Der Münchener Ordinarius für Pädagogik nimmt in dieser Ausgabe von einer bestimmten Position her zu Grundfragen unserer Zeit Stellung. Wir veröffentlichen seine Arbeit als einen bedeutsamen Beitrag zur Diskussion.
In einer Zeit, in der die Angst und die Gefährdung des Menschen eine bedrängende Erfahrung wurden, ist das Suchen nach gültigen Richtbildern für die menschliche Existenz zum zentralen Anliegen geworden. Was eine moderne Psychotherapie als „existentielle Frustration"
In einer solchen Situation gewinnen die Fragen nach dem Schicksal des Humanismus und der Humanitätsidee in der modernen Welt einen zentralen Bezug.
Jene Anliegen besagen im Grunde nichts weniger als die Frage nach unserer gültigen menschlichen Situation mit allen ihren Perspektiven und Problemen. Wenn dennoch ein Versuch gewagt werden soll, dieses unser Selbst-und Weltverständnis zu erhellen, so unter der Einsicht, daß diese, das Eigentliche des heutigen Menschen anrührende Frage uns eine kaum noch zu vertagende Entscheidung abfordert. In dieser Entscheidung, ja schon in den Vorentscheidungen über Wesen und Bestimmung des Menschen zeichnet sich geradezu der gesamte unbewältigte Lebenshintergrund unserer Zeit gültig ab.
Unser Thema wäre jedoch mißverstanden, wollte man es dahin interpretieren, daß die Idee der Humanität nur im Zusammenhang mit einer bestimmten geistesgeschichtlichen Bewegung, eben dem Humanismus oder dem Neuhumanismus, zu begreifen sei. Gewiß deutet der Begriff des Humanismus für uns zu-erst auf diese Ursprungsräume hin. Allein die Idee der Menschlichkeit ist ebenso als eine zeitlose Idee verstanden worden, mit vielschichtigen Wurzeln. Danach wäre unser Humanismus nur eine dem abendländischen Menschentum entsprechende und geschichtlich bedingte Ausprägung. Jene Frage aber, ob eine Menschlichkeit als zeitlose und übergreifende Idee, gewissermaßen als das „Fazit“ aller Humanitätsideen der Menschen und der Zeiten möglich wäre, betrifft dann die fundamentale Frage unserer eigentlichen heutigen Verlegenheit in einer sich immer enger fügenden Welt.
I. Humanismus und Humanität?
Die Sprachverwirrung unserer Richtbilder ist fast babylonisch, wenn man nur die verschiedenartigen Auffassungen zu dem bedenkt, was unter „Humanismus" verstanden wird. Gefordert wird ein realer, pragmatischer, technologischer, naturwissenschaftlicher, integraler, sozialer, paideutischer, lebendiger, absoluter, positiver, christlicher, globaler Humanismus, um nur diese Formen hier zu nennen. Dies sind höchst different zu bestimmende „Ansätze“, denen notwendig immer ein je bestimmtes „Vorzeichen" des gesamten Selbst-und Weltverständnisses zugrundeliegt. Wenn Humanismus verstanden werden soll als eine Auffassung vom Menschen, wonach der Mensch nicht nur als „Naturtatsache"
oder als Lebewesen neben anderen Lebewesen bestimmt wird, sich in seiner Geistesausstattung jedoch über alles Naturhafte und Lebendige erhebt, so ist mit einer solchen, noch in der Nähe des Hominismus verbleibenden Bestimmung wenig ausgesagt.
So muß es also als ein vergebliches Bemühen gelten, eine gemeingültige Definition des Humanismus zu finden, da sie immer nur formalen Charakter haben könnte. Jede Real-definition des Humanismus steht notwendig immer in funktionaler Korrespondenz zu einem jeweiligen Bild vom Menschen, zur Anthropologie. Wenn aber Humanismus eine geistige Haltung zum Selbst, zu Mitmensch, Welt und Transzendenz ist, so kann diese aber ebenso der historischen Fixierung nicht entraten. Immer umschreibt Humanismus ein je bestimmtes Grundverhalten, ein Selbstverständnis, wie es sich in den spezifischen Formen in der griechisch-römischen Antike, in jener zur Renaissance hinzielenden Geistes-bewegung, im Neuhumanismus und in der Gegenwart wesenhaft verschieden anzeigt.
Es besteht die These, daß Humanismus grundsätzlich den Primat des Menschen und seiner Stellung in der Welt postuliere, des Menschen als Maß aller Dinge, wie es Prolagoras meinte. Jeder Humanismus wäre demnach anthropozentrisch. „Daß der Mensch vor dem Sein sei, welches Sein er im Grunde erst entdecke"
In naher Verschränkung mit dem Humanismus wird oft auch die Humanitätsidee zu bestimmen gesucht. Das Römerwort humanitas dürfte wohl erst im 18. Jahrhundert durch Herder als Humanität in die deutsche Sprache gekommen sein. Es bezeichnet hier jene „edle Gesinnung, die sich selbst erlöst, und das Mitgefühl mit dem Leide des Menschen".
Was also ist wahre Menschlichkeit?
Man spricht vom Bewußtsein um das persönliche Sein, die Personalität, erfahren in dem, was die Griechen den Logos nannten. Persönliche Menschlichkeit wird dann verstanden als die Befreiung des Menschen vom unpersönlichen typischen Dasein des ursprünglichen Mythos, in dem der einzelne ganz aufgeht als Glied in einer angeborenen Gemeinschaft
II. Der neue Mensch in der neuen Gesellschaft
Weittragende Veränderungen im soziologischen und damit auch im geistigen Gefüge haben eine Umwelt geschaffen, in der jener uns heute noch am nächsten beteiligende neu-humanistische Gedanke einer Individualkultur kaum noch Raum zu gewinnen scheint. Eine unheimliche Macht des Kollektiven überdeckt in zunehmendem Maße eine genuin abendländische Menschen-und Bildungsauffassung mit dem Einströmen der Massen in die höheren Schulen und Universitäten bei fast allen hoch-entwickelten Völkern. Damit aber wurde heute die Relation von Individualismus, Humanismus und Kollektivismus zum Hauptanliegen unserer politischen, wirtschaftlichen und bildungstheoretischen wie auch bildungspraktischen Sorgen. Immer zudringlicher scheint jene These an Raum zu gewinnen, die keinen Persönlichkeitsstatus mehr gelten läßt, ohne daß er aus dem ständigen gesellschaftlichen Bezug erwachsen ist. Gewiß lag auch in der humanistischen Bildungsidee das gesellschaftliche Moment beschlossen, insofern die Überzeugung bestand, daß die gereifte und in sich selbst bestehende Persönlichkeit um so mehr für die Gesellschaft bedeutet, je tiefer sie sich selbst und die Welt der Dinge kritisch erfaßte und geistig ausformte — einer Gesellschaft, auf die die Werte ihrer Persönlichkeit notwendig wieder auch zurückwirken. Doch heute scheint mit der Proklamierung des „Normalmenschen" als Bildungsfall, mit der Typisierung auch der geistigen und seelischen Bereiche, der Einebnung aller individualen Markierungen, mit der Bekämpfung des Einmaligen, das nur als Produkt der gestaltenden Umwelt gesehen wird und daher keine spezifische, prägende Funktion im Leben der Kultur und der Gesellschaft mehr besitzen soll, die Idee einer humanistischen Persönlichkeitsbildung fast unreal geworden zu sein. Die Gefahr, daß damit kein Wirkraum für eine Elite belassen wird, eben weil auch diese kaum noch auszureifen vermag, könnte dann kaum noch gebannt werden. Feinsinnig zeichnet diese bedrohliche Situation der Intelligenz Alfred von Martin
Wenn ein Zeichen der wahren Humanitätsidee die Freiheit der Persönlichkeit ist, so bleibt aber hier die Frage, welche Chance dem einzelnen innerhalb des Apparates der modernen Arbeitswelt für diesen Eigenbezirk noch bleibt. Wenn der einzelne nur mehr eine Teilfunktion hat an irgendeinem Platz im Plane des Ganzen, den er weder entwirft noch gestaltet, wenn seine Arbeit sich nur mehr als organisierbare, schematisierbare Tätigkeit darstellt, die andere planmäßig vorformen und regulieren, wenn er also alles aus zweiter Hand erhält und nicht mehr in der Lage ist, wesentliche Erfahrungen zu machen, so hat man nur noch von „Surrogatformen individueller Freiheit“ gesprochen, als Unbeteiligtheit der Person an dem schematisierten Getriebe, als Rückzug in die private Sphäre
Selbst die errungenen Freiheiten der verlängerten Freizeiten vermögen oft gar nicht als befreiende Freiheit empfunden zu werden, eher als Last der „Langeweile", dieser heute so kennzeichnenden innerseelischen Situation, die durch das Fehlen eines gültig übernommenen Daseinssinnes und die durch die Vermassung bewirkte Vereinsamung des Menschen recht eigentlich bewirkt wurde
Man sucht nach neuen Leitbildern für die technisierten Lebensprozesse. Unter dem Bilde des „vollkommenen Menschen" begreift eine neue gesellschaftlich und sachlich „ausgerichtete" Bildungsidee die Schaffung eines neuen Menschen. Nicht das Bild der entfalteten und an geistig-kulturellen Bereichen gereiften, das heißt zu sich selber bewußt werdenden Persönlichkeit erscheint das Ziel, sondern der an die Gesellschaftsstruktur mit ihren besonderen, die Persönlichkeit einschmelzenden Bedingungen „angepaßte" Mensch, der zwar auch denkt, aber nur im Funktionszusammenhang werkzeughait politisch, geistig, weltanschaulich, ökonomisch-technologisch „funktioniert“. Die Aristokratie einer geistigen Welt, die ihre Würde und ihren Rechtsgrund aus dem Rang des Geistes selbst herleitet, war ein Wesensmerkmal aller humanistischen Tradition. Allein gerade dieses Privileg des Geistes wird be-wußt aufgesogen von der Nivellierung des massenmäßigen, rechnenden, nützlichen Verstandes — einer „Bildungsidee“, die an Stelle einer früheren geistigen Elite heute schon als Ergebnis von Schule und Hochschule eine erschreckende „Typisierung bei einem Minimum von Bildungseffekt"
Selten wohl ist Fichtes Forderung „Gebt mir einen großen Gedanken, damit ich davon lebe!“ so notvoll und in solcher Verlegenheit erfahren worden wie eben heute. Die Frage, ob der moderne Kulturprozeß noch lenkbar ist, ja ob er überhaupt je lenkbar war, zeigt an, wie tief man einem unabweislichen Geschehensablauf schon verfallen ist. Tritt nicht die einst von Menschen selbst erzeugte Kultur und Zivilisation jetzt als ein überpersönliches anonymes Gebilde, als beherrschende Macht eben diesen Menschen drohend gegenüber?
Und trat nicht nun nach den Gesetzesmächten der „Kultur" und der „Natur" eine anonyme Geschichtsmächtigkeit an die Stelle der göttlichen Lenkung? Dieses Sich-ausgeliefert-Fühlen an einen irgendwie immer kollektiv gedachten Ablauf droht mit der Vernichtung der Freiheit des einzelnen oft schon den Ansatz zu einer neuen Lebens-und Bildungsbemühung zu ersticken. Der Zweifel, ob „Bildung" überhaupt noch möglich sei, ob es also noch den Anspruch einer überpersönlichen und über-zeitlichen Wahrheits-und Wertordnung gibt, findet sich in der Erfahrung, daß das Urpersönliche herrschend wurde, daß überkommene Ordnungen und Sozialgebilde als Regulative der Lebensführung ihren Einfluß weithin verloren haben. Doch wirft dieser heutige Mensch nicht gar zu willig seine eigene Freiheit und Verantwortung ab zugunsten jener „Superstrukturen“, in deren Geborgenheit es sich so „standardisiert" und gesichert lebt? Will er selbst denn noch Persönlichkeit sein? Man darf heute vom „Verlust der sozialen Geborgenheit" sprechen. Unser Dasein hat weithin keinen glaubwürdigen Ausweis mehr, weil die Lebensformen, die Sitte, das Ethos, die Traditionsgebundenheit weithin zerfallen sind. Der öffentliche Lebensraum, der unsere Jugend umschließt, birgt keine Selbstverständlichkeit von Sitte, Brauchtum, Konventionen. Die „Erlebnisübertragung" (Scheler), wodurch in der statischen Gesellschaft die Kontinuität der Generationen gewährleistet wurde, ist nicht mehr bestätigt
In der dynamischen Gesellschaft herrscht eine hohe Mobilität mit dem Schwinden der Tradition, dem Pluralismus der Weltanschauungen, den Ideologien als Ersatzformen der Religion. Die „überlagernde Daseinsapparatur“ zeitigt nicht qualitative menschliche Persönlichkeiten, sondern Funktionsqualitäten. Der Funktionär hat bestimmten Aufgaben nach Maßgabe der aufgetragenen Spielregeln zu genügen. Nicht sittliche Entscheidungen werden gefragt, sondern ein Handeln nach zweckrationalen Spielregeln. Verapparatisierung und Bürokratisierung sind dann die entsprechenden Organisationsformen. Nur wer organisiert ist, vermag noch einen Handlungs-und Einflußbereich zu gewinnen. Apparaturen, Superstrukturen, sekundäre Systeme gewinnen Eigenleben, Eigengesetzlichkeiten. Die Meinungs-und Bedürfnis-steuerung sind die Führungsmächte der dynamischen Gesellschaft. Das dynamische System fordert einen Menschentypus, der sich den zahllosen Veränderungsprozessen anzupassen vermag. Es gibt weithin keine Möglichkeit mehr zu eigenen Urteilsfindungen, weil der Mensch nicht mehr das Ganze, sondern nur einen je bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit noch zu übersehen vermag. Daher werden die angestammten Bedürfnisse nach Sicherheit und Gewißheit in An-formung an den anderen befriedigt, was sich in dem System des Konformismus bestätigt findet
Der neue Mensch wird in seiner „gemachten"
Welt der Sachapparatur, der Produktions-und Bedarfsdeckungsprozesse nicht mehr als er selbst beansprucht, sondern nur als Träger von Funktionen. Eine solche Funktionalisierung der Person bewirkt, daß der Mensch, „sein Innerpersönlichstes, seine Emotionen, seine Affekte, Stimmungen, auch seine privaten Besinnungen" eher „Störungsfaktoren" und „Sand im Räderwerk der Apparatur" sind
Es mehren sich die Stimmen
III. Verplanung des Menschen als Ausweg?
Der „verplante" Mensch braucht nicht erst durch staatliche Maßnahmen angesteuert und sanktioniert zu werden. Er ist schon da, auf dem Wege einer fortschreitenden Verplanung seiner wesenhaft menschlichen Bezüge durch den neuen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Dirigismus, der wiederum durch die moderne Industrie-„Kultur" und die entsprechende Ökonomisierung bedingt ist: Wenn man Schulen errichtet, die für die Zukunft einer Nation erforderlich sind, kann nicht von Verplanung gesprochen werden. Entscheidend aber ist, welches Bildungsziel oder — wenn dies für manche Ohren zu ideologisch klingen sollte — welche Auffassung von der menschlichen Existenz in ihren fundamentalen Sinn-und Wertbezügen zugrundegelegt beziehungsweise schon als selbstverständlich, das heißt doch heute oft genug als dem modernen Empfinden entsprechend, vorausgesetzt wird. Die Richtung der Wegmarkierung auf den Pragmatismus und platten Utilitarismus als auf das verbreitete unterschwellige Lebensverständnis in der westlichen Welt, die hintergründige Zielsetzung eines Gebrauchs-und Verbrauchsstandpunktes oder, um mit Eduard Spranger zu sprechen, auf die einzig noch interessierende Frage des Einkommens, des Fortkommens, des Auskommens — hier ist Verplanung im eigentlichen und existentiellen Sinne. Jener neue soziologisch interpretierte und oft genug auch suggerierte „Gesellschafts-Dynamismus" ist aber auch eine mit sehr durchaus umschriebene Ideologie fixierten anthropologischen Bestimmungen und Vorzeichen.
Es ist bezeichnend, daß eine gewisse vorherrschende Richtung der heutigen Soziologie die Frage nach dem Menschen und damit auch die Frage nach der Gültigkeit und Fixierung seiner Werttafeln nur in bewußter Abhebung von den traditionellen Glaubensüberzeugungen zu sehen vermag. Wenn die Auffassung vertreten wird, daß die Frage nach dem Menschen auf zweierlei Art beantwortet werden kann: auf Grund eines religiösen oder sonst weltanschaulich fundierten Glaubens oder auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse, wobei nur dieser zweite Weg für „uns als wissenschaftlich Bemühte" in Frage kommen könne
Wenn aber nach anderer Auffassung die Freiheit des Menschen nur noch darin bestehen soll, daß und inwieweit man sofort auf Umweltreize reagieren könne, so stehen wir im animalischen Bereich. Eine Freiheit, die sich nicht anzupassen vermag, existiert danach gar nicht, weil sie zur Existenz-vernichtung führe. Heutzutage habe — so argumentiert man — die Werbung den ersten Zweck, den Markt nach den Bedürfnissen der Produktion zu verändern und zu formen. Das hieße Konsumzwang in der Weise auszuüben, die keine Möglichkeit offen läßt, sich dagegen zu stellen. Die Illusion der Freiheit bleibt aufrechtzuerhalten, indem die Entscheidung zwischen einer blauen und einer roten Krawatte offen bliebe. Aus dieser Einsicht besteht also nur noch die „Krawatten-Freiheit", die Einsicht in die Notwendigkeit der Anpassung an den Produktionsprozeß. Danach lautet dann der Grundsatz dieser neuen kollektiven Ethik: Du sollst konsumieren, um Dir und allen anderen zu nützen. „Wir alle werden als Mitglieder der Massengesellschaft von uns selbst als Angehörige und Abhängige des industriellen Systems vermittels angewandter Sozialtechnik zum Zwecke konformistischharmonischer Gesellschaftsregelung mit der Wirkung des Verlustes möglicher Wahrheitserkenntnis und des Verzichts auf Freiheit des Widerstandes gegen universale Anpassung manipuliert,“
Solche Thesen weisen in die Richtung einer vom Dialektischen Materialismus gezeichneten ökonomischen Gesellschaftsauffassung und Anthropologie, nur daß jenes Postulat bei uns nicht einmal eine kritische weltanschauliche Fundierung jener Prozeßgerechtigkeit aufweisen kann. Neben einer solchen gezielten ökonomischen Manipulierbarkeit des heutigen Menschen erscheint dann eine andere fast noch entscheidender und erregender. Wir meinen die biochemischen und biophysikalischen „Systeme von Kontrollvorgängen“. Die physikalisch-chemische Steuerung und Züchtung des Menschenlebens ist heute keine Möglichkeit mehr, sondern bereits eine nahe Wirklichkeit. Man spricht vom „Unternehmen Mensch" und diskutiert in jenen wissenschaftlichen Kreisen ernsthaft die Frage, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Steuerung durch planmäßige Veränderung der Gene möglich wäre. Eine solche umfassende planmäßige Züchtung des Menschen stellen sich Genetiker heute unter dem Modell eines Warenhauses vor: „Ein Weltunternehmen, in dem Samen von erbgesunden Männern in Tiefkühltruhen gespeichert wird, eingebettet in eine Substanz namens Glycerin, die das Unterkühlen von Spermen überhaupt eist möglich macht. Von jedem Spender müssen genaue Unterlagen über körperliche und geistige Eigenschaften, Vorfahren, Leistungen der Familie und so weiter beschafft und auf Karteikarten oder, da wir im Zeitalter der Elektronik stehen, auf Hollerithkarten dokumentiert werden. Ferner müssen Kataloge ausgegeben werden, in denen sich potentielle Mütter den Vater ihres Kindes aussuchen können — nicht ganz unähnlich jenen bunten Prospekten, die alljährlich von Versandhäusern für Tulpenzwiebeln verschickt werden ..."
Damit ist der Weg zur radikalen und universalen Manipulierbarkeit — zumindest in der Theorie — schon beschritten. Was soll dann noch die Rede vom Menschen und seiner Menschlichkeit, wenn die Anonymität notwendig geradezu als die Voraussetzung einer solchen Gesellschaft gelten muß? Schon vor 50 Jahren hat E. M. Forster
In solchem Zusammenhang darf ebenso die Möglichkeit zur „Umstimmung" des Menschen, ja zur Umschichtung seiner Persönlichkeitsstruktur durch chemische, physikalische oder medizinische Mittel, Praktiken und Methoden nicht unerwähnt bleiben. Was hier in Rede steht, betrifft nicht nur die Problematik bestimmter psychiatrischer und neurochirurgischer „Eingriffe", die über dem Spannungsfeld von gezielter Persönlichkeitsveränderung und menschlichem Ethos unmittelbar die Humanitätsfrage berührt. Erregender ist der Gedanke an eine mögliche geplante Steuerung als Beeinflussung seelischer Funktionen, der Antriebskomponenten, der Motivationen, der Ausschaltung zentraler Entscheidungsvermögen durch Drogen oder ähnliches. Der Einbruch der Technik in den Kern der menschlichen Persönlichkeit ermöglichte den „Tod der Persönlichkeit bei Fortdauer eines bloß vitalen Existierens"
Die weltanschaulichen Perspektiven und Konsequenzen der dem zugrundeliegenden Auffassungen vom Menschen sind hier wie dort oflenkundig.
Ein ganz anderes Kapitel einer Überfremdung des Menschen betrifft die starke Macht der sogenannten Massenmedien, auch der Presse. Die Möglichkeit, daß in diesen Ebenen die Ehre und der „gute Ruf" eines Menschen verletzt werden können, ohne daß dieser eine entsprechende Möglichkeit zur Abwehr besitzt, ist kaum ernsthaft zu bestreiten. Im Namen des Menschen und seiner Personwürde, im Namen also der Menschlichkeit sollte jene Auffassung nicht unbemerkt bleiben, daß im selben Maße, wie das Recht der Freiheit der Presse und anderer Medien dringlich und selbstverständlich erscheint, ebenso nicht nur ein heute unzulänglicher Rechtsschutz, sondern auch ein Rui-Schutz des Staatsbürgers vor der Presse und anderen Medien wirksam und ausreichend gesichert werden müßte, was bisher nicht der Fall ist. Gewisse Praktiken und Methoden könnten letzthin in die Vernichtung der gefeierten Freiheitsrechte und Ehrbezirke der Persönlichkeit zielen und Anlaß zur Besorgnis geben.
Es ist nicht zu verschweigen, daß jede Planung in Gefahr der Verplanung und jede Verplanung in Gefahr einer totalen Verplanung steht. Wenn aber totale Verplanung in der Konsequenz jedes Totalitarismus liegt, so steht ebenso jede fortschreitende Verplanung in der Gefahr einer totalitären Konsequenz.
Totalitarismus muß aber keineswegs immer schon staatliche Omnipotenz bedeuten! Soziale Steuerung aller Prozesse, Zerstörung der Tradition und konsequente Rationalisierung, Meinungs-und Bedürfnissteuerung, Steuerung der seelischen und sittlichen Grunderfahrungen und der sensationell-rentierliche Eingriff in die „Intimsphäre" entkleiden und entheben zuerst den Menschen, das Individuum, das was man mit Persönlichkeit meint in ihrer Freiheit des Eigensein-könnens und der Selbstbestimmung, eben dieser seiner wesenhait menschlichen Möglichkeiten und Merkmaligkeiten. Ob und inwieweit es freilich überhaupt noch in unserer Hand liegt, jenen offenbar notwendig fortschreitenden Prozeß selbst zu steuern, zu beherrschen — hier rühren wir an das Rätsel unserer eigentlichen Verlegenheit, wovon noch die Rede sein wird.
Nicht zu Unrecht hat August Wimmer
IV. Bildungskatastrophe oder Katastrophe des Menschen?
Eine besonders aktuelle Bedeutung erhält die Frage nach dem Schicksal des Humanismus und der Humanitätsidee in der modernen Welt im Hinblick auf die gegenwärtigen Bemühungen zur Behebung des „Bildungsnotstandes" in der Bundesrepublik und anderswo. Die dringende Notwendigkeit solcher Bemühungen bedarf keiner Rechtfertigung angesichts der Anforderungen, die durch die neue gesellschaftliche und ökonomische Situation gestellt werden. Allein ebenso bedarf es des Hinweises, daß statistische Berechnungen und Forderungen nach einer Vermehrung von Abiturienten und akademischen Absolventen, also die Mobilisierung von sogenannten „Begabungsreserven", fast in Analogie zu den „Rohstoffreserven", nicht ausreichen. Mit nur quantitativen Denkweisen kann man zwar Zahlen vermehren, aber weder eine Bildung noch eine Kultur „machen", die immer und zu allen Zeiten von tieferen Perspektiven lebten, die eben den Menschen als Menschen betreffen. Indem man bemüht ist, anstelle des Humanen das „Reale", ja das Realissimum, das Pragmatische zu setzen, wird das Eigentliche völlig übersehen. Ein homo laber, homo laborans, homo oeconomicus, homo technologicus vermögen als Ziel-und Richtbild nur im Materialismus zu verbleiben — diesen Begriff als geistige Haltung verstanden. Auf die Wertrangordnung kommt alles an! Auf die Frage also, was als „Oben" und „Unten" zu betrachten ist in der Wertordnung, in der Sinnordnung, ja auch in der Heilsordnung. Die Frage nach dem Wesen des Menschen war von altersher die Zentral-frage aller denkenden Bemühung, eine Frage, die heute im Bildungs-beziehungsweise besser Ausbildungsbereich öffentlicher Planungen und Diskussionen fast nirgends mehr auf-scheint. Von hier aus also gewinnt die Thematik um Humanismus und Humanität eine zentrale Gültigkeit.
Es ist ein Signum unserer Situation, daß sich für die Fragen der Bildung und Erziehung jedermann interessiert. Das ist ein erfreuliches Zeichen. Es ist aber ebenso bezeichnend, daß sich jedermann hier als zuständig erachtet — und das ist bestürzend. Offenbar besteht die Auffassung, daß als gültiger Ausweis für diese Zuständigkeit allein schon die Tatsache ausreicht, daß man selber einmal eine Schule besucht habe, wobei die „Rache der letzten Bank" bisweilen noch durchklingt. Dennoch aber halten wir diese verbreitete Auffassung für unheilvoll. Die Ebene des Bildungs-und Erziehungsgeschehens, die vielschichtige Problematik um die Erkenntnis und Begründung und vielseitige Verflochtenheit ihrer Sinn-, Wert-und Zielbestimmungen, sowie auch die praktischen Fragen der Schule und Schulorganisation können nicht zur Domäne der Journalistik, aber auch nicht der Jurisprudenz werden. Voraussetzung für eine fruchtbare und fundierte Diskussion und Forschung über die Belange der Bildung, der Erziehung und der Schule ist neben einem entsprechenden fachwissenschaftlichen Studium der Pädagogik und ihren philosophischen, psychologischen, soziologischen, ja auch theologischen Grundfragen eine eigene Schulerfahrung im Lehrberuf. Was für die Medizin und den Arzt eine Selbstverständlichkeit bedeutet, wird in der pädagogischen Ebene einfachhin negiert. Dies gilt noch ebenso häufig für die Ebene der wissenschaftlichen Pädagogik an Universitäten und Hochschulen
Planungen im Bildungs-und Erziehungsbereich, die nicht zuerst und bewußt mit diesen grundlegenden Fragestellungen nach dem Wesensmerkmal dessen fragen, was Bildung und Erziehung gültig sei und welche Bildungsziele als Ziele menschlicher Wert-gestaltung richtungweisend sein sollen, wirken geradezu alarmierend. Die fast ausschließlich von ökonomischen oder statistischen Gesichtspunkten geforderten und erhobenen Planungen erscheinen äußerst bedenklich. Bildung und Erziehung sind mehr als konkrete Plansoll-Erfüllung für eine industrielle Wohlstandsgesellschaft. Diese fundamentalen Aspekte gelten für alle Bildungsinstitutionen — von der Volksschule bis zur Universität und Erwachsenenbildung.
Das heute in der Bildungs-und Erziehungsebene dringendste Problem ist das einer Integrierung von Bildung und Ausbildung. Es ist ein Irrtum, daß der Mensch gültig in zwei Ebenen leben kann, in einer Innenwelt, die man humanisieren oder auch nur human konservieren und schützen könne, in der er also als „Privatperson" existiere, zum anderen aber, daß er in einer technischen Arbeitswelt lebe, die nur unter dem Signum des sachgemäßen Gebrauchs steht. Eine menschliche Daseinsverfassung wird nur dann möglich sein, wenn die von der technischen Arbeitswelt andrängenden Probleme ernsthaft ausgenommen und zu den übrigen Richtungen und Aspekten humanen Bestrebens in innere Beziehung gesetzt werden. Ein Leben auf zwei Ebenen, in zwei Stockwerken, muß jene seelische Gespaltenheit bewirken, die heute typisch ist.
Allein zuerst muß der sinnleihende Maßstab für die gesamtmenschliche Existenz, für die Bildung, gewonnen sein, ehe die fachlich-berufliche Ausbildung als Weg zur Bildung Gültigkeit zu gewinnen vermag — nicht umgekehrt. Dies bedeutet nicht, daß Planungen überflüssig wären. Es bedeutet aber, daß die Frage und die jeweilige Antwort nach der menschlichen Wertgestalt allen Planungen in der Bildungs-und Erziehungsebene voraus-liegenund auch den prinzipiellen Maßstab abgeben müssen
Bildung und Erziehung sind nur möglich im Medium umschriebener existentieller Positionen. Kein Mensch kann auf die Dauer ohne einen tragenden Sinn leben, geschweige denn bilden und erziehen. Das Gerede von der „Errungenschaft" des modernen Einzelseins und dem Leben in „offenen Horizonten" mit dem „planmäßigen" und plangerechten Erfinden von neuen Werten trägt nicht. Feste, bergende Horizonte sind aber nicht mehr da. Wir leben in einer neuartigen Situation, wofür die alten Sinn-und Werttafeln weithin abgelehnt werden, zumindest aber unverbindlich bleiben, wofür jedoch noch keine neuen Normen vorhanden sind, die ja weder kulturpolitisch noch planungstechnisch „gemacht" werden können — es sei denn als konventionelle Übereinkünfte, die im Tiefenbezirk unverbindlich bleiben. Hier aber bleibt die Frage an uns als die Feststellung: Bildung in der Zukunft und Bildung in die Zukunft sind nicht lösbar von der Vorfrage nach den tragenden Werten und Haltungen, die uns im Gewissen verpflichten können, aber auch verpflichten müßten. Hier aber liegt die eigentliche Frage einer Bildung für die Zukunft, sofern diese eben wahrhaft human, das heißt dem Wesen des Menschen wesensgemäß sein soll.
Es ist bedrückend, in welchem Maße solche Fragestellungen gar nicht mehr gefragt sind — sei es, daß man sie aus menschlichem Unvermögen oder aus der unheimlichen Angst vor der Verlegenheit um eine Antwort bewußt ausläßt, beiseite schiebt, ja als lästig und für die „Realitäten" im Lebensbereich und in der Bildungs-und Kulturpolitik als hemmend oder gar als gefährlich erachtet. Die nicht immer ohne politische Akzente verkündete drohende Bildungskatastrophe meint doch — wie ich sehe — nirgends und niemals die mögliche Katastrophe der Menschenbildung als die Katastrophe einer fehlenden sinnhaft übernommenen Existenz des Menschen, sondern eben nur der fachkundlichen „Ausbildung". In dieser Verwechslung liegt zuerst und in Wirklichkeit eine kaum erkannte Katastrophe. Gibt es keine Einsicht mehr, daß der Mensch mehr ist als eine „Marktpersönlichkeit", die man aus Begabungsreserven mobilisieren, traktieren, ausbilden und „einsetzen" kann? Ist der Gebrauchs-und Verbrauchsstandpunkt* wirklich das letzte Wort in der Diskussion um eine sogenannte „Bildungskatastrophe“? Soll diese seelische Verarmung wirklich heute das Ende eines Menschenbildes sein, das vielleicht noch aus der „christlichen Speisekammer der Großväter" zu leben vermeint, im Grunde aber unter Berufung auf die wissenschaftlichen, das heißt doch heute fast nur naturwissenschaftlichen Errungenschaften ein Lebensziel als Bildungsziel verheißt, um das zu leben sich nicht mehr lohnen könnte?
In solchem Zusammenhang wäre auf jene Auffassung der Bildung als einer rentierlichen Institution zu verweisen. „Der Bildungsaufwand ist als Investition im engeren Sinne zu betrachten, als Investition für den Ersatz und für die Erweiterung der Produktionskapazität und der Infrastruktur einer Volkswirtschaft ... Um ihren Wohlstand zu erhalten, müssen sie (die Staaten) nachweislich einen bestimmten Anteil ihres Produkts in Bildungseinrichtungen investieren." 46) Solche Überlegungen wird niemand abweisen wollen. Bei aller notwendigen „Mobilisierung“ von Begabungen sollte jedoch die Erwägung nicht außer acht bleiben, daß bereits heute schon unsere Universitäten von einer großen Zahl von Studierenden besucht werden, deren Begabungen den notwendigen Anforderungen nicht gewachsen sind. Was unbedingt vermieden werden sollte, weil niemand damit gedient wäre, ist die noch weitere Niveausenkung infolge einer massenmäßigen Nivellierung der Leistungen. Der entscheidende Punkt jedoch ist dieser: Soll „Bildung", sprich „fachkundigverwertbare" Ausbildung, tatsächlich nur und zuerst und ausschließlich von solchen Perspektiven der Wohlstandsgesellschaft ihren Stellenwert erhalten? Ist eine solche „kommerzielle Denkungsart“ wirklich der Angelpunkt von dem, was „Bildung" heute heißt? Müßte darin nicht der Rückfall in eine Barbarisierung des Menschen erblickt werden mit der alleinigen Sanktionierung seiner standardisiert-hochgezüchteten Lebensbedürfnisse? Und sollte diese Primitivisierung der Lebensauffassungen wirklich das letzte Wort sein? Man sage nicht, dies alles sei für unsere materiale Existenz erforderlich. Jene Bildung als das Streben und reifende Bewußtsein um einen sinntragenden Maßstab der Dinge — dies müsse wohl noch „dazugegeben" werden. Eine solche Zugabe von „Bildung“ als geistiger Luxus trägt nicht mehr. Auch hier sei grundsätzlich nochmals markiert: Wenn Bildung des Menschen allein und zuerst von der Sorge oder eher noch von der Angst geleitet sein soll, daß wir unser Leben fristen, daß wir „überleben“ können, so wird eine so verstandene Hilfe, die ja keineswegs nur oder auch zuerst an den anderen denkt, doch nur im ersten Vorfeld zu placieren sein. Nicht daß wir nur leben und überleben, sondern daß und wie wir dieses Leben sinnvoll bestehen können — dies wäre das gültige Anliegen einer „Lebenshilfe" für den geistigen Menschen. Ob und wie ein Mensch den „Kern" seiner Existenz begreift, wie sein „letztes Wort" zu seiner Existenz lauten wird — so hoch also greifen wir mit unseren Forderungen, wenn von Bildung und Erziehung die Rede ist. Denn auch das drängende Thema „Mensch und technische Welt" gewinnt nur von hier aus seine tragenden Perspektiven, es sei denn, man ist höchst bescheiden in seinen existentiellen Lebensansprüchen, wenn man von der Zündkerze, der Retorte, dem Atomkern, von den „Sozialingenieuren", ja auch von bestimmten Gesellschaftsforschern sein Rezept bezieht, was Oben und Unten ist, wo des Menschen Wert-und Sinnziele liegen. Daß dieser moderne Mensch mitkommt in Wirtschaft und Arbeitsprozeß und Konjunktur und Wohlstandsstandard — dies also ist dagegen ein Anliegen seiner Ausbildung. Diese Ebenen — so überwältigend ihre Errungenschaften auch sein mögen — sind und bleiben sekundäre Perspektiven. Daß aber eben dieser Mensch sinnvoll in dieser modernen Welt als wahrhaft menschliches, das heißt doch als geistig-seelisches Wesen zu leben vermag — dies ist eine Frage seiner Bildung als einer Lebens-und Wesensform seines Menschseins schlechthin.
Wenn man solche Forderung nach der freien Bestimmung von Bildungszielen, die sich in jeweiligen Menschenbildern fixieren lassen, als autoritative Ideologien ablehnt 46‘), so bleibt uns die Einsicht, daß nur eine andere Ideologie, ein anderes Menschenbild an Stelle der bisherigen gesetzt wird. Ohne fixierte Zielbestimmung gibt es keine Bildung, keine Erziehung, wie es ohne fixierte Lebensziele keine sinnhafte Existenz geben kann. Das hat mit Vergewaltigungen von Kindes-und Jugendseelen gar nichts zu tun, solange jene Zielsetzungen offen und bewußt benannt werden und der Freiheitsraum der eigenen gewissentlichen Entscheidungen immer wach 46a) wußt bleibt, was als Voraussetzung jedes pädagogischen Bezuges keiner Begründung bedarf.
Auch die neuen Leitbilder, die heute angeboten werden und offenbar bestimmten Auffassungen über die neuen Bildungsplanungen für Schule und Hochschule in weitem Feld zugrundeliegen, sind ebenso noch Bildungsziele als Lebensziele, das heißt, daß beide Zielsetzungen in notwendiger Korrelation stehen.
Nur daß diese Zielsetzungen unter dem normierenden Gewicht eines ganz bestimmten Daseinsverständnisses sich häufig genug aller tiefergreifenden menschlichen Perspektiven entledigt haben. Zugrunde liegen Lebensüberzeugungen, die in die Linie pragmatisch-mechanistischer Weltanschauungen weisen und sich als weithin determinatorisch-soziologische Weltansicht verstehen. Bildungsziele werden als „Richtpunkte für die Planskizze der Organisation der Industriegesellschaften“ verstanden
Wenn nun aber Bildungsziele immer zugleich Lebensziele sind, so greift diese zudringliche Frage moderner Reformen, wie sie heute fast nur noch mit Planungstechnik, Bedarfsdeckungsideologie und Organisationsmechanismus bewältigt werden sollen, an die Wurzel der Frage nach unserer menschlichen Bestimmung, die eine weite Skala möglicher Antworten bereit hält: Vom Menschen, der sein Leben, auch die „Bildung", nur darauf abzustellen hätte, daß er sein Leben fristen kann. Oder vom Menschen, der allein in der biologischen Ausreifung seiner Natur das Eigentliche erblickt. Vom Menschen, der Nützlichkeit und Brauchbarkeit und Fruchtbarkeit als letzte Kriterien erachtet. Vom Menschen, der die Sorge für seinen Beruf, seine Familie, seinen Staat, seine Gesellschaft, eine Gesellschaftsgruppe oder eine politische Idee oder eine Kulturidee, in die es sich hineinzuformen gilt wie in eine „inselhafte Weltanschauung“, über alles setzt. Vom Menschen, der in der geistig-seelischen Reifung zur „ganzheitlichen" Persönlichkeit ein harmonisches Lebensziel anstrebt als Ausformung seiner Individual„Kultur“. Vom Menschen schließlich, der in einer Ewigkeitsbindung dieser oder jeher Fixierung, in der gewissentlichen Verantwortung zum „Dienst", geboren aus der Erfahrung seiner existentiellen „Grenze", des mysterium tremendum et iascinans, dem Absoluten sich philosophisch oder dem persönlichen Gott religiös verpflichtet weiß. Wann aber endlich hat man den Mut zu der Einsicht, daß solche wie andere Lebensziele als Bildungsziele nicht etwa aus der Wissenschaft stammen, mit ihren Methoden gewonnen werden können? Lebensziele wie Bildungsziele sind immer schon „da", bevor sie wissenschaftlich fixiert werden. Sie entstammen vielschichtig gewachsenen Lebensformen, die dann reflektiert werden. Die Wissenschaft, hier also die pädagogische Wissenschaft, kann Bildungsziele nicht setzen, sondern nur konstatieren, um ihren vielschichtigen Ursprungsraum, ihren Bedeutungscharakter, ihren anthropologischen Wahrheits-, Wesens-und Wertbezug, ihre Wirkungsmöglichkeiten und möglichen Wirkungsgesetzlichkeiten kritisch zu erhellen. Bildungsziele als normative Leitbilder können wissenschaftlich festgestellt, aber nicht wissenschaftlich aufgestellt werden.
Diese Perspektiven sollten hier benannt werden, um zu erweisen, wie absurd der Versuch erscheinen muß, die Omnipotenz der Wissenschaft in Szene zu bringen, wenn nach der Bestimmung des Menschen und seiner Bildung gefragt wird. Solche Bemühungen gibt es. Ist doch der Dialektische Materialismus der Versuch, den Menschen und seine Bestimmung aus dem determinatorischen Gesellschafts-und Okonomieprozeß zu errechnen und Weg und Erfordernisse für seine Ausbildungen als einen naturgesetzlichen und gesellschaftsgesetzlichen determinatorischen Prozeß entsprechend einzuplanen. Aber rücken dann nicht Ost und West in diesem Bezug tast bestürzend nahe zusammen?
Hier wird daher zur Entscheidung gefragt, weil es in einer weithin brüchig gewordenen Kultur-und Bildungstradition um das geistige und mehr noch um das seelische Schicksal unserer und nicht zuletzt der jungen Generation geht. Gefragt wird nach der Lebensüberzeugung, ob es überhaupt noch übergreifende, übergeschichtliche und überindividuelle Sinn-und Werthaltungen als Richtbilder für unser Leben, für die Erziehung und Bildung gibt, oder aber ob der Mensch doch nur als ein Wesen zu betrachten ist, das seine Sinn-und Wertbestimmungen der jeweiligen Situation, der Sozialstruktur, den Ansprüchen des Lebensnotwendigsten oder des Lebensstandards, einer kollektiven Arbeitswelt verdankt. Soll also die Schule wirklich nur noch eine Vermittlungsfunktion haben zwischen der Welt des Kindes und der des Erwachsenen, in der man sich auf die Spielregeln und Organisationsformen der Industrie-gesellschaften berufskundlich und polytechnisch vorbereiten soll — eben in unbedingter Anpassung an die jeweils geltende Lebensstruktur, was heute weithin Wirtschaftsstruktur bedeutet? Gibt es doch auch noch ganz andere Perspektiven, die die Lebens-und Bildungswelt des Menschen bestimmen können. Es gibt ein Ziel der Schule, das jenen Menschen sucht und zu seiner Formung helfen will, der aus der Kraft der „selbsterrungenen Wahrheit“ lebt — ohne die Diktatur der Primitivreaktionen!
Hier dann erscheint der Zusammenstoß von „Welten" fast dramatisch. Zeichnet sich doch in der Ebene der „Bildungsplanung" notwendig der ganze Umkreis von Lebensüberzeugungen als „letzte Stellungnahmen" ab, die durchaus nicht mehr in ein planungstechnisches Schema eingehen, vielmehr auf allen Seiten das Gewicht von bewußten oder auch unbewußten Glaubensüberzeugungen angenommen haben. In diese letzten Perspektiven greift jene Tagesfrage nach „Anpassung oder Widerstand", ein Anruf zur Entscheidung, der geradezu die gewissentliche Verpflichtung zur Inanspruchnahme eines Widerstandsrechts bedeuten könnte. Eine Neutralität in Bildungsfragen gibt es ebensowenig wie eine solche in letzten Lebensfragen. Wo dies behauptet wird, hat man die existentiellen Grundlagen vergessen, über denen man existiert — und auch „Bildungen" plant. Dies sollte doch immer wach bewußt bleiben! Es gibt aber dann nicht nur eine gleiche Bildungschance für alle, es sollte ebenso auch eine gleiche und freie Chance für die bildungstheoretischen Grund-konzeptionen und Zielvorstellungen geben. Die persönliche Entscheidung in diesen letzten Bezügen ist Verpflichtung. Denn viele erziehen heute schon im östlichen Geiste, wie es Eduard Spranger
V. Humanität und politischer Anspruch
Humanismus und Humanität werden auch verstanden als ein Politicum mit dem Ziel, den mündigen und bewußten und entscheidungsreifen, das heißt den humanen Staatsbürger zu bilden. Die Gewichtigkeit solcher Forderungen und Bemühungen sind der Verantwortung aufgegeben. Allein was hier in Rede steht, ist die Frage nach der Verhältnisbestimmung des Politischen und des Humanen, eine Frage, die durchaus noch über den Bezug von Politik und Ethik hinausgreift. Unsere Thematik zielt unmittelbar in letzte existentielle Bezüge. Es erscheint uns dabei der Hinweis geboten, daß hinter bestimmten Bemühungen, Humanismus und Humanitätsidee unter dem betonten Horizont des „Politischen", ja auch einer „Politischen Bildung" zu sehen, die Tendenz steht, die Maßstäbe des Humanum, das von der abendländischen Tradition her bis in die Neuzeit immer irgendwie noch mit dem Divinum als dem hintergründigen Richtbild verbunden war, zugunsten einer neuen Lebensidee umzuwerten. Hierbei erscheint im Grunde — offen oder geheim, bewußt oder unbewußt — ein das Christliche ablösendes Daseinsverständnis und Wirklichkeitsbewußtsein bestimmend. Wie im Verständnis der neuzeitlichen und modernen Geschichtsphilosophie soll an Stelle des ursprünglichen religiös-transzendenten der nur-politische, soziologische, kulturhistorische Grundaspekt treten. In dieser geistig-seelischen Strukturordnung, ja in einer jedenfalls behaupteten Umschichtung der menschlichen Bewußtseinsstruktur will man das Gesetz einer notwendigen und abweisbaren Entwicklung erkennen. Erst heute offenbart damit jene seit Jahrhunderten fortdauernde Ablösung und Umgestaltung des christlich-religiösen Erbes* mit seiner Gottgebundenen " WeltrangOrdnung ihre letzte und offene lebensideologische und bildungstheoretische Konsequenz. Die Forderung nach dem animal politicum als oberstem Regulativ des Menschen und seiner Welt-beziehungen birgt jedoch die oft unübersehbare Gefahr, daß eine solche Zielsetzung nicht nur in die Nähe der alten politischen Religionen und neuzeitlicher politischer Ersatzreligionen gerät, sondern daß ebenso damit die Grenzen des Staates überschritten und einem möglichen totalen Machtanspruch die Wege geebnet werden könnten. Denn es liegt offenbar doch im Wesen des Machtcharakters des Staates, daß er von jeher die Tendenz hatte, seine spezifischen Grenzen zu überschreiten. Oft genug strebte er danach, den ganzen Menschen zu besitzen. Nikolai Berdjajew
So steht jede Humanitas im politischen Raum, der immer durch die Spannung von Geist und Macht gekennzeichnet ist, unter der unabdingbaren Voraussetzung und Entscheidung, daß auch der politische Bezirk und seine Idee der Humanität nicht möglich sind ohne die dominante Maßgabe des Ethos, das wiederum in seinen letzten Bezügen eine durchaus tiefere Fundierung fordert, als diese nur im politischen, ökonomischen, technologischen, pragmatischen Lebensbezirk je möglich und auffindbar wäre. Dies gilt nicht nur für die Orts-bestimmung des Politischen, wenn alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre als säkularisierte theologische Begriffe zu betrachten sind, worauf für die Breite des Säkularisationsprozesses bereits von verschiedenen Seiten hingewiesen wurde
Auch also in der Frage nach Möglichkeit und Grenze eines Politischen Humanismus und einer dem entsprechenden Humanitätsidee verbleibt uns die unüberschreitbare Einsicht, daß das Politicum an sich keine Sinn-und Wertgesichtspunkte für den Menschen und das Menschliche zu erheben und zu begründen vermag, jedenfalls nicht solcher Art, die für den wahrhaft geistigen Menschen als tragfähig und ausreichend erkannt werden könnten. Gefragt wird auch hier nach dem sinn-tragenden höheren Wert als letztem Bezugs-grund. Selbst das Grundproblem Platons lautete doch nicht: Wie kann ich die Athener zu guten Staatsbürgern machen? Ein Anliegen, das ehedem und heute nicht nur legitim als „Politische Bildung" besteht, sondern ebenso geboten und verpflichtend ist. Sein Grundproblem aber lautete zuerst: Was ist das Gute und wie kann es in einem Staatswesen verwirklicht werden? Welche Wertrangordnung soll also gelten — auch im Hinblick auf das Politische und die Politische Bildung? Welches ist der sinntragende höhere Wert, von dem her und zu dem hin gelebt und gefragt wird? Ein solcher Existenzgrund des Menschen kann aber niemals allein in einer unbefragten Politisierung erfunden werden, vielmehr zuerst in der »Gewinnung jener menschlichen als der sittlichen Grunderfahrungen und Gesinnungen, die ein verantwortliches Leben in der politischen Gemeinschaft erst ermöglichen. Fast scheint daher jene Auffassung 53) gültig zu sein, wonach der moderne Staat, wo er am reinsten verwirklicht wurde, zunehmend den Charakter einer allgemein-verbindlichen Gemeinschaftsordnung verloren habe, was vor allem durch seine Loslösung von den höheren Bindungen an Religion und Moral zu erklären sei. Ein „moralinisches“ Relikt reicht eben nicht aus. Damit ist aber auch die Existenz des Menschen innerlich bedroht. Mit den bloßen Feststellungen von der pluralistischen Gesellschaft und ihren toleranten Rechten ist im Grunde noch gar nichts gewonnen. Bei allen Grundrechten der personalen Freiheit als Anspruch und — was oft genug außer acht gelassen wird — als Verpflichtung kann auf den „Pluralen“ allein kein Ordnungsgefüge der Gesellschaft und der staatlichen Bindung aufgebaut werden. Wie im religiösen Lebensverständnis die Erfahrung der „Grenze" das Merkmal der menschlichen Existenz anzeigt, so bestehen auch im staatlich-politischen Bereich Grenzen der Vereinzelung und der Diskrepanzen. Pluralismus allein vermag keinen Traggrund für die Menschenwürde, für eine Humanitätsidee als verpflichtenden An sprach abzugeben. Ein Minimum an fundierter Übereinstimmung, an gleichgerichteten Grundüberzeugungen als „Grundgesetz", erscheint als Voraussetzung für ein staatlich-gesellschaftliches Gefüge immer notwendig, wenn dies sich über das Gewicht von primitiven pragmatischen, utilitaristischen Lebens-maximen kommerzieller Gegenseitigkeit erheben will. Gerade im politischen Bezirk zeigt es sich, daß eine Rechtsbegründung der wesen-haft menschlichen Rechte und Pflichten auf der sogenannten rein-menschlichen Übereinkunft schwerlich möglich ist. Wo jedoch Gesetze und Halteverbote nur mehr als Verkehrszeichen aufgefaßt werden, um noch das menschliche Zusammenleben mit dem Ziel des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl unter größtmöglicher Schonung des einzelnen zu meistern — hier kann von einem organischen Staatsgebilde kaum noch gesprochen werden. Uns scheint also, daß ohne jenes geistig-seelische, eben menschliche „Existenzminimum" im Hinblick auf einen sinnhaft übernommenen Existenzgrund fundamentaler gemeinsamer Grundüberzeugungen, also ohne die Übernahme spezifisch menschlicher, das heißt hier sittlicher Gesinnungen und Verantwortlichkeiten die Politisierung des Menschen nicht zur Gewinnung einer gültigen Humanität führen kann. Nicht der brauchbare und gebrauchsfähige Staatsbürger kann doch als Ziel eines politischen Willens gelten, sondern nur der bewußte und in Freiheit sich über dem Hintergründe fundamentaler Begegnungen und Bindungen verstehende Staatsbürger. Die Frage nach dem politischen Generalnenner als nach der existentiellen und sittlichen Maßstabsgebundenheit des Politischen überhaupt erscheint aber dann als die unerläßliche Vorentscheidung eines jeden Politischen Humanismus, um die in steter Bemühung zu ringen ist.
Die unbedingte Vorrangstellung des Politischen und des Politikers, auch in Fragen existentieller, fachkundlicher oder gar wissenschaftlicher Voraussetzungen und Bedingtheiten, muß jene zeitübergreifende Frage nach der Verhältnisbestimmtheit von Macht und Geist, unter Einbeziehung des theologischen Bezirks von Macht und Gnade, heute in neuer Prägnanz stellen. Es konnte schon an anderer Stelle benannt werden 54), daß die Verweisung des wissenschaftlichen Forschers, ja des Fach-und Sachkundigen überhaupt, in jene „Dienerrolle“ nur durch die Erniedri53) gung des Wissens zur pragmatischen Größe je gelingen konnte. Mit dem Übergewicht einer bestimmten öffentlichen Spielregel, wonach der Mensch nicht mehr als Mensch, als „gebildete“ Persönlichkeit in Geltung steht, sondern als brauchbare, „versierte“ Persönlichkeit, als Funktionär in einem politischen, ökonomischen, juridischen Organisationsmechanismus, vermag unsere heutige Situation weithin bezeichnet zu werden. Diese Feststellung hat mit jenen psychologischen Motivationen, die Entfremdung zwischen den Intellektuellen und der gesellschaftlichen oder politischen Macht in dem „Komplex" des „Sich-zurückgesetzt-fühlens", des zum Zuschauen Verurteilten zu erblicken, nichts zu tun. Dies ist gewiß heute ein gewichtiges Problem, das nicht ernst genug genommen werden kann
VI. Die Rolle der Religion im modernen Existenzverständnis
Es erscheint heute der Versuch, die religiöse Sphäre als „Privatsache" aus dem Zusammenhang mit den übrigen Lebensbereichen auszuklammern, als eine typische Erscheinung. Damit wird durchaus hinter jenen, in einem totalen religiösen und organisch-strukturellen Zusammenhang sich verstehenden Sinn-und Lebensbezug zurückgegriffen. Und dies in einem bewußt außer-oder auch gegen-christlichen Lebensverständnis. Es bedeutet eine Primitivisierung in der „Entwicklung“ des menschlichen Selbstverständnisses mit seinem ünvermögen eines ganzheitlichen Lebens-und Sinnbezuges, was geradezu erregend ist. Jene Lehre von der Eigengesetzlichkeit aller Lebens-, Kultur-und Geistesbezirke hat weitgehend des Blickpunktes benommen, daß sekundäre Bereiche nur von den Urgründen als letzten Sinngehalten und — worauf es ankommt — als verpflichtenden Moralen her zu gewinnen sind. Bedeuten doch alle hohen Ideale der Menschlichkeit, der Menschenwürde, der Gerechtigkeit, der Freiheit vor dem sogenannten „höheren Gebot der Stunde“ nichts, sofern ihre existentielle als ihre sittliche Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit nicht zuerst in außen-und übermenschlichen Ordnungen verankert sind. Mensch-sein, verstanden nur als homo faber, homo laborans, homo oeconomicus, homo sociologicus und so fort, erfährt sich nicht als Verpflichtung. Denn nur vor dem Anspruch einer personalen Transzendenz wird die Forderung sittlichen Tuns und Verhaltens hinreichend in der Verantwortlichkeit begründet. Hier aber erscheint auch der Ort zu der Entscheidung für eine künftige Auffassung vom Menschen und von Menschenbildung: In der Frage nach den spezifischen Merkmalen des Menschen, seines „Oben" und „Unten" in der Seinsordnung, in der Wertrangordnung, in der Sinnordnung, in der Heilsordnung.
Damit erreichen wir die eigentliche Mitte des Fragens und Bemühens um die spezifischen Merkmale einer tragfähigen, das heißt hier dem Menschen wesensgemäßen Idee der Humanitas. Wie eine Wegmarkierung der Entscheidung könnte es gelten, wenn Sigmund Freud 56a) an Marie Bonaparte schreibt: „Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank." Religion wurde zum neurotischen Relikt, über eine solche Feststellung ist nicht mehr zu rechten. Sie steht als letzte Stellungnahme in sich selbst. Allein die Sinnfrage unserer Existenz wird — sofern sie gestellt wird und als zentraler Ausweis unserer Menschenwürde und Merkmaligkeit angesehen werden muß — immer nur als unsere Weltanschauung eine totale Stellungnahme mit einem totalen Maßstab für alle Bereiche unseres persönlichen Lebens bedeuten müssen. Wenn aber das Religiöse noch überhaupt einen Stellenwert haben soll, dann hier wie zu allen Zeiten nur als oberstes Richtbild aller sonstigen möglichen Bezüge. Die religiöse Sinndeutung, Lebenserhellung und Lebensgestaltung als der Lebensgrund für die Weltanschauung eines Menschen kann nur wesenhaft Seele und Mitte seiner ganzheitlichen Existenzgründung sein
«Le Christianisme est etrange», sagt Blaise Pascal: Das Christliche liegt dem Menschen nicht. Die Offenbarung als der Einbruch einer „ganz anderen" Welt wird weithin als fremd und erschütternd empfunden. Wohl noch niemals schien jenes " anima naturalita christiana" Tertullians — das seelische Sein des Menschen sei von Natur aus auf das Christliche angelegt und hingeordnet — so grundsätzlich in Frage gestellt wie eben heute. Was heute unsere Situation bezeichnet, ist die immer noch fortschreitende Herauslösung des Menschen aus dem christlichen Existenzbewußtsein, was durchaus mehr besagen soll als die korrekte Zugehörigkeit oder gar die konventionelle Inanspruchnahme der Kirche bei einigen Stationen des Lebenslaufes, wie bei der Geburt, der Eheschließung, dem Tod. Ja, man hat von einer Abwanderung des Nervösen vom Seelsorger zum Nervenarzt gesprochen
Das Streben des Menschen nach Selbstformung aus eigenen Kräften trat im neugewonnenen Verständnis an die Stelle des christlichen Glaubens als der Weg des geistig freien Menschen, der von Künsten und Wissenschaften allein alles erhält, dessen er zum Leben bedarf: „Der moderne areligiöse Mensch nimmt dabei eine neue existentielle Situation auf sich: Er betrachtet sich nur als Subjekt und Agens der Geschichte . . .; er akzeptiert keine Art von Menschlichkeit außerhalb der menschlichen Verfassung, wie sie sich in den verschiedenen geschichtlichen Situationen erkennen läßt. Der Mensch macht sich selbst, und er kann sich nur wirklich selbst machen in dem Maß, als er sich selbst und die Welt desakralisiert ... Er kann nicht wirklich frei sein, ehe er nicht den letzten Gott getötet hat."
Dieses Spannungsfeld zwischen „Mythos" und „Logos“ und zwischen Gottförmigkeit und Selbtförmigkeit umschließt letztlich das Schicksal des abendländischen Menschentums überhaupt. Lebensüberzeugung kann es daher heute nur als Bekenntnis, das heißt als Entscheidung und Stellungnahme zu einer ganz persönlich gewonnenen und erlittenen Sinngebung des Daseins geben, als eine gereifte Entscheidung auf der Höhe des Lebens. Vieles, dem wir nicht entgehen können, das uns aber innerlich nicht mehr bindet, fordert uns im Gegensatz zu einer Beruhigung bei „angeborenen Erkenntnissen" in diese unabdingbare Wahl:
uns bewußt und mit Willen für einen bestimmten Lebensstil, für konkrete Sinngebungen zu entscheiden oder als „gefesselte Flüchtlinge" 65) unter dem Preis der Unechtheit des Lebensstils einen Weg zu beschreiten, den
Denn es gibt kein Ausweichen mehr in „verkappte Religionen", auf die Dauer keine „Flucht vor Gott"
Entscheidungslosigkeit einer neutralen Sphäre, „kein schöngeistiges Naschen an der furchtbaren Wirklichkeit der Religion, mit dem die Kulturmenschen sich belügen"
Das Christentum war im Mittelalter und auch noch im 19. Jahrhundert die herrschende Religion. Heute ist dies nicht mehr zutreffend. Es ist zwar noch offiziell die Religion der Mehrheit der Bürger, doch ein religiöser Agnostizismus scheint die durchgehende Haltung zu sein, von substantiell orientierten Menschen und Gruppen abgesehen. In einer Umfrage von Theophil Thun
immer noch beherrschen, obwohl sie keineswegs ein gültiges Bild abzuzeichnen vermögen?
So recht eigentlich ohne Gottes Hilfe Mensch zu sein — dies darf als Charakteristikum der Moderne erscheinen: daß diese Menschen nur noch um eine Selbsterlösung ringen, daß das Heil des Menschen im Menschen und um des Menschen willen, nicht mehr in Gott und um Gottes Willen gesucht wird, nicht mehr als Befreiung von Sünde und Schuld. Dies aber erscheint dann zugleich als die historische Konsequenz jenes autonomen „Humanismus", der einst verheißungsvoll im Zeichen der Humanitas aufbrach: die Vergöttlichung des nur innerweltlichen Geschichtsprozesses, die Heiligsprechung nur diesseitiger vorletzter Wert-setzungen in der so vieldeutigen Kategorie des „Fortschritts", der in der Säkularisierung der christlichen Eschatologie aus der Sphäre der Transzendenz in die natürlich-gesetzmäßig-so-67 ziologische Konzeption der Immanenz versetzt ward; es sind dies Wertsetzungen, die jedoch den totalen Anspruch auf den ganzen Menschen, auf seinen Leib, seine Kraft, seinen Geist, seine seelische Lebensbeziehung erheben. Nun aber dreht sich dieser Mensch immer nur in immanenten Bezirken, ohne einen tragenden Beziehungsmittelpunkt erreichen zu können
Unter einem solchen Horizont muß die Frage nach dem Schicksal, dem Bedeutungscharakter und der Wirkkraft eines religiös bestimmten Humanismus und dieser Humanität in der modernen Welt fast beklemmend erscheinen. Wenn die Prämissen nicht mehr tragen, was sollen dann die Deklarationen und Forderungen und Beschwörungen? Bleiben sie dann nicht notwendig ohne verbindliche Verpflichtung, der Mensch aber selbst ohne verpflichtende Verantwortung? Was heute dringend erscheint, ist nicht so sehr die feierliche Deklamation der Freiheit und Würde des Menschen, vielmehr ihre Verankerung und überzeugende Fundierung inmitten der Brüchigkeit unserer Wert-systeme in einer pluralistischen, ja im geistig-seelischen Tiefenbezirk oft schon „grundlosen" Gesellschaft. Die unabdingbare Freiheit der Religion im öffentlichen Leben sollte dabei ebensowenig heute noch einer besonderen Begründung bedürfen wie die Unverletzlichkeit und Respektierung des persönlichen Gewissensentscheids als Religionsfreiheit des einzelnen.
VII. Christentum und Humanismus im modernen Bewußtsein
Für das abendländische Bewußtsein zentriert bis heute die Frage nach Sinn und Wert der humanistischen Lebens-und Bildungsidee und damit der Humanität über dem Spannungsfeld von „Humanismus und Christentum“. Und wenn die Zeichen nicht trügen, so scheint heute die Frage um Christentum und beziehungsweise oder Humanismus zum inneren Anliegen geworden zu sein — und dies auch in katholischer Ebene als die nicht mehr aufhebbare brennende Frage nach der kategorialen Unterscheidung von Hellas und Evangelium, von dem homo Ciceronianus und dem homo Christianus, von Außerchristlichem und Christlichem, ja auch von welthafter Philosophie und christlich-religiösem Glaubenswissen.
Eine solche Thematik aber führt notwendig zurück in den griechisch-biblischen Ursprungs-raum. Die Frage lautet: Bestehen etwa schon im „Ansatz" der beiden Positionen unaufhebbare Gegensätze? Oder kann von einer Synthese als von einem „christlichen Humanismus“ gültig gesprochen werden? Zur Fundierung solcher Antworten bedürfte es einer eingehenden Bemühung um die grundsätzliche Erhellung jener beiden Bedeutungsfelder, eine Problematik, die in diesem Zusammenhang nur angedeutet werden kann. „Was hat Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Heiden mit den Christen, was die Akademie mit der Kirche?" — diese antihumanistische Anklage Tertullians
Auf jene exklusive Frage Tertullians „Was hat Athen mit Jerusalem zu schaffen?“ hat auf dem Philosophenkongreß in Neapel im Jahre 1926 Etienne Gibson also geantwortet: „Der Mensch, jene unteilbare Einheit von Leib und Seele, die gewiß ohne dies Christentum sich nicht selbst erlösen konnte, ohne das Christentum aber auch nichts vorgefunden hätte, was es hätte erlösen können".
Auch heute noch erscheinen in vielen Präambeln zur staatspolitischen und pädagogischen Planung programmatisch die Geistes-mächte des Humanismus und des Christentums. Allein schon vor dieser Besinnung erhellt der ganze Umkreis der Fragwürdigkeiten, bleibt eine verbindliche Entscheidung über ein so beschworenes Richtbild vom Menschen weithin offen. Denn was bedeutet heute dem abendländischen Menschen Humanismus? Eine gelehrte Erfassung der griechisch-römischen Antike? Oder die Pflege eines antiken „Humanitätsideals" im Zusammenhang mit dem Studium der antiken Sprachen und Kultur? Oder jener „Advent", der zu Christus führte? Oder ist der Humanismus das verlöschende Licht von Hellas, das verstreuten einzelnen noch geliebter Besitz ist, aber nicht mehr geglaubt und nicht mehr gelebt wird, wie dies Ernst Robert Curtius
Die Polarität von Antike und Christentum, im heutigen Bedeutungssinne von Humanismus und Christentum, bestimmt auch noch in unserer neuen soziologisch-technologischen Perspektive im Grunde die Thematik um Idee und Ethos der menschlichen Persönlichkeit — bis hinein in den katholisch-protestantischen Gegensatz, der nicht nur als historisches oder theologisches Phänomen, sondern auch als ein religionsgeschichtliches oder gar als ein charakterologisches Urphänomen betrachtet werden müßte, was häufig wohl übersehen wird
Und das Christentum? Meint man das katholische oder das lutherische, das idealistisch-ethische oder das liberale? Oder nur das aus Tradition noch überkommene nominelle, das nicht mehr fragt oder zu fragen wagt nach seinem eigentlichen „Grund" und Sinn? Und nach einem jeweiligen Vorverständnis wäre schließlich mit Carl Gustav Jung zu fragen: Ist die Christianisierung des Abendlandes, sofern man darunter eine Christianisierung der Einzelseele versteht, nicht aber nur die Gewinnung eines mehr oder minder kollektiven Machtbezirks, wirklich gelungen? — Man hat dabei von einer verhängnisvollen „Zweigleisigkeit" im modernen Bewußtsein gesprochen, jenem Dilemma, das den Menschen zwischen die religiös-kulturelle Tradition und ein neues naturwissenschaftliches Weltbild stellt in die persönliche Fragwürdigkeit. Christentum wird hier oft genug nicht mehr als Fundament, eher als Fiktion eines vergangenen Lebens-und Daseinsverständnisses erfahren, als Ferment, wozu es — wie man sagt
Es darf nun aber in einem grundsätzlichen Verständnis die fundamentale Andersartigkeit der christlichen und der modernen Persönlichkeitsidee nicht übersehen werden. Während das christliche Individuum zur freien Persönlichkeit wird, indem es sein bewußtes Ich im Sinne dieser seiner Beziehung zu Gott versteht, bedeutet dem modernen Menschen weithin Persönlichkeit nur noch eine rein menschliche Kategorie als Individualität, wie sie sich selbst in ihrem Tun oder ihrer Eigenart äußert. Hier hätte auch der Persönlichkeitsbegriff der Deutschen Klassik, etwa Goethes und Humboldts, seinen Stellenwert, wenn vom Menschen als einem „in sich ruhenden und sich selbst genügenden Individuum" die Rede ist. Eine solche autonome oder auch psychologische Bestimmung der „Persönlichkeit" schließt jedoch keine Verantwortlichkeit des Ich gegenüber einer höheren Macht mehr ein. Wo aber eine so verankerte Verantwortlichkeit nicht mehr als bindende Verpflichtung empfunden wird, als unbedingte Bindung des Gewissens, steht zwischen einem genuin christlichen und jenem neuzeitlichen Persönlichkeitsideal eine unüberbrückbare „Welt". Der Ich-bezeichneteMensch, wie ihn auch noch heute die neuhumanistische Bildungsidee versteht, steht dem Christlich-Eigentlichen entgegen. Wenn für Sokrates im Mittelpunkt das Problem, für Augustinus aber der Bruch stand, so in dem . reinen" Humanismus die Selbstherrlichkeit der humanen Persönlichkeit als Macht-und Bildungsmensch. Persönlichkeit wurde jetzt zur Hochform der Individualität
In seines feinsinnigen Analyse hat Heinrich Weinstock „Wahrheit und Trug im abendländischen Menschenbild“ unterscheiden wollen, indem von einer „Tragödie des Humanismus" gesprochen wird 82). Gemeint ist jener „absolute Humanismus", der nach einem „Unbedingtheitsidealismus" in einer durchaus bedingten Welt strebt und dadurch die Menschenbildung in eine eingebildete, unreale Perspektive stellt. Möglich erscheine daher nur ein gebrochener, realer, bedingter, tragi-scher Humanismus, da auch der Mensch ein tragisches Lebewesen sei. Dieser Angriff zielt letzthin bewußt auf den zentralen Punkt auch unseres heutigen bildungsphilosophischen Denkens, in dem wirkliche Entscheidungen über den Geist und die letzten Stellungnahmen in unserem erzieherischen Tun fallen.
Luther und Erasmus sind die Eckpfeiler im Hintergründe dieser Entscheidung — Mensch als von Gott her erlöstes Wesen oder Mensch als sich selbst erlösendes Wesen. In dieser Alternative wird gewiß die eigentliche Entscheidungsstelle für den heutigen Menschen erreicht, der im Grunde nur noch zwischen zwei Religionen zu wählen hat: ob alles Heil von Gott erwartet wird oder ob das Heil vom Menschen selbst her erwartet werden kann. Wenn der Glaube an den Geist als das Unbedingte, also an den absoluten Humanismus als Illusion, als Unglaube und Irrglaube gelten soll, wenn die Leugnung der Erbsünde — wie dies Heinrich Weinstock meint — die eigentliche Sünde des abendländischen Humanismus gewesen ist, so gewinnt diese Folgerung an bedrohender Konsequenz: „Das humanissimum des homo sapiens, diese göttliche Mitgift, verwandelt sich unversehens in teuflisches Gift, wenn der Mensch sein ganzes Heil von ihm erwartet." Hier aber erscheint ebenso der Tiefengrund einer im deutschen Bildungsraum noch keineswegs bewältigten, ja kaum noch ernsthaft angegangenen kategorialen Unterscheidung.
Die neuhumanistische Bildungsidee lebte als Lebensidee von ganz bestimmten religiösen Ursprungs-und Bedeutungsfeldern, die mit der existentiellen Andersartigkeit des genuin christlichen Bildungsverständnisses als dem Sinnverständnis dessen, was hier „Menschenbildung" heißen kann, kaum eineunbeschwerte Übereinkunft zu finden vermag. Hier läge eine zentrale Aufgabe heutiger pädagogischer Besinnung als einer kritischen Unterscheidung, ja als Entscheidung über eine noch unbewältigte geistesgeschichtliche Vergangenheit, eben von einer je fixierten maßstableihenden Standortgebundenheit. Die bedrängende Frage, was denn für ein christliches Bewußtsein im Bildungsraum als verbindliche inhaltliche Datierung noch bleibt, ist bisher kaum als bedrängend erfahren worden. Hier aber wird auch ebenso deutlich, in welche fundamentalen Ebenen die Fragen nach den strukturellen Merkmalen unseres Bildungsgutes, ja auch die Problematik des als Rettungsinsel oft empfundenen Humanistischen Gymnasiums wie im Grunde aller Bildungsinstitutionen hineinzielen. Die Komplexität unserer „abendländischen Kultur" mit ihren differenten traditionellen Vor-und Richtbildern läßt sich im akademischen Gespräch interessant diskutieren. In der Schulstube jedoch fordert sie uns eine Entscheidung ab, wenn nicht das Wesentliche und Eigentliche aller Bildung, die Frage nach dem Kriterium des wesentlichen Maßstabs des einzelnen im Gesamt des Ganzen nicht außer Betracht bleiben soll. Dann aber bedeutete Bildung doch letzthin nur das Angebot aller möglichen diffusen Relikte.
Was aber soll die Rede von der „wohlerwogenen Erschließung des Ganzen", wenn keine eindeutige Fixierung des Kriteriums für dieses „Ganze" als letztgültigen Lebens-bezug bezeichnet wird. „Das Ganze ... erschließt sich uns", wie es hier heißt, „in der Geschichte und Literatur, in Kunst, Religion und Wissenschaft, in Politik und Wirtschaft. Jeder Vorrang, den man für ein Gebiet hinsichtlich der Erziehung und Bildung behaupten wollte, ist gefährlich, denn er würde nicht nur vereinseitigen, sondern vielmehr auch eine Ausrichtung mit sich bringen. Dirigismus versucht aber gerade unsere Zeit von sich abzuwenden .. Unsere Aufgabe könne nur darin bestehen, den zu Erziehenden die moderne Situation erfahren und einsehen zu lassen, „nämlich die außerordentliche Verbindlichkeit einer Situation, in der der einzelne nicht mehr aus der Sicherheit überlieferter Normen urteilen und handeln kann, sondern in dem unabwendbaren Anspruch selbständigen Ermessens in Wort, Werk und Tat" stehe 82a). Dies zielt nicht nur in jene Lehre von der Eigengesetzlichkeit, sondern auch der Eigenwertigkeit aller Kulturbereiche, aber auch zugleich in die Unmöglichkeit jedweder Kindererziehung. Wenn es nicht mehr als Aufgabe der Erziehung angesehen werden kann, „dem jungen Menschen feste Maßstäbe mit auf den Weg zu geben...“, so erscheint dies nicht nur unreal im Hinblick auf die häusliche und schulische Erziehung, sondern ebenso auch unkritisch gegen sich selbst. Wann endlich wird man davon Kenntnis nehmen, daß es doch überhaupt kein AngebotvonBildungsgütern ohne je bestimmte Wertgesichtspunkte geben kann — am wenigsten von Seiten der „Neutralisten“! Die Forderung eines solchen pädagogischen Pluralismus endet notwendig in der menschlichen Anarchie. Wenn dem wirklich so wäre, — was soll dann noch das Gerede von Huma-* nität, von Werttafeln abendländischer Verpflichtung und so fort?
Der Mensch bestätigt sich nur solange als geistiges Wesen, als er ein Fragender ist. So weit reicht der philosophische Weg. Allein erst vom . überschritt“ her wird das Geheimnis seiner Person ganz offenbar, insofern der Mensch sich selbst nicht nur als den Fragenden, sondern als den Gefragten erfährt. Jeder Mensch, der nicht nur betriebsam vegetiert, wird einmal in seinem Leben dieser fordernden Rechenschaft begegnen, zumal aber wohl immer dann, wenn der Tod in sein beteiligtes Lebensfeld tritt, sofern nicht auch selbst der Tod nur noch als Störungsfaktor im Funktionszusammenhang der Organisation erfahren wird. Jene fatalistische Verlegenheit, es komme doch alles, wie es bestimmt ist, glaubt ja fast heute niemals mehr an einen Urheber dieser Bestimmung, an einen personalen Gott, der das Schicksal . schickt“. So kann die Frage nach dem Sinn, nach dem, was uns „begegnet“, leidvoll widerfährt, geschieht, oft zum quälenden Anlaß letzter Verzweiflung werden. Jene ernste Frage Fedor Dostojewskis in seinen „Dämonen", ob dieser moderne technisierte Mensch überhaupt noch glauben kann, ist für viele heute zum eigentlichen Problem geworden.
Die Frage nach Gültigkeit und Sinn des Humanismus und der Humanität in unserer Zeit ist nicht ablösbar von jener anderen, vielleicht dunkelsten Frage nach dem Wesen und Sinn der geschichtlichen Existenz. Wenn Allred Weber
Nach der christlichen Verkündigung gehört freilich — wie gesagt — jenes Scheitern letzthin ebenso zum Menschen und seiner Welt, so daß eine geschichtliche Rettung schlechthin unmöglich erscheint. Will man diesen Maßstab ansetzen, so müßte man von einer radikalen Auflösung des genuin christlichen Selbstverständnisses im Geschichts-und Kultur-bereich in Neuzeit und Gegenwart sprechen. Dies gilt ebenso im weltpolitischen Erscheinungsbild wie in verbreiteten christlichen Eigenräumen als Folge eines mangelnden christlichen Selbstverständnisses und einer „weitläufigen" Inkonsequenz. Damit soll nicht etwa einem christlichen Kulturpessimismus das Wort geredet werden, wohl aber einer Unterscheidung des Christlichen, das man im personalen, politischen, geschichtlichen Raum, ja im persönlichen „Lebensgefühl", also im Existenzbewußtsein, oft genug kaum mehr von jenen doch ganz anders verwurzelten Ideen, Ideologien und Verhaltensweisen im humanen Bezirk zu unterscheiden vermag. Dies also bedeutet nichts weniger als die Erfahrung, daß das „Andersartige" des Christen-menschen sich offenbar nur gar zu selten bestätigt findet.
Tatsächlich ist der Einbruch neuer naturwissenschaftlicher, tiefenpsychologischer, soziologischer und anderer, auch historischer, Dimensionen so gewaltig, daß diese Aspekte noch nicht „organisch" hineingenommen werden konnten in den religiösen, theologischen, philosophischen, soziologischen und kultur-soziologischen Bereich jener Tradition. Dies gilt ebenso und vor allem auch für das Bildungsgeschehen, wo jede theoretische Besinnung eine tatbereite, konkrete Stellungnahme und Entscheidung abfordert. Heute ist jeder Mensch irgendwie auch in seiner Weltanschauung von der neuen naturwissenschaftlichen und allen anderen genannten Denkformen mitbestimmt. Diese „Verwissenschaftlichung" durchgreift unser ganzes Daseinsgefüge — bis hinein in die geheimen Lebensbeziehungen
Die christliche Religion in ihrer kirchlichen Gestalt stand von jeher in einer offenbar strukturellen Zuordnung zu den jeweiligen zeitgenössischen soziologischen, staats-und verfassungsrechtlichen Gegebenheiten und Entwicklungen. Immer fanden sich die Kirchen beider christlicher Konfessionen in Korrespondenz, ja fast im „Abbildcharakter" mit dem jeweiligen Herrschaftssystem und seinen sozialen und wirtschaftlichen Prägungen, eben mit den „Kultursystemen" überhaupt. Dies gilt ebenso für die mittelalterliche Feudalgesellschaftsordnung wie für das „landesherrliche Kirchen-regiment" wie ebenso auch für die „fürsterzbischöfliche" Barockgesellschaft. Erst heute, mit der wachsenden Herrschaft der „breiten Masse", der Arbeiterschaft als soziologisch und zunehmend auch kulturell bestimmender Kategorie, wird jene benannte Korrelation problematisch. Der hierarchische Ordo, in einem bestimmten traditionellen Bezug und Verständnis genommen, entspricht im Prinzip nicht einer „demokratischen" Lebensform.
Wohl zum ersten Male in ihrer Geschichte — von der besonderen inneren und äußeren Situation der Urkirche abgesehen — findet diese Kirche in der heutigen sogenannten Massen-und Industriegesellschaft nur schwerlich noch eine spezifische Entsprechung, was ihre sichtbare Gestalt, ihre „Weltansicht“ angeht. Es bedarf aber hierzu ebenso der Feststellung, daß der überzeitliche, im Mysterium des Christlichen begründete Wesenscharakter der Kirche von ihrer jeweiligen geschichtlichen Erscheinungsform durchaus zu unterscheiden ist. Allein jene zentrale Frage nach der kirchlichen Existenz in der modernen „Industriekultur“ und in einer nicht nur mehr abendländisch bestimmten Welt, was nicht etwa allein die Form der Verkündigung betrifft, erscheint hier als eine unabdingbare Herausforderung, wovon das derzeitige ökumenische Konzil Zeugnis zu geben vermag. Ein Aufbruch, eine Chance zur Neubesinnung auf eigentliche Wesenselemente des kirchlichen Christentums. Für jenen besonderen Bezug wäre hier auf die kürzlichen Konzils-Schemata über das betonte Kollegialitätsprinzip der Bischöfe sowie auf die Bestimmung der Kirche — Kleriker und Laien — als „Gottesvolk" hinzuweisen.
Die weitergehende Frage nach der Möglichkeit der Religion, also der traditionell-überkommenen christlichen Religion in diesem neuen Gesellschafts-und Lebenssystem, ist mit jener kirchlichen Frage zwar nicht identisch, aber doch eng verschränkt.
Mit der Fragwürdigkeit des Humanismus in seiner überkommenen Gestalt ist aber auch die immer irgendwie spannungsvolle Ehe zwischen Abendland und Christentum fragwürdig geworden. Klemens Brockmöller
Wenn man solchen extremen Thesen auch kritisch begegnen könnte, so erscheint doch die Frage'nach dem inneren Zusammenhang der Verhältnisbestimmung und der Geltungskraft von Humanismus und Christentum, nach dem Gewicht und der Bedeutung des Humanismus und der Humanitätsidee im Hinblick auf das Christliche und umgekehrt in der neuen Welt in einer existentiellen Entscheidungsstunde.
VIII. Abendländische Humanität im Spannungsfeld zwischen Ost und West
Der überkommene Humanismus mit seinem Grundcharakter eines kultur-soziologischen Monismus erscheint heute nicht mehr haltbar angesichts jener planetarischen Vielheit der Kulturen. Kann uns hier nicht auch selbst ein Schuldbewußtsein überkommen, daß wir Abendländer gar oft nur uns selbst zum Welt-und Wertmaßstab nahmen — kulturell, religiös-kirchlich, politisch? Erst heute ahnen wir, daß die indischen Upanishaden ihren Platz neben der griechischen Metaphysik haben, daß wissenschaftliche Begriffe allein niemals einen existentiellen Sinn verbürgen, daß die Echtheit des Wesens vor der wissenschaftlichen Erkenntnis steht, ja daß es verschiedene positive Möglichkeiten gibt, ein humaner Mensch zu sein. Auch der Osten — wir meinen hier Ostasien — hat ein spezifisches Menschenbild, eine spezifische Humanitätsidee. Gewiß ist diese von der von Antike und Christentum geprägten europäischen Menschen-und Kulturidee wesenhaft verschieden, wie eben das Daseinsverständnis überhaupt von einem ganz anderen Lebensgefühl und Selbstverständnis getragen wird. Ungeachtet dieser kategorialen Anders-artigkeit besteht die Auffassung, daß jenes ostasiatische Menschenbild, das gewiß wiederum nach seinen religiösen Voraussetzungen und Vorbestimmtheiten vielschichtig ist, einen besonderen Rang neben dem abendländischen zu behaupten vermag. Es mehren sich die Stimmen, daß jenes asiatische Bild vom Menschen „nach Wesen, Anspruch, geschichtlicher Funktion und geistigem Rang dem europäischen „durchaus ebenbürtig" sei
Insbesondere ist von Seiten der Missionswissenschaft auf diese neue Perspektive hingewiesen worden. „Solange man nur die im abendländischen Raum entwickelte Menschennatur vor sich hat und als materiale Erfahrungsgrundlage benutzt, soll man sich peinlich hüten, vorschnell von einer allgemeinen Menschennatur zu reden."
Dies nun beträfe die Frage nach der Einheit und Verbindlichkeit einer weltweiten Humanitätsidee, die Frage also nach dem gemeinsamen Fundament nicht nur der Begriffe, sondern der Bewußtseinslagen und Bedeutungserfahrungen über beziehungsweise unter den verschiedenen, differenzierten Grunderfahrungen und Haltungen. Die große Gefahr einer eklektizistischen und damit mehr oder minder unechten oder gar verschwommenen Idee der Humanität liegt dabei, wie die breite Erfahrung zeigt, freilich sehr nahe.
Man hat von einem globalen Vollkommenheitsideal als Idealbild einer gemeinsamen Idee der Humanität gesprochen. Es sei dies eine besondere „Haltung", die die verschiedenen metaphysischen Glaubenssysteme anerkennt, sich aber zugleich von ihnen distanziert. Man spricht von dem Festhalten am Gemeinsamen im Menschen und seines inneren Auftrages gegenüber der Vielfältigkeit der politischen, religiösen, weltanschaulichen Wertordnungen. Gibt es also wohl eine solche übergeordnete Haltung, die auch inhaltlich zu fixieren wäre und einen begründeten Traggrund für eine verbindliche Idee vom Menschen und damit seiner Menschlichkeit abgebe? Was soll mit Helmut Schelsky
Mit der Humanitätsidee im abendländischen Raum werden als Traggrund für die „Mitte“ einer Lebensbeziehung die „allgemeinen Grundüberzeugungen", die „verborgenen Gemeinsamkeiten" benannt. Eine solche Diktion würde aber auch noch für die weiten Ebenen einer möglichen „globalen" Einheit gelten. Damit jedoch ergibt sich eine verwickelte Frage: Gibt es denn diese tragfähigen Normen der Gemeinsamkeit? Oder aber offenbaren nicht die einzelnen Normen je nach ihrer Verwurzelung die verschiedenen Grundüberzeugungen, aus denen sie jeweils leben mit ihren je verschiedenen Bedeutungsgehalten? Diese Frage kann hier nur benannt werden, doch wiegt sie schwer genug, um manche Fragezeichen anzubringen. Denn nicht unbedingt vermögen die Tafeln der Menschenwürde, der Freiheit, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Partnerschaft und so fort als einhellig verbindliche Aspekte angenommen zu werden, und dies weder im abendländischen Raum noch im globalen Verständnis. Es kommt hinzu, daß bei der heutigen Sprach-verwirrung jene Begriffe kaum von allen in demselben Sinne aufgefaßt werden, so daß wir „in unseren allgemeinen Zuständen keinen rechten Lebensgrund mehr haben, wie im Leeren stehen"
Eine solche Problemstellung zentriert letzthin in der Frage nach der Konstanz der menschlichen Natur in der geschichtlichen Perspektive. Hier aber stehen sich zwei grundsätzliche Auffassungen gegenüber. Platonismus, christliche Theologie und Rationalismus glauben an eine einzige und gleich-bleibende Idee vom Menschen. Der wesentliche Kern des Menschen ist danach zu allen Zeiten derselbe. Seine Substanz ist im Ewigen verhaftet oder aber auch nur in der konstanten allgemeinen Rationalität — unabhängig von den Wandelbarkeiten in seiner Geschichte, die den Kern nicht berühren. Da im überzeitlichen Urbild, in der reinen Idee das Wesen des Menschen schlechthin gründet, bleibt sein Wesen notwendig konstant. Die These des neuzeitlichen Historismus dagegen besteht in der Ersetzung einer generalisierenden, das heißt typischen Betrachtungsweise geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende. Mit diesem neuen Sinn für das Individuelle in seiner historischen Einmaligkeit, mit dieser wesenhaft geschichtsphilosophischen Denkweise, nach der an Stelle der einen Menschheitskultur eine Mehrzahl von Kulturen trat und der Mensch — zu allen Zeiten ein anderer — in immer andere Gestalten zerfloß, ging trotz manchen Bemühens das übergreifende der Wahrheit, des Wertes der Menschennatur im Grunde verloren. In solcher relativistischer Konsequenz gibt es keinen gemeinsamen Kern des Menschen. Er ist ganz in den geschichtlichen Wandel einbezogen. „Der Typus Mensch zerschmilzt in dem Prozeß der Geschichte", wie es Wilhelm Dilthey
Neben dieser historisch bedingten Auflösung einer allgemeinen, gleichbleibenden Idee vom Menschen besteht — nicht minder umstritten — jene völkerpsychologische und völker-typische Problemstellung. Sie lautet: inwieweit kann tatsächlich von einer alle Völker und Kulturen in der Geschichte und heute übergreifenden Identität in jenem Bezug gesprochen werden? Dies also betrifft die Frage nach der einen und selben Menschennatur — trotz der offenkundigen Verschiedenheiten und Andersartigkeiten, etwa von Asien und Europa und anderswo. Diese Frage hat sich immer wieder und in zunehmendem Maße an den offenbaren differenten Wertvorstellungen mit dem je spezifischen Daseinsverständnis und Lebensgefühl entzündet.
Voraussetzung für die Lösung dieser Fragen wäre die Inangriffnahme einer weitgesteckten philosophisch und religionspsychologisch „verstehenden" Typologie aller Seelenhaltungen und Grundweisen des Selbst-und Weltverständnisses aller Kulturen und Völker, wozu wir ein internationales existentialpsychologisches Symposion zum Thema „Das Selbstverständnis des heutigen Menschen" in Vorbereitung haben
Durchaus noch offen sind die Fragen der inneren Verbindungen und Beziehungen von Orient und Okzident, die Frage des Einflusses orientalischer Geisteswelt auf die Geburt der abendländischen Antike im Ursprungs-raum von Hellas und Evangelium. Hier liegt noch ein weites Feld unbewältigter Forschung, das wegen des Fehlens einschlägiger Quellen äußerst schwierig zu erhellen ist
In solcher Perspektive erreicht heute die Frage nach der Wesensbestimmung und dem Geltungsbereich von Humanismus und Humanitätsidee eine, ja die zentrale Bedeutung für die theologische, die politische, für die wesen-haft menschliche Ebene überhaupt.
Eine besonders aktuelle Beleuchtung erhält die Frage nach dem Schicksal des Humanismus und der Humanitätsidee dann, wenn man sie in das weltanschaulich-politische Spannungsfeld zwischen Ost und West hineinstellt. Das Ringen zweier Welten um die Macht, als um die Durchsetzung je ihrer Idee vom Menschen, seiner Stellung und seiner Aufgabe in der Welt, zeichnet fast alarmierend die innere Situation ab, in der die so vielschichtige humanistische Lebens-und Bildungsidee und die Idee der Humanität heute zu sehen sind. Das Schicksal der abendländischen Humanität ist nicht mehr zu deuten ohne jenes Spannungsfeld, das durch einige Hinweise auf die geschichtsphilosophische und geschichtstheologische Situation von Ost und West zu kennzeichnen bleibt. Wird der Osten unser abendländisches Menschenbild, das trotz aller Verschiedenheiten doch noch immer bestimmte übereinstimmende fundamentale Perspektiven und Wertvorstellungen aufweist, überspielen? Wie eine erschütternde prophetische Perspektive könnte uns die mittelalterliche Geschichtstheologie über die Stellenwerte im Geschichtsverlauf von Ost und West anmuten 101).
In der Überzeugung von der Nichtigkeit der Welt, deren Kennzeichen der unstete Wandel der Dinge, das fließende Werden und Vergehen der Formen sei, wird für den deutschen Grafensohn des 12. Jahrhunderts, Hugo von St. Viktor, die geographische Ost-West-Bewegung aller Dinge zum Grundgesetz der Geschichte. „Die göttliche Vorsehung", so heißt es in seiner Schrift „über die Eitelkeit der Welt", „hat den Ablauf der Dinge so geordnet, daß jene Dinge, die im Anfang der Welt geschaffen wurden, im Osten als dem Anfang der Welt entstünden, daß aber schließlich die Dinge insgesamt im Laufe der Zeiten zum Westen niedersteigen, das ist zum Ende der Welt." So also ist in einer heilsgeographischen Ordnung der Osten als Anfang, der Westen als Ende gekennzeichnet. Aber nicht nur die biologische Geschichte der Menschheit, ebenso ihre kulturelle und christlich-kirchliche Geschichte wird von dem großen Historiker desselben Jahrhunderts, Otto von Freising, in dieser Bewegungsrichtung gesehen. Die Ost-West-Tendenz wird zum gesamthistorischen Prinzip überhaupt. Nach Otto beginnt jede menschliche Macht und Weisheit im Osten und findet ihr Ende im Westen. „Denn nach Art des Himmels", so schreibt er in seiner „Weltchronik", „der sich vom Osten nach Westen dreht, können wir zugleich mit der Zeit die Dinge der Welt und die Gewalten über die Dinge sich drehen sehen." Seinem Gesetz der translatio sapientiae, der Wanderung der Wissenschaft und Weisheit von den Ägyptern über die Griechen zu den Römern, entspricht die translatio imperii, die Abfolge der politischen Reiche von den Babyloniern, Assyrern, den Persern bis zu den Römern und Franken.
Was dazu als unabänderliches Gesetz des Geschichtsverlaufs erfahren wird, könnte an Hegels These erinnern, wonach jedes neue Werden, jede neue Form, bereits den Todes-keim der Selbstzerstörung in sich trage. Otto von Freising sieht das organische Wachstum der neuen Form in und durch die alte, der sie zur Reifung innerlich verbunden bleibt, bis sie den eigenen Weg nimmt unter Zerfall des Mutterschoßes. Damit aber ist für die Ost-West-Bewegung der Geschichtsabfolge erwiesen, daß jeweils das Alte notwendig der Zerstörung durch das Neue anheimfallen muß. So geschieht dies in der Kultur, so auch in der Machtsphäre. Das westliche Reich muß jeweils das östliche vernichten; das Erbe der Weltherrschaft ist mit Blut getränkt. Dieser geographisch gelenkte „Kampf ums Dasein" muß wahrhaft ebenso tragisch wie unerbittlich erscheinen. Und selbst das letzte westliche Imperium, das Reich der Franken, erblickt Otto prophetisch im Untergang. Hier jedoch tritt der ärgste Feind der Zerstörung selbst die Nachfolge an: Die letzte Weltherrschaft gehört dem Antichrist. Die Geburt dieses Imperium diaboli, des Satansreiches, wird aus dem Zerfall des Frankenreiches erwachsen, der nach jenem Historiker in seiner Zeit bereits fortschreitend erkennbar und als Katastrophe erwartet wurde.
Was an dieser Stelle von einem Menschen des 12. Jahrhunderts über das Bild des Antichrists verkündet wird, ist erschütternd und nachdenklich stimmend zugleich: Der widergöttliche Herrscher wird alle Lehren und Werke der christlichen Kirche zerstören, weil sie der selbstherrlichen Vernunft und der menschlichen Sinnenlust zuwider sind. Er wird nicht nur das Bewußtsein der Sünde ausrotten, sondern auch die Macht des gottlosen Weltreiches aufzurichten versuchen, und zwar — wie es hier wörtlich heißt — „unter dem Zeichen der Lüge und unter dem Scheine der Religion und unter dem Bilde der Vernunft". Sein glorioses Bildnis wird einem römischen Imperator gleichen. Aus dem Verfall des Westens also wird sich der letzte, der Satansstaat, gebären
Wie der slawische Messianismus von der religiösen, kulturellen und dann politischen Rettung des westlichen Menschen durch das östliche Heilszentrum zutiefst überzeugt ist, vermag die Gewißheit Fedor Dostojewskis zu zeugen: seine Deutung des Schicksals Rußlands als des Weltschicksals überhaupt. Er faßt diese heilsbringende Mission in die Prophetie: „Europa wird bei uns anklopfen, wenn seine jetzige Ordnung zu Ende geht.“
Herders zeitweise Begeisterung für die russisch-östliche Sendung für Europa, das im Schlafe läge, ist bekannt. Niemand freilich vermochte damals an das bolschewistische Rußland zu denken, auch Ernst von Lasaulx nicht, nach dem im letzten, unerbittlichen Ringen zwischen Ost und West der Endsieg dem zufallen wird, dem die größere Glaubenskraft eignet — und dies sei der Osten. Fast bestürzend wirkte die große prophetische Rede Donoso Cortes
Fast noch erschreckender vernehmen wir die weissagende Stimme des großen moselländischen Kardinals Nikolaus von Cues, der im Jahre 1450, genau 400 Jahre vor dem Spanier, eine Zeit kommen sieht, da der Gottesglaube ganz aufgesogen sein wird vom Glauben an den Menschen; da aber wird das industrielle Wesen alles andere erdrücken, da wird ein großes Volk aus dem Osten das Geschick Europas in seine Hand nehmen.
Vermögen wir heute noch diese Entscheidungsfrage zwischen Ost und West, Orient und Okzident, in ihrer existentiellen Tiefe zu erkennen? Ist nicht dieses Problem zuallererst zum Gegenstand von Interessensphären, der Macht, des Ehrgeizes, des Wirtschaftsmarktes, des nationalen Prestiges geworden? Wenn diese unsere Zeit an einem offenbar noch fortschreitenden Schwund an religiöser und metaphysischer Wirklichkeitsdichte leidet — dies dürfte aus jenen Prophetien deutlich werden: daß die Frage Ost und West im letzten Grunde eine das Tiefste in uns berührende existentielle Gewissensfrage bedeutet, für die jeder von uns die ungeteilte Verantwortung mitträgtI Was aber folgt uns aus jenen Prophetien? Der abendländische Fortschrittsoptimismus mit seinen wissenschaftsgläubigen Zukunftsbildern scheint weithin zerbrochen, trotz aller Beteuerungen und Hoffnungen. Wo er besteht, wurde er zur politischen Parole. Wir sind nüchterner geworden. Die statistische natur-gesetzliche Vorausberechnung geschichtlicher Gehalte trat als Prognose an Stelle der prophetischen Intuition. Dabei gewann die existentiell-notvolle Frage „Wie geht es weiter, oder geht es überhaupt noch weiter?“ eine zentralsinngebende religiöse oder zumindest existentielle und zugleich eine politisch-lebensmögliche Bedeutung. Alfred Weber
Was noch bleibt? Es bleibt zunächst das Eingeständnis, daß wir Abendländer den Glauben an die göttlich-persönliche Lenkung der Geschichte zwischen Ost und West weithin verloren haben. Doch was der Mensch sei, sagt uns nicht allein die Geschichte, wie Wilhelm Dilthey wähnte. Vermag sie uns heute überhaupt noch Trost und Hoffnung zu schenken? — Der geheime Begleiter unseres inneren und äußeren Lebens wurde die Angst. Nicht weil die Geschichte sinnlos geworden, kam dieses über uns: Diese Ausweglosigkeit und Ratlosigkeit, die oft in der Politik nicht mehr über den Machtkomplex, in der Philosophie nicht über den subjektivistisch-existentiellen Selbstbezug, in der Religion nicht über die Versittlichung der Lebenstriebe oder* eine unbeteiligte „Korrektheit“ hinauszugreifen vermag. Weil dieser Mensch sich selber fragwürdig wurde, darum mußte ihm auch seine Geschichte fragwürdig werden. Die Frage nach dem Sinn der Geschichte, auch eben der Geschichte zwischen Ost und West, steht in unbedingter Korrespondenz mit der Frage nach dem Sinn des Menschseins überhaupt
Man huldigt der Illusion eines voraussetzungslosen Positivismus. Ja, Gott wird hier gar nicht mehr diskutiert, weil man ihn weder messen noch testen noch statistisch erfassen kann. Es gehört fast zum „Guten Ton", über ihn nicht zu sprechen, wie es auch fast peinlich empfunden wird, in der akademischen Ebene der Wissenschaft von Weltanschauung zu sprechen, obwohl man auch hier nicht und niemals ohne eine solche tragende Voraussetzung einer sinnvollen Forschung auskommt. Für einen östlichen Atheismus aber ist Gott nicht tot — er ist eine furchtbare Realität. Diese Gottlosigkeit ward geradezu zur Kernfrage dieser Politik und dieser Revolution und dieses Lebensstiles.
Fast möchte es nun dabei scheinen, als ob jenes benannte traditionelle Bewegungsgesetz des Geschichtsverlaufs von Osten nach Westen seine Richtungstendenz umzukehren begann, zumal — zumindest teilweise — die östliche Welt jene „Überfremdung" durch den Westen geradezu als heilbringende Beglückung aufnimmt. Doch auch jetzt bliebe dem tiefer dringenden Blick nicht verborgen, daß eine Europäisierung Asiens infolge der grundsätzlichen Andersartigkeit der seelischen Strukturen nur an der Oberfläche gelingen könnte, ja daß im Grunde bis heute die westliche Welt durch den steten Anstoß, Aufbruch, Drohung des Ostens in Atem gehalten wird, eines Ostens, der sich bewußt der westlichen Denkmethoden und Kampfmittel bedient.
Max Scheler hat die Wertsetzung der freien Person als die „Magna Charta" Europas gegenüber Asien bezeichnet. Doch es bleibe hier heute die ernste Frage: Kann dieser We-sten heute noch Asien, das seit zwei Generationen den Zerfall seiner magischen und mythischen, aber doch dem Leben Sinn und Halt leihenden Kultur erlebt, das Heil bringen?
Wenn Arnold Toynbee
Wenn also dieser Westen Asien eine existentielle „Lebenshilfe“ leihen müßte, — haben wir selbst noch diese hohen Werte der freien Welt? Haben wir also diese Werthaltungen noch als verpflichtende, das heißt transzendent verankerte Lebensgrundlagen und — worauf es besonders ankommt — als Gewissensverpflichtung, die einer höheren Macht letztgültig sich verantwortlich weiß? Sind Menschenrechte also nicht nur menschliche Rechte, sondern in einer Ewigkeitsbindung fundierte Garantien, ohne die letzthin auch die Naturrechte unverbindlich bleiben könnten? Oder aber blieben diese seit ihrem Ursprung immer und je religiös verwurzelten Menschenrechte mit dem Verfall des Gottesglaubens als höchster Lebensnorm nur noch als zwischenmenschliche Verkehrszeichen in Geltung, die konventionell, vertraglich gesichert werden? Etwa im Sinne eines „aufgeklärten Egoismus", eines „ökonomischen Kalküls", das den Dienst am Menschen nur noch als Profit für sich selbst zu begründen versteht in der Lehre von dem „wohlverstandenen Interesse"? Dann freilich rückten der Westen und ein bestimmter Osten hier bestürzend nahe zusammen! Ist gar das Schwinden der Freiheit — trotz aller Beschwörungen der Freiheiten — ein durch Technik, Wirtschaft, Massendasein bedingter fortschreitender Weltprozeß? Eine noch nie dagewesene Verschränkung des Einzelschicksals mit dem Gesamt-schicksal nicht nur der Nation, sondern der Welt, birgt die tödliche Gefahr, daß das Massendasein eines technologischen, ökonomischen, zivilisatorischen Kollektivs auch den geheiligten Bezirk personaler Freiheit verschlingt, im christlichen Verständnis jene „herrliche Freiheit der Kinder Gottes", in deren Zeichen allein ein menschenwürdiges Leben sinnvoll erscheinen könnte.
Es geht doch letzten Endes um die Geltung oder Vernichtung des Christentums. Goethe bekommt wieder Recht mit seiner Auffassung, daß das eigentliche und tiefste Thema der Weltgeschichte der Kampf zwischen Glauben und Unglauben sei. So gesehen zeichnen sich die Fronten im weltgeschichtlichen Ringen ganz anders ab als auf der politischen oder ökonomischen Planskizze. Auf dem politischen Felde besteht eine klare Linie zwischen Ost und West, auf dem geistigen Felde aber besteht kein „Eiserner Vorhang", der Glaube und Unglaube trennt. Atheismus gibt es auf beiden Seiten. Doch der westliche Atheismus ist ein bloßer Abfall von Gott, ein „Entgleiten aus der göttlichen Sphäre". Der europäische Atheist lebt ohne Gott, aber nicht gegen ihn. Gottlosigkeit ist hier ein Zustand der Gleichgültigkeit, eine „seelische Mangelkrankheit".
Man wollte den entscheidenden Grund für die Stärke des Kommunismus im geistigen Vakuum des Westens sehen
Wenn nun auch Bachofens These, daß die Weltgeschichte ein Kampf zwischen Orient und Okzident sei, in dieser Ausschließlichkeit wohl nicht haltbar erscheint, so bildete doch dieses Spannungsfeld einen beträchtlichen Teil ihrer Thematik. Als Spannung zwischen Christentum und Islam erschien dem Mittelalter und auch noch Goethe das West-Ost-Problem. Heute tritt es in neuer Gestalt uns entgegen, als Gegensatz zwischen Rußland und Europa, der sich allmählich zu einem Gegensatz zwischen Asien und Europa, zu einer Antinomie von Totalitarismus und Freier Welt auszuweiten scheint.
Es wäre ein unheilvoller Irrtum, zu glauben, daß sich die künftige Entscheidung zwischen Ost und West in der Zukunft nur in der Ebene der Produktion, des Lebensstandards und des gesellschafts-dynamischen Prozesses, der physikalischen, chemischen und biologischen Kriegstechnik abzeichnen wird. Letzthin werden die menschliche charakterologische Wer-tigkeit, die Höhe der Lebensideen und der Gesittung entscheiden, womit die Glaubens-kraft ebenso angesprochen ist wie die von dort her fundierten moralischen Perspektiven. Dies betrifft nicht nur jene weittragende, in ihren Folgen kaum noch absehbare Frage des Kampfes zwischen den östlichen und westlichen Weltreligonen mit jener unüberhörbar scharfen Kritik Asiens am abendländischen Christentum, es betrifft nicht nur die im Zeichen der proklamierten Menschenrechte stehende freiheitliche Mündigkeitserklärung gelber und schwarzer Rassen, die drohende Gefahr einer kulturellen und politischen Überflutung des technisiert-rationalistischen Westens durch ein teils noch ungebrochenes und charakterologisch echtes Seelentum des Ostens. Was uns selbst angeht, ist die eigenste, gewissentlich-innere Entscheidung im Geiste zwischen Ost und West — diese Begriffe im weiteren und im engeren Sinne verstanden. Was uns in der Tiefe angeht, ist nicht nur ein macht-oder wirtschaftspolitisches, nicht nur ein welt-haft-kulturelles, sondern im Grunde ein weltanschauliches Problem: Das Problem von Ost und West wird heute letzthin zur Stätte heilsgeschichtlicher Entscheidungen des Menschen über den Menschen.
IX. Gibt es noch einen Weg?
Was soll unter solchen Aspekten noch Humanismus bedeuten? Woher will eine Humanitätsidee ihre verpflichtende Begründung nehmen, wenn die Stützen der Tradition als Humanismus und Christentum weithin fragwürdig wurden und damit ohne Verbindlichkeit bleiben für den heutigen Menschen?
Angesichts dieser in ihrem Fortgang kaum noch übersehbaren veränderten Situation der Welt und des Selbstverständnisses des Menschen in seiner Welt wird die zentrale Frage vordringlich: ob und wie das seit der Humanitätsbewegung brennend gebliebene Anliegen auch unter den Lebensbedingungen der modernen Welt noch festgehalten und erfüllt werden kann und soll, ob es noch einen gültig übernommenen Stellenwert geben kann. Wo ist der Ansatzpunkt für den Humanismus in dieser veränderten Welt? Der Mahnung von Werner Jaeger 112): „Wer sich von der Antike scheidet, verzichtet damit auf das Verständnis seiner eigenen nationalen Kultur und bricht die Brücke ab zu den anderen Nationen", oder der Drohung J. Burkhardts: „Wir werden das Altertum nicht los, wenn wir nicht wieder Barbaren werden", stehen die harten Tatsachen gegenüber, daß — abgesehen von den fundamentalen Wandlungen in allen Lebensbezirken — die verhältnismäßig schmale Bürgerschicht, die Träger dieser Tradition war
Im Zeitalter der Massen und der Fragwürdigkeit alles Daseins hielt der an der Antike und dem Christlichen orientierte Humanismus ebensowenig stand wie das neuhumanistischbürgerliche Menschenideal. Als Erziehungsund Lebensstil hat er sich in der Stunde der Bedrohung weithin als ein dünner Firnis erwiesen, der beim ersten Aufstand der Massen und der Diktatur sich auflöste. Das Versagen gerade auch der akademischen Schicht wie ebenso hoher Verantwortungen in anderen Räumen vor dem Ansturm des Nationalsozialismus und seiner ebenso antihumanistischen wie antichristlichen Weltanschauung ist bekannt. Daher kann der Humanismus in der überlieferten Form heute kaum noch Träger der geistigen Bewegung im Zeitalter der Massen sein. Besonders aber können nicht mehr bestimmte geschichtliche Bilder und Leitbilder, wie die Formen der abendländischen Klassik als Griechentum, Hohes Mittelalter, Goethezeit, typisiert und verabsolutiert werden, um deren rationale Erkenntnis und Aneignung gleichzusetzen mit der Bildung der Gegenwart. Mit der Analysierung einer geschichtlichen Herkunft und Struktur allein wird noch keine gültige Bildungsform gewonnen, zumal wenn das Kriterium für einen richtenden „Maßstab" fehlt. Hier bedarf es zuerst übergeschichtlicher Sinn-und Wert-forderungen, um seine Bildungsziele gültig und verbindlich zu verankern. Was Bruno Snell
Doch hier begegnet uns wiederum die Frage: Gibt es noch einen „-Wegzurück“ zu Humanismus und Humanitätsidee? Und wenn es einen solchen Weg gäbe — zu welchem Humanismus und zu welcher Humanitätsidee? Das Humanitätsideal der Goethezeit war ein Muße-Ideal, unabhängig von Berufen und sozialen Pflichten. Insofern war die frühbürgerliche Humanitätsidee durchaus zeitlich gebunden. So viel aber scheint dennoch wohl gewiß, daß wir Abendländer bestimmter Sinn-und Wertmaßstäbe der Antike und des Christentums nie ganz entraten können, da wir sie selbst alle im Blute tragen. Aber wenn wir diesen Zugang überhaupt ablehnen wollten — woher wollen wir dann noch die Grundlagen für eine innere Kultur und menschliche Bildung heute nehmen?
Eine existentiell — nicht nur sprachlich — verstandene humanistische Bildung hat auch heute noch eine maßgebende Bedeutung für unsere geschichtliche Selbstorientierung und Selbstbesinnung. Sie gewinnt eben jene Bedeutung, die dem Kindheits-und Jugendalter im Menschenleben unverlierbar zukommt, als Gesetz, nach dem wir angetreten. Sie vermag Akzente zu setzen, die eine wesenhafte Formung der Persönlichkeit zu bewirken vermögen — und dies nicht nur unter einem Nützlichkeitsaspekt. Humanismus wird freilich heute nicht mehr als historischer Begriff verstanden werden dürfen, sondern als „das erzieherische Ethos, das die selbstdurchlebte menschenformende Kraft der Antike in einer umfassenden Persönlichkeitsbildung zukunftsweisend zur Wirksamkeit bringen will"
Ein solcher „lebendiger Humanismus" wird sich ebenso an den antiken wie an den geistigen und ethischen Problemen der Gegenwart entzünden müssen. Die Antike wird dabei weniger als ästhetische Größe noch als mythologisches oder kulturelles Vorbild, eher noch als „Vorwurf“ zur Selbstfindung Bedeutung gewinnen können. Eine solche Begegnung mit der griechisch-römischen und dann auch mit der westlichen Welt gestaltete von jeher unser abendländisches Antlitz und unser Schicksal. Eine offene Begegnung mit der östlichen und insbesondere der fernöstlichen Welt wird dazu in fruchtbarer, bereichernder Spannung die Konturen eines neuen abendländischen Humanismus heute gültig abzeichnen und bewähren müssen.
Der historisch-humanistischen ist zudringlich eine naturwissenschaftlich-technischeBildungsform gegenübergetreten. Wenn humanistische Bildung den Menschen zur freien Persönlichkeit erziehen will, die sich in der Gesellschaft auskennt, die sich darin bewegen, behaupten und entscheiden kann, so lehrt eine naturwissenschaftliche Bildung den Menschen die Natur begreifen und aus dieser Erkenntnis Macht gewinnen. In beiden steht der Mensch tatsächlich: in der Naturordnung und in der Ordnungsform der Gesellschaft. Von hier aus wird ein „naturwissenschaftlicher Humanismus
Wenn nun aber Kultur ein wesenhaft abendländischer Begriff ist als Wertidee und letztes Ziel irdischen geistigen Strebens der Einzel-persönlichkeit wie der Nationen
Doch hier führt die Wegmarkierung nur über jenen zweiten Markstein abendländischer Humanität: über das christliche Erbe als über das Ideal des Gott-zugehörigen freien Menschentums und seines Dienstes am Mitmenschen. Allen Vorgängen der abendländischen Geschichte war ursprünglich der Antrieb zur Verchristlichung der Lebensformen eigen. Die Begegnung als jenes Miteinander und Gegeneinander von romanischer und germanischer Geisteshaltung mit dem Christlichen zeichnet im Grunde die Konturen der abendländischen Geistesgeschichte ab. Erst im dreizehnten Jahrhundert hatte dabei die urchristliche Idee der erbaermde, der Barmherzigkeit und der Hilfe am Mitmenschen ohne Ansehen seiner Klasse, seines Standes und seiner Gestalt im Bilde von Bassenheim, jenes Reiterbildes der Martin-von-Tours-Legende, das jenes urgermanische Reitersymbol von Möjebro ablöste und überwand, ihre Verwirklichung gefunden. Damals ward die Idee der Barmherzigkeit, des „Mitleids“, im deutschen „Parzival“ Wolframs von Eschenbach ebenso wie in der hochgotischen Plastik des erbaermdeChristus, zum zentralen Anliegen der Lebens-verwirklichung
Gibt es doch dazu für den abendländischen Menschen, auch noch in der Gegenwart, seit Erscheinen des Christlichen in diesem Raum keinen unmittelbaren Zugang mehr zur antiken Geisteswelt, selbst wenn man dies vermeinte! Jeder Weg führt notwendig über jenes christliche Erbe, das wir alle, gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt, im Blute tragen. Die welthafte Kultur des Abendlandes hat überdies nicht das Tor zum inneren Bezirk des Herzens aufgestoßen — im Grunde waren es ganz andere Seins-und Wertforderungen, welche die natürlichen Selbstverständlichkeiten durchstoßen haben, geradezu verkehrt haben, um die Seele für jene Menschlichkeit zu öffnen, die wir als das neue Ethos unseres abendländischen Menschentums zu begreifen pflegen und mit dessen Schwund notwendig auch dieses Menschentum verblassen mußte: „Wer um meinetwillen sein Leben verliert, der wird es gewinnen".
Diese Überzeugungen stammen jedoch nicht allein aus wissenschaftlichen Nachweisen, sondern aus ganz anderen Bezirken der menschlichen Existenz — sie werden gelebt, bewußt übernommen, weil sie geglaubt werden. Um diesen Glauben an echte Maßstäbe für das Leben und die Erziehung zu ringen — hier erreichen wir den eigentlichen Ort persönlicher Besinnung und Bemühung um eine wahre Menschlichkeit. Hohe Menschlichkeit besteht nie ohne das Wagnis eines hohen Glaubens, wie auch immer er sei, oder es ist keine Menschlichkeit. Hat jedoch ein abendländisches Menschentum heute noch die Kraft eines solchen hohen Glaubens, oder leben wir oft nur noch von alten Tafeln, die für viele keine Lebensmacht mehr bedeuten? Wohin wollen wir dann noch leben, wohin dann noch bilden und erziehen? Woher sollen die verpflichtenden Normen für den Ausweis dessen, was Menschlichkeit ist, genommen werden?
Die Proklamierung der Humanitätsidee als Lebens-und Bildungsziel entspringt heute eher der Verlegenheit als einer klar umschriebenen Vorstellung oder gar einer echt übernommenen Lebensüberzeugung. Im Grunde lebt freilich unser heutiger Bildungsgedanke trotz leidenschaftlicher Ablehnung doch noch latent von eben jenen Leitbildern, die jedoch keinen rechten Wirklichkeitscharakter mehr zu gewinnen vermögen, weil sie ihre Überzeugungskraft verloren haben. So also lebt jenes Ideal wie eine Art untergründiges religiöse Lebensziel in uns fort und beweist damit jenes Beharrungsvermögen, das Lebens-und Bildungsidealen wie auch Glaubensformen anhaftet, selbst unter ganz veränderten Bedingungen und Lebensverfassungen. Daß dabei die Gefahr der Unechtheit des Lebensstils als des Auseinanderfallens von traditionell angenommenen, aber nicht mehr existentiell übernommenen Formideen naheliegt, entspricht heute einer durchgehenden Erfahrung. Hier scheint aber jenes Moment auf, daß Humanismus und Humanität sich fragen lassen müssen, wes Geistes Kind sie sind. Denn jede Lebensüberzeugung gründet in weltanschaulichen Voraussetzungen. Es gibt keine Menschlichkeit an sich, es gibt nur eine so oder anders bestimmte oder begründete oder verwurzelte Menschlichkeit. Wie der griechische Humanismus an der Lebenssinngebung der Paideia, der römische an der Humanitas, der Neuhumanismus an der religiösen Perspektive Herders, Goethes, Fichtes, Schleiermachers, Humboldts orientiert waren, so ist die aulgeklärte Humanität an Freiheiten und Grundrechten orientiert, die eine Vernunft-religion ihr nahezubringen suchte. Dem Christenmenschen freilich vermögen Humanismus und Humanität letzthin nur als ein Humanismus der Inkarnation und des Kreuzes Gültiges zu bedeuten. Es sollte dies doch als die unüberschreitbare kategoriale Andersartigkeit gegenüber allen anderen Humanismen deutlich fixiert werden. Die Lebenswerte der Freiheit, der Menschenwürde, der Gerechtigkeit, der mitmenschlichen Liebe, des Heilswillens sind im Christlichen anders begründet als in der Antike: in Rom, im Neuhumanismus oder in der neuzeitlichen Aufklärung. Hier liegt ein richtungleihender Maßstab im Worte Fedor Dostojewskis: „Nie habe ich mir die Menschen vorstellen können ohne IHN." Humanitas im christlichen Existenzbewußtsein ist also nicht zu denken ohne den Akzent einer von Gott erlösten Humanitas: „Wer aber in Christus steht, der ist eine neue Kreatur.“
Wird sich aber aus den Erschütterungen des menschlichen Selbstverständnisses durch die Not der beiden Weltkriege und der umwälzenden Lebensstruktur wirklich ein neues Ethos „kristallisieren"? Reichen solche Erfahrungen allein dazu aus? Ist nicht auch das A-Humane, das Unmenschliche, das Böse, jenes mysterium iniquitatis tief in des Menschen Herz verwurzelt? Und hat die Generation der beiden großen Kriege noch die Kraft und den Einfluß auch auf diese junge Generation, die jene Zeiten der erschütternden Erfahrung nur noch aus dem Geschichtsbuch kennt? Zeigt nicht gerade unsere Wohlstandsgesellschaft heute eine erregende Desinteressiertheit an allen tieferen Lebensbezirken, Fragen und Antworten, wie vor allem auch an einer tat-bereiten Hilfe für die Not, die Armut und den Hunger in der Welt? Eine heute dominante Erscheinung ist das Vordringen einer jungen Generation in Schlüsselstellungen des öffentlichen Lebens. Diese Generation ist ja „unbelastet", fühlt daher keine unmittelbare Verantwortung gegenüber einer schuldbeladenen deutschen Vergangenheit. Sie entbehrt freilich ebenso dadurch des erfahrenen Bewußtseins um die Kontinuität der geistesgeschichtlichen Verwurzelungen. Damit bestätigt sich im Grunde die heutige Erfahrung, daß ein Traditionsbruch von bisher kaum gekannten Ausmaßen festzustellen ist, zumal die „mittlere Generation" weithin ausfällt, auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges verblieb. Woher soll aber, wenn nicht aus religiösen Bindungen und übernommenen Glaubensverpflichtungen, der „Grund" für diese tatbereite Hilfe und Verantwortung genommen werden? Wir leben heute weithin von kritisch aufgelösten Relikten ursprünglicher Glaubensüberzeugungen. Woher sollen dann die verpflichtenden Normen genommen werden, wenn das vielschichtige Naturrecht oder die angestammte Gesittung einer Kultur-und Gesellschaftstradition nicht mehr tragen? Hier erscheint der Ort zu der Frage, ob eine wissenschaftlich fundierte Ethik wirklich als voraussetzungslos besteht, die uns die Grundnormen des Handelns somit allein mit den Gewichten der „reinen Vernunft" aufzuweisen und als Verpflichtung aufzuerlegen und zu begründen hätte. Wer jedoch die sich widersprechende Vielschichtigkeit ethischer Wert-und Sollensbegründungen — zumal in einer weltanschaulich pluralistisch bestimmten Gesellschaft — übersieht, wonach das Gute in der menschlichen Wesensnatur oder im Prinzip der nützlichen Brauchbarkeit oder in den Geboten der verschiedenen religiösen und politischen Weltanschauungsgruppen begründet werden soll, dem bleibt nur der Rückbezug auf bestimmte „angestammte" Weisen und Formen der Gesittung, die — mit oder ohne Vernunftseinsicht begründet — letzthin doch noch dem offenen oder verkappten christlichen Werthorizont entstammen. Was anders sich heute an sittlichem Neuland anzeigt, leidet entweder an seelisch-geistiger Kurzatmigkeit oder an existentieller Oberflächenbezogenheit oder gar an jenen unechten Umstrukturierungen der Lebensbezüge der Geschlechter durch Abbau der sexuellen Tabus. Es ist wie ein Paradox. Auf der einen Seite steht die Bemühung um die Humanität auch als Richtbild für die Erziehung im öffentlichen Raum, auf der anderen Seite die massenmäßige Verbreitung von Kriminalgeschichten in Buch Bild und Funk mit der Deklarierung von Lüge, Verschlagenheit, verbrecherischen Handlungen. Werden so alle nur möglichen Unterwelts-und Unmenschlichkeitsperspektiven sowie die unterschwelligen minderwertigen Charakterhaltungen gewissermaßen salonfähig gemacht — im Namen der spannenden Unterhaltung —, so muß daneben der Ruf nach den bekannten Werten zur Persönlichkeitsbildung geradezu absurd erscheinen. Tut man nicht gerade alles, um die Erziehung zu dieser Menschlichkeit zu verhindern? Was einer heutigen Humanitätsbemühung offenbar geradezu außer Bewußtsein zu geraten scheint, ist die Erfahrung der menschlichen Unzulänglichkeit, jener seelischen Grunderfahrungen, die mit den Begriffen von Sünde und Schuld zu umschreiben wären.
Jene verbreitete These von der möglichen Änderung und Umschichtung unserer Bewußtseinsstruktur durch die „Anpassung" an die veränderte Ding-und Mittelwelt, an die technisierte und kollektivierte Daseinswelt, wonach der Mensch seine eigene Gestalt wandeln soll, wenn die Gestalt der Welt sich wandelt, so daß das Selbst ein anderes wird, indem es die Welt zur „Sache" umdenkt
Es betrifft also eine ganz andere Frage, vielleicht die ernsteste Frage, ob denn der heutige Mensch, insbesondere auch der Jugendliche, wirklich die notwendige Disposition in seinem seelischen Habitus — nicht nur in seinem geistigen Vermögen — mitbringt für jene notwendig „innerliche Erfahrung“ solcher Perspektiven des Menschentums. Diese Frage erscheint nicht überflüssig angesichts jener bestürzenden Feststellung, wonach etwa in der amerikanischen Gesellschaft — aber doch nicht nur hier — der traditions-geleitete und innen-geleitete Menschentypus noch fortschreitend von dem außen-geleiteten in weitestem Maße verdrängt und ersetzt wird.
Hier erscheint jene spezifische Lebensfrage des Menschen und der Menschlichkeit, ob es in einer Massengesellschaft überhaupt noch Individualität geben könne. Zu der verbreiteten Erfahrung einer Anonymität des Individuellen und Persönlichen bemerkt Karl Jaspers' 128): „Sie blicken uns eigentlich nicht an, sondern wenden uns in ihrem stechenden Blick oder in der Blicklosigkeit ihre leeren Augen zu. Sie sind als sie selbst gar nicht da. Es redet durch sie, sie selbst sprechen nicht. Es ist eine Gewaltsamkeit des Fraglosen oder ein Lächeln der Geläufigkeit. Es bietet sich eine jederzeit austauschbare, persönlich-menschlich unzuverlässige Kameradschaft an. Man unterwirft sich in dem Terror dem, was als Linie befohlen wird, oder in der Konvention dem, was alle tun und zu glauben scheinen."
Wenn in der Gegenwart jene geistige Wurzel der modernen Humanität, der Gedanke der Selbsterlösung, selbst tief in der Geschichte der humanistischen Doktrinen verhaftet, sich in seiner letzten Konsequenz versteht, so gerät unsere Thematik in den Bezirk heilsgeschichtlicher Entscheidungen des Menschen und über den Menschen. Mit Recht ist bemerkt worden
Hier unsere Antwort: Nicht die äußere, auch nicht die innere Herrschaft über den Menschen, sondern der Dienst am Menschen erscheint uns als das letztgültige Kriterium der christlichen Botschaft — Quelle des folgereichen Mißverständnisses über die Jahrhunderte. Nur insoweit wird die christliche Botschaft vom Menschen als eines geschöpflichen und der Erlösung und des Heils bedürftigen Wesens heute noch Überzeugungskraft gewinnen, als jene christliche Lebenswirklichkeit unter Abweisung aller welthaften Machtzeichen und in der Echtheit einer unbedingten Wahrhaftigkeit des Gewissensanrufes den Dienst am „geringsten meiner Brüder" zum zentralen tatbereiten Richtbild zu nehmen bereit ist. Eines Richtbildes also, das mit der Fixierung vieler Humanismen im Ursprungs-und Bedeutungsfeld gar nichts gemeinsam hat. Man muß freilich schon eine Achsendrehung der gesamten menschlichen Existenzgründung, des Daseins-und Sinnverständnisses überhaupt, mit-vollziehen können, um jenen spezifischen Raum christlicher Erfahrung vom Menschen, von dieser seiner „Humanität" zu erreichen. Weil die Heiligsprechung des Kompromisses heute geradezu das ethische Problem zu sein scheint, darum auch bleibt der Zugang zum Eigentlich-Christlichen verschlossen. Denn das Selbstverständnis des heutigen Menschen findet sich in jenem unmittelbaren und wesenhaften Anruf, in der sensiblen Unterscheidung für die charakterologische Echtheit als für jene Übereinstimmung von Leben und Lehre, Logos und Ethos, Besinnung und Gesinnung. Nur in dieser Tiefenschicht echter Haltungen wird der heutige Mensch, zumal unsere Jugend, noch angesprochen werden können dann, wenn man ihnen den freien Entscheidungsraum zugesteht, ohne einen hohen Raum abendländischer Tradition preis-zugeben. Man wird den Mut haben müssen zu der Einsicht, daß echte Lebensüberzeugungen nicht mehr nur gelenkt, gemacht, bewahrt werden können. Reifen heißt auch: In-der-Krise-stehen-müssen und damit in der Be44 Währung. Gültig wird nur noch sein, was in der Echtheit einer gewissentlichen Überzeugung errungen wurde — und vorgelebt wird.
Wenn wir aber angesichts der modernen Unmenschlichkeiten der Massenvernichtungen nach dem Zeugnis der Humanität selbst fragen, so können wir nicht ohne tiefe Bestürzung bleiben. Nicht die Wahrheit und Wahrhaftigkeit, nicht die Hilfsbereitschaft, sondern der berechnende Erfolgsegoismus scheinen doch weithin die Welt zu bestimmen — ehedem und heute. Doch wo die Wahrhaftigkeit stirbt, wo das Opfer ohne Stellenwert bleibt, wo der geheime seelische Tiefenbezirk nur mehr als privater, den „Betrieb“ störender Luxus empfunden wird — hier stirbt die Menschlichkeit ab, in welcher Gestalt sie auch immer verstanden wird. „So kam . . . das Elend des Angsthabens voreinander auf, in dem wir uns jetzt bewegen" (Albert Schweitzer).
Es möge dabei jedoch ebenso nicht unbemerkt bleiben, daß inmitten aller Lieblosigkeit und Schrecknisse der Verbrechen und der Untaten gegen die Menschlichkeit dennoch auch ganz andere Kapitel des Mitfühlens, der personalen Hilfe, der brüderlichen Anteilnahme, des opfervollen Einsatzes der persönlichen Existenz für diese Menschlichkeit durch die Welt gehen. Wer wollte dies übersehen? Diese duldende und handlungsbereite Hingabe von Menschen für den Menschen? Allein dies alles umfängt zumeist die Stille, die selbstverständliche gute Tat des Herzens. Die „Publicity“ weiß von alledem nichts — diese Öffentlichkeit will Sensation, lebt von der Unechtheit von „Einsätzen", die selten allein um der Sache willen geschehen oder auch selten nur aus diesen Motiven publiziert werden. Dies dann könnte als ein Signum, als ein Merkmal der Unterscheidung aller wahrhaft humanen Gesinnung und Tat gelten: Nur was ein Mensch unter Absehen von seiner Person für eine Sache, eine Idee, einen Menschen, eine Gruppe und so fort zu tun bereit ist, könnte auch den charakterologischen Wert seiner Persönlichkeit, seines Menschentums, seiner Humanität anzeigen. Und dies gilt für alle Bereiche des Lebens, für den religiösen Bezirk ebenso wie für den politischen, den beruflichen ebenso wie für den privaten Lebensbezug. Hier kommt in der Tat eine gültige und zentrale, ja vielleicht die eigentliche Perspektive in Sicht, wenn wir von Humanität sprechen, wie wir diese verstehen. Wir sehen keinen anderen Weg, keinen anderen Schlüssel zu dem „Geheimfach" unserer humanen Existenz, als in jener, offenbar paradox scheinenden Achsendrehung unserer gesamtmenschlichen Existenzgründung, wovon schon die Rede war. Jene andere, nicht minder ernste Frage, wieviele Menschen wohl überhaupt einen Zugang finden oder gar finden können zu solchen Tiefenbezirken des Lebensverständnisses — dies bleibt eine nicht unbedingt ermutigende Verlegenheit.
Der Mensch ist nicht nur das Wesen, das geistbestimmt lebt oder handelnd sich bewährt, er ist vor allem das Wesen, das sinnbezogen existiert, sofern es wahrhaft menschlich existiert, so daß auch alle Einzelfunktionen beziehungsweise Erscheinungsweisen des Menschlichen nur organisch-strukturell, das heißt von einem übergeordneten Sinnbezug her, erst gültig gedeutet werden können.
Im Grunde gibt es heute nur zwei Verhaltensweisen zur menschlichen Existenz, die jedem einzelnen zur Entscheidung aufgegeben sind.
Menschliche Existenz wird erfahren als eingespannt in eine als determinatorisch erfahrene ökonomisch-gesellschaftliche Prozeßgesetzlichkeit, die vorgezeichnet und wissenschaftlich feststellbar ist. Der einzelne hat Gültigkeit nur als Vollzugsorgan dieses Welt-prozesses, dem er sich einzuschmelzen hat. Die andere Ansicht sieht die Freiheit zur Verantwortung des einzelnen im „Schicksalsgeschehen" der Geschichte — trotz aller Zudringlichkeiten. Geschichte ist hier um der freiheitlichen Würde der Person willen, die ihre Bestimmung und Tathandlung allein aus dem Gewissensbezug der „Innerlichkeit" oder eines frei übernommenen göttlichen Anrufs herleitet, wie etwa in der christlichen Offenbarungsreligion. Beide Grundhaltungen können jedoch nicht etwa mit der Grenzlinie von Ost und West markiert werden. Das eigentliche bedrängende Problem der Rettung der freien Personwürde, jenes Angelpunktes abendländischer Humanität, liegt für uns heute viel tiefer. Dies deshalb, weil ein verbreiteter östlicher Prozeßfatalismus in einer verbreiteten westlichen determinatorischen Soziologie und psychologischen Anthropologie und ökonomisch-technologischen Daseinsinterpre-B tation mit ihren neuen Evangelien der Anpassung, der funktionalen Substanzlosigkeit und der rentierlichen Plansoll-Erfüllung seine Entsprechung findet. Ob man wohl diese Konsequenzen überall bemerkt, wenn man im Namen der Humanität für Freiheiten kämpft, deren Wurzelboden bereits die Keime zur Zerstörung der so gehüteten Persönlichkeitswürde wissenschaftlich, politisch und gesellschaftlich zur Reifung bringt?
Es betrifft schließlich die wohl tiefste noch zu erinnernde Problematik, wenn nach der Freiheit des Menschen und ihrer Möglichkeiten im gesellschaftlichen Raum überhaupt gefragt wird. War der Mensch denn je frei? Etwa in der statischen Gesellschaft, die seinen inneren und äußeren Lebensraum mit den konstanten Sozial-und Bewußtseinsstrukturen wie selbstverständlich umfing? War nicht auch der traditionsbestimmte Mensch in diesem „Gehäuse“ seiner eigenen Entscheidungen weithin enthoben, ja entlastet? Waren nicht Sitte, Konvention, Religion diesem Menschen immer jeweils überkommene als geheiligte Mächte, ohne daß er sich dieser kritisch noch bewußt werden konnte? War also der Mensch nicht immer schon „gebunden", niemals ganz er selbst? Es bleibt uns dann nur noch die Erfahrung jenes Geheimnisses, daß menschliche Freiheit immer und nur in der bewußten gewissentlichen Bindung möglich wird, daß es niemals ein Dasein ohne Glauben geben kann, daß schließlich die Bindung'an eine göttliche Macht doch dem Wesen des Menschen wesenhaiter ist als eine Auslieferung an einen anonymen „Prozeß“ in der menschlichen Konstitution selbst, in der Natur, in der Kultur, in der Gesellschaft, in der Geschichte.