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Die britischen Wahlen vom 15. Oktober 1964 | APuZ 2/1965 | bpb.de

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APuZ 2/1965 Die britischen Wahlen vom 15. Oktober 1964

Die britischen Wahlen vom 15. Oktober 1964

Joachim-Friedrich Kahn

Geschichtlicher Hintergrund und aktuelle Bedeutung

Ergebnisse der Meinungsbefragungen vom 8. Oktober 1964 verglichen mit dem Wahlresultat

Man kann Wahlen je nach Laune, Temperament und politischer Einstellung positiv oder negativ beurteilen. Ein zynischer Sozialist wie George Bernard Shaw konnte sagen, daß in der englischen Demokratie die Wahl durch viele Untaugliche an die Stelle der Ernennung durch wenige Bestechliche tritt, während ein ernsthafter konservativer Whig wie Edmund Burke meinte, das Wahlrecht sei das Wesen der Verfassung. In demokratischen Staaten, das heißt in Staaten, in denen es mehrere Parteien gibt, die um die Regierungsgewalt kämpfen, ist das periodische . Wählen'zwischen den angebotenen Parteien durch die Stimmberechtigten selbstverständlich, weil man in unseren heutigen Massen-staaten wenigstens dies eine Recht den erwachsenen Bürgern zugestehen will, alle paar Jahre zu sagen, ob sie weiterhin der bisherigen Regierung das Vertrauen schenken wollen oder ob sie die Opposition oder eine andere Partei an der Regierung sehen möchten. Da in einer Demokratie, die diesen Namen verdient, der Wechsel einer Regierungspartei nicht das Ende der bisherigen Grundlagen des Staates bedeutet, ist es nicht eine Katastrophe, wenn die Oppositionspartei ans Ruder kommt, selbst wenn man während des Wahlkampfes oft diese Meinung zu hören bekommt.

Insofern ist es gut, wenn die Parteien mit Programmen vor die Wählerschaft treten, die ihnen die Möglichkeit geben, zu vergleichen und durch ihre Stimme zu urteilen, welches sie verwirklicht sehen wollen. Der ideale Bürger wählt so, wie er es am besten für das ganze Volk hält; der wirkliche Wähler wird überwiegend für sich selbst wählen, das heißt, er wird derjenigen Partei seine Stimme geben, von der für sich, seine Familie, seinen Beruf, seine Interessengruppen, seinen Stand, seinen Glauben den größten Vorteil erwartet. Wahlen sind ein kurzer Moment im Leben eines Volkes. Aber sie sind das Ende einer langen Entwicklung, nämlich einer gewöhnlich jahrelangen Regierung durch eine oder mehrere Parteien. In diesen Jahren hat die Diskussion zwischen Regierungspartei und Opposition (sowie auch die Presse) dem Volke klargemacht, was die Parteien wollen, und die Regierungspartei hat gezeigt, ob sie mit den Problemen der Wirtschaft, des Verkehrs, der Stellung des Landes in der Welt, der Sorge um Erziehung, Gesundheit, Wohlstand, Arbeit etc. einigermaßen fertig geworden ist oder nicht. Je nach dem wird die Stimme abgegeben.

Nun kommt noch eine bedeutende Erkenntnis hinzu, die man im Laufe der Jahre gemacht hat. Es gibt in politisch reifen Völkern vier Gruppen von Menschen: Konservative, Radikale, Unentschiedene und Uninteressierte. Wir werden diese Gruppen später noch genauer beobachten können. Im Augenblick genügt es zu sagen, daß die Konservativen im allgemeinen am Alten, überlieferten festhalten wollen, Neuerungen abgeneigt sind und ihnen nur zögernd zustimmen, wenn sie unabwendbar geworden sind. Die Radikalen dagegen sind Änderungen immer zugeneigt, wollen eine Reorganisation der Gesellschaft, lieben Experimente und wollen das Alte oft nur abstreifen, weil es alt ist. Die Unentschiedenen haben keine feste Meinung, sind Argumenten und emotionellen Beweggründen leicht zugänglich, bilden also für die Wahlen die interessanteste, aber auch gefährlichste Gruppe.

Interessant, weil an ihnen die Werbekünste der Parteien ausprobiert werden können, gefährlich, weil sie, ohne eine festfundierte oder auch nur gut informierte politische Meinung zu haben, auf den Ausgang der Wahlen einen unverhältnismäßig großen Einfluß ausüben, besonders — wie wir sehen werden — in einem Wahlsystem wie dem britischen. Die letzte Gruppe, die Uninteressierten, bleibt gewöhnlich den Wahlen fern, es sei denn, die Wahlpropaganda bringt es fertig, sie zu ängstigen und zu überzeugen, daß ein Fernbleiben von der Wahlurne für sie sehr unangenehme Folgen haben könnte, sei es wegen des unverantwortlichen Programmes einer Oppositionspartei oder einer neuen extremen Partei. Nun gibt es in jeder modernen Massenpartei konservative und radikale Elemente. Man spricht dann von dem linken oder rechten Flügel einer Partei, wobei man beachten muß, daß bei einer radikalen Partei wie der Labourpartei der rechte Flügel in der Regel konservativ ist, während bei einer konservativen Partei oft der extrem rechte Flügel radikal sein kann. Außerdem werden persönliche Interessen unabhängig von konservativer oder radikaler Neigung die Parteizugehörigkeit bestimmen. Da Politik und Regierung nicht im luftleeren Raum schweben, sondern Pläne auf lange Sicht vorbereitet und Entscheidungen von Tag zu Tag getroffen werden müssen, sind die Möglichkeiten einer Regierung oft in solchem Maße beschränkt, daß eine Regierungspartei, die neu an die Macht kommt, Maßnahmen, die sie als Oppositionspartei kritisiert hatte, dennoch weiterführen muß. In gut funktionierenden Demokratien sind die Unterschiede zwischen den Parteien zwar wichtig, aber nicht grundlegend, so daß bei Regierungswechsel die neue Regierung ohne große Schwierigkeiten weiterarbeiten kann. Wahlen sind also — wie schon angedeutet — kein Ereignis, das allein für sich betrachtet werden kann, sie haben nur einen Sinn oder eine Bedeutung in Verbindung mit mindestens einer vorausgegangenen Regierungsperiode und den vorigen Wahlen. Man wird Wahlen interpretieren als Urteilsspruch des Wahlvolkes über die Erfolge, Mißerfolge, Fehler, Skandale, Unterlassungen, die während der Regierungsperiode zwischen zwei Wahlen geschehen sind. Man wird weiter in dem Ergebnis einer Wahl eine Tendenz sehen wollen, wenn zum Beispiel die für eine Partei über eine Reihe von Wahlgängen abgegebenen Stimmen laufend gesunken sind. Es ist deshalb nötig, etwas weiter auszuholen und die Wahlen vom 15. Oktober 1964 in einen Rahmen zu stellen, der die Möglichkeit gibt, sie als ein Ergebnis in einer geschichtlichen Epoche zu sehen, die etwa um 1945 beginnt und wahrscheinlich noch nicht zu Ende ist.

Aber zuerst ein paar Worte zum Verständnis des britischen Wahlsystems.

Das britische Wahlsystem

Sitzverteilung nach Ländern

Erst seit 1928 gibt es im Vereinigten Königreich (Großbritannien, bestehend aus England, Wales, Schottland und Nordirland) ein allgemeines und gleiches Wahlrecht für alle britischen Untertanen über 21 Jahren. 1918 hatten alle Männer und einige Frauen über 30 Jahre das Wahlrecht erlangt, und erst 1928 war dem Rest der Frauen dieses Recht zugestanden worden. Es war das Ende einer Entwicklung, die fast hundert Jahre gedauert hatte. 1832 (Bürgertum), 1867 (Handwerker), 1884 (Landarbeiter) waren die Stationen. Aber selbst 1928 hatte sich das Prinzip: ein erwachsener Mensch = eine Stimme nicht restlos durchgesetzt; das geschah erst 1948 mit der Abschaffung des Unternehmerwahlrechtes (ein Unternehmer hatte in dem Wahlkreis seines Geschäftssitzes eine zusätzliche Stimme), des Universitätswahlrechts (12 Universitätssitze wurden durch Graduierte gewählt) und der zwei Parlamentsmitglieder-Wahlkreise. Obgleich heute grundsätzlich jeder wahlberechtigte Bürger (oder Untertan) eine und nur eine Stimme hat, macht das britische Wahlsystem dies illusorisch. In Großbritannien besteht das Einmannwahlkreissystem (E. W. K.), das heißt, das Land ist in eine Anzahl von Wahlkreisen aufgeteilt, die der Zahl der zu wählenden Mitglieder des Parlaments gleichkommt. Augenblicklich ist die Zahl 630. In jedem Wahlkreis wird ein Mitglied gewählt. Jeder Wahlkreis soll „so weit wie möglich" die gleiche Anzahl von Bewohnern resp. Wahlberechtigten haben. Da eine Neueinteilung der Wahlkreise nach diesem Prinzip sehr kostspielig und langwierig ist, wird diese nur alle 10 bis 15 Jahre vorgenommen; das letzte Mal 1955 und das nächste Mal vor 1969. Der Charakter des Landes bringt es mit sich, daß einige Gebiete stark zunehmen, besonders Stadt-und Industriegebiete, Neugründungen von Städten im Süden, andere dagegen stagnieren oder nehmen ab (Norden, Schottland und Wales). Außerdem wünscht man, daß ein Wahlkreis möglichst historisch, traditionell, wirtschaftlich, sozial und kulturell eine Einheit darstellt. Man zerreißt oder verbindet ungern Gebiete, die über lange Zeit sich als Einheit gefühlt haben, es sei denn, es wird unumgänglich notwendig. Eine solche Notwendigkeit wird sich in wachsenden Städten eher ergeben als auf dem Land. Man hat also das Prinzip der „möglichst gleichen" Bevölkerungszahl der Wahlkreise sehr weit gefaßt, so daß die Mehrzahl der Wahlberechtigten pro Wahlkreis sich zwischen 40 000 und 80 000 bewegt, wobei Extreme wie 26 000 und 105 000 vorkommen. Dies wird von den Briten und vor allem von den großen Parteien nicht unbedingt als ungerecht angesehen. Viel eher wird die Teilung eines übergroßen Wahlkreises in zwei oder die Zusammenlegung schrumpfender Wahlkreise mit Mißtrauen betrachtet. Der Grund ist leicht einzusehen. Ein Wahlkreis, der durchgängig einer Partei große Mehrheiten gegeben hat, kann durch Zerlegung plötzlich der Gegenpartei einen Sitz mehr verschaffen, wenn die eine Hälfte des Wahlkreises eine Mehrheit der Gegenpartei hat. Andererseits ist es im Falle der Zusammenlegung zweier Wahlkreise möglich, daß er nun der Gegenpartei zufällt, die andere Partei also zwei Sitze verliert; denn gewählt ist in jedem Wahlkreis derjenige Kandidat, der die meisten Stimmen bekommen hat. Wenn nur zwei Parteien Kandidaten aufstellen, so ist wenigstens derjenige gewählt, der die absolute Mehrheit der Stimmen, das heißt also über 50 Prozent erhält. Kämpfen drei Kandidaten um einen Sitz in einem Wahlkreis, so ist es möglich und geschieht es häufig, daß der Sieger mit nicht viel mehr als 35 Prozent gewählt ist. Im ersten Fall sind 49 Prozent aller Stimmen vollkommen wertlos, im zweiten 65 Prozent! Bei einer noch größeren Anzahl von Kandidaten verringert sich der notwendige Prozentsatz entsprechend. Dies zeigt, daß dieses Einmannwahlkreissystem nur dann vernünftig arbeitet, wenn es nur zwei Parteien gibt. Grundsätzlich geht die Tendenz in Großbritannien auch dahin, ein Zweiparteiensystem zu erhalten.

Die Zähigkeit, mit der die einstmals große liberale Partei sich nach ihrer Niederlage durch die Labourpartei in den zwanziger und dreißiger Jahren am Leben erhalten hat, ist bewundernswert, aber es ist durchaus nicht sicher, ob sie sich eines Tages wieder zu einer großen Partei durchringen kann. Im Augenblick erschwert sie unter Umständen nur das, was von den Verfechtern des Einmannwahlkreissystems als Hauptargument vorgebracht wird, nämlich, daß das System starke oder besser solide Regierungen möglich macht. Das Verhältniswahlrecht, das nach dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen Ländern eingeführt wurde, begünstigt einen Vielparteienstaat, der — wie Frankreich und Deutschland (in der Weimarer Republik) zeigten — selten kräftige Regierungen hervorbringt und eine stabile Staatsform garantiert. Die augenblickliche Konzentration auf zwei bis drei Parteien in der Bundesrepublik trotz Verhältniswahlrecht ist teilweise auf die Fünf-Prozent-Klausel zurückzuführen. Das Verhältniswahlrecht wird in Großbritannien verständlicherweise von Mitgliedern kleiner Parteien — auch den Liberalen — befürwortet; es hat jedoch augenblicklich keine Aussicht auf Erfolg, da die beiden großen Parteien gelegentliche Niederlagen in Kauf nehmen, so lange sie hoffen dürfen, daß bei den nächsten Wahlen der Ausschlag nach der anderen Seite ihnen zur alleinigen Macht verhelfen wird. (1951 hatte die Labourpartei mehr Stimmen als die siegreiche konservative Partei; 1945 wurden die Konservativen das erste Mal durch das System der E. M. W. -Kreise wesentlich benachteiligt. Siehe Tabellen auf S. 24.)

Da es ganz selten vorkommt, daß eine Partei 50 Prozent und mehr der Stimmen erhält, wären beim Verhältniswahlrecht fast nie Regierungen mit absoluter Mehrheit der Sitze möglich gewesen. Es wird mit Recht bestritten, daß starke Regierungen stets gute Regierungen sind, aber man darf wohl sagen, daß eine arbeitsfähige Regierung auf jeden Fall einer arbeitsunfähigen vorzuziehen ist. Weiterhin wird behauptet, daß auch das britische Wahlsystem nicht immer starke Regierungen hervorbringt, zum Beispiel geschah das 1924, 1929, 1950, 1951 nicht. Dazu ist zu sagen, daß es sich in den zwanziger Jahren um eine Übergangsperiode handelte; die Liberalen zerfielen während ihres Niederganges in mehrere Gruppen, und die Labourpartei zerfiel, weil sie noch nicht die zum Aufstieg notwendige politische Breite und Selbstsicherheit errungen hatte. Zu den Ergebnissen in den Jahren 1950/51 dagegen muß man sagen, daß der Sieger zwar nur eine minimale Mehrheit an Sitzen aufwies, aber immerhin doch die absolute Mehrheit errang und daß ebenso wie 1964 wenigstens der Versuch einer stabilen Regierung gemacht werden konnte. Bis 1950 gab es Wahlkreise, die als so sicher für eine Partei — gewöhnlich für die konservative — galten, daß sie ohne Kampf dem Kandidaten der Mehrheitspartei überlassen wurden. Wenn heute selbst in aussichtslosen Wahlkreisen ein Gegenkandidat oder sogar zwei aufgestellt werden, so geschieht es, um den Wählern und der eigenen Partei zu demonstrieren, daß man, selbst wenn man nicht viele Sitze gewonnen hat, doch einen großen Anklang im Volk haben kann.

So sagte Gaitskell nach den verlorenen Wahlen von 1959, bei denen seine Partei das vierte Mal eine Verringerung der Sitzzahl hinnehmen mußte und man von einem Zerfall der Labourpartei sprach, daß die Labourpartei immer noch fast die Hälfte der Wähler hinter sich habe. (Sie erhielt 43, 8 Prozent der abgegebenen Stimmen.)

D. E. Butler sagte in seinem Buche über das britische Wahlsystem, daß das System kein blindes Glücksspiel sei. Das ist richtig: die Zahl der Sitze für die beiden großen Parteien steht in einem gewissen Verhältnis zu den Stimmen, wenn auch nicht in einem mathematisch genauen wie bei der Verhältniswahl; die in den meisten Wahlkreisen stärkste Partei wird bei einem Drei-Parteien-Kampf (Konservative, Liberale, Labourpartei) eine prozentual größere Sitz-als Stimmenzahl aufweisen (siehe Anhang). Dies ist eines der wichtigsten Resultate des E. W. K. -Systems. Dadurch werden Koalitionen vermieden; die Verantwortung liegt bei der Partei, die allein die Regierung bildet, und nicht bei einer kleinen Partei, die mit wenig Stimmen den Ausschlag nach der einen oder anderen Seite geben kann. Die alleinige Verantwortung ist notwendig, um bei der nächsten Wahl den Wählern die Möglichkeit zu geben, klar und deutlich zu entscheiden, ob die Regierungspartei das gell leistet hat, was man erwartete, oder nicht.

Wenn die Antwort negativ ausfällt, wählt man die Alternativregierung, das heißt die Oppositionspartei. Wie steht es aber nun, wenn eine dritte Partei eine größere Anzahl von Stimmen bekommt, wie es zum Beispiel bei der liberalen Partei zur Zeit wieder der Fall ist? Das ist ein Warnungszeichen für die beiden großen Parteien, daß sie in ihren Handlungen und Entscheidungen nicht mehr genügend den Zug der Zeit und die Aspirationen eines wichtigen Teils der Bevölkerung verkörpern und daß sie entweder daraus die Konsequenzen ziehen oder fortlaufend Stimmen und schließlich auch Sitze an die neue Partei verlieren müssen. Es ist weiterhin im Anhang (Seite 24) zu sehen, daß die konservative Partei fast regelmäßig einen größeren Prozentsatz an Sitzen als an Stimmen aufweist, während die Labourpartei nur dann einen höheren Prozentsatz an Sitzen aufweist, wenn sie an der Regierung ist. Dies erklärt sich daraus, daß die konservative Partei in ihrer Stimmenzahl gleichmäßiger über das ganze Land verteilt ist, so daß sie häufiger als die Labourpartei mit einer Minderheit der im Wahlkreis abgegebenen Stimmen den Parlamentssitz erringt, übrigens hat sich dies bei den letzten Wahlen 1964 etwas geändert; die Labourpartei hat mit auch prozentual weniger Stimmen (46, 4: 44, 1) als 1950 den etwa gleichen Prozentsatz an Sitzen erlangt, das heißt, pro Stimme einen größeren Anteil an Sitzen. Doch wird wahrscheinlich die nächste Bereinigung oder Neueinteilung der Wahlkreise den Konservativen wieder einen Vorteil geben. Die neuen Wahlkreise, meist in Städten, werden aller Voraussicht nach konservative Mehrheiten haben, da ihre Bewohner überwiegend der Mittelklasse angehören, die der konservativen Partei den Vorzug geben. Die Wahlen wären langweilig, ja überflüssig, wenn man von vornherein wüßte, wer in den einzelnen Wahlkreisen die Mehrheit erringen wird. Tatsächlich ist dies aber in der Mehrzahl der Wahlkreise der Fall. 1964 sind nur bei 70 Wahlkreisen aus 630 die Sitze einer anderen Partei zugefallen. Dies genügte für einen Sieg der Labourpartei!

Der Wahlkampf wird nur dadurch interessant und spannend, daß eine gewisse Anzahl von Wahlkreisen eine Bevölkerung hat, die nach ihrer Parteizugehörigkeit oder wenigstens ihrer Wahlgewohnheit so gleichmäßig verteilt ist, daß man nie weiß, wer in ihnen den Sieg erringen wird. Dies sind die marginal constituencies, die unsicheren Wahlkreise, in denen nur eine kleine Anzahl von Stimmen, nur ein geringe Verschiebung der anderen Partei den Sieg geben kann. Je nach Größe des Wahlkreises und der Vielschichtigkeit der Bevölkerung, besonders in Städten, sind es Wahlkreise, die bei der letzten Wahl einer Partei den Sieg mit einer relativen Mehrheit von ein-bis fünf-oder sechstausend Stimmen gegeben haben. Je nach Ausmaß des Stimmungsumschwungs im Volke können 60 bis 100 oder sogar 200 Sitze zu solchen unsicheren Sitzen werden. Im letzteren Fall spricht man von einem Erdrutsch, der sehr selten vorkommt.

Ein weiterer Vorteil des E. K. W. -Systems sind die sogenannten Zwischenwahlen, die " by-

elections". Stirbt ein Parlamentsmitglied, legt es seinen Sitz nieder oder wird ins House of Lords befördert, so wird in diesem Wahlkreis eine Wahl abgehalten, die der Regierung und der Opposition je nach Ergebnis einen Hinweis gibt, wie die Stimmung seit den allgemeinen Wahlen sich gewandelt hat. Bleibt der Wahlkreis zum Beispiel der Regierung mit ziemlich unveränderter oder sogar größerer Mehrheit treu, so nimmt man an, daß die Regierung eine allgemeine Wahl wieder gewinnen würde. Verliert aber die Regierungspartei einen Sitz bei einer solchen Zwischenwahl, so wird man sich bei der Partei überlegen, warum die Popularität der Regierung gelitten hat, und unter Umständen Schritte unternehmen, diese wiederherzustellen. Die Parteien haben auf diese Weise stets die Hand auf dem Puls des Wahlvolkes. Ist — wie bei den Wahlen vom 15. Oktober 1964 — die Mehrheit der Regierungspartei sehr gering, so können unter Umständen einige Niederlagen bei Zwischen-wahlen die Regierung stürzen.

Geschichtlicher Überblick 1945— 1964

Altersgliederung

1945, das Ende des Weltkrieges, bedeutete einen neuen Anfang im Leben der britischen Parteien. Seit zehn Jahren hatten keine Wah-len stattgefunden. Das Unterhaus war 1935 gewählt worden — ein großer Sieg für die Konservativen. 431 Sitze waren ihnen zugewv denen nur 154 der Labourpartei und 21 der Liberalen gegenüberstanden. Aber selbst d(ieser Sieg war kleiner als der vorangegangc ene im Jahre 1931, wo die Konservativen 5f 21 Sitze gegen nur 52 für die Labourpartei u 1 nd 37 für die Liberalen errangen. Diese enormr en Mehrheiten werden etwas verständlicher, enn man feststellt, daß diese Jahre das Ende ee iner Entwicklung darstellten. Nach dem EE rsten Weltkrieg war die einstmals große liberale Partei abgesunken, hatte den Kampf um die Stellung als zweite große Partei, das heißt als offizielle Oppositionspartei, verloren, ohne daß die Labourpartei in der Lage gewesen wäre, ihr Erbe zu übernehmen. Die Folge war eine Zersplitterung der Parteien in den zwanziger Jahren, die zu Regierungskoalitionen zwang, was den Briten nicht zusagt. Der große Labour-Führer Ramsay-Macdonald, der bisher einzige Labour-Staatsmann, der eine große charismatische Gabe besaß, führte seine Partei zu weit nach rechts, so daß sie auseinanderfiel. Der rechte Flügel vereinigte sich mit den robusten und soliden Konservativen, ebenso wie die Rechte der liberalen Splittergruppen. Der Rest der Labourpartei erholte sich nur langsam; aber die durch den Krieg erzwungene zehnjährige Wahlruhe und die Teilnahme der führenden Labour-Politiker in der Kriegs-Koalition unter der Führung des konservativen Winston Churchill hatten ihnen Gelegenheit gegeben, sich zu konsolidieren.

Trotzdem, war es eine Überraschung, daß aus den Wahlen von 1945 die Labour-Partei mit einem Sieg hervorging, der dem der Konservativen von 1935 fast gleichkam. Es war das erste Mal, daß die Labourpartei einen klaren Wahlsieg errungen hatte. In diesem ersten Nachkriegsparlament war die Labourpartei mit 393 gegen 213 der Konservativen und nur 12 der Liberalen vertreten. Allerdings war auch dieser Sieg nur mit 48 Prozent der abgegebenen Stimmen errungen worden, so daß mehr als die Hälfte der Wähler gegen Labour gestimmt hatte. Aber bei dem britischen Wahlsystem ist es eigentlich die Regel, daß keine Partei die absolute Mehrheit erringt, sobald mehr als zwei Parteien am Wahlkampf teilnehmen. Die Gründe für diesen Sieg mögen in einer Reihe von Umständen gelegen haben. Der Krieg hatte zwischen Arbeitern und mittlerem Bürgertum ein besseres Verständnis gebracht, als es vorher je möglich gewesen war. Die Briten waren nach den großen Entbehrungen und Opfern geneigt, einem System ihre Stimme zu geben, welches ihnen Sicherheit von der Wiege bis zur Bahre versprach und mit kräftiger Staatshilfe den Wiederaufbau der zerrütteten Wirtschaft in Aussicht stellte. Außerdem hatte Churchill während des Wahlkampfes einige taktlose Bemerkungen gegen seine früheren Koalitionsgenossen fallen lassen, während doch eine sozialistische Regierung nun auch der Mittelklasse salonfähig erschien. Nicht zuletzt war 1945 das kommunistische Rußland, der „heldenhafte Bundesgenosse", in Großbritannien durchaus populär.

Die bitteren Erfahrungen des Kalten Krieges lagen noch in der Zukunft.

Aber die Popularität der Labour-Regierung unter dem Premierminister Clement Attlee — einem kompetenten Politiker, dem aber jeglicher politischer Charme oder jede Redner-gabe abging — sank sehr rasch dahin. Große wirtschaftliche Schwierigkeiten, denen Großbritannien nicht mehr gewachsen war, standen einem erwarteten, besseren, sorgloseren und freieren Leben hemmend im Wege. Am 2. September 1945 hatten die Amerikaner die Pacht-und Leihhilfe für beendet erklärt. Fünf Millionen Häuser waren während des Krieges zerstört oder beschädigt worden; 18 Millionen Tonnen Schiffsraum hatten die Feinde versenkt. Großbritannien war trotz des Sieges ein wirtschaftlich und finanziell zerrüttetes Land. Dazu kamen zwei Millionen Arbeitslose und Ausfuhrschwierigkeiten, die eine rasche Verbesserung der Lage nicht zuließen. Im Jahre 1949 mußte das Pfund abgewertet werden. Die Labour-Regierung ging an die in ihrem Programm vorgesehenen und bei der Mittelklasse unpopulären Verstaatlichungen. Die Bank von England, die Kohlenindustrie, Elektrizität, Gas und das öffentliche Verkehrswesen wurden weitgehend verstaatlicht, und auch die Stahl-und Eisenindustrie sollten verstaatlicht werden, wogegen jedoch das House of Lords energisch Stellung nahm. Diese Verstaatlichungen waren selbst bei den Arbeitern nicht gerne gesehen, da die alten Direktoren blieben, die Löhne nicht stiegen und außerdem eine unwillkommene Zunahme der Bürokratie sie verärgerte. Den infolge des Waren-und Lebensmittel-mangels blühenden schwarzen Markt sah man als Wirkung der Labour-Planwirtschaft an. Zwar wurde viel für die Erziehung und die sozialen Einrichtungen getan — es gab freie ärztliche Behandlung und freie Arzneimittel —, aber rigorose Rationierung und steigende Preise waren nicht dazu angetan, die Regierung beliebt zu machen. Die öffentliche Meinung war nicht in der Lage, die Schwierigkeiten zu sehen, sondern beurteilte die Regierung nur nach dem Mißerfolg, den Lebensstandard zu heben.

Im Jahre 1950, als die Wahlen nahten, waren viele der ewigen Beschränkungen und der fast mönchischen Strenge der Lebenshaltung überdrüssig. Unter diesen Umständen war es vielleicht noch erstaunlich, daß die Labourpartei einen ganz knappen Sieg erringen konnte: 315 Sitze gegen 298 der Konservativen und 9 der Liberalen aus einer Gesamtzahl von 625 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit 84 Prozent ungewöhnlich hoch. Die Konservativen hatten drei Millionen Stimmen gewonB nen, die Liberalen eine halbe Million, gegen nur 11/2 Millionen neuer Stimmen iür die Labourpartei. Von Februar 1950 bis September 1951 konnte sich die Labourregierung trotz der kleinen Majorität und schwerer Krisen selbst in der eigenen Partei noch halten. Krankheit und Todesfälle in der Führung der Labourpartei bestimmten aber Attlee zur Auflösung des Parlaments im September 1951. Die Konservativen errangen einen knappen Sieg, der aber groß genug war, um eine Regierung zu bilden: mit 321 Sitzen gegen 296 der Labourpartei und nur 6 der Liberalen hatten sie eine genügend große Mehrheit, um ohneSorge einer normalen Legislaturperiode entgegenzusehen. Aber die Labourpartei hatte über 200 000 Stimmen mehr als die Konservativen erhalten. Sie bekam fast 14 Millionen Stimmen, die Konservativen nur 13, 7 Millionen. Die Diskrepanz zwischen Stimmen und Sitzen erklärt sich daraus, daß die für die Konservativen abgegebenen Stimmen gleichmäßiger über die 625 Wahlkreise verteilt waren, während Labour in einigen Wahlkreisen riesige Mehrheiten erlangte und auf diese Art ihre Stimmen „verschwendete". Statistiker stellten fest, daß Labour eine halbe Million Stimmen mehr benötigte, um die gleiche Anzahl von Sitzen wie die Konservativen zu erhalten.

Churchill wurde mit 77 Jahren wieder Premierminister. Die Regierungspolitik der Konservativen unterschied sich nur wenig von der bisherigen; die Möglichkeiten waren begrenzt: die wirtschaftliche Lage war nach wie vor prekär, aber der Lebensstandard stieg langsam, Nahrungsmittel und Waren kamen in größerem Maße als zuvor auf den Markt, Großbritannien erholte sich allmählich von den Folgen des Krieges, und trotz Störungen durch Streiks stieg die Popularität der Regierung an. Die konservative Partei gab wenigstens nach außen hin den Eindruck einer geschlossenen Gruppe, während in der Labourpartei Spaltungen zwischen dem linken und rechten Flügel in der Öffentlichkeit übel vermerkt wurden. Churchill feierte seinen 80. Geburtstag im November 1954 im Amt, trat aber im April 1955 zurück und übergab Anthony Eden die Leitung der Regierung. Dieser entschloß sich zu sofortigen Wahlen im Mai 1955. Das Ergebnis ließ auf politische Apathie und allgemeine Zufriedenheit der Bevölkerung schließen. Beide Parteien verloren Stimmen: die Konservativen 400 000, die Labourpartei sogar 11/2 Millionen. Die Wahlbeteiligung war von 82, 5 Prozent auf 76, 8 Prozent gesunken. Die Konservativen hatten 23 Sitze dazugewonnen, die Labourpartei 18 verloren, obwohl die Gesamtzahl der Sitze von 625 auf 630 gestiegen war. Es war das erste Mal in Friedenszeiten, daß eine Regierungspartei ihre Sitzzahl noch vergrößern konnte. Eine kräftige und stabile Regierung schien für Eden garantiert.

Aber ein unglückliches außenpolitisches Manöver brachte Eden zu Fall. Im Jahre 1945 hatte die neue Labourregierung mit der Liquidierung des britischen Weltreiches begonnen. Sie war wegen des Krieges unvermeidlich geworden; Indien, Pakistan und Ceylon wurden unabhängig, entschieden sich aber überraschenderweise, Mitglieder eines an die Stelle des alten Empire tretenden Commonwealth zu werden. Es war klar, daß der verbleibende Rest des Kolonialreiches in absehbarer Zeit ebenfalls die Unabhängigkeit erlangen mußte. Großbritanniens Weltmacht war zu Ende, das Riesenreich sank langsam hinab zu der Stellung eines mittleren europäischen Staates. Aber viele Konservative konnten sich mit dieser Schrumpfung nicht abfinden. Das Suez-Abenteuer im Jahre 1956 ist auf mangelnde Erkenntnis der veränderten und verminderten Stellung Großbritanniens zurückzuführen. Nach der Entrüstung, die dieser Husarenritt in der Welt, im eigenen Lande und großen Teilen der eigenen Partei hervorrief, brach Edens Gesundheit zusammen, und er trat im Januar 1957 zugunsten Macmillans zurück.

Die Suez-Episode wurde erstaunlich rasch vergessen. Der neue Labourführer Gaitskell, der an die Stelle Attlees im Dezember 1955 getreten war, vermochte es nicht, das Fiasko von Suez politisch für die Labourpartei auszuwerten. Im Gegenteil verärgerten Streiks und Arbeitslosigkeit, die den nun wachsenden Wohlstand der breiten Bevölkerung störten, weite Kreise. Der sieben Wochen lang dauernde Omnibusstreik im Frühsommer 1958 trug zu einem Pendelausschlag zugunsten der Regierung bei. Denn wenn die Lebensdauer des Parlamentes sich dem Ende zuneigt, so schlägt das Wahlpendel, das durch dauernde Meinungsbefragungen immer vor dem Auge des Zeitungslesers steht, wieder von einer Begünstigung der Oppositionspartei zurück zur Regierung. Die Persönlichkeit des Premierministers Macmillan, in dem die Konservativen den geschicktesten Politiker seit Disraeli gefunden hatten und der im Fernsehen mit seiner unerschütterlichen Zuversicht das Vertrauen der Bevölkerung errang, trug zur Festigung der Stellung der Konservativen bei. In dem Haushalt vom April wurden die Steuern um dreihundert Millionen herabgesetzt. Außenpolitisch zeigte Macmillan seinen guten Willen, eine Entspannung zwischen West und Ost herbeizuführen durch seine Flüge nach Moskau, Paris, Bonn und Ottawa. Bittere Kolonialdebatten und Schwierigkeiten im jungen farbigen Commonwealth brachten eine gewisseVerlegenheit für die Regierung mit sich, die aber nicht bedeutend genug war, um die Wahlen, die für den 8. Oktober 1959 angesetzt wurden, zu beeinflussen, um so weniger, als außenpolitische Fragen selten die Wahlen beeinflussen. Der Wahlkampf war im allgemeinen gemäßigt, wurde schärfer gegen Ende zu, da die Konservativen nach anfänglicher Selbstsicherheit etwas ängstlicher wurden. Gaitskell machte einige taktische Fehler; er versprach höhere Sozialleistungen und gleichzeitig finanzielle Erleichterungen, was den Konservativen den Vorwurf unverantwortlicher Versprechungen leicht machte. Das Ergebnis rechtfertigte die Voraussage eines der klügsten konservativen Köpfe, Mr. McLeods, der als einziger an eine Vergrößerung der konservativen Majorität geglaubt hatte. An Stimmen erreichten die Konservativen die höchste Zahl, die sie je gehabt hatten: 13, 75 Millionen; das waren 440 000 Stimmen mehr als im Jahre 1955. Ihr prozentualer Anteil an den Gesamtstimmen war etwas gesunken durch das Anwachsen der Liberalen, die über 900 000 Stimmen dazu gewannen, ohne die Zahl ihrer Sitze (6) erhöhen zu können. Labourpartei Die mußte das zweite Mal eine Minderung ihrer Stimmenzahl, wenn auch nur um 200 000, hinnehmen, was aber infolge der größeren Wahlbeteiligung (78, 7 Prozent) ihren prozentualen Anteil an den Gesamtstimmen empfindlich herabsetzte, nämlich von 46, 3 auf 43, 8 Prozent. An Sitzen gewannen die Konservativen 366, was ihnen eine absolute Majorität von 100 Sitzen gab. Obwohl Gaitskell meinte, eine Partei, die nicht viel weniger als die Hälfte aller Stimmen erhalten habe, sei nicht hoffnungslos geschlagen, war man im Labourlager doch sehr gedrückt. Anschauungen, daß die Labourpartei sich grundlegend verändern, sich der Zeit anpassen und eventuell mit den Liberalen zusammengehen müsse, waren nicht nur vereinzelt zu hören. Befürchtungen oder Hoffnungen — je nach Parteizugehörigkeit —, daß die Konservativen vielleicht für eine Generation oder mehr an der Regierung bleiben würden, waren nicht selten. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine tiefgehende, dauernde Änderung im Wahl-verhalten der Bevölkerung sich anbahne, wurde ernsthaft erörtert. Wenn auch radikale Kreise (Labour und Liberale) die Devise der Konservativen „Ihr habt es noch nie so gut gehabt" ins Lächerliche zu ziehen versuchten, so war doch dieses wohlhabende Volk mit seinen Autos, Fernsehapparaten und Waschmaschinen den Warnungen der Opposition, daß die wirtschaftliche Lage, die Produktion und die Ausfuhr weit hinter der Deutschlands und Frankreichs zurückblieben, nicht zugänglich. Es gab noch Arme, aber es waren zu wenige, es gab Alte und Kranke, für die nicht richtig gesorgt wurde, aber deren Stimmen wogen die der gutverdienenden Arbeiter nicht auf. Zwischen 1959 und 1964 wurden 62 Zwischenwahlen in Wahlkreisen, deren Parlamentsmitglieder gestorben oder sonst ausgefallen waren, abgehalten. In 29 Fällen konnten die Konservativen ihre Sitze halten, aber einen Sitz gewannen die Liberalen von den Konservativen, fünf Sitze die Labourpartei von den Konservativen, während die Labourpartei nur einen Sitz an die Konservativen verlor. Das sah so aus, als ob nun endlich ein Umschwung zu erwarten wäre. Dies wurde auch durch die fortgesetzten Meinungsbefragungen (Gallup Polls usw.) bestätigt, die der Labourpartei einen Vorsprung bis zu 10 Prozent gaben. Aber ein solcher Umschwung gegen die Regierung zwischen den Wahlen war etwas Natürliches, was sich immer wiederholte. Nur schloß sich die Kluft zwischen Konservativen und Labour, je mehr man sich der nächsten Wahl näherte.

Die Jahre von 1959 bis 1964 brachten ein weiteres Ansteigen des persönlichen Wohlergehens in breiten Schichten des Volkes, wenn auch die wirtschaftliche Stellung des Vereinigten Königreiches sich nicht in dem Maße besserte, wie es notwendig erschien. Ein jährliches stetiges Anwachsen der Produktion um 4 Prozent wurde als Minimum angesehen, während in Wirklichkeit nur 21/2 Prozent erreicht wurden. Dies kümmerte den Verbraucher und den Arbeiter, der volle Lohntüten nach Hause brachte, nicht sonderlich, aber die Regierung sah doch, daß Großbritanniens Wirtschaft selbst zusammen mit dem Commonwealth gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht auf die Dauer konkurrenzfähig war. Die große Diskussion um den Beitritt zur EWG begann, endete aber nach dem Entschluß der Regierung, um Beitritt zu bitten, mit dem Veto de Gaulles Anfang 1962.

Die große Mehrzahl der Bevölkerung war für einen Beitritt zur EWG gewesen; aber die Labourpartei unter der Führung des nach dem Tode Gaitskells gewählten H. Wilson war dagegen und wollte sich mehr auf das Commonwealth stützen. Das Problem, wie man die britische Wirtschaft zum Gesunden bringen könnte, blieb nach wie vor ungelöst. 1962, während der Kuba-Krise, wurde bestätigt, was vielen schon klar gewesen, daß Großbritannien in der Weltstrategie des Kalten Krieges kein ausschlaggebendes Gewicht mehr besaß. Macmillan konnte das nicht hinnehmen. Im Dezember 1962 schloß er das Nassau-Übereinkommen mit den Vereinigten Staaten über Polaris-Unterseeboote, das Großbritannien ein unabhängiges Abschreckmittel geben sollte. Außenpolitisch hatte Macmillan noch einen Achtungserfolg, als am 25. Juli der Vertrag über den Atomversuchsstop geschlossen wurde, für den er lange gearbeitet hatte. Aber im übrigen war 1963 für ihn ein Unglücksjähr. Die Vassalund Philby-Spionage-Affären ließen einen Mangel an der Funktion der Sicherheitsdienste erkennen und einen mangelnden Kontakt zwischen diesen und dem Premierminister. Der Profumo-Skandal im Juni mit seinen weiten Verzweigungen erschütterte die konservative Partei und in ihr Macmillans Stellung. Seine Unerschütterlichkeit und sein Mut hätten ihm wohl trotzdem noch erlaubt, seine Partei — wie er es oft ausgesprochen hatte — in den Wahlkampf von 1964 zu führen, wenn er nicht am 8. Oktober plötzlich erkrankt wäre. Da er nun gezwungen war, die Führung abzugeben, mußte die konservative Partei, die gerade (am 9. Oktober) ihre Parteikonferenz in Blackpool begann, den Kampf um die Nachfolgerschaft vor den Augen der Öffentlichkeit führen, was ihr durchaus nicht an-genehm war. Die Partei vermochte sich nicht zu einigen. Lord Hailsham (heute Mr. Hogg) hatte die Parteiorganisationen in den Wahlkreisen hinter sich, R. A. Butler die konservative parlamentarische Gruppe. Macmillan entschied vom Krankenbett aus den Kampf zugunsten eines Außenseiters, Lord Home, dem bisherigen Außenminister, von dem eine Tageszeitung anläßlich seiner Ernennung zum Außenminister gesagt hatte, es sei die erstaunlichste Entscheidung, seit Caligula sein Pferd zum Konsul gemacht hatte. Aber Lord Home, der seinen Titel ablegte und als Sir Alec Douglas Home wieder ins Unterhaus einzog, zeigte sich als wesentlich fähiger und gewandter, als seine Feinde gehofft, seine Freunde gefürchtet hatten. Sir Alec Douglas Home mußte den Wahlkampf mit fähigen Helfern (Butler, Maudling, Heath, Joseph etc.) gegen Wilson führen, dem es gelungen war, die Einheit seiner Partei wiederherzustellen. Lord Home zögerte so lange wie möglich mit der Bestimmung des Wahltages, was durchaus angebracht war, denn eine Wahl im Frühling oder Sommer hätte den Konservativen eine wesentlich größere Niederlage eingebracht.

Die Parteien

Schulbildung Universitäten und andere Hochschulen

Die Zeit zwischen der Auflösung des alten Parlamentes bis zur Wahl des neuen ist dem Wahlkampf gewidmet. Die Formen des Wahlkampfes haben sich unter dem Einfluß der modernen technischen Errungenschaften wie Rundfunk, Fernsehen und Werbung, wie sie sich im wirtschaftlichen Leben entwickelt haben, wesentlich geändert. Aber das Wesen bleibt doch immer das gleiche: die Bemühung aller Parteien, so viele Wähler wie möglich für die eigene Partei zu gewinnen oder, genauer gesagt, so viele unentschiedene Wähler wie möglich in den zweifelhaften Wahlkreisen auf ihre Seite zu bekommen. Denn das Ziel der britischen Wahlen ist in erster Linie der Parlamentssitz im Wahlkreis und nicht die Anzahl der Stimmen im ganzen Land. Parteien und Wähler stehen sich also gegenüber und beobachten sich. Die Parteien werben und versuchen die Wähler zu beeindrucken, zu erhalten oder umzustimmen, und die Wähler reagieren positiv oder negativ oder bleiben indifferent. Außer Wählern und Parteien aber nehmen noch andere Gruppen am Wahlkampf teil; die gesamte Presse berichtet und urteilt über Wahlreden, Wahlversprechungen und wirbt je nach ihrer Einstellung indirekt oder oft auch sehr direkt für die eine oder andere Partei. Rundfunk und Fernsehen stehen teilweise im Dienst der Parteien, so unparteiisch wie möglich, berichten aber auch von sich aus über die Wahlpropaganda, die Aktivität der Parteien, die Reaktion der Wähler und die Tätigkeit der Meinungsbefragungen, der so-genannten „Polls". Diese haben für alle Beteiligten eine besondere Bedeutung, da sie laufend die dauernd schwankende Tendenz der Wähler veröffentlichen. Wähler und Parteien sind also — wenn sie an die Exaktheit der Umfragen glauben — fast immer darüber im klaren, in welcher Richtung sich die Chancen für die verschiedenen Parteien bewegen. Bei den Wahlen von 1964 spielten — wie bei allen Wahlen seit Ende des Ersten Weltkrieges — die konservative Partei, die Labourpartei und die liberale Partei die Hauptrollen. Die liberale Partei ist als Machtfaktor seit 1945 unerheblich gewesen. Nur eine ganz knappe Mehrheit einer Partei wie 1950, 1951 und 1964 kann unter Umständen der liberalen Partei eine gewisse Schiedsrichterstellung geben. Aber selbst dies wird gewöhnlich durch neue Wahlen zu vermeiden sein und von den beiden großen Parteien auch vermieden werden.

Die konservative Partei ist diejenige Partei, die in diesem Jahrhundert überwiegend entweder allein oder als Partner einer Koalitionspartei an der Macht gewesen ist. Nur zweimal im 20. Jahrhundert hat eine linke Partei eine wirklich eindrucksvolle Mehrheit im Parlament besessen: die liberale Partei nach dem Burenkrieg (1906) und die Labourpartei nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1931 bis 1964 waren die Konservativen mit Ausnahme der 6 Jahre Labourregierung (1945— 1951) immer an der Macht. Die konservative Partei, die in ihren Anfängen zusammen mit der liberalen als „Tories" und „Whigs" bis ins 18. Jahrhundert zurückführt, hat sich allein über lange Zeit bewährt und gibt auch heute noch keinerlei Anzeichen eines Absinkens oder Verfalls. Die Konservativen sehen ihre Partei als normale Regierungspartei, als gottgewollte, einzig vernünftige und prädestinierte. Dies mag seltsam erscheinen, wenn man bedenkt, daß die Konservativen in den Augen vieler Betrachter als die Partei der Aristokraten, der Reichen, der Privilegierten, der „guten Familien", des oberen Bürgertums, des Landbesitzes, der gut und teuer in Eton und Oxford Erzogenen betrachtet werden. Eine Partei aber, die nach 13 Jahren ununterbrochener Regierung noch 12 Millionen Stimmen aus einer Gesamtwählerschaft von 27, 6 Millionen und fast die Hälfte der Parlamentsitze erlangt, ist offensichtlich nicht eine Partei der wenigen Reichen und Privilegierten. Millionen von Arbeitern wählen konservativ, und es war eine geschickte Werbung bei den Wahlen im Jahre 1959, auf den konservativen Wahlplakaten einen Arbeiter abzubilden mit der Schlagzeile: „Sie blicken auf einen Konservativen." Die Stärke der Konservativen liegt in der britischen Fähigkeit, sich den Zeit-strömungen anzupassen, neue Ideen, die von den Parteien der Linken erdacht werden, aufzunehmen und selbst weiterzuführen (zum Beispiel Planung). Weiter ist es ein Vorteil für eine von Haus aus aristokratische Partei, daß sie ohne große Schwierigkeiten volkstümlich werden kann unter dem Motto: „Wir sind für das ganze Volk", während eine Arbeiter-und Intellektuellenpartei wie Labour es wesentlich schwieriger fertigbringt, die solide bürgerliche Mittel-und Oberschicht für sich zu gewinnen.

Die Labourpartei ist eine Partei des 20. Jahrhunderts, die — wie ihr Name besagt — den Arbeitern Gleichberechtigung mit den herrschenden Klassen bringen will, durch Bildung, besonders Erwachsenenbildung, die Arbeiter fähig machen soll, mit den Waffen des Intellektuellen gegen die überlegenen Schichten des Bürgertums, der Beamten, der Aristokratie zu kämpfen und allmählich die bestehenden Unterschiede zu beseitigen. Begabte Arbeiter-führer im Bunde mit einer Reihe von idealistischen Intellektuellen waren der Kern der Arbeiterbewegung, und auch heute noch ist die Labourpartei eine Mischung von Arbeitern und Intellektuellen, Lehrern, Wissenschaftlern, Universitätslehrern. Ihre Betonung der Emanzipierung der Arbeiter brachte sie in Zwiespalt mit den Liberalen, die in den zwanziger Jahren allmählich durch die Labourpartei aus der Stellung der offiziellen Oppositionspartei verdrängt wurden. Obwohl selten an der Macht (1923— 1924 und 1929— 1931 war die Labourpartei zwar im Amt, mußte aber die Macht mit den Liberalen teilen), erreichte die straffe Organisation der Arbeiterbewegung eine wesentliche Verbesserung des Standards der arbeitenden Schichten, so daß heute die Hauptarbeit getan ist und das Problem für die Labourpartei darin liegt, ob sie es fertig bringt, eine radikale, das heißt fortschrittliche Partei zu werden, ohne sich auf eine Klasse, die es heute vieleicht schon gar nicht mehr gibt, zu stützen. Gaitskell, der verstorbene Führer der Labourpartei im Parlament, hat es versucht; es ist zumindest zweifelhaft, ob Wilson, der gegenwärtig Premierminister ist, von der Notwendigkeit einer solchen Linie überzeugt ist. Der Erfolg der liberalen Partei, der sich augenblicklich nur in Stimmen und nicht in Sitzen im Parlament ausdrückt, scheint anzudeuten, daß viele radikale bürgerliche Wähler in der Labourpartei nicht das sehen, was sie ersehnen: eine fortschrittliche Partei, die ihre Kraft nicht aus dem Sozialismus, das heißt einer einzigen Klasse, sondern aus dem ganzen Volk als Individuen zieht. Wir werden noch am Schluß über die Aussichten der Liberalen, wieder eine Macht im Parlament darzustellen, zu reden haben.

Die Wähler

Wahlergebnisse 1945— 1964

Es gibt zwei Extreme in der Beurteilung der Wählermasse: entweder man sieht in ihr den Souverän, der von Zeit zu Zeit orakelhaft spricht und die Richtung des Geschickes der Nation bestimmt, oder man tut sie verächtlich als Stimmvieh ab, als die unwissende, anarchische Masse, die von den Parteien bei einer Art Würfelspiel benutzt wird. Beide Anschauungen sind eine grobe Verzerrung der Wirklichkeit. Sir John Mariott, der englische politische Wissenschaftler, sagte schon vor mehr als einer Generation, daß der Durchschnittswähler in Großbritannien heute wesentlich besser über politische Fragen infor-miert sei, als ein gewöhnliches Mitglied des Parlaments zur Zeit der Stuarts. Das trifft heute in verstärktem Maße zu, denn nicht nur die besseren Tageszeitungen beleuchten und verfolgen die politischen Probleme eingehend, auch Rundfunk und Fernsehen sind für den Hörer und Betrachter unter anderem eine Schule für den Irrgarten der politischen Spannungen, Machtkämpfe, Werbetricks, der bei aller Verschiedenheit der Parteien immer stärker werdenden Ähnlichkeit ihrer Pläne und Möglichkeiten. Was die Wähler von heute lernen können, ist die heilsame Erkenntnis, daß Politiker aller Färbungen zwar begabte, aber doch begrenzte Manager des öffentlichen Wohles sind, die auch keine Wunder vollbringen können, sondern im Rahmen des Gegebenen arbeiten müssen und denen man nicht alle unpopulären oder harten Maßnahmen zur Last legen kann und die man für Erfolge auch nicht unmäßig zu bewundern braucht. Kurz, ein maßvolles Beurteilen und eine kluge Sicht der Machtkämpfe ist es, was den Wähler in unseren Tagen zu einem denkenden Teilnehmer am politischen Spiel machen kann. Doch darf man nicht übersehen, daß den britischen Wähler ebenso wie den Wähler in anderen Demokratien nicht die Programme der Parteien allein in ihrer Wahl zwischen den angebotenen Möglichkeiten bestimmen. Sie werden die Taten der Parteien beobachten, sei es als Opposition oder als Regierung, aber mehr noch werden sie sich bestimmen lassen von dem, was man als „Bild" einer Partei bezeichnen kann. Das will heißen, daß der Wähler in seinem verständlichen Bestreben, das oft komplizierte Programm einer Partei auf einen vereinfachten und für ihn klaren Nenner zu bringen, sich eine Vorstellung, ein " image", wie der Engländer es nennt, von jeder Partei macht. Dieses geistige Bild ist wesentlich wichtiger für die Entscheidung als alle rationalen Erwägungen. Der konservative Wähler sieht in der Labourpartei eine Bewegung, die „für" den Arbeiter ist, die die Produktionsmittel nationalisieren will, bürokratischer ist als andere Parteien, außenpolitisch eher international als national denkt, ungünstig für die Wirtschaft ist, Farbige aus den Kolonien oder dem Commonwealth einwandern läßt, anti-europäisch eingestellt ist, den Gewerkschaften hörig ist. Der Labour-Wähler sieht in der konservativen Partei die Partei der Reichen, der Aristokraten, geleitet von ehemaligen Angehörigen der teuren " Public schools“, wie Eton, Harrow, und dann Oxford und Cambridge, die Partei des Privilegs, der Klassenunterschiede, die Partei, die den begabten Amateur in der Regierung vorzieht.

Macmillan, der frühere Premierminister, meinte 1959 nach den Wahlen, die den Konservativen das dritte Mal eine erhöhte Sitzzahl einbrachte, der Sieg sei ein Beweis, daß Großbritannien jetzt ein klassenloser Staat sei.

Diese Anschauung dürfte von den Wählern kaum geteilt werden. Sicher ist, daß es heute einfacher ist, von einer Klasse in die andere aufzusteigen, durch höheres Einkommen, durch verbesserte Schulbildung, aber das Klassen-system ist immer noch sehr lebendig. Der auch in England wesentlich höhere Lebensstandard hat dazu geführt, daß der Arbeiter, wenn er sein Häuschen hat mit Auto, Kühlschrank, Waschmaschine und Fernsehapparat, manchmal auch die Partei der Arbeiter bei den Wahlen verläßt. Dabei hat es vor allem in den ländlichen Wahlkreisen des Südens schon immer eine große Anzahl von Mitgliedern der unteren Klasse gegeben, die konservativ wählten, einfach weil es so Tradition war, weil der Respekt, den sie den „regierenden Klassen" entgegenbrachten, jedem Versuch der Labourpartei widerstand, sie dazu zu bringen, für ihre Klasse zu stimmen. Mit der stetig wachsenden Zahl der „Weißkragen-Arbeiter, der Büroangestellten und der gut bezahlten Facharbeiter, werden die Neuwähler, die jungen Menschen, die das erste Mal wählen, zumindest nicht mehr selbstverständlich Labour wählen, sondern geneigt sein, den Konservativen ihre Stimme zu geben, von denen sie erwarten, daß sie ihre individuellen Interessen wahrnehmen, ihren hohen Lebensstandard erhalten und ihnen die Möglichkeit geben, ihr Leben frei zu gestalten. Das Bild, das man sich von einer Partei macht, die „Arbeiter" -Partei heißt, ist nicht dazu angetan, ihr in der „wohlhabenden" Gesellschaft Anhänger zu gewinnen.

Eingehende Forschungsarbeiten in einem einzigen Wahlkreise haben versucht, sozialpolitische Verschiebungen, soweit sie sich zahlenmäßig bei den Wahlen ausdrücken, herauszufinden. Man hat errechnet, daß etwas mehr Frauen als Männer konservativ wählen, etwas mehr Männer als Frauen Labour, daß die lässigsten Wähler junge Menschen unter 30 Jahren sind, daß Katholiken recht selten für die liberale Partei stimmen, daß unter den Labour-Wählern eine große Anzahl von soge-nannten " nonconformists" sind, das heißt Menschen, die nicht der staatlichen anglikanischen Kirche angehören, daß Anglikaner überwiegend konservativ wählen, daß viele junge Leute dasselbe wählen wie ihre Eltern, Frauen wie ihre Ehemänner, daß überhaupt die Mehrheit stets gleich wählt und daß die Wahlen entschieden werden nicht durch das Gros der Treuen, sondern durch die verhältnismäßig geringe Zahl der Unentschiedenen, der " floa-ters", der Schwebenden, derer, die sich treiben lassen und für die die ganze Wahlpropaganda, Werbung und Wahlkampf geführt werden. Vor einer Generation nahm man an, daß diese " floaters" nur etwa 2, 5 Prozent ausmachen, aber mit verfeinerten Methoden der Meinungsbefragung hat man herausgefunden, daß es sich um mindestens 10 Prozent der Wähler handelt, das heißt fast drei Millionen. Leider hat man gleichzeitig festgestellt, daß diese Leute, von denen es abhängt, welche Partei während der nächsten Parlamentsperiode die Regierung bilden wird, in ihrem politischen Interesse und deshalb in ihrem politischen Wissen und ihrer Urteilskraft weit hinter denen zurückstehen, die von Anfang an genau wissen, für welche Partei sie stimmen werden.

Vergessen darf man dabei nicht, daß zwischen zwei Wahlen, die bis zu fünf Jahren auseinander liegen können, eine Reihe von Wählern gestorben sind und eine große Anzahl von jungen Wählern dazukommt, so daß sich zwei Wahlen nicht ohne Einschränkung miteinander vergleichen lassen. Hier können die gut organisierten Meinungsbefragungen helfen, indem sie eine repräsentative Auswahl von jungen Wählern, das heißt Wählern, die bei der letzten Wahl noch nicht stimmberechtigt waren, befragen, wie sie zu wählen gedenken, und auf diese Weise feststellen, inwieweit die Wahl-entscheidungen prozentual denen der Alt-wähler gleich sind oder sich von ihnen unterscheiden. Kompliziert wird eine solche Umfrage durch den Umstand, daß in verschiedenen Wahlkreisen die Sterberate ungleich groß ist. Die Nachforschungen haben ergeben, daß etwa drei Millionen neue Wähler seit 1959 dazugekommen und etwa 21/2 Millionen gestorben sind. Aber von den drei Millionen Jungwählern haben nur zwei Millionen sich auf die Wahllisten setzen lassen, und es ist anzunehmen, daß nicht mehr als die Hälfte wirklich gewählt haben. Interviews mit ausgewählten jungen Wahlberechtigten ergaben, daß 60 Prozent der Anschauung waren, es mache keinen Unterschied für sie, welche Partei an die Regierung kommt. 90 Prozent fanden, daß Politik langweilig sei. Diejenigen, die zur Wahl gingen, hatten keinerlei neue Ideen, keinerlei Ehrgeiz, sich von den Wahl-gewohnheiten der Eltern zu distanzieren. Eine Mehrheit der Befragten hatte angegeben, für Labour stimmen zu wollen. Andererseits waren eine außergewöhnlich große Anzahl von aktiven Parteiarbeitern und Parlamentskandidaten junge Menschen. 300 der Kandidaten, die von den verschiedenen Parteien aufgestellt wurden, waren unter 35 Jahre alt. Die von jungen Politikern bevorzugte " Bow" -Gruppe der Konservativen ist besonders aktiv und es mag daher kommen, daß die Konservativen behaupten, die Jugend stehe überwiegend in ihrem Lager.

Der Wahlkampf

Das Unterhaus 1945— 1964

Der Wahlkampf ist das Werben der Parteien um die Stimmen des Wahlvolkes, genauer um möglichst viele Mitglieder im nächsten Unterhaus. Aber darüber hinaus ist es das Ziel der beiden großen Parteien in Großbritannien, die Regierung für die nächsten Jahre zu bilden. Die bisherige Regierungspartei versucht in ihrem Amt bestätigt zu werden; die bisherige Opposition hofft, so viele Sitze zu bekommen, daß sie die Regierung entthronen und ihrerseits die Regierung bilden kann. In Großbritannien gab es seit 1945 bei den Wahlen nur drei Möglichkeiten, von denen die dritte meist theoretischer aber nicht praktischer Natur war: entweder die konservative oder die Labourpartei erringt die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament und bildet die Regierung allein oder aber keine der beiden erlangt die absolute Mehrheit (wie es zum Beispiel 1929 der Fall war) und die Liberalen bilden trotz ihrer geringen Sitzzahl das Zünglein an der Waage und können je nach Entscheidung entweder mit den Konservativen oder der Labourpartei eine Koalitionsregierung bilden. Die Briten sehen es ungern, daß einer kleinen Partei eine so unverhältnismäßig große Macht gegeben wird, und ziehen es vor (1950 und 1951 sowie 1964), selbst mit knapper Majorität allein zu regieren.

Der Wahlkampf gibt aber außerdem auch noch Aufschluß über die Sitten, das Ethos eines Volkes. In Großbritannien ist der Wahlkampf im allgemeinen gemäßigt, wie es der Natur und dem sportlichen Geist des Volkes entspricht, aber man kann auch dort recht bedeutende Unterschiede erleben, je nachdem die eine oder andere Partei sich entscheidet, den Wahlkampf piano oder forte zu führen. Die Regierungspartei, die — wie es in der Natur der Sache liegt — während der vielen Entscheidungen über lange Jahre manches getan haben wird, was leicht von der Gegenpartei kritisch hochgespielt werden kann, wird versuchen, den Kampf ruhig zu führen, während die Oppositionspartei unter Umständen die Gemüter durch Aufpeitschen von Ressentiments gegen die Regierung zu erhitzen versucht. Der Wahlkampf 1964 war im ganzen gesehen recht gemäßigt, obgleich einige Exponenten der Parteien wie zum Beispiel der konservative Minister Quintin Hogg und der zweite Mann der Labourpartei, George Brown, sich bemühten, „hart zu schlagen, wenn auch nicht tief zu schlagen", wie Hogg sich ausdrückte. Der unmittelbare Zweck des Wahlkampfes ist es, die Wählermassen bis zum Wahltage in einen Zustand der Erregung zu versetzen und zu halten, damit recht viele dann auch wirklich zur Wahlurne schreiten. Besonders die Labourpartei leidet nämlich unter einer Wahl-trägheit ihrer Anhänger; eine große Wahlbeteiligung soll die Labourpartei begünstigen, obwohl im Jahre 1951 trotz einer hohen Wahlbeteiligung von 82, 5 Prozent die Konservativen den Sieg errangen. Die Konservativen sammeln die meisten ihrer Stimmen früh, während Labour zwischen 19 und 21 Uhr die meisten Stimmen erhält. Deshalb glaubt man, daß der starke Regen am Abend des 15. Oktobers die Labourpartei viele Stimmen gekostet hat.

Die Dauer eines Parlaments soll in Friedenszeiten fünf Jahre nicht überschreiten. Gewöhnlich löst der Premierminister das alte Parlament schon früher auf; aber Sir Alec Douglas Home, der durch ungünstige Meinungsbefragungen gewarnt war, daß die Stimmung unter den Wählern die Labourpartei begünstigte, hatte bis zum letzten Augenblick gewartet. Das Parlament von 1959 war am 8. Oktober gewählt und am 20. Oktober eröffnet worden und wurde am 25. September 1964 aufgelöst; es hatte also eine Dauer von vier Jahren und 11 Monaten gehabt — das längste Parlament in Friedenszeiten in diesem Jahrhundert. Selbstverständlich hatten die Vorbereitungen zum Wahlkampf bei den Parteien schon lange begonnen. Die Konservativen, die wußten, wann die Wahlen stattfinden würden, hatten einen taktischen Vorteil dadurch, daß sie den Kampf auf lange Sicht vorbereiten konnten.

Das erste, worüber sich die Parteien entscheiden müssen, ist, in wie vielen der 630 Wahlkreise sie einen Kandidaten aufstellen wollen. Dies ist aus finanziellen Gründen wichtig, da zum Beispiel 1959 die Durchschnittskosten pro Kandidat für alle Parteien sich auf fast 700 Pfund (DM 7700, —) beliefen. Außerdem muß jeder Kandidat die Summe von 150 Pfund (DM 1650, —) hinterlegen, die verfallen ist, wenn er (oder sie) bei den Wahlen nicht mindestens 1/8 (= 12, 5 Prozent) der Stimmen erhält. Dies ist ein gutes Einkommen für das Schatzamt. Bei den Wahlen 1964 verloren 184 Kandidaten ihren Einsatz, darunter 53 Liberale, 5 Konservative und 8 Labour. Früher gab es Wahlkreise, in denen kein Kampf stattfand, das heißt, nur ein Kandidat aufgestellt wurde, der dann praktisch bereits gewählt war. Heute wird in allen Wahlkreisen gekämpft. 629 konservative, 628 Labour-und 365 liberale Kandidaten wurden diesmal aufgestellt. Die Liberalen hatten 149 Kandidaten mehr als bei den Wahlen im Jahre 1959, da es ihnen diesmal darauf ankam, zu zeigen, wie groß die Anhängerschaft im ganzen Land zahlenmäßig ist, und vielleicht auch, um die Stimmung für eine Änderung des Wahl-systems reif zu machen (Verhältniswahl).

In früheren Zeiten, zu denen die Parteien noch nicht so straff organisiert waren wie heute, konnte der Wahlkampf in den einzelnen Wahlkreisen recht unabhängig durchgeführt werden und sich auf lokale Fragen konzentrieren und wohl auch auf die Persönlichkeit des Kandidaten wirken. Heute ist das im großen und ganzen unmöglich. Die Hauptquartiere der großen Parteien in Smith Square, das Central Office der Konservativen und das Transport House der Labourpartei dirigieren von London aus den Kampf und lassen wenig Raum für lokale Initiative. Die Parteiorganisationen der Wahlkreise, die früherden lokalen Kampf führten, sind ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Butler und Rose meinen in ihrem Buch über die Wahlen von 1959, daß der brillanteste lokale Wahlagent mit einem vollkommenen Stab von Parteihelfern in 550 von den 630 Wahlkreisen es nicht fertigbringen würde, das Resultat zu ändern. Fast alle Wähler werden in ihrer Entscheidung an der Wahl-urne durch überlieferte Loyalität, wirtschaftliche Erwägungen und Ereignisse von nationaler Bedeutung bestimmt. Parteidisziplin hat die Funktion des ursprünglich ziemlich freien Parlamentmitgliedes zerstört. Doch muß man dagegen ins Feld führen, daß bei den Wahlen von 1964 diese im allgemeinen wohl richtige Feststellung in einigen Wahlkreisen durchbrochen wurde. Besonders das Rassenproblem hat sich in den Wahlkreisen, in denen es durch Zu-und Einwanderung von westindischen Negern besonders aktuell war, als kräftig genug erwiesen, der nationalen zentralen Parteileitung zu widerstehen.

Inoffiziell war zwischen den Parteien ein Abkommen getroffen worden, das Rassenproblem beim Wahlkampf nicht aufzurühren. Aber trotzdem wurde es in den Wahlkreisen in und um Birmingham und North Kensington als Wahlkampfmittel benützt. Berüchtigt wurde der Wahlkreis Smethwick, in dem der jetzige Außenminister Gordon Walker von dem Kon-servativen Griffiths geschlagen wurde. Dieser hatte, wie es scheint, einen Wahlkampf von langer Hand geschickt vorbereitet und durchgeführt und die Rassen-und Wohnungsfrage in den Vordergrund gerückt. Es wurde behauptet, daß ein Spruch besonders wirksam war: " If you want a Black for a neighbour vote Labour". Das Resultat von Smethwick wurde von vielen Konservativen, Geistlichen, Labourleuten und Liberalen als eine Schande angesehen. Der liberale Führer Grimond und der Labourführer Wilson rügten die Herein-ziehung des Rassenproblems als Wahlkampf-mittel ganz besonders. Wilson ging sogar so weit im neuen Unterhaus zu erklären, Griffiths sei ein Aussätziger im Parlament.

Man sieht aus diesem Fall, daß es immer noch möglich ist, gegen die von der Parteizentrale vorgeschriebene Politik erfolgreich zu rebellieren, wenn genügend Anklang bei der Wählerschaft zu erlangen ist, was besonders dann möglich ist, wenn es sich um lokale Fragen handelt, die die Gemüter der Wähler erhitzt. Trotzdem bleibt es richtig zu sagen, daß allein die Parteihauptquartiere in London die Wahl-kampagne dirigieren, organisieren und koordinieren können, da die wichtigen, gefährdeten Sitze, die marginal constituencies, besonderer Beachtung bedürfen und durch die besten Redner besucht werden müssen, während die einzelnen Wahlkreise den Kampf notwendigerweise nur aus der Froschperspektive sehen müssen.

Im Hauptquartier spielt sich das der Nation durch Presse, Rundfunk und Fernsehen ständig vor Augen gehaltene Geschehen ab. Tägliche Pressekonferenzen sorgen dafür, daß die großen Zeitungen, die eine über das ganze Land gehende Verbreitung haben, die Wähler stets auf dem laufenden halten, was die Führer oder bedeutende Politiker der Parteien gesagt haben, welcher Stimmung sie sind und wie sie den Ausgang beurteilen. Die Programme der Parteien werden von den Führern geschrieben und von der Zentrale gedruckt. Obwohl man bei der Lektüre dieser Programme der einzelnen Parteien zweifeln mag, ob sie von einer großen Anzahl von Wählern wirklich gelesen werden, so sind sie doch notwendig als Proklamation und Werbung, da die Presse und die Gegenparteien wichtige Punkte herausgreifen und zur Diskussion stellen. Darüber hinaus sind die Programme als Grundlage der Politik für die nächste Legislaturperiode anzusehen, die von den Parteien im Unterhaus vertreten werden wird, sei es als Regierung oder als Opposition.

Das konservative Programm im blauen Umschlag mit zahlreichen Photographien, welche die Leistungen der letzten Regierungsperiode unterstreichen sollen, stützt sich verständlicherweise auf den großen Wohlstand des Landes: „In den 13 Jahren konservativer Regierung ist der Lebensstandard des britischen Volkes mehr gestiegen als in den ersten 50 Jahren des Jahrhunderts." In der Welt hat die Politik der Konservativen nach dem Motto Frieden durch Stärke eine realistische Einstellung zum Ost-West-Problem geschaffen. Großbritannien muß seinen Platz im Zentrum der internationalen Politik behaupten. Aber nur eine unabhängige Kontrolle über die Atom-Streitmacht kann einen Angreifer abschrecken. In Industrie-, Handels-und Wirtschaftsfragen stellt sich das Programm klar und nachdrücklich gegen eine Ausdehnung der Kollektivwirtschaft und für das Prinzip der Privat-wirtschaft und der Konkurrenz als bester Garant auch für den Verbraucher. Die Partei steht unerschütterlich gegen jeden weiteren Versuch der Verstaatlichung in der Industrie; sie verspricht Hilfe für Landwirtschaft und Gartenbau, ein Punkt, den die Sozialisten ganz vernachlässigten. Die von der Labourpartei geforderte Grundstückskommission wird abgelehnt, weil dadurch die Bautätigkeit leiden würde. Die britische Lebensweise, die auf der Würde und Freiheit des einzelnen aufgebaut ist, muß erhalten bleiben. In den übrigen Fragen, Gesundheitswesen, Erziehungsund Bildungspolitik, Bauwesen, Verkehrswesen, Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften, unterscheidet sich das konservative Programm nicht grundlegend von dem der anderen Parteien. Aber abschließend warnt es noch das Volk, daß die Errungenschaften der Vergangenheit und die Hoffnung für die Zukunft durch eine Labourregierung gefährdet würden.

Das liberale Programm (in geschmackvoll ausgestattetem orange-weiß und schwarzem Umschlag, elegantem Druck und gutem Papier) bietet dem Wähler eine radikale, nicht-sozialistische Alternative. Die liberale Partei ist sich bewußt, daß sie diesmal noch nicht die Regierung bilden kann, sie würde aber gerne eine Gruppe liberaler Parlamentarier im Unterhaus sehen, die eine entscheidende Stellung einnehmen könnte. Die Möglichkeiten der neuen industriellen Revolution sind in Großbritannien ungenutzt geblieben. Großbritannien ist ins Hintertreffen in Industrie und Handel geraten. Die Zölle sind zu hoch, die Exportpolitik nicht energisch genug. Die Früchte höherer Produktionskraft sollten dem Verbraucher zugute kommen. Die Regierung hat in zehn Jahren mehr Geld für Verteidigungsprojekte, die schließlich wieder aufgegeben werden mußten, verschwendet als das gesamte Schulund Bildungsprogramm kostet.

Das Unterhaus muß mehr Kontakt mit dem Volke haben, besonders der Jugend. Das Wahlalter sollte auf 18 Jahre herabgesetzt werden. Macht und Wohlstand müssen dezentralisiert werden und sollten sich nicht auf London beschränken. Schottland und Wales (wo die Liberalen ihre meisten Anhänger haben) sollen selbständige lokale Regierungen erhalten.

500 000 Häuser müssen gebaut, Sozialleistungen erhöht, das Bildungssystem reformiert werden. Großbritannien, sagt das Programm, ist ein Teil Europas: die konservative und die Labourpartei sind daran Schuld, daß Großbritannien heute nicht Mitglied der EWG ist. Die nächste Gelegenheit darf nicht versäumt werden. Rassenhaß wird verurteilt.

Das unabhängige atomare Abschreckungsmittel wird als unrealistisch verdammt Die Verteidigung Großbritanniens muß auf einer europäischen, politischen Gemeinschaft innerhalb einer wahren atlantischen Partnerschaft ruhen.

„Denke für Dich selbst, wähle liberal", schließt das Programm.

Bei der Eröffnung des neuen Parlaments liest die Königin vom Thronsessel im Oberhaus eine vom neuen Premierminister verfaßte Rede, in der das Programm der Regierung für die Legislaturperiode vorgelegt wird. Ein konservativer Abgeordneter sagte nach Verlesung des Labourprogramms am 3. November 1964:

„Sie hätten ihr doch gleich das Labour-Programm zum Vorlesen geben können." Diese kleine Episode zeigt, wie umfassend das Programm der Labourregierung trotz der winzigen Mehrheit ist und wie ernst es dem Labourführer Wilson um sein Programm ist;

denn man darf annehmen, daß er es selbst verfaßt hat. Das Labour-Programm ist ein wesentlich umfassenderes Dokument als das der beiden anderen Parteien.

Zuerst wird dargelegt, warum die Tories (der alte Name für die Konservativen, der oft verächtlich aber ebenso oft liebevoll gebraucht wird) versagt haben. Sie sind eine müde, verbrauchte Partei, die alle Gelegenheiten versäumt hat, so daß Großbritannien heute weit hinter Deutschland und Frankreich in der industriellen Entwicklung und Leistungsfähigkeit herhinkt. Eine veraltete Philosophie aus dem XIX. Jahrhundert beherrscht sie: Freie Marktwirtschaft und eine Gemeinschaft, die keinen Plan braucht. Das öffentliche Interesse wird immer dem privaten Vorteil geopfert. Die Wirtschaftspolitik der Regierung war charakterisiert durch abwechselndes Ankurbeln und Abdrosseln (stop — go). Auf diese Weise versuchte man, die immer wiederkehrenden Krisen der Zahlungsbilanz und der Währung zu meistern. Die Verteidigungspolitik der Konservativen führte zu einer Schwächung der englischen Militärmacht und einer Verminderung des Einflusses in der Welt. Die Tories sagen „es geht uns gut", aber es müßte uns noch viel besser gehen. Es hilft nicht viel, daß die Regierung auf dem Totenbett sich reuig zur Planwirtschaft bekennt. Nur Labour kann sie wirklich durchführen.

Das " new Britain" muß geplant werden. Es muß sein Schicksal selbst in die Hand nehmen;

die Industrie muß modernisiert, die Arbeitskräfte mobilisiert werden. Die Stahlindustrie muß öffentliches Eigentum sein, statt von einem Monopol regiert zu werden. Die Verkehrsplanung muß koordiniert werden, um dem herrschenden Chaos Einhalt zu tun. Preiskontrolle und Einkommenspolitik müssen der Inflation entgegenarbeiten. Eine staatliche Grundstücks-kommission muß Land kaufen und der Bau-industrie zur Verfügung stellen — anstelle der gewissenlosen Spekulation. Die Sozialversicherung muß in ihren Leistungen mit dem allgemeinen Wohlstand Schritt halten. Ein freies, unentgeltliches Gesundheitswesen muß wieder eingeführt werden. Mehr Ärzte und Krankenpersonal müssen ausgebildet werden. Die Volksbildung muß wirklich für alle da sein.

Die Tories haben nicht ihren Glauben an das alte Empire auf das neue Commonwealth übertragen, sondern sahen in der EWG ihr einziges Rettungsmittel. Der Beitritt hätte das Commonwealth zerstört. Die Labourpartei stellt das Commonwealth an erste Stelle; erst dann kommt Europa. Eine Labourregierung wird Gesetze gegen Rassendiskriminierung erlassen, Entwicklungshilfe muß energisch die Kluft zwischen reichen und armen Völkern überbrücken.

Die Machtpolitik der Konservativen ist veraltet. Es gilt Spannungen zu lösen und Abrüstung herbeizuführen. Das Ansehen der Vereinten Nationen muß gehoben werden, denn sie sind das einzig mögliche Instrument einer kommenden Weltregierung. Das Nassau-

Abkommen bedeutet vollkommene Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten; außerdem bringt Großbritanniens unabhängiges Abschreckungsmittel die Gefahr der Ausbreitung der Atomwaffen mit sich. Die westliche Allianz muß gestärkt und die Atomwaffen der NATO müssen unter wirksame politische Kontrolle gestellt werden.

Die ganze Struktur der Regierung muß modernisiert werden, ohne eine Beschränkung der Freiheit des Bürgers. Selbstkritik muß anstelle der Selbstzufriedenheit treten und eine echte Partnerschaft zwischen Parlament und Volk angestrebt werden. Dienst an der Gemeinschaft muß anstelle des persönlichen Egoismus treten. Wer wirklich daran inter16 essiert ist, daß es vorwärts geht, muß Labour wählen — so schließt das Programm.

Der Leser des Labour-Programms muß die puritanische Strenge und kalte Energie des relativ jungen Labourführers bewundern, wird aber kaum glauben können, daß auch nur ein Bruchteil der Aufgaben in einer Legislaturperiode erfüllt werden können.

Es wäre interessant zu wissen, wieviele Wähler alle drei oder auch nur ein Programm gelesen haben. Die liberale Partei gibt an, daß sie 30 000 von 31 000 gedruckten Exemplaren verkauft hätte, Labour gibt 184 000 an und die Konservativen weigerten sich, eine Zahl zu nennen, meinten aber, daß es eine recht beachtliche sei.

Außer den Programmen wurden noch eine Reihe von einfachen Blättern verteilt. Schon geraume Zeit vor der Ankündigung der Wahlen hatte jede der drei Parteien je ein Paperback (etwa 100— 150 Seiten) herausgebracht, Schriften, die wohl mehr für die Parteiarbeiter und Kandidaten gedacht waren als für den gewöhnlichen Wähler, die also nicht unter den Titel Wahlkampf im engeren Sinne fallen. Die Parteizentralen druckten auch eine Reihe von Plakaten, von denen aber merkwürdigerweise auf dem Lande, in kleinen Städten und Dörfern nicht viele zu sehen waren. Es fiel dem Verfasser, der durch Südengland reiste, auf, daß man nur wenige Plakate zu sehen bekam, und wenn, dann waren es lokale Plakate, die für die Kandidaten des betreffenden Wahlkreises warben, mit einem Porträt des Kandidaten und einem einfachen " vote for Biggs” (stimme für Biggs), eventuell noch mit „Wähle konservativ" oder " Labour" oder " liberal". Die nationalen Plakate waren außerhalb der großen Städte wie London, Birmingham deswegen nicht so populär, weil der Wähler auf dem Stimmzettel nur die Namen der Kandidaten, aber nicht die Parteizugehörigkeit sieht. Die nationalen Labourplakate zeigten häufig Wilson mit Pfeife und dem Motto: „Laß uns mit Labour gehen", während die Konservativen ein farbiges Photo von Sir Alec mit den Worten: „Weiter aufwärts" darboten.

Eine Besonderheit des englischen Wahlkampfes in den einzelnen Wahlkreisen ist das so-genannte " canvassing", das heißt das persönliche Werben des Kandidaten oder eines Parteiarbeiters durch Besuche in Privathäusern, Geschäften, Fabriken, Werkstätten und so weiter. Aus diesen persönlichen Gesprächen werden dann gerne Schlüsse auf die Strömung im Wahlkreis gezogen. Die konservativen " canvas" -Berichte sollen wesentlich besser, das heißt realistischer als die der anderen Parteien gewesen sein. Die Labourpartei hat auch diesmal für sich günstige Schlüsse aus den Berichten gezogen, die durchaus nicht den Wahlergebnissen entsprachen.

Die Führer der drei Parteien hatten natürlich ein besonders schweres Programm, da sie neben den Pressekonferenzen möglichst viele kurze Wahlreden halten mußten, die soge-nannten " whistle stop" -Treffen, ein vom amerikanischen Wahlkampf entlehnter Ausdruck; dort fuhren und fahren noch die Präsidentschaftskandidaten in speziellen Zügen, die an jedem kleinen Ort anhalten und pfeifen, worauf der Kandidat vor den versammelten Bürgern eine kurze Rede hält. Sir Alec Douglas Home wurde bei einer Reihe dieser Wahlreden von Rowdies derart niedergeschrien, daß er verärgert behauptete, die Labourpartei habe diese Leute organisiert, was zu einem scharfen Dementi von Wilson und dem Partei-leiter führte. Die Rowdies waren junge Leute, die vielleicht glaubten, der Labourpartei damit einen Dienst zu erweisen. Gerade das Gegenteil war der Fall. Alle Zeitungen und auch die Labourführer verurteilten diese Aktionen aufs schärfste. Es ist üblich, bei diesen Wahlreden und auch bei Wahlversammlungen die Redner durch manchmal recht geschickte Zwischenrufe auf die Probe zu stellen, wie gut sie reagieren und wie schlagfertig sie sind. Dieses sogenannte „Necken" (heckling) wird von manchen Rednern, wie zum Beispiel Wilson und Hogg, gerne gesehen, weil sie besonders geschickte Antworten zu finden vermögen. Sir Douglas Home dagegen war den Neckern gewöhnlich nicht gewachsen. Das systematische Nieder-schreien des Redners wurde aber als unenglisch empört verdammt und hörte dann auch bald auf.

Die Persönlichkeiten der Parteiführer wurden natürlich besonders genau beobachtet und kritisiert. Wer, fragte man, ist besser geeignet, als Premierminister die nächste Regierungsperiode zu leiten? Sir Alec war bei Frauen gerne gesehen; sein charmantes Lächeln, sein aristokratisches etwas hochmütiges Wesen machte auf das weibliche Geschlecht einen besonderen Eindruck. Dagegen war er nicht in der Lage, durch seine politischen oder wirtschaftlichen oder rednerischen Fähigkeiten auf männliche Wähler zu wirken. Er ist als Intellektueller und Wirtschaftler Wilson weit unterlegen; sein Erfolg als Außenminister allein konnte ihm die Sympathien der Hörer nicht gewinnen. Wilson, ein kluger Politiker, intelligent, kalt und klar, zeigte zu wenig menschlich anziehende Eigenschaften, um sehr beliebt zu werden. Aber wenn man die beiden Politiker verglich, so gab man, manchmal widerwillig, Wilson den Vorzug; doch wurde geltend gemacht, daß Butler, MacLeod, Heath, Maudling nicht ihresgleichen in der Labour-partei besäßen, daß Wilson eher ein Präsident als ein Premierminister zu werden versprach, das heißt, daß außer Wilson niemand unter den Labourpolitikern die Statur eines Staatsmannes habe und er, falls er Chef der Regierung würde, allein regieren müßte.

Grimond, der liberale Führer, wurde wegen seines Mutes bewundert und bedauert, aber man gab zu, daß er oft besser als die anderen Parteiführer in aller Deutlichkeit und Treffsicherheit die Schwächen seiner Gegner und besonders die Fehler der Konservativen brandmarkte.

Eine Zeitung schrieb zu Anfang des Wahlkampfes: „Von jetzt an bis zur Beendigung der Wahlen werden die Parteien lügen und übertreiben, und jeder wird wissen, daß sie lügen und übertreiben." Ganz so schlimm war es nicht, aber es ist ein Teil des Wahlkampf-Spieles, daß man den Gegner dort angreift, wo er am schwächsten ist, Fehler übertreibt und verzerrt, seine Politik als nationales Unglück hinstellt, seine Fähigkeiten herabsetzt und seine Pläne lächerlich macht. Die Labourpartei konzentrierte ihren Angriff auf die Unfähigkeit der Konservativen, ihre Bevorzugung der Reichen und der skrupellosen Spekulanten. Die Konservativen machten ihren Hörern vor der Labourpartei Angst, geißelten die beabsichtigte Verstaatlichung der Stahl-industrie, ihren wirtschaftlichen Unverstand und das mangelnde Nationalgefühl, weil sie „fast Verräter" seien und mit der Aufgabe des unabhängigen atomaren Abschreckungsmittels Großbritanniens Verteidigungsmöglichkeit aufgeben wollten. Die Liberalen begnügten sich damit darzutun, daß die Konservativen überhaupt keine Politik hätten.

Einige Worte sind noch angebracht über die Rolle, die Presse und Fernsehen im Wahlkampf spielten. Die große Tagespresse mit ihrer Auflage von vielen Millionen, da sie im ganzen Lande gekauft wird, Zeitungen wie Daily Telegraph, Daily Mail, Daily Express, Daily Mirror, Evening Standard, Sun aber auch die Times, Guardian, die großen Sonntagszeitungen wie Observer, Sunday Times, Sunday Telegraph, die Wochenschriften Economist, New Statesman und Spectator sind überwiegend in den Händen von sehr wenigen, reichen Männern, die selten für die Labourpartei große Sympathien haben. Die meisten Zeitungen haben gewöhnlich eine konservative Richtung. Guardian und Economist sind liberal; New Statesman, Sun und Daily Mirror begünstigen Labour. Es war also zu erwarten, daß der überwiegende Teil der Presse für die Konservativen und gegen Labour und Liberale Propaganda machen würde. Dies war aber durchaus nicht der Fall. Zwar waren Daily Telegraph, Daily Mail und Daily Express ganz offen konservativ, aber die Taktik und Aktivität der Labourpartei war so geschickt, daß Wilson und einige seiner nächsten Partei-freunde in allen Zeitungen raumfüllende Beachtung fanden, was natürlich einer unfreiwilligen Propaganda für die Labourpartei gleich kam.

Erstaunlich war, daß die Times — früher oft als Sprachrohr der Regierung bezeichnet und als unabhängiges konservatives Blatt bekannt — sich während des Wahlkampfes immer deutlicher und offener für die Liberalen aussprach und am Schluß in einem Leitartikel ihre Leser aufforderte, für die Liberalen zu stimmen.

Ähnlich bemerkenswert war es, daß die ausgezeichnete Wirtschaftszeitung Economist in einem langen, sorgfältig analysierenden Artikel, in dem die Vorzüge und Nachteile einer konservativen und einer Labour-Regierung unter die Lupe genommen wurden, zu dem Schluß kam, daß eine Labour-Regierung zwar riskanter sei als eine konservative, daß aber trotzdem eine Simme für Labour und Wilson die bessere Wahl sei. Der allgemeine Eindruck von der Presse während des Wahlkampfes war mit ganz wenigen Ausnahmen ein sehr günstiger und fairer. Man bekam nicht das Gefühl, daß die überwiegend konservativ eingestellten Blätter die Labourpartei Stimmen gekostet hatten. Was sie Stimmen gekostet haben mag, waren die Rowdies bei den Wahlversammlungen und der Teilstreik in der Untergrundbahn ein paar Tage vor den Wahlen. Diese beiden Ereignisse wurden natürlich von der Presse mit großen Schlagzeilen gebracht. Aber man kann nicht sagen, daß die Zeitungen in der Art, wie sie diese Vorfälle präsentierten, ungehörig viel Kapital für die Konservativen herausgeschlagen hätten. Die Augen der Leser waren ohnehin in erster Linie auf die Berichte der Meinungsbefragungen, der „Polls", gerichtet, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden.

Die Parteien begannen ihren Wahlkampf im Fernsehen mit dem Wissen, daß bei den letzten Wahlen im Jahre 1959 das Fernsehen wenig Einfluß auf die Wähler ausgeübt hatte. Würde es diesmal anders werden? Ziemlich einstimmig wird angenommen, daß auch im Jahre 1964 die Leistungen der Parteien im Fernsehen nicht merklich besser waren. In England gibt es neben dem Fernsehprogramm der BBC, die eine staatliche aber unabhängige Anstalt ist, noch ein privates Fernsehen ITA, das durch kommerzielle Werbung stark beherrscht wird. Da Fernsehen, wenigstens theoretisch, eine starke Waffe für die Parteien sein könnte, gibt es strikte Vorschriften über die Benutzung des Fernsehens für den Wahlkampf. Jede der drei großen Parteien darf eine Anzahl von parteipolitischen Vorführungen präsentieren, die zeitlich genau begrenzt sind. Außerdem hatten BBC sowohl wie ITA die Möglichkeit, die Wahlen in ihren Programmen als Nachrichten und in Form von Diskussionen zu bringen. Die Überwachung und Regelung parteipolitischer Fernsehprogramme erfolgt durch ein Komitee, das aus den Führern des Unterhauses und der Opposition, den konservativen-und Labour-Einpeitschern sowie den Generaldirektoren der BBC und des ITA zusammengesetzt ist. Die Erfahrungen aus früheren Wahlkämpfen haben zu einer Lockerung der Regelungen geführt, weil man, wie Butler und Rose in ihrem Buche " The British General Flection of 1959" sagten, einsah, daß eine Absicherung gegen einen Mißbrauch des Fernsehens bei den Wahlen nicht in Gesetzen liegt, sondern in der Tatsache, daß die verantwortlichen Leiter des Fernsehens den Parteien gegenüber fair sein wollen und daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, es zu sein. Im New Statesman vom 9. Oktober 1964 gab John Holmstrom ein Urteil über den Charakter und die Wirksamkeit der parteipolitischen Fernsehprogramme ab, das wohl von allen, die — wie der Verfasser — diese Bemühungen der Parteien über sich hatten ergehen lassen, geteilt wird. Er schrieb unter anderem: „Kommentatoren sind sich einig darüber, daß diese Programme mit ihrer Verteilung von odium und tedium sich gegenseitig aufheben, soweit es sich um Einfluß auf die Öffentlichkeit handelt. Sicher haben sie die Zahl der Unentschiedenen und Uninteressierten vermehrt. Gewandte Politiker jeglicher Färbung sind in der Lage, ein überzeugendes wirtschaftliches Gebräu zusammenzusieden, das den unentschiedenen Zuschauer vollkommen verwirrt. Das Heranziehen menschlicher Ideale war höchstens lauwarm. Da es leider schmerzlich klar geworden ist, daß keiner der Parteibonzen ein begabter Fernsehstar ist — auch nicht annähernd so durchschlagend und elegant wie der gute alte Grimond (der liberale Führer), obwohl es natürlich hauptsächlich seine Tollkühnheit ist, die einen berührt —, warum gräbt man dann nicht einen begabten und dynamischen Parlamentarier der hinteren Parteibänke aus, der dies besser machen würde?"

Die Vortragenden vergaßen, daß sie in den meisten Fällen zu einer Familiengruppe in deren eigenem Heim sprachen und nicht vor einer Wahlversammlung in einer großen Halle standen. Ein Umfrage-Institut errechnete, daß 8 Millionen Fernsehapparate in 45 Prozent aller Wohnungen in Großbritannien während der Wahlsendungen eingeschaltet waren; aber das Resultat ist depremierend für die Fernsehpolitiker. Rundfragen ergaben nämlich, daß an jedem achten Fernsehapparat während der Sendungen der Ton abgestellt war. Diejenigen, die tatsächlich zuhörten, waren in den meisten Fällen am nächsten Tage nicht mehr in der Lage anzugeben, was die Politiker gesagt hatten. In sehr vielen Fällen haben die Zuschauer überhaupt nicht verstanden, worüber die Politiker gesprochen haben und was sie eigentlich sagen wollten. Im allgemeinen waren die Sprecher der Labourpartei verständlicher, weil sie sich auf greifbare Probleme wie zum Beispiel Schulpolitik und Wohnungsbau konzentrierten, während die konservativen Redner oft mit abstrakten Begriffen wie zum Beispiel „Wohlstand mit einem Zweck" operierten, die nicht verstanden wurden. Die meisten Zuschauer, ungeachtet ihrer politischen Sympathien und ohne Rücksicht auf die Sprecher, sagten aus, daß das Fernsehen auf ihre Wahlabsichten keinerlei Einfluß ausgeübt hätte, es habe sie lediglich in ihrer Entscheidung bestärkt. Von den Unentschiedenen waren 29 Prozent der Anschauung, die Labour-Vorführungen seien sehr gut gewesen, während nur 6 Prozent die konservativen Bemühungen mit der gleichen Note bedachten. Die einzige Vorführung, welche die Möglichkeiten des Fernsehens wirklich auszunutzen verstand, war eine parteipolitische Sendung der Liberalen, in der geschickt und mit Takt eine hübsche Schauspielerin mit Frische, Charme und Natürlichkeit vortrug, warum sie für die Liberalen stimmen würde. Der Leiter dieser Veranstaltung, Ludovic Kennedy, sprach dann mit einer Eindringlichkeit und einer Überredungskunst zu den Zuschauern, als säße er ihnen gegenüber. Das war ein Beweis, daß Fernsehen als politisches Werbemittel richtig verwendet sicher noch eine Zukunft hat.

Die Meinungsumfragen

Prozentuales Verhältnis zwischen Stimmen und Sitzen 1945— 1964

Flavus schrieb im New Statesman am 9. Oktober 1964; „Ich gebe es auf, die Meinungsumfragen zu verstehen." Aber ohne die Meinungsumfragen, die in Großbritannien von einigen Organisationen Jahr um Jahr monatlich durchgeführt werden, würden die Parteien fast vollkommen im Dunkeln tappen und von den tatsächlich erfolgenden großen Schwankungen der Wählermassen und der einzelnen sozialen Gruppen der Bevölkerung keinerlei Kenntnis bekommen. Meinungsumfragen gibt es in Großbritannien seit 1938; in diesem Jahre begann Dr. Gallup auch in Großbritannien Meinungsumfragen vorzunehmen, nachdem er in Amerika die Wiederwahl F. D. Roosevelts vorausgesagt hatte. 1945 versuchte sich das Britische Institut der öffentlichen Meinung (heute Social Surveys, Gallup Poll Limited), dem der Verfasser für seine freundliche Hilfe dankt, das erste Mal an den britischen Wahlen mit recht gutem Erfolg. Seit dieser Zeit haben eine Reihe von anderen Umfrage-instituten bei allen Wahlen ihre Untersuchungen durchgeführt und Voraussagen gemacht.

Diese Voraussagen kamen im allgemeinen so nahe an das wirkliche Resultat, daß man von einem Zufall nicht mehr sprechen kann und zugeben muß, daß diese Meinungsbefragungen tatsächlich in ihren Methoden einen richtigen Grundsatz entdeckt haben: nämlich, daß es möglich ist, mit Hilfe einer richtigen Auswahl des Wahlvolkes, der wirklichen Stimmung im Volke nahe zu kommen. Der Akzent liegt natürlich auf den Worten „richtige Auswahl". Es würde zu weit führen, hier darauf einzugehen. Es genügt zu sagen, daß eine kleine Gruppe (etwa 2000) von Wählern sorgfältig nach Alter, Geschlecht, Religion, Beruf, Vorbildung, Einkommen und so weiter ausgesucht und befragt wird, und zwar in einer Anzahl von charakteristischen Wahlkreisen (bei Gallup zum Beispiel 200). Die Frage, die ihnen gestellt wird, ist: „Wenn morgen allgemeine Wahlen stattfänden, wie würden Sie wählen?" Die Unentschiedenen werden dann weiter gefragt, welche Partei ihnen sympa-tischer ist. Wenn man die periodischen Resultate der vier bedeutendsten Meinungsforschungsinstitute (Gallup, National Opinion Polls — NOP —, Daily Express und Research Services) als Annäherungen an die wirkliche Stimmung akzeptiert — und die Resultate der Umfragen verglichen mit dem wirklichen Resultat der Wahlen geben dazu jede Berechtigung —, so ist man gezwungen anzuerkennen, daß in den vier Monaten vor den Wahlen ganz auserordentliche Schwankungen in den Wahlabsichten des Volkes vor sich gingen. Während Labour im Juli noch einen Vorsprung von 9, 5 Prozent vor den Konservativen hatte, war Ende September dieser Vorsprung vollständig verschwunden, ja die Konservativen lagen mit 0, 5 Prozent in Führung. Zwischen dem 25. September und 9. Oktober ging Labour wieder bis zu 6 Prozent in Führung und fiel dann in der letzten Umfrage vor den Wahlen, am 8. Oktober, wieder ab auf 3, 5 Prozent.

Woher, fragte man sich, kam diese merkwürdige . Erholung'der Konservativen, die darauf schließen ließ, daß 1, 5 Millionen der Labouranhänger vom Juni 1964 wieder abgefallen waren. Die verschiedensten Erklärungen wurden dafür gegeben: der schöne Sommer, Verärgerung über den Poststreik, plötzliche Reue abgefallener Konservativen, die — je näher die Wahlen rückten — es mit der Angst bekamen, daß sie vielleicht einer Labour-Regierung die Tore öffnen könnten. Die starken Schwankungen in den Voraussagen der Befragungen übten natürlich ihre Wirkung auf die Gemüter der Parteiführer und Parteimitglieder aus. Labour-Anhänger befürchteten, daß die Konservativen ihnen doch wieder in letzter Minute den Rang ablaufen würden, während die Konservativen, wenn auch zögernd, langsam wieder Mut faßten und auf eine Wiederholung ihres Sieges von 1959 hofften. Auf jeden Fall hatten die ständigen Veröffentlichungen der Meinungsbefragungen die Wirkung, daß beide Parteien sich vielmehr anstrengten, als sie es sonst wohl getan hätten. Das Bestehen der Umfragen hat den Wahlkampf grundlegend verändert. Die nebelhaften Vorstellungen über die Einstellung der Wähler sind verschwunden;

die Parteien haben sozusagen ständig die Hand auf dem Puls der Wähler, und Überraschungen in Form eines unerwarteten Ergebnisses sind zumindestens wesentlich seltener geworden.

Eine Frage drängt sich natürlich auf: Haben die Umfragen einen direkten Einfluß auf das Ergebnis der Wahlen? Bringt zum Beispiel eine Meinungsbefragung, die eine ganz knappe Mehrheit für die Labourpartei voraussagt, konservative Wähler, die eigentlich vorhatten, der Wahl fernzubleiben, nun doch an die Wahl-urne, um einen Sieg der Gegenpartei zu verhindern? Mr. Blake von Social Surveys, den der Verfasser um seine Meinung befragte, glaubt nicht, daß sich eine solche Wirkung beweisen läßt. Die geringe Wahlbeteiligung vom 15. Oktober 1964 spricht auch dagegen; denn es war den Wählern nach den Umfrageergebnissen klar, daß es nur einen knappen Sieg für die eine oder andere Partei geben würde. Trotzdem blieben 23 Prozent der Wähler den Wahlen fern, obwohl unter ihnen sich sicher eine ganze Reihe befand, denen es nicht gleichgültig war, welche Partei an die Macht kommt.

Resultat

Als die Wahlen am 15. Oktober um 21 Uhr bei heftigem Regen in London zu Ende gingen, waren mehr Labour-Anhänger als Konservative optimistisch. Die Umfragen — mit Aus-nähmedes Daily Express — hatten am Wahltage eine prozentuale Mehrheit der Stimmen für die Labourpartei prophezeit oder besser errechnet. Gallup gab einen Pendelausschlag (gegenüber 1959) zugunsten der Labourpartei von 3, 2 Prozent, die National Opinion Poll der Daily Mail sogar einen von 3, 7 Prozent, während der Daily Express mit einem Umschwung zugunsten der Labourpartei von nur 1, 8 Prozent den Konservativen einen größeren prozentualen Stimmenanteil gab (siehe Anhang). Obwohl man vorher errechnet hatte, daß ein Umschwung zugunsten der Labourpartei von 3, 7 Prozent notwendig sei, um ihr nur eine kleine absolute Mehrheit im Unterhaus von etwa acht Sitzen zu verschaffen, hofften die Labour-Anhänger, trotz des wenig günstigen Abendregens (der die Labourwähler zu Hause hält), auf einen Sieg. Die Börse — für manche ein sicheres Zeichen des Wahlverlaufes — war seit Tagen erratisch gewesen — kein gutes Omen für einen Sieg der Konservativen. Als aber in Millionen von Heimen die ersten Resultate auf den Fernsehschirmen erschienen — der fortschreitende Wahlbericht war vom BBC ausgezeichnet organisiert —, waren die Optimisten in der Labourpartei sicher, daß sie gewinnen würden, während Konservative, die interviewt wurden, sich weigerten, die fortschreitende Zahl der Labourgewinne als schlüssig anzusehen. Wilson, der von Zeit zu Zeit befragt wurde, war vorsichtig und meinte, von einem Sieg könne erst die Rede sein, wenn die magische Zahl von 316 (die absolute Mehrheit) erreicht ist; er gab aber zu, einigermaßen optimistisch zu sein. Um 1. 45 Uhr morgens, als die meisten passionierten Wähler zu Bett gingen, war derStand: Konservative 163, Labour 232, Liberale 2. Das schien den Uneingeweihten einen großen Sieg für die Labourpartei anzudeuten; aber wer zum Beispiel im New Statesman die Informationen und Anweisungen gelesen hatte, war weniger sicher. Dort waren Tabellen abgedruckt, die für verschiedene „Übernacht-Resultate" angaben, welche Endzahl Labour erwarten könne. Da stand, daß Labour bei 231 Sitzen über Nacht nur 300 Sitze erwarten könne und bei 247 über Nacht nur 319. Der Generalsekretär der Labourpartei hatte offensichtlich diese Tabellen nicht gelesen, denn er verkündete schon kurz nach Mitternacht, daß Labour eine Mehrheit von 30 Sitzen erreichen werde. Der Statistiker des New Statesman sollte Recht behalten. Am Freitag morgen holten die Konservativen mächtig auf; obwohl die Labourpartei von der absoluten Mehrheit nicht mehr weit entfernt war, blieb sie lange Zeit bei 314 Sitzen hängen, während die Konservativen über die 300 kletterten. Erst drei Uhr dreißig nachmittags hatte Labour 315 Sitze und Sir Alec Douglas Home verließ Downing Street Nr. 10, um die Königin um seinen Rücktritt zu bitten, und bald wurde Wilson vom Buckingham Palast aufgefordert, zum Handkuß zu erscheinen, das heißt die neue Regierung zu bilden.

Es war wieder ein schöner Triumph für die Umfrageinstitute, die eine ganz knappe Entscheidung vorausgesagt hatten. Unrichtig war nur die von den meisten gestellte Prognose einer hohen Wahlbeteiligung. Mit 77 Prozent lag die Wahl von 1964 1, 7 Prozent unter der von 1959, kam aber ungefähr der von 1955 gleich. 1945, als die Labourpartei ihren bisher einzigen großen Sieg errungen hatte, war die Wahlbeteiligung nur 75, 9 Prozent gewesen.

Es ist nicht leicht zu sagen, was die Wähler an die Urne bringt. Schlechtes Wetter aber hält sie sicherlich ab, und da die Labourstimmen besonders am Abend anwachsen, ist es möglich, daß der heftige Regen die Labourpartei einige Sitze gekostet hat. Aber der Hauptgrund der geringen Wahlbeteiligung dürfte in der Apathie der jungen Menschen unter 25 Jahren liegen. Außerdem kann man auf einen Mangel an Begeisterung für irgendeine Partei schließen, auf eine Stimmung im Volke, die die Times am 9. Oktober in ihrem Leitartikel zum Ausdruck brachte durch die Worte: , Was macht es aus, ob die Konservativen oder die Labourpartei an die Regierung kommen?'Für die Welt bedeutet es nicht viel, für Großbritannien wenig, aber für die Parteien alles'anwortete die Times auf ihre eigene Frage. Und die Wähler, die so dachten, sahen keinen Grund, um der Parteien willen zur Wahlurne zu gehen. Man kann der Meinung sein, daß die Times sich geirrt hat. Der knappe Sieg der Labourpartei, der sich, wäre eine Handvoll Stimmen anders abgegeben worden, vielleicht in ein noch weniger erfreuliches Unentschieden gewandelt hätte, kann sich für die Welt und für Großbritannien ungünstig auswirken. Eine starke Regierung hätte wenigstens das Moment der Unsicherheit ausge-schaltet, das dadurch gegeben ist, daß man vielleicht in 6 Monaten oder einem Jahr neue Wahlen wird durchführen müssen. Es scheint aber, daß im Volke weder für die Konservativen noch für die Labourpartei große Begeisterung herrscht. Es hat solch knappe Resultate schon früher gegeben; ein Blick in die Statistik zeigt, daß das Ergebnis dem von 1950 sehr ähnlich ist; 1950 hatte die Labourpartei 750 000 Stimmen mehr als die Konservativen, diesmal nur 200 000; damals hatte die Labourpartei 17 Sitze mehr als die Konservativen, diesmal nur 13. Aber in Wirklichkeit ist die Wahl von 1964 wesentlich günstiger für die Labourpartei, trotz der geringen Majorität und der ernüchternden Tatsache, daß die Anzahl der Wähler seit 1951 bei jeder Wahl zurückgegangen ist und heute 1, 7 Millionen unter der Stimmenzahl liegt, die sie damals erringen konnte.

1951 13 948 605 1955 12 404 970 1959 12 215 538 1964 12 205 606 Dennoch ist das Ergebnis für die Labourpartei, wie gesagt, heute günstiger als im Jahre 1950, weil damals eine müde und abgekämpfte Regierung, die sich wenigstens auf eine große Majorität hatte stützen können, nun plötzlich mit einer ganz minimalen Mehrheit arbeiten mußte, die große Anforderungen an die Abgeordneten stellte. Heute dagegen, nach 13 Jahren „in der Wüste", ist eine frische und angriffslustige Regierung an der Macht, die, vielleicht gerade durch die Knappheit ihrer Majorität gezwungen, sich besonders anstrengen wird, ihre Autorität zu vergrößern, damit sie dann bei den nächsten Wahlen mit erhöhter Mehrheit ins Parlament einziehen kann. Zwei Zwischenwahlen in Wahlkreisen, in denen die Labourpartei nur mit winzigen Majoritäten gesiegt hat (7 Stimmen in Brighton-Kemptown, 27 in Ealing North) könnten allerdings die Regierung rasch zu Fall bringen, wenn die Liberalen mit den Konservativen stimmten.

Aber soviel Pech wäre ungewöhnlich.

Die Labourpartei hat die Wahlen gewonnen, weil die Wähler nach 13 Jahren konservativer Regierung einen Wechsel sehen wollten. Nur wußten sie m. E. nicht recht, was für einen Wechsel sie wünschen sollten. Die Konservativen waren zu lange an der Macht gewesen, die Sozialisten würden unter Umständen mit einer Wiederholung der Beschränkungen aufwarten, die sie dem Volke 1945— 1951 aufgebürdet hatten, die Liberalen waren auf jeden Fall zu schwach. Der britische Wähler ist vorsichtig und langsam und es wäre undenkbar, daß er die Liberalen in so großem Maße unterstützt hätte, daß diese die Regierung hätten bilden können. Sein Vertrauen in die Labourpartei war im Oktober 1964 nicht groß genug, um einen entscheidenden Sieg herbeizuführen. Deshalb ist es die Aufgabe der Labourregierung, nun zu zeigen, ob sie in der Lage ist, die Regierung so zu führen, daß eine genügend große Anzahl von Wählern, besonders weiteren Wählern der Mittelklasse, zu ihnen Vertrauen gewinnen. Nur dann wird sie bei den nächsten Wahlen eine entscheidende Mehrheit erlangen. Die Labourpartei war zu lange in der Opposition und auch ihre Opposition hatte nicht alle überzeugt. Der Grund hierfür war wahrscheinlich die innere Spaltung zwischen linkem und rechtem Flügel. Diese Spaltung scheint heute, seit dem Tode Gaitskells, überwunden worden zu sein, sie gilt aber nicht als endgültig beseitigt. Das Warnungssignal, daß etwas in der Labourpartei nicht stimmt, ist das ständige Absinken ihrer Stimmen; der Hoffnungsstrahl die Mehrheit der Sitze im Parlament. Das starke Gewicht, das die Gewerkschaften in der Partei haben, erschwert es ihr, ebenso wie der linke Flügel, das Vertrauen der Mittelklasse zu gewinnen. Noch ernster wäre die Gefahr, wenn die Labourpartei die Fühlung mit der wohlhabenden Arbeiterschicht verlieren würde. Darauf hat Enoch Powell, ein liberal orientierter und konservativer Abgeordneter und ehemaliger Minister, in einem Artikel im " Observer" vom 18. Oktober hingewiesen. So merkwürdig es klingen mag, die aktive Labourpartei, mit ihren Mitgliedern aus Gewerkschaften und Intelligenz, steht in einem deutlichen Gegensatz zu den Labourwählern im Lande. Meinungsbefragungen haben ergeben, daß Labourwähler zum Beispiel eine weitere Ausdehnung der Verstaatlichungen nicht wünschen; noch entschiedener lehnen sie die Einwanderungspolitik der Labourpartei ab. Sie wollen keine farbigen Nachbarn haben, die Opposition, welche die Labourpartei 1962 gegen das Gesetz über die Einwanderungsbeschränkung aus dem Commonwealth führte, hat sie bei den Wahlen von 1964 wahrscheinlich drei Sitze gekostet. (Smethwick, Perry Bar und Eton Slough).

Für die Konservativen ist die knappe Niederlage keineswegs eine Katastrophe, wenn sie auch 1, 75 Millionen Stimmen verloren haben und ihr prozentualer Stimmenanteil um 6 Prozent zurückgegangen ist. Der Stimmrückgang ist — so groß er aussehen mag — schon deswegen nicht gefährlich, weil diese Stimmen hauptsächlich den Liberalen zugute gekommen sind, die jederzeit wieder zu den Konservativen zurückkehren können und auch werden, sobald ihnen die Labourpolitik zu sozialistisch wird. Dieser Umstand allein sollte der Labourregierung Grund genug sein, eine mäßige Politik zu betreiben. Es ist ein Zeichen der Robustheit der Konservativen, daß sie trotz ihrer 13jährigen Machtperiode, trotz vieler Rückschläge und Skandale fast genau so viele Stimmen und Sitze wie die Labourpartei erhalten haben. Sie können sich sogar damit trösten, daß ein knapper Sieg ihrerseits oder, was viel wahrscheinlicher gewesen wäre, eine Minderheitsregierung, ihnen vielleicht auf die Dauer mehr geschadet hätte. Unter den gegebenen Umständen jedoch wird es ihnen bei kluger und weitschauender Leitung und einem ehrlichen, selbstkritischen Durchdenken der Ursachen ihres Mißerfolges möglich sein, sich zu regenerieren, neue Ideen zu finden und einen neuen Anlauf zu machen, um die Regierung wieder zu übernehmen. Die Partei hat eine ganze Reihe von klugen, relativ jungen Köpfen in ihren Reihen.

Sie hat überhaupt eine größere Anzahl an jungen Leuten im Unterhaus als Labour:

150 konservative Mitglieder zwischen 20 und 49 Jahren 123 Labour-Mitglieder zwischen 20 und 49 Jahren 48 konservative Mitglieder über 60 Jahre 87 Labour-Mitglieder über 60 Jahre Wesentlich schwieriger ist es, eine Prognose für die Liberalen zu stellen. Außer der Möglichkeit der Bildung einer neuen nicht sozialistischen radikalen Partei gemeinsam mit einer gereinigten Labourpartei ist es trotz ihres Achtungserfolges bei den Wahlen schwer, eine Zukunft für sie zu sehen. Da die Liberalen als einzige der drei Parteien einen Stimmenzuwachs zu verzeichnen haben und zudem einen ganz gewaltigen von 1, 5 Millionen, mag der Ausdruck Achtungserfolg fehl am Platze scheinen. Dennoch ist er richtig, weil die große Stimmenzahl nicht zu einem entsprechenden Anwachsen der Sitze geführt hat. Außerdem ist der Stimmenzuwachs teilweise dem Umstand zuzuschreiben, daß die Liberalen in 149 neuen Wahlkreisen einen Kandidaten aufstellten. Die beiden Riesenparteien können immer noch die Liberalen aus ungefähr 600 der 630 Sitze mit Leichtigkeit fernhalten. Denn in nur 50 Wahlkreisen kamen die Liberalen an die zweite Stelle mit über 25 Prozent der Stimmen.

Ein weiterer Grund für das Anschwellen der Wählerstimmen für die Liberalen war, daß die beiden großen Parteien in der letzten Zeit keinerlei Begeisterung bei den Wählern erwecken konnten. Der Führer der Liberalen, Mr. Grimond, ist nach Aussehen und Rednergabe der anziehendste der Parteiführer, aber sein Plan und seine Politik sind so wenig originell, daß es den anderen Parteien nicht schwer fallen sollte, ihre Ideen sich anzueignen. Abgesehen davon ist es durchaus möglich, daß bei den nächsten Wahlen viele Wähler, die diesmal von den Konservativen abgesprungen sind und den Mut zeigten, liberal zu wählen, weil sie liberal dachten, wieder zu den Konservativen zurückkehren werden.

An sich ist die Idee einer liberalen Partei zu begrüßen, die gegenüber den beiden großen — sich auf konforme Gruppen stützenden — Parteien die Rechte des Individuums, die Interessen, Würde und Freiheit des Einzelmenschen vertritt; aber die Gefahr, daß eine dritte Partei ihre Zwischen-und Angelstellung dann doch nur zu machtpolitischen Zwecken ausnützt, ist zu groß, als daß man sie von ganzem Herzen begrüßen könnte.

Anhang

In Großbritannien ist eine nach Ländern oder Volksgruppen geordnete Aufstellung nicht üblich, aber für den Ausländer aufschlußreich. Man sieht, daß ein Ausscheiden Nord-irlands durch Vereinigung mit Eire die Konservativen 12 sichere Sitze kosten würde.

Konservative und Liberale haben mehr junge Abgeordnete als Labour. Der Grund hierfür ist, daß der Labour-Kandidat häufig aus der Arbeiterklasse und den Gewerkschaften kommt und erst eine Schulung in Parteiorganisationen, Gemeinde-und Stadträten durchlaufen muß, bevor er als Abgeordneter in Frage kommt. Das hohe Durchschnittsalter und die größere Zahl der Abgeordneten über 60 Jahre ist für die Labourpartei insofern gefährlich, weil Todesfälle in diesen Altersgruppen häufig sind und die Partei bei der kleinen Mehrheit im Unterhaus Zwischenwahlen nicht verlieren darf.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Autor dankt Herrn Butler für seine freundliche Zusendung einer detaillierten, von Elektronen-rechenmaschinen ausgearbeiteten Wahlkreisübersicht.

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Joachim-Friedrich Kahn, Dr. jur., geb. 8. Dezember 1907 in Berlin, 1937— 1939 und 1945— 1954 Dozent (Senior Lecturer) für Politische Wissenschaften an der Universität Wellington (Neuseeland), seit 1954 in Deutschland frei wissenschaftlich tätig. Veröffentlichungen: Zahlreiche Arbeiten zu Themen der politischen Wissenschaften und der politischen Theorie vornehmlich in englischsprachigen Zeitschriften.