, die Verordnung, nicht wie bei der Gegenseitigkeit der Vertrag.
So bekannt dies ist, so wahr ist aber auch, daß die eigentliche Gewähr für die Erhaltung der Gemeinschaft darin liegt, daß einerseits ihre Mitglieder die geforderten Leistungen im großen und ganzen befriedigend tätigen und daß andererseits die Gemeinschaft ihre Funktion den Mitgliedern gegenüber im großen und ganzen befriedigend erfüllt. In einer abgewandelten Weise handelt es sich also auch hier um „Gegenseitigkeit". Sowohl von der einen wie von der anderen Seite her kann der „Zusammenhalt" erschüttert werden.
Aus der Gegenseitigkeit zwischen der Gemeinschaft und ihren Angehörigen ergeben sich die Grenzen der Leistung, gegebenenfalls des Opfers, die von den Angehörigen der Gemeinschaft verlangt werden können. Wird in einer Gemeinschaft, insbesondere in einem Staat, der innere Friede zufolge des Verhaltens wichtiger Mitglieder oder Mitglieds-gruppen nicht aufrechterhalten, so entsteht die Gefahr des Zerfalls. Ist der Staat nicht imstande, Angriffe von außen abzuwehren, so wird sein Zusammenhalt in erheblichem Maße geschwächt, und die Gefahr des Zerfalls ist ebenfalls groß. Andererseits: das Opfer des Lebens im Kriege zu fordern, wird dann ein Verbrechen, wenn, wie im letzten Weltkrieg, der Staatsleitung schon länger klar geworden ist, daß ein von vornherein ungerech-ter Krieg verloren ist. Vieles von der noch immer zu beobachtenden Zurückhaltung des Bürgers gegenüber dem öffentlichen Leben in unserer Bundesrepublik mag letzten Endes mit dem vorher Geschehenen Zusammenhängen. Werden bei den wirtschaftlichen Leistungen vom Staat Opfer im Übermaß verlangt und gehen sie längere Zeit hindurch einseitig zu Lasten einzelner, größerer oder kleinerer Gruppen, dann stellen sich erhebliche Schwierigkeiten ein und Gegenwirkungen kommen in Gang. Einige Beispiele: konfi-skatorische Steuersätze auf höhere Einkommen hindern die notwendige Kapitalbildung, sehr weitgehende Sozialleistungen können den Willen zur privaten Vorsorge hemmen, übermäßige Subventionierungen einzelner Wirtschaftszweige verzerren die Wirtschaftsstruktur und können zu schlimmen Wirkungen auf Währung und Außenhandel führen, wie es 1958 besonders in Frankreich sich zeigte. Bei Niedrighaltung der landwirtschaftlichen Preise entsteht eine Unterproduktion und Unterversorgung, wie es in der Sowjetunion seit langem der Fall ist. Zu sehr forcierte staatliche Kapitalbildung auf Kosten des Lebensstandards breiter Volksschichten blieb dort ebenfalls nicht ohne Reaktion. Tatsächlich erfolgten von Zeit zu Zeit Erleichterungen, so besonders in den Jahren nach Stalins Tod; es war ganz deutlich sichtbar geworden, daß das System überspannt worden war.
Ein großer Teil des gegenwärtigen Welt-geschehens wie auch der vorhergehenden Weltgeschichte erklärt sich aus solchen Vorgängen. Alle Gemeinschaften können trotz der sichernden Autorität oder „Gewalt" zerfallen, und die Welt ist voll von Gräbern ehemaliger Staaten. Allerdings bilden sich flugs aus den Trümmern neue Gemeinschaften, da der Mensch ohne sie nicht existieren kann.
Das Prinzip des Zusammenhalts in der hier gemeinten Weise gilt nur für die sozialen Gebilde, die in der beschriebenen Weise Gemeinschaften sind. Die Weltgesellschaft der souveränen Staaten ist eine solche Gemeinschaft nicht oder noch nicht. Zwischen den souveränen Staaten galt bisher ausschließlich das Prinzip der Gegenseitigkeit. Das ist auch kaum anders zu erwarten, denn welcher Staatslenker könnte es ohne weiteres verantworten, der ihm anvertrauten Gemeinschaft Opfer zugunsten anderer Staaten ohne Gegenleistung zuzumuten. Für die Beurteilung der Geschehnisse der Weltpolitik ist deshalb das Prinzip der Gegenseitigkeit eines der wichtigsten Beurteilungsmaßstäbe. Zwischen den Staaten gilt nach wie vor so gut wie ausschließlich das do ut des, der Grundsatz „keine Konzession ohne Gegenkonzession".
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs aber machen sich doch bereits Wandlungen in dieser Hinsicht bemerkbar. So bemerkt man die Tendenz des Zusammenschlusses bisher unabhängiger Staaten vor allem in Europa sowie Tendenzen zu einer engeren Zusammenarbeit von Staaten in vielen Teilen der Welt. Sie entspringen der Einsicht in neue Gegebenheiten, wie zum Beispiel Gefährdung von außen, Bewußtsein der kulturellen Zusammengehörigkeit, der Tatsache und der Notwendigkeit stärkerer wirtschaftlicher Verflechtung und dergleichen mehr. Solche Zusammenschlüsse sind aber nur zu bewerkstelligen, wenn gemeinschaftlichen Institutionen finanzielle und rechtliche Mittel an die Hand gegeben werden zu dem Zweck, Gemeinschaftsaufgaben für alle Mitglieder zu vollziehen. Das bedeutet nun nicht mehr bloße Gegenseitigkeit, sondern Zusammenhalt oder Solidarität, ermöglicht durch den Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder angepaßte Leistungen und unter Umständen durch Opfer und Vorleistungen. Es braucht allerdings Zeit, alle Folgerungen aus diesen Umständen zu ziehen und sie zu verwirklichen, auch wenn der grundlegende Entschluß, zum Beispiel zur Gründung der Sechser-Gemeinschaft, von allen Mitgliedern einhellig gefaßt worden ist. Entziehen sich Mitglieder in bestimmten Einzelheiten oder in Angelegenheiten, die alle aus allgemeinen politischen Gründen stärker angehen, einzelnen Verpflichtungen, so treten unweigerlich Reaktionen und Gegenwirkungen ein, der Zusammenhalt wird gelockert, und dieser oder jener Mitgliedstaat greift zu dem Prinzip des do ut des zurück, das heißt, er willigt in Beschlüsse zu der einen Frage nur ein, wenn ein anderer oder die anderen in bestimmte Beschlüsse zu anderen Fragen einwilligen. Das konnten wir in den letzten Jahren vielfach bei der Sechser-Gemeinschaft beobachten.
Es gibt aber auch auf weltweiter Ebene zwischen den Staaten schon einzelne besondere Leistungen ohne Gegenleistung im Sinne des Prinzips des Zusammenhalts. Hierher ist zu rechnen die Hilfe an notleidende beziehungsweise unterentwickelte Länder, soweit sie unentgeltlich ist oder insofern sie unverzinslich oder niedrigverzinslich ist. Das von den Amerikanern im großen Stil seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelte System der Auslandshilfe ist als eine Art neu erkannter ethischer Verpflichtung von allen reichen Ländern der Erde, das heißt den industrialisierten Staaten, übernommen worden. Auch die Sowjetunion hat dies System seit 1955 gegenüber nichtkommunistischen Ländern angewandt, vorher aber schon innerhalb der kommunistischen Welt praktiziert. Die Auslandshilfe gründet jedoch keineswegs allein auf der Erkenntnis, daß in einer enger werdenden Welt, die immer mehr in ihrer Wohlfahrt voneinander abhängig wird, nunmehr auch zwischen den Staaten das Prinzip der Solidarität anzuwenden ist. Wie überall im menschlichen Leben spielen auch bei der Auslandshilfe noch andere Beweggründe mit. Es spielt zum Beispiel die Erkenntnis mit, daß es besser ist, vom eigenen Überfluß abzugeben, um die Not anderer, wie immer sie auch entstanden sein mag, nicht so sich anhäufen zu lassen, daß sie schließlich zum Zugriff auf die Habe der Bessergestellten reizt. Es spielt die Erkenntnis mit, daß die Steigerung des Wohlstands der anderen auch den eigenen Wohlstand fördert, da ein umfangreicherer Güteraustausch wieder günstige Rückwirkungen in dem Hilfe gewährenden Lande hat. Auch Erwägungen der politischen Einflußnahme sind nicht zu verkennen. Dazu gehört, daß Hilfe gewährende Länder hoffen, daß die hilfsbedürftigen Staaten sich wenigstens nicht dem gegnerischen Lager in der Weltpolitik anschließen und zumindest neutral bleiben. Es verbinden sich also sowohl Beweggründe der Gegenseitigkeit wie auch des Zusammenhalts in den neueren Formen des internationalen Zusammenlebens, die ein besonderes Kennzeichen unserer Zeit sind; sie sind für die Beurteilung der Entwicklungstendenzen der Weltpolitik besonders wichtig. 4. Die Fehlbarkeit des Menschen und des Staatsmannes Bei der Beurteilung des Weltgeschehens darf — ebenso wie bei der des menschlichen Zusammenlebens überhaupt — nicht vergessen werden, daß der Mensch „fehlbar" ist. Auch der Staatsmann, der für die Gesamtheit handelt, ist ein Mensch, also ist er fehlbar. Viele Leute meinen, die Staatsmänner — auch die kirchlichen Führer — der höchsten Ebenen dürften eigentlich nie Fehler begehen; von sich selbst in ihrem privaten und geselligen Leben und von den unteren Etagen des öffentlichen Lebens erwarten die gleichen Leute dies meist nicht oder in einem viel geringeren Grade. In allen menschlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten müssen wir immer mit Fehlentscheidungen auf Grund von unrichtiger oder unzureichender Erkenntnis und auf Grund von Gemütsbewegungen und Charakterfehlern rechnen; sie sind vielleicht nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht weniger zahlreich als die richtigen Entscheidungen.
Vieles sowohl von Dauer wie von Wandlung erklärt sich aus dieser „Fehlbarkeit" des Menschen. Es kann durch sie etwas erhalten werden, was besser geändert würde, und etwas geändert werden, was besser erhalten bliebe. In der gotischen Ritterholmskirche in Stockholm, in der Könige, Staatsmänner und Heer-führer begraben liegen, befindet sich an der einen großen Wandfläche neben dem Eingang eine Inschrift in lateinischer Sprache, die aus dem Mittelalter stammt; sie lautet wie folgt:
Six fuerunt sunt eruntque waren, sind und causae malorum werden sein die Ursachen Suecia der Übel in Schweden proprium commodum Eigennutz latens odium verborgener Haß contemptus legum Verachtung der Gesetze negligentia communis Vernachlässigung des boni Gemeinwohls favor improvidus in untunliche Bevorzugung der Ausländer pertinax invidia in hartnäckiger Neid gegen die eigenen Mitbürger. Diese Inschrift will zunächst einmal feststellen, daß es innerhalb der menschlichen Gemeinschaft solche Erscheinungen gibt, und mahnen, daß damit immer zu rechnen ist; aber es wird auch festgestellt, daß es Übel sind, Laster, Erscheinungen, die nicht sein sollen, die das Zusammenleben erschweren. Es schwingt im ernsten Ton der Inschrift mit, daß das Gegenteil richtig und vernunftgemäß ist. Die Passage über die Ausländer spiegelt das Ressentiment gegen ihre häufige Berufung in hohe Staatsämter im damaligen Schweden wider. Im späteren „nationalen" Europa wurde dann das Umgekehrte Mode, nämlich die Ausländer zu benachteiligen oder — wie man heute sagt — zu diskriminieren, und es bedarf zum Beispiel eines gewaltigen Aufwands von Verordnungen und Richtlinien in der EWG, die Diskriminierungen aufzuheben und dadurch die Ausländer den Inländern gleich-zustellen. Der Sinn der Inschrift erklärt viel von der Geschichte der Menschheit und von dem heutigen Geschehen überall in der Welt, in den mensch-30 liehen Beziehungen, in der Wirtschaft, in den Verbänden, in den Institutionen aller Art, im Staate selbst und insbesondere von den Beziehungen zwischen den Staaten. Wir brauchen nur einen Blick auf weltpolitische Verhältnisse zu werfen, um die Inschrift auf Schritt und Tritt bestätigt zu finden. Mehr noch: es kann sogar mit der Fähigkeit des Menschen zu schlechten Taten oder Haltungen zielbewußte Politik gemacht werden; man erinnere sich nur an die Aufstachelung der Massen zum „Kollektiv-Haß" gegen bestimmte Gruppen und ausländische Mächte in Rot-China und anderwärts. Solche Feststellungen schockieren gar manche Leute, insbesondere die Jugend; sie erwartet von den Staatsmännern — und vom Staat — eher „Heiligkeit" — im ursprünglichen Wortsinn — als „Fehlbarkeit". Das ist eine sehr alte Sache. Schon der sehr kritische und realistische Konfuzius stellte als Idealbild des Herrschers und Staatsmannes den „Heiligen" auf — wohlgemerkt als höchstes Ideal. Er wußte sehr genau, daß Ideal und Wirklichkeit nur selten einigermaßen übereinstimmen, daß nur eine Annäherung an das Idealbild erwartet werden kann.
Der Mensch gibt sich aber offenbar nicht zufrieden mit Feststellungen über die Wirklichkeit. Sogar — oder besser gesagt — gerade eine rein wissenschaftlich, wie sie meint, fundierte Welt-und Staatsanschauung wie der Marxismus-Leninismus geht in ihrer Grundlehre davon aus, daß die Menschen einmal ohne Zwang die Regeln der kommunistischen Moral einhalten werden und der Staat dann absterben wird, daß die Menschen in einem vollendeten Kommunismus nicht mehr an Gütern aus dem Sozialprodukt entnehmen werden, als sie vernünftigerweise brauchen, und daß das geistige Leben aller Menschen völlig ohne Zwang mit der kommunistischen Ideologie übereinstimmen wird
Es ist kaum zu bezweifeln, daß viele Rückschläge und Fehlentscheidungen im kommunistischen Bereich selbst und gegenüber der übrigen Welt auf die — im Grunde genommen verwunderliche — Verkennung der menschlichen Natur zurückzuführen ist, die schließlich und endlich aus den Erfahrungen der Jahrtausende recht gut bekannt ist, aus Erfahrungen, die die alten Philosophien und Religionen meist ganz gut oder wenigstens einigermaßen in ihre Gedankensysteme und ihre praktische Menschenführung einzuordnen vermochten.
Schlußbetrachtung
So wenig im allgemeinen der Einzelmensch sich klar wird und klar werden kann, welches seiner Motive intellektueller oder emotioneller Art für eine Handlung oder eine Entscheidung schließlich und endlich ausschlaggebend sind, so wenig wird man jeweils volle Klarheit über die Motive in den Entscheidungen der Staaten, das heißt der Staatsmänner und der Personen, die auf sie. einwirken, gewinnen. Die Geschichte der Völker wird bekanntlich immer wieder neu — und anders — geschrieben, und die Charakterbilder schwanken. Welch ein Teufel war für manche Geschichtsschreiber und ihre Nachbeter früher zum Beispiel der Fürst Metternich — er wird jetzt menschlicher gesehen. Auch zu ihren Lebzeiten werden manche der Charakter-Staatsmänner verschieden gedeutet.
Mit den vorhergehenden Betrachtungen sind die Beurteilungsmaßstäbe keineswegs erschöpft; es wäre vielleicht von Nutzen, daß sich einmal Praktiker und Gelehrte mit der Rolle der Mißverständnisse, der Vorurteile, der „Tabus", das heißt der Angelegenheiten, über die man gar nicht oder zeitweise nicht spricht, oder der „Verdrängungen", das heißt der Nichtbewältigung früherer Vorgänge im öffentlichen Leben, oder auch mit den „Ressentiments" auf frühere zwischenstaatliche Vor-gänge, die ja manchmal jahrhundertelang nachwirken, beschäftigen.
So unentwirrbar das Dickicht der Motive und Einstellungen sein mag, so sehr die Entscheidungen der Staatsmänner und Politiker durch Vorstellungen, Ideologien, Philosophien beeinflußt sind — ohne sie kommt offenbar niemand aus und ein großer oder kleiner Kern der „wahren", aber nicht voll erkennbaren Wirklichkeit ist wohl in allen —, so sehr Eigeninteresse der Staaten und manchmal auch ihrer Lenker, übermäßiger Machtwille, ja hier und da sogar Böswilligkeit auf das Geschehen einwirken, auf längere Sicht gesehen wird das Weltgeschehen bestimmt durch eine Art „Notwendigkeit", durch ein Parallelogramm der Kräfte, eine Art balance of power. Diese ist letzten Endes aus dem Wesen des Menschen abzuleiten, das auf die Gemeinschaft angelegt und angewiesen, aber nicht ganz von ihr erfaßbar ist. Teils willig, teils unwillig werden schließlich doch die Gegebenheiten akzeptiert. Es lohnt sich, hierzu die Schlußworte von Milovan Djilas in seinem Buch „Die neue Klasse" nachzulesen.
Bei aller menschlichen Fehlbarkeit sind schließlich ausschlaggebend die immer wieder sich erneuernden Kräfte und Gegenkräfte des menschlichen Zusammenlebens in Gegenseitigkeit und Solidarität, die Wirkung der Erkenntnis und die Macht der Gewöhnung in ihrer vielfältigen Mischung und Verklammerung. Dauer und Wandlung sind durch sie bedingt. Beide sind wohl auf lange Sicht gesehen gleichgewichtig.
Wir sind uns nicht genügend dessen bewußt, daß weitaus das meiste unseres geistigen und materiellen Instrumentariums und das meiste von unseren staatlichen, rechtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Einrichtungen, der Großteil unserer Gedanken und Vorstellungen von vorhergehenden Generationen ererbt worden ist. Jedes Zeitalter läßt einiges von diesem Erbe fallen, fügt manches hinzu und überläßt es schließlich den nachfolgenden Generationen.
Aber dieser Prozeß der Veränderung in diesem Erbe ist nicht gleichmäßig; in manchen Zeiträumen gehen die Wandlungen sehr langsam, in manchen aber sehr stürmisch, ja gewaltsam vor sich. Unser 20. Jahrhundert, das Jahrhundert von zwei Weltkriegen, birgt in sich wohl mehr Wandlung als Dauer — auch für die noch verbleibenden Jahrzehnte.