Der 14. Oktober 1964 wird als entscheidendes Datum in die Geschichte des sowjetischen Kommunismus eingehen. An diesem Tage ist Chruschtschow von seinem Posten als Erster Sekretär des Zentralkomitees der Partei und de facto auch von seinem Posten als sowjetischer Ministerpräsident („Vorsitzender des Ministerrats") abgelöst worden. Der Sturz Chruschtschows fand auf einer überraschend einberufenen Sitzung des Zentralkomitees am 14. Oktober statt, wobei Chruschtschow, der offiziellen Version zufolge, „angesichts seines hohen Alters und der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes" um seinen Rücktritt nachgesucht haben soll
Die sowjetische Partei-und Regierungsspitze wurde unmittelbar darauf erneut personell getrennt. Der 58jährige Leonid Breshnew Der Sturz Chruschtschows wurde zum neuen Ersten Sekretär der Partei ernannt, der 60jährige Alexej Kossygin zum neuen Vorsitzenden des Ministerrats. Noch sind keineswegs alle Details über diesen dramatischen Führungswechsel in Moskau bekannt. Es steht jedoch fest, daß die offizielle Version über den Rücktritt Chruschtschows mit den wirklichen Vorgängen nicht übereinstimmt. Gewiß stand Chruschtschow bereits in seinem 71. Lebensjahr und hat sich vor allem in den letzten Jahren häufig in seinen Urlaubsort zurückgezogen, aber er war keineswegs krank, im Gegenteil: seine Aktivität und sein unermüdlicher Eifer setzte alle in Erstaunen — auch und gerade in den letzten Wochen vor seinem Sturz. Der Rücktritt Chruschtschows hat nichts mit seiner Gesundheit und seinem Alter zu tun, sondern vielmehr mit ernsten politischen Auseinandersetzungen in der Kremlführung.
Wie war es möglich, diesen scheinbar allmächtigen Herrscher der Sowjetunion so schnell von seiner Machtposition zu entfernen? Was waren die Gründe für diese Ablösung, deren Zeitpunkt und deren Form selbst für höhere Parteifunktionäre überraschend kam? Welches waren die unmittelbar auslösenden Momente, die die Mehrheit der sowjetischen Parteiführer bewogen, sich von dem lange verherrlichten sowjetischen Partei-und Staatsführer zu trennen? Wie stabil ist die neue, nach der Ablösung Chruschtschows eingesetzte sowjetische Führung? Welchen Kurs wird sie einschlagen? Das sind die wesentlichen Fragen, die in diesen Tagen und Wochen im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Die Gründe für die Ablösung Chruschtschows
Zunächst muß daran erinnert werden, daß Nikita Chruschtschow zu keinem Zeitpunkt dieselbe Macht besaß wie einst Stalin. Gewiß vereinigte Chruschtschow, ähnlich wie Stalin, formell die beiden entscheidenden Macht-funktionen in seiner Hand — seit Mitte September 1953 war er Erster Sekretär des Zentralkomitees der Partei, seit Ende März 1958
Vorsitzender des sowjetischen Ministerrats. Aber zwischen seinen offiziellen Funktionen und seiner wirklichen Position bestand nicht selten ein Widerspruch. Chruschtschows Neulandkampagne, sein Eintreten für die Entstalinisierung, für die Verbesserung der Beziehungen mit dem Westen (vor allem den USA) und für die Verstärkung der Konsumgüter-Produktion, die von ihm befürworteten Reformen und Reorganisierungen im Innern des Landes sowie sein Kurs gegenüber den Pekinger Machthabern stießen wiederholt auf ernste Widerstände. In seiner elfjährigen Laufbahn als Erster Parteisekretär hat Chruschtschow mehrmals seine Vorstellungen nur mit Verspätung oder in abgeschwächter Form durchsetzen können. An mehreren entscheidenden Wendepunkten — darunter im Sommer 1954, im Frühjahr 1955 und im Herbst 1956
Auch im Juni 1957 gelang es ihm nur unter großen Schwierigkeiten, seinen eigenen Sturz zu verhindern und die „Parteifeinde" Malenkow, Molotow und Kaganowitsch auszubooten.
Aber selbst nach diesem für ihn triumphalen Erfolg war seine Position keineswegs immer ungefährdet. Vor allem im Mai und in der Zeit vom Herbst 1962 bis zum Frühjahr 1963 hatte er nicht nur mit großen Schwierigkeiten, sondern auch mit starken Gegenkräften zu rechnen.
Vieles spricht dafür, daß Chruschtschow bereits seit 1959 sich über das Nachfolgeproblem im Kreml ernste Sorgen machte; wahrscheinlich dachte er daran, sich schrittweise aus den Machtfunktionen zurückzuziehen. So erwähnte er im Juli 1959 in seinem Gespräch mit Averell Harriman, daß Stalin keine Nachfolger ernannt hätte, und meinte, er, Chruschtschow, werde diesen Fehler nicht wiederholen. Sich an Mikojan wendend, fügte er hinzu, „Anastas und ich sind übereingekommen, daß dieser Fehler nicht noch einmal gemacht wird“
Im April 1963, zu einer Zeit, als sich Chruschtschow offensichtlich von anderen Kräften in der Führung bedrängt sah, wies er erneut darauf hin, er sei „schon 69 Jahre alt", und fügte hinzu: „Jeder begreift, daß ich den Posten, den ich jetzt in der Partei und im Staat bekleide, nicht ewig einnehmen kann.“
Am 17. April 1964 feierte Chruschtschow seinen 70. Geburtstag. Vier Tage davor, am 13. April, antwortete er auf die Frage nach seiner Gesundheit: „Es gibt noch Pulver in der Pulverbüchse", und ließ durch die sowjetische Nachrichtenagentur TASS verbreiten, wie sehr er noch lebensfroh, voller Energie und stark sei
Sicher wäre es verfehlt, aus den Äußerungen Chruschtschows der letzten Jahre über sein hohes Alter und die unterschiedliche Bewertung, ob er weiterhin seine Funktionen ausüben könne oder nicht, zu weitgehende Schlußfolgerungen zu ziehen. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß Chruschtschow ursprünglich einen allmählichen Machtübergang ins Auge gefaßt hatte, ja vielleicht sogar sein 70. Geburtstag am 17. April 1964 als entscheidendes Datum dafür in Betracht gezogen worden war
Damit sind wir aber bei politischen Meinungsverschiedenheiten in der Kremlführung, die so stark waren, daß die Führer seiner nächsten Umgebung nicht davor zurückschreckten, zum ersten Mal in der Geschichte des Sowjetkommunismus einen Partei-und Staatsführer zu seinen Lebzeiten gleichzeitig von seinen beiden entscheidenden Machtfunktionen abzulösen. Nach übereinstimmenden Berichten mehrerer westlicher Korrespondenten in Moskau soll die sowjetische Parteiführung Ende Oktober eine Reihe schwerwiegender Anschuldigungen gegen den gestürzten Parteiführer Chruschtschow in einem etwa 40-seitigen Dokument zusammengefaßt haben. Solange jedoch dies als „ 29 Punkte" bekanntes Dokument nicht vorliegt, dürfte es verfrüht sein, daraus zu weitgehende Schlußfolgerungen zu ziehen. Vor allem aber muß immer wieder unterstrichen werden, daß die bisherigen und eventuell noch folgenden offiziellen Anschuldigungen gegen Chruschtschow keineswegs in allen Fällen mit den wirklichen Gründen für die Ablösung Chruschtschows identisch sein müssen. Obwohl noch viele entscheidende Unterlagen fehlen, dürfte jedoch unsere Kenntnis ausreichen, um zumindest annähernd diesen bedeutsamen Führungswechsel in der Sowjetunion zu rekonstruieren. Zunächst haben sowohl Chruschtschows Politik als auch seine Führungsmethoden gerade in den Kreisen des Apparates — vor allem des Parteiapparates — in zunehmendem Maß zu einer Mißstimmung geführt. Entscheidend dürfte dabei die zunehmende Entiremdung zwischen Chruschtschow und dem Parteiapparat gewesen sein. Chruschtschow war einst mit Unterstützung des Parteiapparates, ja als „ihr Mann" an die Spitze gelangt. In den letzten Jahren, vor allem seit 1959, begann der langjährige Partei-und Staatsführer jedoch in zunehmendem Maße ohne, in einigen Fällen sogar gegen den Parteiapparat zu regieren. Die Sitzungen des aus 175 Mitgliedern und 155 Kandidaten bestehenden Zentralkomitees wurden von Chruschtschow zu Mammutversammlungen degradiert, an denen bis zu 3000 oder 4000 Personen teilnahmen. Anstelle der „reinen" Parteiprobleme standen in zunehmendem Maße praktische wirtschaftliche Fragen der Industrie und Landwirtschaft im Vordergrund. Nicht mehr die Parteifunktionäre führten das entscheidende Wort, sondern in vielen Fällen Agronomen, Ingenieure und Wissenschaftler, die außerhalb des Apparates standen, ja manchmal nicht einmal Mitglieder der Partei waren. Chruschtschows Parteireform vom November 1962, wonach der Parteiapparat in einen industriellen und einen landwirtschaftlichen Sektor geteilt wurde, verschärfte die Unzufriedenheit. Die Parteifunktionäre fühlten sich immer mehr durch Agronomen, Techniker und Wissenschaftler überrundet.
Auch Chruschtschows Wirtschaitspolitik wurde keineswegs überall begeistert ausgenommen. Seine propagandistischen, überhöhten Zielsetzungen riefen die Kritik der nüchternen Wirtschafts-Fachleute hervor. Durch seine Vielzahl von Wirtschaftsreformen und Wirtschafts -Reorganisationen brachte Chruschtschow Unruhe in den Partei-, Staats-und Wirtschaftsapparat hinein. Eine Kampagne jagte die andere. Diese häufigen, oft dramatischen Wechsel in der Wirtschaftspolitik wirkten sich nicht nur nachteilig für eine organische ökonomische Entwicklung aus, sondern führten auch zur Verärgerung unter den Apparatschiks, die sich — wie die meisten Bürokraten der Welt — nach Ruhe, Ordnung und Klarheit der Anweisungen sehnten. Chruschtschows konsequentes Eintreten für die Konsumgüter-produktion seit Ende 1959 wurde zwar von der Bevölkerung und einem Teil des Apparates begrüßt, stieß aber auf den Widerstand sowohl der in der Schwer-und Rüstungsindustrie tätigen Funktionäre als auch in manchen Kreisen der Armeeführung.
Es scheint, daß sich Chruschtschows Difterenzen mit der Armeeführung nicht nur auf das Problem Schwerindustrie und Konsumgüter-produktion beschränkten. Manches spricht dafür, daß es im Februar 1964 zu weiteren Meinungsverschiedenheiten kam, als Chruschtschow eine Einschränkung des Mannschaftsbestandes der Armee befürwortete. Die Mehrzahl der Armeeführer soll Chruschtschows Ansichten abgelehnt haben. Eine in dieser Hinsicht kritische Rede des Verteidigungsministers Marschall Malinowski wurde lediglich in der Armee-Zeitung „Roter Stern" veröffentlicht, nicht aber in der von Chruschtschows Schwiegersohn, Adschubej, redigierten Iswestija
Da jedes politische Problem in der Sowjetunion untrennbar mit der Ideologie verbunden ist und auch Chruschtschow Wert darauf legte, seine eigenen Reformen und Zielsetzungen sofort ideologisch zu verankern, führte dies zu einer erheblichen Revision vieler ideologischer Vorstellungen. Die Eigenmächtigkeit, mit der Chruschtschow bis dahin heilige ideologische Grundsätze über Bord warf und diese durch neue, der Praxis näher stehende Thesen ersetzte — als typisches Beispiel denke man etwa an seine Formulierung vom „GulaschKommunismus“ —, mußte im ideologischen Teil des Parteiapparates auf ernste Bedenken stoßen.
Zu dieser in den letzten Jahren angestauten Unzufriedenheit in großen Teilen des Apparates kamen nun noch zwei brennende politische Fragen: die Stellung zum Westen und der Moskau-Peking-Konflikt. Ähnlich wie Chruschtschows Neuerungen in der Innenpolitik, Wirtschaft und Ideologie auf Widerstand im Apparat stießen, so gab es zweifellos nicht wenige Kräfte, vor allem in den höheren Regionen der Partei, die Chruschtschows Linie gegenüber dem Westen mit einem gewissen Argwohn, ja Mißtrauen beobachteten. Seine Vorliebe für Reisen in das westliche Ausland, für Treffen mit westlichen Staatsmännern, der zunehmende Kulturaustausch, die Entspannung im Verhältnis zu den USA und schließlich auch die von ihm geplante Reise in die Bundesrepublik Deutschland waren in sowjetischen Führungskreisen keineswegs unumstritten. * In der letzten Zeit kam es wiederholt vor, daß Organe des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes — wahrscheinlich mit Billigung höherer Parteiführer, nicht aber Chruschtschows — die von dem früheren Partei-und Staatsführer angestrebte Verbesserung der Beziehungen mit dem Westen zu durchkreuzen suchten. Die Verhaftung des bekannten amerikanischen Professors Barghoorn unmittelbar vor der Unterzeichnung des sowjetisch-amerikanischen Kulturabkommens, der Fall Schwirkmann nach dem Besuch von Adschubej und vor der geplanten Chruschtschow-Reise nach Bonn sowie die jüngsten Zwischenfälle mit westlichen Militärattaches in der UdSSR sind dafür nur einige Beispiele. Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß es sich hier um Quer-schüsse gehandelt hat, mit dem Ziel, Chruschtschows außenpolitische Intentionen zu durchkreuzen.
Nicht weniger bedeutsam, ja wahrscheinlich noch wichtiger waren die ersten Kontroversen in der Kreml-Führung über die Stellung zu Peking. Sicher gab und gibt es im Kreml keine „chinesische Fraktion" in dem Sinne, daß etwa sowjetische Funktionäre „für Peking“ eintreten; wohl aber gab und gibt es harte Differenzen über die Frage, wie man taktisch gegenüber den Pekinger Führern und dem chinesischen Flügel im Weltkommunismus operieren sollte. Schon einmal, im Frühjahr 1963, hatte Chruschtschow gegenüber einem Teil der Führung nachgeben müssen. Die Kampagne gegen Peking wurde vorübergehend eingeschränkt und ein neuer Moskauer Versöhnungsversuch unternommen. Die chinesischen Kommunisten waren sich der Meinungsverschiedenheiten im Kreml wohl bewußt, und sie haben daher vorsorglich in ihren scharfen Anklagen gegen die Sowjetunion stets das Feuer ausschließlich auf Chruschtschow konzentriert. Andere Führer, etwa Breshnew und Kossygin, wurden dabei, obwohl sie ja zu jener Zeit in der Öffentlichkeit stets noch Chruschtschows Linie vertraten, von Peking geschont.
In den letzten Monaten haben sich nun die Auseinandersetzungen im Kreml über die „Peking-Frage" zugespitzt. Vor allem im Februar 1964 soll es nach durchaus glaubwürdigen Berichten darüber zu einer Auseinandersetzung zwischen Chruschtschow und anderen Mitgliedern des Parteipräsidiums gekommen sein. Auf einer Tagung des Zentralkomitees Mitte Februar hatte Suslow eine ausführlich begründete antichinesische Rede gehalten, um die Parteielite über die wirklichen Vorgänge zu informieren. Chruschtschow soll damals für eine soforige Veröffenlichung dieser Rede eingetreten sein, während die Mehrheit der Mitglieder des Parteipräsidiums dies nicht für opportun hielt, um den um jene Zeit von Rumänien gestarteten Versöhnungsversuch nicht zu torpedieren
Eine weitere Zuspitzung erfuhr die „PekingFrage" in den letzten Wochen vor dem Sturz Chruschtschows. Das von Chruschtschow vehement geforderte Festhalten an der Einberufung der Vorbereitungstagung für Mitte Dezember und an der Abhaltung der kommunistischen Weltkonferenz im nächsten Sommer (selbst auf die Gefahr hin, daß ein Teil der kommunistischen Parteien daran nicht teilnehmen würden) fand, wie aus indirekten, aber deutlichen Hinweisen der sowjetischen Presse hervorging, keineswegs die Billigung der gesamten Führung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die sowjetische Führung von der bevorstehenden Explosion der chinesischen Atombombe Kenntnis hatte. Unter diesen Umständen mußte Chruschtschows entschiedenes Eintreten für die beiden Konferenzen Mitte Dezember 1964 und im Sommer 1965 — die die Spaltung zwischen Moskau und Peking zementiert hätten — noch gefährlicher erscheinen. In diesem Zusammenhang erscheint es von besonderem Interesse, daß bereits am 1. Oktober — also 14 Tage vor dem Sturz Chruschtschows — eine sowjetische Delegation unter Leitung des Kandidaten des Parteipräsidiums Viktor Grischin in Peking Verhandlungen führte, über deren Inhalt allerdings nichts bekannt-gegeben wurde.
Der dramatische Führungswechsel
Wie in der Sowjetunion üblich, zeichneten sich die bedeutsamen Vorgänge bereits vorher durch indirekte Hinweise in der Sowjetpresse ab. Ein solcher Hinweis war z. B. das am 4. September 1964 in der Prawda veröffentlichte Togliatti-Testament. Das Togliatti-Dokument, obwohl in seiner Haupttendenz revisionistisch, enthielt nämlich gleichzeitig eine deutliche Kritik an der von Chruschtschow gewünschten Einberufung einer Weltkonferenz. Seine Veröffentlichung war als Zeichen dafür zu werten, daß bestimmte Kräfte in der Führung die Darlegungen Togliattis benutzen wollten, um Chruschtschows Politik in dieser Frage zu diskreditieren.
Wenige Tage später veröffentlichten die Sowjetzeitungen ausführliche Schilderungen über den im November 1944 in Japan hingerichteten Sowjetspion Richard Sorge. Da im allgemeinen solche Themen in offiziellen sowjetischen Veröffentlichungen nur selten zur Sprache kommen und schon gar nicht in der Tagespresse, muß diese plötzliche Verherrlichungskampagne für den Sowjetspion — in der Presse als „Kundschafter" bezeichnet — als Symptom dafür gelten, daß offensichtlich Kreise der sowjetischen Auslands-Spionage damit rehabilitiert werden sollten. Es ist wahrscheinlich, daß auch diese Kampagne als ein Ausdruck bestimmter Chruschtschow entgegenstehender Kräfte zu werten ist.
Am 2. Oktober folgte schließlich ein noch deutlicherer Hinweis. Auf ihrer Titelseite gab die Prawda bekannt, daß „vor einigen Tagen" im Kreml eine gemeinsame Konferenz des Partei-präsidiums und des Ministerrats unter Hinzu-ziehung von wichtigen Partei-, Staats-und Wirtschaftsfunktionären getagt hatte. Auf dieser Konferenz, die sich mit dem Verhältnis zwischen der Schwerindustrie und der Konsumgüterproduktion beschäftigte, sprach auch Chruschtschow. Aber zum ersten Mal wurde Chruschtschows Rede nicht, wie sonst bei solchen Anlässen üblich, im Wortlaut gebracht, sondern nur in einer indirekten Zusammenfassung. Als Chruschtschows Rede auch in den nächsten Tagen nicht veröffentlicht wurde — sie ist übrigens bis heute noch nicht erschienen —, waren damit die Auseinandersetzungen in der Führung und die verschlechterte Machtposition Chruschtschows nochmals deutlich bestätigt worden.
Lediglich Chruschtschow selbst, in voller Freude über die zu erwartende gute Ernte und den sowjetischen Kosmonauten-Erfolg, schien die drohende Gefahr zu unterschätzen. Am 30. September hatte Chruschtschow, als er den indonesischen Staatsführer Sukarno empfing, zum letzten Mal als sowjetischer Ministerpräsident fungiert. Unmittelbar darauf fuhr Chruschtschow in seinen Urlaubsort Pizunda in der Nähe von Sotschi. Am 2. Oktober besichtigte er eine Geflügelfarm in der Umgebung, am 3. Oktober empfing er eine Delegation japanischer Parlamentarier und am 4. Oktober Gäste aus Pakistan. In den ersten Oktobertagen waren eine Reihe von Chruschtschows Mitarbeitern und höheren Parteiführern außerhalb Moskaus. Chruschtschows Schwiegersohn Adschubej befand sich auf einer Reise in der Provinz. Michail Charlamow, der Vorsitzende des Staatskomitees für Rundfunk und Fernsehen, der viel zur Popularisierung Chruschtschows beigetragen hatte, befand sich in Oslo, der Prawda-Chefredakteur Satjukow in Paris
Nun kam es zu den entscheidenden Ereignissen. Am 13. Oktober hatte Chruschtschow in seinem Urlaubsort noch den französischen Wissenschaftsminister Palewski empfangen. Chruschtschow brach jedoch das Gespräch vorzeitig ab, mit der Bemerkung, er müsse nach Moskau, um den Empfang der Kosmonauten vorzubereiten. An diesem 13. Oktober tagte in Moskau, wie aus durchaus glaubwürdigen, aber von der Sowjetunion noch nicht bestätigten Meldungen hervorgeht, das sowjetische Parteipräsidium — wahrscheinlich zunächst in
Abwesenheit Chruschtschows. Auf dieser Sitzung ist der Beschluß gefaßt worden, Chruschtschow von seinen Machtfunktionen zu entfernen. Nach einer Version soll dabei Michail Suslow eine mehrstündige Anklagerede gehalten haben. In anderen Berichten wird dagegen die Rolle Mikojans besonders hervorgehoben und hinzugefügt, daß auch Dmitrij Poljanski Chruschtschow wegen seiner Landwirtschaftspolitik schwere Vorwürfe gemacht habe. Auch der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Malinowski, obwohl kein Mitglied des Parteipräsidiums, soll zu der Sitzung des Parteipräsidiums am 13. Oktober eingeladen worden sein
So wichtig und bedeutsam die Sitzung des Zentralkomitees am 14. Oktober 1964 auch ist — es kann heute kaum ein Zweifel mehr darüber bestehen, daß mit der Entscheidung des Parteipräsidiums vom 13. Oktober bereits das Schicksal Chruschtschows besiegelt war. Das geht vor allem aus der Tatsache hervor, daß die Prawda vom 14. Oktober (die am 13. in Druck gegeben wurde) den neuen Bedingungen bereits Rechnung trug. Ein Vergleich zwischen der Prawda vom 13. und 14. Oktober macht den krassen Unterschied deutlich. Am 13. Oktober war Chruschtschows Name in der Prawda noch 24 mal erwähnt worden. Die Nummer enthielt außerdem noch 5 Zitate des Parteiführers. Kosmonaut Komarow meldete sich aus dem All noch beim Zentralkomitee, der Regierung und bei „Chruschtschow persönlich". In der Prawda vom Mittwoch, den 14. Oktober, wurde dagegen Chruschtschows Name nur noch zweimal in Telegrammen an ausländische Staatsmänner erwähnt. Die Be-grüßung der Kosmonauten wurde nicht, wie bis dahin üblich, von Chruschtschow unterzeichnet, sondern enthielt die unpersönlichen Unterschriften des Zentralkomitees der KPdSU, des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR und des Ministerrats der UdSSR. Noch auffälliger war, daß an diesem Tag in einem Prawda-Artikel von Marschall Konjew zum 20. Jahrestag der Befreiung der Ukraine der Name Chruschtschow fehlte, obwohl s
Noch wissen wir nicht, was sich auf dieser Sitzung des Zentralkomitees am 14. Oktober im einzelnen abgespielt hat, aber nach glaubwürdigen Berichten hatten die sowjetischen Führer zunächst daran gedacht, Chruschtschow eine Brücke zu bauen und ihm einen ehrenvollen Abgang zu ermöglichen. Chruschtschow soll jedoch auf der Tagung des Zentralkomitees auf die gegen ihn gerichtete Kritik mit einer solchen Schärfe und Temperamentsausbrüchen, ja mit Drohungen geantwortet haben, daß selbst die anfangs zu ihm neigenden ZK-Mitglieder schwankend wurden und die Kritik an Chruschtschows Führungsmethoden praktisch bestätigt sahen. Damit ergab sich eine, wenn auch schwache Mehrheit gegen Chruschtschow 19). Man darf annehmen, daß die Opponenten Chruschtschows dem jetzt gestürzten Parteiführer vor allem vier Dinge vorgeworfen haben: Erstens, daß Chruschtschow durch seine Politik den Konflikt mit Peking nicht verhindern konnte und die Differenzen im Weltkommunismus beschleunigt habe. Zweitens, daß er gegenüber den Westmächten, vor allem den USA, zu große Zugeständnisse gemacht habe. Drittens, daß er durch seine Vielzahl von Wirtschaftsreformen und Wirtschaftsreorganisationen Unruhe in den Apparat gebracht und die wirtschaftliche Entwicklung der UdSSR erschwert habe, und schließlich viertens, daß er durch sein vehementes Eintreten für die Konsumgüterproduktion die Erfordernisse der Schwer-und Rüstungsindustrie gefährdet habe. Zweifellos mußte Chruschtschow in vielen Fällen als Sündenbock für Fehler und Rückschläge herhalten, die keineswegs in seiner Führung lagen, sondern vor allem im System selbst begründet sind.
Vor allem dürften auch eine Reihe persönlicher Eigenschaften Chruschtschows von seinen Gegnern benutzt worden sein, um den Partei-und Staatsführer zu Fall zu bringen. Seine improvisierten Reden und seine Reiselust, die besondere politische Stellung seines Schwiegersohnes Adshubej und seine zunehmende Eigenmächtigkeit — andere Mitglieder des Parteipräsidiums sollen selbst bei wichtigen Fragen häufig nicht informiert und konsultiert worden sein — sind vor allem in letzter Zeit in Parteikreisen beanstandet worden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Unzufriedenheit von den Opponenten Chruschtschows geschickt ausgenutzt worden ist.
Der Sturz Chruschtschows ist somit auf der Sitzung des Parteipräsidiums am 13. Oktober vorgenommen und am 14. Oktober auf einer Tagung des Zentralkomitees bestätigt worden. Dabei kam es übrigens noch zu einer grotesken Episode. Ausgerechnet an dem entscheidenden 14. Oktober traf der von diesen Ereignissen nichts ahnende kubanische Präsident Dorticos, der gleichzeitig auch der Führung der „Kubanischen Einheitspartei der sozialistischen Revolution" angehört, in Moskau ein. Auf dem Moskauer Flugplatz wurde er von den Mitgliedern des sowjetischen Parteipräsidiums Mikojan, Podgorny und Woronow sowie Verteidigungsminister Marschall Malinowski und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, Nikolai Ignatow, empfangen. Dorticos hielt unmittelbar nach seinem Eintreffen eine Rede, die seine Ahnungslosigkeit unterstrich: „Ich möchte meinen jetzigen Besuch dazu benutzen", erklärte er, „um mit meinem teuren Freund, dem Vorsitzenden des Ministerrats Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Eindrücke und Meinungen auszutauschen" 20). Verständlicherweise ging Mikojan in seiner Antwort auf diese Anregung nicht ein. Am 15. Oktober fand zu Ehren des kubanischen Gastes im großen Kreml-Palast ein Frühstück statt, an dem neben Breshnew und den Mitgliedern des Parteipräsidiums Kossygin, Mikojan, Podgorny, Kirilenko, Woronow, Poljanski, Suslow und Schwernik auch der Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit, Wladimir Semitschastny, teilnahm
Gemeinsam mit Chruschtschow wurde auch sein Schwiegersohn, der 40jährige Alexej Adshubej, von seinem Posten als Chefredakteur der Iswestija entfernt. An seiner Stelle übernahm jetzt Wladimir Stepakow die Leitung des sowjetischen Regierungsorgans
Gleichzeitig wurde auch der 46jährige Michail Charlamow, der Vorsitzende des Staatskomitees für Rundfunk und Fernsehen, abgelöst und durch Nikolai Mesjazew ersetzt. Mesjazew, ein Kriegsteilnehmer und Absolvent der historischen Fakultät der Moskauer Universität, war zunächst Redaktionsmitglied der Jugendzeitung „Komsomolskaja Prawda“ und seit 1955 in der zentralen Leitung des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol tätig. Seit 1960 fungierte er als stellvertretender Vorsitzender der „All-Unions-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher und politischer Kenntnisse". Vorübergehend soll Mesjazew im Jahr 1962 in der sowjetischen Botschaft in Peking tätig gewesen sein.
Die neuen Führer: Breshnew und Kossygin
So überraschend Zeitpunkt und Methoden der Ablösung Chruschtschows auch waren, so wenig überraschend ist die Tatsache, daß nun Breshnew und Kossygin an seine Stelle treten
Noch mehr: zwischen Chruschtschow und Breshnew gibt es viel Gemeinsames. So wie Chruschtschow ist auch der heute 58jährige Leonid Breshnew ein Russe, der viele Jahre seines Lebens mit dem ukrainischen Parteiapparat verbunden war. Während Chruschtschow aus einem russisch-ukrainischen Grenzgebiet stammt, ist Breshnew sogar in der Ukraine geboren — in der Stadt Kamenskoje, die 1936 zu Ehren des Tscheka-Chefs in „Dnjeprodshershinsk" umbenannt worden ist. Ähnlich wie Chruschtschow kann auch Breshnew auf seinen proletarischen Ursprung hinweisen. Er wurde 1906 in einer Arbeiterfamilie geboren und hat schon mit 15 Jahren zu arbeiten begonnen. Seit 1923 Mitglied des Komsomol, des sowjetischen kommunistischen Jugendverbandes, besuchte Breshnew zunächst ein Technikum für landwirtschaftliche Urbarmachung und Neulandgewinhung — ohne damals ahnen zu können, daß er fast dreißig Jahre später sich noch einmal an führender Stelle mit dieser Problematik beschäftigen würde. Als er 1927 das Technikum verließ, war er zunächst als Landvermesser im Ural tätig und rückte schnell zu einem führenden Mitarbeiter der Uraler Bodenverwaltung auf. 1930, in der stürmischen Zeit des ersten Fünfjahresplanes, als der Ruf nach einer neuen technischen Intelligenz laut wurde, begann Breshnew, wahrscheinlich auf Anforderung des Komsomol, sein Studium an der Hochschule für Metallurgie in seiner Heimatstadt Dnjeprodshershinsk. Im zweiten Studienjahr, 1931, trat er der Kommunistischen Partei bei und 1935, nach Absolvierung seines Studiums, war er zwei Jahre lang als Ingenieur im Hüttenwerk Dshershinsky tätig. Hier erlebte er die Schreckensjahre der „großen Säuberung" von 1936— 38. Es dürfte heute Breshnew mit einer gewissen Genugtuung erfüllen, daß er damals als kleiner Ingenieur an den schrecklichen Ereignissen unschuldig war und damit der jetzigen und zukünftigen Verurteilung der Stalin-sehen „großen Säuberung" mit Ruhe entgegensehen kann.
Durch die Massenverhaftungen der Jahre 1936— 38 war der Parteiapparat praktisch lahmgelegt, überall mußten neue Kräfte gesucht und eingesetzt werden. 1938, im gleichen Jahr als Chruschtschow aus Moskau nach Kiew kam, um als Erster Sekretär die Führung der ukrainischen Kommunistischen Partei zu übernehmen, gab auch der damals 32jährige Breshnew seine Ingenieur-Laufbahn auf. Als Abteilungsleiter im Gebietskomitee der Partei von Dnjepropetrowsk eingesetzt, rückte der junge Parteifunktionär mit technischer Hochschulbildung schon 1939 zum Mitglied des Parteisekretariats von Dnjepropetrowsk auf. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sich Chruschtschow und Breshnew zumindest seit jener Zeit persönlich kennen — obwohl damals der Abstand zwischen dem weit höher stehenden und zwölf Jahre älteren Chruschtschow und dem jungen Parteifunktionär Breshnew noch recht groß war.
In den Jahren des Krieges dürfte sich die Zusammenarbeit der beiden Funktionäre verstärkt und der Abstand zwischen ihnen verringert haben. Breshnew war, ähnlich wie Chruschtschow, als verantwortlicher Politoffizier der Sowjetarmee tätig — zunächst im Range eines Generalleutnants als stellvertretender Chef der Politverwaltung der Südfront, seit 1943 im Range eines Generalmajors als Politchef der IV. Ukrainischen Front.
Nach Kriegsende kehrte Breshnew wieder in die Parteiarbeit zurück, zunächst als Gebiets-sekretär von Saporoshje, seit 1947 als Erster Parteisekretär von Dnjepropetrowsk, wo einst seine Parteikarriere begonnen hatte. Mit seiner Ernennung zum Parteichef der Moldauer Unionsrepublik im Juni 1950 hatte er die „Gebietsebene" seiner Karriere endgültig hinter sich gelassen und war dem Aufstieg zur Moskauer Zentrale einen Schritt näher gekommen. So rückte er auch auf dem 19. Parteitag im Oktober 1952 — dem letzten der Ära Stalins — in das sowjetische Zentralkomitee auf, ja für kurze Zeit gehörte er sogar dem damals von Stalin stark aufgeblähten ZK-Sekretariat als Mitglied und dem Parteipräsidium als Kandidat an. Aber dies war nur ein kurzes Zwischenspiel. Als wenige Monate später, am 5. März 1953, Stalin starb, wurde Breshnew zum stellvertretenden Chef der Politischen Hauptverwaltung der sowjetischen Streitkräfte ernannt — jener Instanz, die für die parteipolitische Aufsicht über die sowjetischen Land-, See-und Luftstreitkräfte verantwortlich ist; hier war Breshnew vor allem für die Kriegsmarine zuständig.
Ein neuer Wendepunkt begann in Breshnews Leben, als Chruschtschow im Frühjahr 1954 sein ehrgeiziges Neulandprogramm für größere Gebiete Sibiriens und vor allem Kasachstans verkündete. Dazu brauchte Chruschtschow fähige Funktionäre, auf die er sich verlassen konnte. Er ernannte Breshnew zum Zweiten Parteisekretär Kasachstans, und dieser war in der damals beginnenden Neuland-kampagne so erfolgreich, daß er schon im Mai 1955 zum Ersten Parteisekretär der jetzt so bedeutsam gewordenen Unionsrepublik avancierte. Es gelang Breshnew — bisher übrigens als einzigem — diesen undankbaren und gefährlichen Posten ohne Machteinbußen zu überstehen. Noch mehr: gerade von dieser Funktion aus rückte er in die Spitzenführung auf. Auf dem 20. Parteitag im Februar 1956, jenem Kongreß, der durch die öffentliche Kritik an Stalin, Chruschtschows Geheimrede und die Verkündung neuer ideologischer Doktrinen als Markstein der sowjetischen Entwicklung gilt, wurde Breshnew gleichzeitig zum Kandidaten des Parteipräsidiums und Mitglied des ZK-Sekretariats ernannt. In den harten und für Chruschtschow manchmal nicht ungefährlichen Auseinandersetzungen in der Spitzenführung stand Breshnew zu jener Zeit tieu an der Seite seines Förderers. Als es Chruschtschow Ende Juni 1957 endlich gelang, die „Parteifeinde" Malenkow, Molotow und Kaganowitsch auszuschalten, zog Breshnew Anfang Juni 1957 als Vollmitglied in das Parteipräsidium ein.
Von diesem Zeitpunkt an — als Mitglied sowohl des ZK-Sekretariats als auch des Partei-präsidiums — gehörte Breshnew zum engsten Führungsgremium Chruschtschows. Zunächst war er hier für die Verbindung zur Armee und für Militärfragen zuständig. Aber schon sein Auftreten auf dem 21. Parteitag, Ende Januar 1959, zeigte, daß er auch in Fragen der Schwerindustrie ein gewichtiges Wort mitzureden hatte. Mehr und mehr befreite sich Breshnew vom Typ bestimmter Ressorts und begann als „Allround-Führer" zu wirken. Dies machte sich vor allem seit Mai 1960 bemerkbar, als er als Nachfolger des abgesetzten Woroschilow zum Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, d. h. zum sowjetischen Staatspräsidenten, ernannt worden war. Obwohl er damals — wahrscheinlich auf Drängen Koslows — vorübergehend auf seine Funktion im ZK-Sekretariat verzichten mußte, konnte seine Position nicht mehr erschüttert werden.
Auf dem 22. Parteitag im Oktober 1961 fiel Breshnew sowohl durch sein sicheres Auftreten als auch durch seine scharfe Kritik an stalinistischen Methoden auf. Mit aller Schärfe geißelte er Parteifunktionäre, die sich an alte Formen und Methoden klammerten und Behörden, die alles und jedes regeln wollten. Das Protokoll verzeichnete „Bewegung im Saal" (was übrigens nur bei wenigen Reden der Fall war), als sich Breshnew darüber beschwerte, daß zum Beispiel in Dawlekanowo die Behörden festgelegt hatten, wann die Bauern eines bestimmten Kolchos ihre Mittagspause machen sollten, in Tschimkent das Verbot erließen, Schaschlik nach 17 Uhr zu verkaufen, und die Behörden von Tschamsinsk sogar in einer besonderen Verfügung bestimmten, daß Ehe-schließungen im Standesamt nur am Sonnabend vorgenommen werden dürften. „Warum können die Bürger nicht auch an anderen Tagen, am Mittwoch oder Freitag heiraten", rief Breshnew unter dem Beifall des Partei-tages aus. „Solche Funktionäre können über jede Kleinigkeit eine Akte zusammenstellen und im Eifer der administrativen Begeisterung Vorschriften erlassen, wie der Brautwerber zu sitzen und die Brautwerberin zu tanzen hat." Auf dem gleichen Parteitag spendete Breshnew damals Chruschtschow das folgende Lob: „Ein ausgezeichnetes Beispiel einer tiefen parteilichen und feinfühligen Einstellung zu den Vorschlägen der Werktätigen, der Fähigkeit, aufmerksam der Stimme einfacher Menschen zuzuhören, ist für uns alle die tägliche Arbeit von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Wir alle kennen seine Fähigkeit gut, dem Volke in einer verständlichen, klaren Form die kompliziertesten Fragen zu erörtern, seine ständige lebendige Verbundenheit mit dem Volk, die Fähigkeit, aus dieser reinen und hellen Quelle Begeisterung und Volksweisheit zu schöpfen, sein gewaltiges organisatorisches Talent. Diese Eigenschaften haben Nikita Sergejewitsch mit Recht die Liebe und die tiefe Verehrung unserer Partei und des ganzen Sowjetvolkes verschafft.'1
Durch die Koppelung seiner hohen Partei-funktion mit dem Amt des Staatspräsidenten begann Breshnew auch außenpolitisch stärker in den Vordergrund zu treten. Häufige Kontakte zu ausländischen Diplomaten, Teilnahme an Konferenzen mit ausländischen KP-Führern und schließlich eine Reihe von Auslandsreisen, wie etwa nach Finnland im Jahre 1960, Marokko, Ghana und Guinea im Jahre 1961, nach Jugoslawien im Herbst 1962 sowie seine jüngsten Reisen nacn dem Iran und nach Italien waren dafür deutliche Zeichen. Während der Kuba-Krise in der letzten Oktober-woche 1962 gehörte Breshnew zusammen mit Chruschtschow, Mikojan, Kossygin und Koslow zu jenen „obersten Fünf", die damals die so bedeutsamen Entscheidungen trafen. Nach der Degradierung Koslows Ende April 1963 und der Aufnahme Breshnews in das ZK-Sekretariat, der wichtigsten Befehlszentrale des gesamten Parteiapparates, Anfang Mai 1963, war dieser aus dem ukrainischen Parteiapparat stammende ehemalige Ingenieur nun als „zweiter Mann" der Sowjethierarchie deutlich herausgestellt worden.
Am 17. April 1964 zu Chruschtschows 70. Geburtstag war Leonid Breshnew dazu ausersehen, dem inzwischen gestürzten Parteiführer den Leninorden und die Medaille des „Goldenen Stern" zu überreichen. Aus diesem Anlaß hielt Breshnew folgende Rede:
„Teurer Nikita Sergejewitsch! Ich kann meine Freude nicht verbergen, wenn ich Ihnen jetzt im Auftrag des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR an diesem bedeutsamen Tag Ihres 70. Geburtstages die verdienten Auszeichnungen —-den Leninorden und den Goldenen Stern eines Helden der Sowjetunion — überreiche. Mit diesen Auszeichnungen möchte die Partei, die Regierung und das ganze Volk Ihre großen Verdienste in der Festigung unserer Heimat, im Aufbau des Kommunismus, Ihrem Kampf für den Frieden und das Glück der Menschen unterstreichen . .. Ihr Name, Nikita Sergejewitsch, wird auf Ewigkeit mit der neuen historischen Etappe im Leben unseres Landes verknüpft sein ... Das erfüllt unsere Herzen mit Freude und Stolz für Sie, teurer Nikita Sergejewitsch, für unseren verehrten Genossen, Freund und Führer." Anschließend an diese kurze Ansprache befestigte Breshnew eigenhändig die Orden an der Brust des Partei-und Staatsführers. In dem Bericht der Prawda wurde zusätzlich mitgeteilt, daß Breshnew nach altem russischen Brauch Chruschtschow umarmte und ihp dreimal küßte
Obwohl Leonid Breshnew als Erster Sekretär der Partei eine dominierende Position inne-hat, sollte auch der jetzt 60jährige sowjetische Ministerpräsident Alexej Kossygin nicht unterschätzt werden. Gewiß stand bisher der Posten des Ministerpräsidenten unter dem des Ersten Parteisekretärs, aber die Tatsache, daß nach der Ablösung Chruschtschows in der Prawda vom 16. Oktober Kossygin und Breshnew in gleich großen Bildern auf der Titelseite vorgestellt wurden, war nicht nur eine Formalität. Alexej Kossygin, im Februar 1904 in Leningrad (damals Petersburg) in einer Arbeiterfamilie geboren — sein Vater war Dreher —, schloß sich schon als Fünfzehnjähriger freiwillig der Roten Armee an. Nach dreijährigem Militärdienst besuchte er eine genossenschaftliche Schule und arbeitete zunächst in den Konsumgenossenschaften in Sibirien. 1927 — übrigens vier Jahre vor Breshnew — trat Kossygin der Partei bei und studierte Anfang der dreißiger Jahre an der Leningrader Hochschule für Textilindustrie. In den Jahren der „großen Säuberung" von 1936— 38 war er Direktor eines Textilunternehmens und rückte Ende 1938 zum Oberbürgermeister von Leningrad auf. Mit 35 Jahren, im Jahre 1939, wurde er zum Volkskommissar (Minister) für Textilindustrie ernannt und gehörte damit der sowjetischen Regierung an. Schon auf dem 18. Parteitag, im März 1939, fiel er durch seine sachkundigen Erläuterungen über die Situation in der sowjetischen Textilindustrie auf. Als Stalin im Mai 1941 den Vorsitz des Rates der Volkskommissare (heute Ministerrat) übernahm, ernannte er den 37jährigen Kossygin zum stellvertretenden Ministerpräsidenten, eine Funktion, die er bis zum Tode Stalins im März 1953 ununterbrochen ausübte. Darüber hinaus war Kossygin Ministerpräsident der russischen Föderation (von 1943— 46), kurzfristig Minister für Finanzen (Februar — Dezember 1948) und anschließend (bis März 1953) Minister für Leichtindustrie. Seine Tätigkeit lag damit vorwiegend auf staatlich-wirtschaftlicher Ebene. Erst relativ spät — im Jahr 1946 — wurde Kossygin Kandidat des Parteipräsidiums (damals Politbüro genannt), und von 1948— 52 gehörte er diesem führenden Machtzentrum des Landes als Vollmitglied an.
In den politischen Auseinandersetzungen vor und nach Stalins Tod schien Kossygins Position mehrfach gefährdet zu sein. Auf dem 19.
Parteitag im Oktober 1952 wurde er zum Kandidaten des Parteipräsidiums degradiert und nach dem Tod Stalins verlor er zunächst beide Posten — den des stellvertretenden Ministerpräsidenten und den des Kandidaten des Parteipräsidiums. Auf die Dauer konnte jedoch auch die nachstalinsche Führung nicht auf den fähigen Wirtschaftsfunktionär verzichten.
Schon im September 1953, bei der Verkündung des Konsumgüterprogramms, wurde Kossygin zum Minister für Konsumgüter-produktion ernannt und im Dezember 1953 rückte er erneut zum stellvertretenden Ministerpräsidenten der UdSSR auf.
Auch in der Wirtschaftsplanung hatte Kossygin bald wieder ein entscheidendes Wort mit-zureden. Im Dezember 1956 wurde Kossygin zum stellvertretenden Vorsitzenden der Wirtschaftskommission für laufende Planung („Gosekonom komissija*) ernannt, im Mai 1957 zum stellvertretenden Leiter der Staatlichen Plankommission. Schon zwei Monate später, auf dem Juni-Plenum 1957, wurde Kossygin erneut Kandidat des Parteipräsidiums.
Trotz seiner hohen Funktion auch in der Parteihierarchie hielt sich Kossygin wieder aus allen Parteifragen heraus. In seinen Reden auf dem 19. und 20. Parteitag und auch auf dem 21. Parteitag im Januar 1959 beschränkte sich Kossygin auf eine Darlegung der sowjetischen Konsumgüterproduktion. Anfang März 1959 avancierte Kossygin zum Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission der UdSSR und im Mai 1960 wurde er zum Ersten stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates eingesetzt und rückte gleichzeitig als Voll-mitglied in das Parteipräsidium, das höchste Führungszentrum des Landes, auf. Im Februar 1964, anläßlich seines 60. Geburtstages, wurde Kossygin mit dem höchsten sowjetischen Titel „Held der sozialistischen Arbeit" geehrt. In einer offiziösen Verlautbarung wurde darauf hingewiesen, daß Kossygin alle sowjetischen Industrie-Bezirke vom Fernen Osten bis zum Baltikum bereist habe und der „schlanke, mittelgroße Mann mit kurzem Haar über ungemein tiefe Kenntnisse vieler konkreter Probleme der Wirtschaft und Technik verfügt". Auch seine ungewöhnliche Arbeitsfähigkeit wird gerühmt, über das Privatleben Kossygins wird von offiziöser sowjetischer Seite mitgeteilt: „Der 60jährige Kossygin hat seine große Arbeitsfähigkeit möglicherweise seiner Liebe zum Sport zu verdanken. Im Sommer ist er nicht abgeneigt, Volleyball zu spielen, und im Winter läuft er Ski und Schlittschuh. Kossygin kennt nahezu alle neuen Aufführungen in den Moskauer Theatern und liest aufmerksam zeitgenössische Literatur.“
Von westlichen Diplomaten wird unterstrichen, daß Kossygin wie ein Prototyp eines sowjetischen Managers wirke, schweigsam und zurückhaltend sei. Seine Arbeitsliebe — er soll 14— 16 Stunden am Schreibtisch sitzen — und sein Realismus werden allgemein hervorgehoben. In Moskau wird er als „Solidny Tschelovek", als solider Mensch bezeichnet. In ähnlicher Weise äußerte sich auch der ehemalige Botschafter der Bundesrepublik in Moskau, Dr. Hans Kroll: „Ich habe mit Kossygin und Breshnew in den viereinhalb Jahren meiner Tätigkeit als Botschafter in Moskau eng und gut zusammengearbeitet. Es sind rührige, besonnene, erfahrene Politiker und harte und gründliche Arbeiter. Beileibe keine Fanatiker oder Abenteurernaturen."
Die Reaktion ausländischer kommunistischer Parteien
Die am 16. Oktober bekanntgegebene Ablösung Chruschtschows kam selbst für höhere sowjetische Parteikreise und für die Führungen der ausländischen kommunistischen Parteien überraschend. Gewiß waren einige prominente KP-Führer darüber informiert, daß ein gradueller Rückzug Chruschtschows aus den Machtpositionen geplant gewesen war, aber sowohl der Zeitpunkt als auch die Form, in der sich diese Ablösung vollzog, trafen die ausländischen KP-Führungen genauso unerwartet wie die übrige Welt. In den letzten Jahren hatten viele kommunistische Parteien, den Moskau-Peking-Konflikt ausnutzend, sich einen nicht unbeträchtlichen Grad an Autonomie errungen. Diese relative Selbständigkeit wurde nun beim Führungswechsel in Moskau erneut deutlich. Während bis zu Stalins Tod alle kommunistischen Parteien der Welt — mit Ausnahme Jugoslawiens — die Linie Moskaus blindlings übernahmen und jede neue Veränderung in Moskau automatisch begrüßten, war dies nun nicht mehr der Fall. Die Reaktionen verschiedener kommunistischer Länder und Parteien waren dabei äußerst unterschiedlich.
Die Führung der Kommunistischen Partei Chinas — mit 19 Millionen Mitgliedern die stärkste der Weltbewegung — zeigte sich zunächst äußerst zurückhaltend. Die Ablösung Chruschtschows erfolgte fast gleichzeitig mit der Explosion der ersten chinesischen Atombombe. Beide Ereignisse wurden jedoch, wie der Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Harry Hamm, bezeugt, der dies selbst in Peking erlebte, zurückhaltend auf-* genommen. Hie und da gab es im Stadtinnern von Peking einige Gruppen jubelnder Jugendlicher. Stolz über die Atombombenexplosion und Genugtuung über den Sturz Chruschtschows wurden jedoch nur in verhaltener Form zum Ausdruck gebracht. Es gab keinen Fahnenrausch, keine Transparente und keine Massendemonstrationen
Auch in dem mit Peking sympathisierenden Nord-Korea und in Nord-Vietnam wurde der Sturz Chruschtschows zunächst ohne jeden eigenen Kommentar bekanntgegeben. Lediglich die albanische KP-Führung, die bereits wiederholt einen schärferen Ton gegen Moskau angeschlagen hatte als selbst die Pekinger Machthaber, wies am 22. Oktober darauf hin, das Verschwinden Chruschtschows von der politischen Bühne bedeute nicht, daß der Chruschtschowsche Revisionismus zu existieren aufgehört habe. Die mit Peking sympathisierende KP Japans veröffentlichte die Erklärung ihres Generalsekretärs Miyamoto, der den Rücktritt Chruschtschows als einen klaren Beweis für den Bankrott seiner Politik bezeichnete
Im Unterschied zu den kommunistischen Ländern und Parteien des Pekinger Flügels zeichnete sich die Reaktion der osteuropäischen kommunistischen Länder und vor allem der westeuropäischen kommunistischen Parteien durch eine gewisse Kritik aus. Vor allem die Form der Ablösung Chruschtschows und in erster Linie die Tatsache, daß die neuen Männer den langjährigen Parteichef ohne ein Wort des Dankes und der Würdigung entlassen hatten, wurde von manchen kommunistischen Parteien beanstandet oder zumindest indirekt kritisiert. Selbst die SED-Führung in OstBerlin zeichnete sich diesmal durch eine selbständige Reaktion aus. Schon am 18. Oktober erklärte das Politbüro der SED in einem Kommunique, zwar seien die Beschlüsse der Moskauer Führung von einem „tiefen Verantwortungsbewußtsein erfüllt", aber die Entbindung Chruschtschows von seinen Funktionen habe „tiefe Bewegung in unserer Partei und unserem Volk" ausgelöst. Anschließend rühmte die SED-Führung, im Unterschied zur Moskauer Sprachregelung, die Verdienste des Genossen Nikita Sergejewitsch Chruschtschow in der Verwirklichung der marxistisch-leninistischen Politik
Von einigen westeuropäischen kommunistischen Parteien wurde die Kritik an den Formen und Methoden der Absetzung Chruschtschows noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Die KP Italiens gab bekannt, daß sie die Art und Weise, wie Chruschtschow abgesetzt wurde, als unvereinbar mit dem Geist der Entstalinisierung ansehe. Die italienische KP verlangte eine Erklärung über die Motive der Absetzung und bekräftigte die politische Linie, wie sie im Vermächtnis Togliattis festgelegt worden war. Außerdem erklärte die KP Italiens, daß sie eine Delegation nach Moskau senden werde, um sich über die Vorgänge im Kreml zu informieren. Eine ähnliche Haltung, wenn auch vorsichtiger und zurückhaltender formuliert, nahm die KP Frankreichs ein.
Neben den beiden wichtigsten kommunistischen Parteien Westeuropas, der KP Frankreichs und Italiens, hatten auch die KP-Führungen in Dänemark, Schweden, Norwegen, Österreich, Großbritannien und den USA eine selbständige Haltung zum Führungswechsel in Moskau bekundet und um entsprechende Aufklärung in Moskau nachgesucht. So wies das norwegische KP-Organ „Friheten" darauf hin, daß die offizielle Erklärung über den Rücktritt Chruschtschows falsch gewesen sei; es sei notwendig, einen Führungswechsel klar zu motivieren und der Öffentlichkeit bekannt-zugeben. Auch sei es unrichtig, jegliche Kritik, die man nicht billige, als eine feindliche Haltung zu deuten. Die Meinung, daß Führer über jeglicher Kritik stehen, müßte aufgegeben werden. Die Kommunistische Partei Dänemarks gab bekannt, daß sie eine Delegation unter Führung von Knud Jespersen nach Moskau entsenden werde, um sich über die Vorgänge, die zum Sturz Chruschtschows führten, direkt zu informieren. Die KP Schwedens bemängelte in ihrem Parteiorgan „Ny Dag" am 20. Oktober, daß Chruschtschow keine Gelegenheit gegeben werde, seinem Volk mitzuteilen, warum er sich aus der Politik zurückziehen wolle. Außerdem wäre nach Meinung der schwedischen Kommunisten ein außerordentlicher Parteikongreß notwendig gewesen, um Chruschtschow zu verabschieden.
Auch der Oberste Sowjet der UdSSR hätte zu einer Sondersitzung einberufen werden sollen, um den Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Die Tatsache, daß Chruschtschow nicht einmal die Chance gehabt habe, sich von seinem Volk zu verabschieden, stehe in einem deutlichen Kontrast zu den offenen und freien politischen Auseinandersetzungen in Schweden, Dänemark und England. Chruschtschows Sturz sei ein neues Zeichen dafür, wie weit noch der Weg zu den Leninschen Normen des Partei-lebens sei. Der schwedische KP-Chef Carl Henrik Hermansson nahm dabei die Gelegenheit wahr, noch einmal die völlige Selbständigkeit seiner Partei zu unterstreichen; im übrigen habe die KP Schwedens noch nicht beschlossen, ob sie überhaupt an einer kommunistischen Weltkonferenz teilnehmen werde.
Unter diesen Bedingungen sahen sich die sowjetischen Führer genötigt, einen großen Teil ihrer Zeit den Besprechungen mit ausländischen KP-Funktionären zu widmen. Bereits am 24. Oktober traf die Delegation der KP Frankreichs in Moskau ein, um Informationen über die Moskauer Vorgänge zu erhalten. Der französischen KP-Delegation gehörte das Politbüro-Mitglied Georges Marchais, Politbüro-Kandidat Roland Leroy und das Mitglied des Zentralkomitees Jaques Chambaz an. Auf dem Flugplatz wurden die französischen KP-Abgesandten von dem Mitglied des Parteipräsidiums Andrej Kirilenko und von dem ZK-Sekretär für Fragen des internationalen Kommunismus, Boris Ponomarjow, empfangen. Die nach Moskau entsandte italienische KP-Delegation bestand aus dem Mitglied der Nationalen Leitung und des Sekretariats Enrico Berlinguer und den Mitgliedern der Nationalen Leitung Paolo Bufalini und Dr. Emilio Sereni. Bei ihrem Eintreffen in Moskau am 27. Oktober waren— ebenso wie beim Empfang der französischen KP-Delegation — Andrej Kirilenko und Boris Ponomarjow anwesend. Das Eintreffen der französischen und italienischen Kommunisten wurde zwar von sowjetischer Seite offiziell bestätigt, aber der Zweck des Besuches — die Information über den Moskauer Führungswechsel — wurde dabei verschwiegen. Schon auf dem Moskauer Flugplatz wurden die Abgesandten der ausländischen kommunistischen Parteien streng isoliert und westliche Pressevertreter sorgfältig ferngehalten. Unter Geleit wurden die ausländischen KP-Führer in das für diese Zwecke vorhandene Hotel des Zentralkomitees gebracht. Am 26. und 27. Oktober fanden zunächst die Gespräche mit den Abgesandten der KP Frankreichs statt. Von sowjetischer Seite nahmen der Erste Parteisekretär Leonid Breshnew, die beiden Mitglieder des Parteipräsidiums Nikolai Podgorny und Michail Suslow sowie der ZK-Sekretär für Fragen des internationalen Kommunismus, Boris Ponomarjow, daran teil. In dem sowjetischen Kommunique wurde der Moskauer Führungswechsel überhaupt nicht erwähnt, sondern lediglich erklärt, daß die Gespräche „in einer Atmosphäre brüderlicher Freundschaft und Offenheit" geführt worden seien. Die Delegationen hätten „Meinungen und Informationen über beide Parteien interessierende Fragen" ausgetauscht. Beide Parteien hätten ihre Entschlossenheit bekräftigt, auch weiterhin für friedliche Koexistenz, Abrüstung und den Sieg der Ideen der kommunistischen Weltbewegung einzutreten. Dabei wurde auch die Vorbereitung einer neuen internationalen Beratung der kommunistischen Parteien ausdrücklich erwähnt
Offensichtlich sah sich die Sowjetführung nicht in der Lage, allen kommunistischen Parteien, die darum nachgesucht hatten, Sonderaudienzen zu gewähren. Nach sowjetischen Berichten haben lediglich noch drei solcher Treffen stattgefunden. Am 30. Oktober fand eine Unterredung des ZK-Sekretärs Ponomarjow mit dem indischen KP-Sekretär Dange statt, der aus Budapest nach Moskau gekommen war. Die sehr kurze sowjetische Mitteilung beschränkte sich auf die Bemerkung, daß gemeinsam interessierende Fragen erörtert worden seien. Jegliche konkreten Hinweise, auch auf die Weltkonferenz, fehlten jedoch
Es scheint, daß die sowjetische Führung beschlossen hatte, die weiteren Gespräche mit den ausländischen Kommunistischen Parteien während und nach den Feiern zum 47. Jahrestag der Oktoberrevolution zu führen. Die außerordentlichen Umstände brachten es mit sich, daß zu den diesjährigen Feierlichkeiten die kommunistischen Länder und Parteien repräsentative Delegationen nach Moskau entsandten. Die Delegationen von Polen, der Sowjetzone Deutschlands, Bulgariens, Ungarns und der Mongolei standen unter der Leitung ihrer jeweiligen Ersten Parteisekretäre. Auffallend war das Fehlen des tschechoslowakischen Parteiführers Novotny. Rumänien wurde nicht durch den Parteiführer Gheorghiu-Dej, sondern durch Ministerpräsident Maurer vertreten. Nord-Korea und Nord-Vietnam entsandten repräsentative Delegationen nach Moskau, jedoch ohne Teilnahme der Ersten Parteisekretäre. Aus Kuba traf Ernesto Guevara, aus Jugoslawien Veljko Vlahovic ein. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand die chinesische Delegation unter Leitung des stellvertretenden ZK-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Tschou En-lai. Der chinesische Ministerpräsident wurde von sechs prominenten Funktionären begleitet, darunter vom Politbüro-Mitglied Marschall Ho Lung und dem Politbüro-Kandidaten Kang Scheng.
Sowohl die Reaktion anderer kommunistischer Länder und Parteien auf den Sturz Chruschtschows als auch die Besprechungen der Sowjetführer mit den ausländischen KP-Ver-tretern Ende Oktober und Anfang November und schließlich das große Delegations-Aufgebot zum sowjetischen Staatsfeiertag am 7. November haben erneut unterstrichen, daß die Kreml-Führung heute nicht mehr auf die übrigen Kräfte der Weltbewegung als Satelliten herabsehen kann: sie hat vielmehr mit ihnen als politischen Faktoren zu rechnen — auch dann, wenn es sich scheinbar um innersowjetische Vorgänge handelt.
Der politische Kurs der neuen Führung
Seit dem Sturz Chruschtschows sind bis zur Niederschrift dieser Zeilen kaum vier Wochen vergangen, eine Zeitspanne, die es lediglich gestattet, die ersten Schritte der neuen Kreml-Führung Breshnew—Kossygin zu bewerten. Zunächst fiel es allgemein auf, wie sehr die neue Führung bereits unmittelbar nach dem Sturz Chruschtschows bestrebt war, sowohl der eigenen Bevölkerung als auch dem Ausland zu versichern, daß die von Chruschtschow eingeleitete Entstalinisierung und die sowjetische Außenpolitik der letzten Jahre im Prinzip fortgesetzt werde — allerdings mit veränderten Methoden und gewissen Akzentverschiebungen. Der richtungweisende Prawda-Leitartikel „Die unerschütterliche Leninsche Linie der KPdSU", die 102 Losungen des Zentralkomitees zum bevorstehenden sowjetischen Staatsfeiertag am 7. November und Breshnews Rede beim Empfang der Kosmonauten dienten offensichtlich dem Zweck, sowohl die sowjetische Bevölkerung als auch das Ausland darüber zu beruhigen, daß die neue Kreml-Führung an keine abrupten und schroffen Veränderungen denke. Das wiederholte Bekenntnis zum „Leninschen Kurs" und zu den Beschlüssen des 20., 21. und 22. Parteitages hat dies in geradezu emphatischer Weise unterstrichen. Tatsächlich ist es kaum wahrscheinlich, daß die neuen Sowjetführer jetzt oder in absehbarer Zukunft eine Rückkehr zu den Stalinschen Formen der Diktatur befürworten oder anstreben. Selbst wenn sie es versuchen sollten, so würde dies kaum in die Tat umgesetzt werden können. Zu sehr hat sich die Sowjetgesellschaft im letzten Jahrzehnt gewandelt, als daß es jetzt möglich wäre, mit einem Schlag die alte Stalinsche Zeit wiederherzustellen. Wohl aber können gewisse Veränderungen im politischen Stil erwartet werden. Die quicklebendige, impulsive Art Chruschtschows, seine Reiselust — kein Sowjetführer fuhr so viel ins Ausland —, sein Interesse für alle Detailfragen, seine Vorliebe, oft aus dem Stegreif Reden zu halten und diese mit witzigen Bemerkungen und persönlichen Erinnerungen zu würzen — all dies wird wohl jetzt der Vergangenheit angehören. Die neuen Führer dürften sich zurückhaltender geben und sich eines offizielleren, bürokratischeren und „parteimäßigen" Stils bedienen.
Gleichzeitig sind jedoch darüber hinaus bereits bis heute gewisse politische Akzentverschiebungen sichtbar geworden. Zwei Dinge stehen dabei besonders im Vordergrund: die Beziehungen zu Peking und die Distanzierung von Chruschtschow.
Die erste und wesentlichste Veränderung liegt im Verhältnis zu Peking. Unmittelbar nach dem Sturz Chruschtschows wurden zunächst sämtliche direkten Angriffe der sowjetischen Presse gegen die Pekinger Machthaber eingestellt. Selbst die indirekte Polemik gegen den „Dogmatismus" — der ideologische verklausulierte Begriff für die politischen Thesen Pekings — wurde in der sowjetischen Presse abgeschwächt. Die neue sowjetische Führung scheint sich zwar nach wie vor dafür einzusetzen, Mitte Dezember dieses Jahres die internationale kommunistische Vorbereitungskonferenz und im Sommer nächsten Jahres das kommunistische Welttreffen einzuberufen — aber mit einer völlig unterschiedlichen Zielsetzung. Während Chruschtschow diese Konferenzen dazu benutzen wollte, die Parteien des Pekinger Flügels auszuschalten, will die neue Führung die Vorbereitungskonferenz und das geplante Welttreffen nicht gegen, sondern mit Peking veranstalten. Es ist durchaus möglich, daß die Sowjetführung, um dieses Ziel zu erreichen, sich zu einer Verschiebung der Konferenzen auf ein späteres Datum bereit erklären wird. Auch Peking hat die anti-sowjetische Kampagne abgeschwächt und am 16. Oktober ein von den Parteiführern Mao Tse-tung und Liu Schao-tschi unterzeichnetes Telegramm an die neue Kreml-Führung gesandt, in dem nicht mehr nur allgemein vor der Freundschaft zwischen den sowjetischen und chinesischen Völkern gesprochen wird, sondern erstmals — und dies ist ein bedeutsamer Unterschied — der Wunsch nach einem gemeinsamen Vorgehen der beiden kommu18 nistischen Parteien der Sowjetunion und Chinas zum Ausdrude gebracht wurde
Wie immer die weiteren Reaktionen Pekings sein mögen, eins ist sicher: die neue Führung im Kreml ist zweifellos daran interessiert, nicht nur die öffentliche Polemik zwischen den beiden kommunistischen Großmächten einzustellen, sondern wahrscheinlich auch zu nicht unbeträchtlichen Konzessionen bereit, um mit Peking zu einem Übereinkommen zu gelangen. Es ist durchaus möglich, daß bereits in diesen Tagen politische Verhandlungen zwischen Moskau und Peking geführt werden. Man wird zwar kaum erwarten dürfen, daß die tiefen ideologischen, politischen und staatlichen Gegensätze der beiden Zentren des Weltkommunismus durch solche Verhandlungen völlig überwunden werden, wohl aber darf man, zumindest für die nächste Zeit, mit einer gewissen Abschwächung des Moskau-Peking-Konflikts rechnen.
Auf dem Gebiet der sowjetischen Innenpolitik dürften sich nicht nur, wie bereits erwähnt, die Arbeits-und Führungsmethoden verändern, sondern auch einige der politischen Entscheidungen des früheren Staats-und Parteiführers rückgängig gemacht werden. Dies gilt zunächst für das System der Wirtschaftsleitung. Das von Chruschtschow eingeführte sehr komplizierte System der Wirtschaftsleitung — darunter die Schaffung des Volkswirtschaftsrates und des obersten Volkswirtschaftsrates, sowie eine Vielzahl neu errichteter, sich in ihren Kompetenzen oft widersprechender Behörden in der Landwirtschaft — wird sicher bald vereinfacht werden. Für später kann damit gerechnet werden, daß die neue Führung die Parteireform Chruschtschows vom November 1962 — damals wurde der Parteiapparat in je einen Sektor, der für Industrie und einen, der für Landwirtschaft zuständig war, geteilt — wieder rückgängig machen wird 43a). Ob auch an eine gewisse Verschiebung der Investitionen zugunsten der Schwer-und Rüstungsindustrie gedacht ist, läßt sich dagegen bisher noch nicht genau erkennen. Zwar wird die Bedeutung der Schwerindustrie wieder stark hervorgehoben, gleichzeitig aber auch betont, daß die Konsumgüterindustrie stark forciert werden soll. Es ist wohl möglich, daß die unklare Formulierung in dieser für die Sowjetunion so bedeutenden Frage auf das Wirken unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Kräfte hindeutet.
Andererseits ist die bereits unter Chruschtschow geplante Veränderung der Produktionsplanung in der Leicht-und Konsumgüter-industrie von der neuen Führung in die Praxis umgesetzt worden. Der sowjetische Volkswirtschaftsrat beschloß am 21. Oktober, daß eine Reihe von Betrieben der Leichtindustrie künftig ihren Produktionsplan aufgrund direkter Verträge mit Handelsorganisationen und Einzelhandelsgesellschaften aufstellen kann. Es kann wohl sein, daß es sich hier um den ersten Schritt zur Verwirklichung der Reformvorschläge von Liberman und Trapesnikow handelt
Ein besonderes Problem der neuen Führung bestand und besteht darin, Ausmaß und Grenzen der Kritik an Chruschtschow zu bestimmen. Bisher scheint die Linie in dieser Frage darin zu bestehen, sich von Chruschtschows Methoden und einigen politischen Entschei-düngen des gestürzten Staats-und Parteiführers zu distanzieren, ohne jedoch in der „Entchruschtschowisierung" zu weit zu gehen. Gewiß, alle Bilder Chruschtschows sind von öffentlichen Gebäuden entfernt, seine Schriften aus Buchläden und Bibliotheken zurückgezogen, und seit dem 15. Oktober ist er in keiner Rede und keinem Artikel mehr erwähnt worden — gerade so, als ob es niemals einen Chruschtschow gegeben hätte
Die neue Kreml-Führung befindet sich in der „Chruschtschowfrage“ in einem gewissen Dilemma. Auf der einen Seite braucht sie eine Kritik an Chruschtschow als Legitimation für ihr eigenes Handeln und ihre Machtübernahme; andererseits aber ist sich die neue Führung wohl bewußt, daß eine zu weit gehende und scharfe Kampagne gegen Chruschtschow, etwa eine „Entchruschtschowisierung“ in der Form einer zweiten „Entstalinisierung", gewaltige Gefahren mit sich bringen kann. Die Breshnew-Kossygin-Führung konzentriert ihre Kritik an Chruschtschow zunächst vorwiegend auf dessen Führungsmethoden, um dadurch verstehen zu geben, daß die hektischen Zeiten Chruschtschows, die häufigen Reorganisierungen und Wechsel jetzt vorüber sein sollen. Weniger Experimente, Ruhe, Ordnung, Stabilität und Konsolidierung werden jetzt als oberstes Gebot proklamiert.
Wie häufig in der Sowjetunion, wurde auch diesmal bei der Erklärung über die Ablösung Chruschtschows zwischen einer für die Öffentlichkeit bestimmten Version und einer ausführlicheren für den Parteiapparat unterschieden. In der Öffentlichkeit ist bisher nur eine indirekte Kritik an Chruschtschow erfolgt. Richtungweisend war dafür der Leitartikel in der Prawda vom 17. Oktober unter dem Titel „Die unerschütterliche Leninsche Generallinie der KPdSU". Die kritischen Bemerkungen in diesem Artikel über „Subjektivismus", „Phantasterei", „verfrühte Schlußfolgerungen", „übereilte, von der Realität losgelöste Entscheidungen und Handlungen", „Prahlerei und leeres Gerede“ und „Hang zum Administrieren" waren deutlich auf Chruschtschow gemünzt. Das gleiche gilt auch für den Hinweis der Prawda, der Aufbau des Kommunismus dulde „keine eigenmächtigen Entscheidungen, kein Ignorieren der praktischen Erfahrungen der Massen".
Eine ähnliche Tendenz fand sich in dem richtungweisenden Leitartikel der Zeitschrift „Parteileben", Nr. 20, die am 17. Oktober in Druck gegeben wurde. Unter der Überschrift „Hohe Anforderungen — ein wichtiges Charakteristikum der Parteiführung" wurde betont, daß kein einziges Parteikollektiv das Recht habe, „die Augen zuzudrücken, wenn irgend jemand eingebildet wird, aufhört, mit der Meinung der Genossen zu rechnen". Anschließend wurde, in deutlicher Anspielung auf Chruschtschow, erklärt: „Es darf nicht zugelassen werden, daß ein Mensch, selbst wenn er die höchste Autorität besitzt, sich der Kontrolle der leitenden Kollektive, der Partei-organisationen entzieht und sich einbildet, alles zu wissen und alles zu können und die Kenntnisse und Erfahrungen anderer Genossen nicht mehr zu benötigen."
Die sowjetischen Ideologen fanden sehr schnell das folgende passende Zitat von Lenin, das sich zur indirekten Kritik an Chruschtschow besonders zu eignen schien: „Bei uns gibt es schrecklich viele Leute, die alles mögliche umgestalten wollen, und diese Um-gestaltungen verursachen solchen Schaden, wie ich ihn größer in meinem Leben nicht kennengelernt habe." Der neue sowjetische Parteiführer Breshnew benutzte dieses Lenin-Zitat, um darauf hinzuweisen, daß es, laut Lenin, „nicht auf Neugründungen, Reorganisation und auf neue Dekrete ankommt", sondern die notwendigen Maßnahmen „umsichtig ohne Hast und Eile" zu ergreifen seien
Neben dieser indirekten Kritik für die Öffentlichkeit wurden von der neuen Führung, nach übereinstimmenden Berichten mehrerer westlicher Korrespondenten, konkrete Anschuldigungen gegen den gestürzten Parteiführer in einem etwa 40seitigen Dokument zusammen-gefaßt
Auf dem Gebiet der Außenpolitik wurde Chruschtschow in diesem Dokument vor allem vorgeworfen, er habe den folgenschweren Entschluß, Raketen nach Kuba zu entsenden, eigenmächtig und ohne Rücksprache mit seinen Kollegen im Parteipräsidium gefaßt. Chruschtschow habe durch diese Fehlentscheidung die Sowjetunion an den Rand eines Krieges gebracht; nur mit großem Prestige-Verlust sei es der Sowjetunion möglich gewesen, im Spätherbst 1962 aus dieser gefährlichen Situation wieder herauszukommen. Allgemein wurde gerügt, Chruschtschow habe die Arbeit des sowjetischen Außenministeriums durch seine einsamen Entschlüsse gefährdet. Während seines Ägypten-Besuches im Mai 1964 habe Chruschtschow ohne Konsultation mit der Führung ein Darlehen von 280 Millionen Dollar gewährt und Präsident Nasser den Titel „Held der Sowjetunion" verliehen. Auch der Besuch seines Schwiegersohnes Adshubej in der Bundesrepublik sei ohne Übereinstimmung mit dem Parteipräsidium erfolgt. Schließlich wurde auch Chruschtschows Raketen-Drohung während der Suez-Krise im Herbst 1956 beanstandet, die Schuhepisode während der UN-Generalversammlung im Oktober 1960 gerügt und kritisch auf seine jüngsten widersprüchlichen Äußerungen über eine neue Sowjetwaffe verwiesen.
Im Bereich des internationalen Kommunismus wurde Chruschtschow vor allem die Verschärfung des Moskau-Peking-Konflikts zur Last gelegt. Er habe die sowjetisch-chinesischen Differenzen durch seine persönlichen Angriffe gegen die Pekinger Führer verschärft. Seine COMECON-Politik sei in vieler Hinsicht fehlerhaft gewesen und habe zu einer erheblichen Opposition geführt. Der Bau der „Erdölleitung der Freundschaft" habe einen Absatzrückgang des rumänischen Ols verursacht und damit Rumänien veranlaßt, seine Handelsbeziehungen mit den westlichen Ländern zu intensivieren. Chruschtschow habe darüber hinaus Rumänien einen Landwirtschaftsplan aufdrängen wollen und habe durch seinen persönlichen Streit mit Gheorghiu-Dej die sowjetisch-rumänischen Beziehungen verschärft.
Auf dem innenpolitischen Sektor stand, wie zu erwarten war, die Wirtschaft im Vordergrund. Durch seine ständigen Reformen und Reorganisationen im Wirtschaftsapparat habe Chruschtschow ein heilloses Durcheinander geschaffen. Auch seine im November 1962 vorgenommene Aufteilung des Parteiapparates in einen industriellen und einen landwirtschaftlichen Sektor wurde jetzt kritisiert. Besonders interessant schien der Hinweis, Chruschtschow habe die Priorität der Schwerindustrie vernachlässigt; durch die von ihm vorgenommene Erhöhung der Investitionen für die Konsumgüterindustrie seien Rückschläge auf verschiedenen Sektoren entstanden. In der Landwirtschaft habe Chruschtschow ständig zwischen extensiver und intensiver Bebauung geschwankt und durch seine häufigen Veränderungen zusätzliche Schwierigkeiten in der Landwirtschaft verursacht. Die von Chruschtschow propagierte Neulandgewinnung habe nicht die erwarteten Resultate gebracht. Etwas unklar erschien der Vorwurf gegen Chruschtschows Einmischung in die Kultur-politik, da nicht erwähnt ist, ob dem gestürzten Partei-und Staatsführer eine zu „liberale" oder umgekehrt eine zu „scharfe" Haltung vorgeworfen wird.
Einen großen Raum nahmen schließlich die Anschuldigungen gegen Chruschtschows Führungsmethoden ein. In öffentlichen Reden, sogar im Ausland, habe Chruschtschow hohe Parteifunktionäre in peinlicher Weise bloßgestellt. Durch seine eigenmächtigen Entlassungen von Funktionären habe er Mißstimmung und Unsicherheit im Parteiapparat hervorgerufen. Bei seinen häufigen Reisen habe er sich zu sehr um unwichtige Details gekümmert und dabei die große Linie der Führung vernachlässigt. Auch sein Eigensinn, sein Temperament, seine Intoleranz, seine Stegreifreden wurden gerügt. Außerdem habe sich Chruschtschow einer Vetternwirtschaft schuldig gemacht und in letzter Zeit versucht, seine Frau Nina Petrowna als Vorsitzende des sowjetischen Frauenverbandes (der gegenwärtig von Nina Popowa geleitet wird) und seinen Schwiegersohn Adshubej als Sekretär des Zentralkomitees einzusetzen.
Die Ende Oktober im Parteiapparat verbreiteten „ 29 Punkte" überraschen zunächst durch das Ausmaß der Kritik an dem noch wenige Wochen zuvor verherrlichten Partei-und Staatsführer. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, daß stets lediglich einzelne innen-und außenpolitische Entscheidungen Chruschtschows sowie vor allem seine Führungsmethoden gerügt worden sind. Die entscheidenden Grundlinien der Innen-und Außenpolitik Chruschtschows wurden dagegen sorgfältig ausgeklammert. Die Entstalinisierung im weiteren Sinne des Wortes, das heißt die Anpassung des Sowjetsystems an die neuen Bedingungen der sowjetischen Industriegesellschaft, die innersowjetischen Reformen und die Grundlinie der Außenpolitik Chruschtschows sind von diesen Anklagen nicht berührt worden. Das spricht dafür, daß die Breshnew-Kossygin-Führung nicht an eine Abkehr von der Politik Chruschtschows denkt, sondern im Gegenteil an deren Fortsetzung. Sie will zum Ausdruck bringen, daß sie eine Weiterführung des Chruschtschow-Kurses in einem behutsameren und solideren Stil und unter Vermeidung der Fehler und Eskapaden des jetzt abgelösten Parteiführers anstrebt. Wahrscheinlich gibt es heute noch eine Minderheit, die einen schärferen Kurs und zumindest eine Teilrückkehr zum Stalinismus befürwortet, aber es scheint, daß sich diese Gruppierung nicht durchzusetzen vermochte. „Chruschtschowismus, aber ohne und besser als Chruschtschow" dürfte die ungeschriebene Devise der Mehrheit der jetzigen Führung im Kreml sein.
Zukunftsperspektiven
Es bleibt die Frage, wie die Ablösung Chruschtschows in den größeren Rahmen der sowjetischen Entwicklung einzuordnen ist und welche Auswirkung dieser Führungswechsel auf die nähere und weitere Zukunft haben wird.
Chruschtschow dürfte in die sowjetische Geschichte als der Führer einer Übergangsperiode eingehen. Die von Chruschtschow begonnene „Transformation von oben" mit dem Ziel, das von Stalin übernommene System den neuen Bedingungen und Erfordernissen der entstehenden sowjetischen Industriegesellschaft anzupassen, geht jedoch in seiner Bedeutung weit über die subjektiven Wünsche des jetzt gestürzten Partei-und Staatsführers hinaus. In weitesten Kreisen der Sowjetbevölkerung, auch im Parteiapparat und selbst in den höchsten Parteigremien, war es schon zu Ende der Stalin-Ära klar geworden, daß für die weitere Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft die Stalinschen Methoden — Massenterror, Sklavenarbeit in den Lagern, „Regeneration" der herrschenden Schicht durch Verhaftungen und Erschießungen und die detaillierte bürokratisch-zentralistische Regelung aller Lebensbereiche — wirtschaftlich unrentabel wie auch politisch unwirksam geworden waren. Die Sowjetunion hatte ein industrielles Niveau erreicht, das sowohl differenzierte Lenkungsmethoden als auch Menschen erforderte, die aus eigenem Antrieb und aus eigenem Interesse an der Bewältigung der komplizierten neuen Probleme arbeiten, Initiative entwikkeln und ihre Fähigkeiten ungehindert entfalten. Wirtschafts-, Partei-und Staatsfunktionäre, das sowjetische Offizierskorps, die Angehörigen der Intelligenz, Industriearbeiter und Kolchosbauern mußten von der lähmenden Furcht befreit werden und zumindest ein gewisses Maß an persönlicher Sicherheit und die Möglichkeit eigener Initiative erhalten, wenn sich die Sowjetgesellschaft weiter entwickeln sollte. Es war offensichtlich das Ziel der Chruschtschow-Führung, Mittel und Wege zu finden, überlebte Praktiken und Methoden der Stalin-Ära durch Reformen zu überwinden, ohne jedoch die Grundzüge des Systems und die eigene Herrschaft zu gefährden.
Nachdem jedoch die ersten Schritte in dieser Richtung eingeleitet worden waren, ergaben sich sehr bald Konflikte und Kontroversen sowohl über die Frage der „Generallinie“ — in welchem Tempo, in welchem Ausmaß und mit welchen Methoden die Entstalinisierung zu verwirklichen sei — als auch machtpolitische Auseinandersetzungen über die Frage, unter wessen Führung dieser Prozeß verlaufen sollte, d. h. über das Verhältnis zwischen Partei, Staat und Armee. Hinzu kam, daß jede Abkehr von einem Aspekt der Stalin-Ära stets neue Probleme stellte und weitere Reformen notwendig machte — bis schließlich jener Punkt erreicht wurde, an dem es nicht mehr genügte, Stalin einfach seltener zu erwähnen, sondern er auch öffentlich kritisiert und verurteilt werden mußte, damit ein deutlicher Trennungsstrich zur Stalin-Ära gezogen werden konnte.
All dies zeigt, daß es sich bei der Entstalinisierung keineswegs um einen vorher sorgfältig geplanten Prozeß gehandelt hat, sondern vielfach um ein nachträgliches Reagieren der so-22 wjetischen Führung auf sich verändernde Situationen und Kräfteverhältnisse. Dieses nachträgliche Reagieren sowie die bereits erwähnten politischen Auseinandersetzungen und Machtkämpfe sind auch die Ursache des ZickZack-Kurses, der häufigen Wechsel zwischen Vor und Zurück in der Entstalinisierung, die für die Politik Chruschtschows in der nachstalinschen Entwicklung so typisch waren.
Auch Chruschtschows Persönlichkeit spiegelte den widerspruchsvollen Charakter dieser Übergangsperiode wider. Fast drei Jahrzehnte hatte er Stalin unterstützt, um nach dessen Tode zu einem seiner schärfsten Kritiker zu werden. Von der führenden Rolle der Partei durchdrungen, hat er jedoch gleichzeitig praktische Wirtschaftsfragen in den Mittelpunkt ihrer Aktivität gestellt und den Fachleuten einen nicht unbeträchtlichen Einfluß eingeräumt. Er wirkte als Praktiker und Pragmatiker, aber unter seiner Herrschaft wurde die ideologische Schulung nicht etwa vermindert, sondern beträchtlich erweitert. Immer wieder forderte er praktische Detailkenntnisse und forcierte das „Prinzip der materiellen Interessiertheit" (lies Gewinnstreben), und doch glaubte er gleichzeitig zutiefst an eine zukünftige ideale kommunistische Gesellschaft in der UdSSR und den unvermeidlichen Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt.
In den ersten Jahren seiner Herrschaft, etwa bis 1959/60, konnte Chruschtschow manche Erfolge erringen. In der Wirtschaft ging es in diesen Jahren aufwärts, weite Kreise der Sowjetbevölkerung schöpften neue Hoffnungen und Chruschtschow selbst gewann zunächst eine nicht unbeträchtliche Popularität in der Bevölkerung. Hinzu kam, daß die internationale Stellung der UdSSR in diesen Jahren sich ständig verbesserte. Die erfolgreichen Sputniks, Raketen und Gipfelkonferenz zeugten in den verschiedenen Bereichen vom Aufstieg der Sowjetunion zu einer Weltmacht. Der Sieg Castros in Kuba, die Entkolonialisierung und der Aufschwung der revolutionären Bewegungen in den Entwicklungsländern verstärkten Chruschtschows Optimismus. Die Erfolge dieser ersten nachstalinschen Jahre aber hatten, so paradox dies zunächst erscheinen mag, für Chruschtschow verhängnisvolle Folgen. Sie verleiteten ihn seit Ende 1958 zu einer Über-schätzung der eigenen Möglichkeiten, zur Auffassung, der Sowjetkommunismus, einmal von den „Fehlern Stalins" befreit, könne alles schaffen und alles erreichen. Außenpolitisch kamen die überoptimistischen Fehlkalkulationen Chruschtschows im Berlin-Ultimatum, in der Kongo-Affäre und der Entsendung von Raketen nach Kuba zum Ausdruck; in der kommunistischen Weltbewegung machten sie sich durch die jahrelange, für Chruschtschow verhängnisvolle Unterschätzung der Aktionen der Pekinger Machthaber bemerkbar; im Innern des Landes führten sie zur Ausarbeitung von Wirtschaftsplänen, die die realen Entwicklungsmöglichkeiten in der Sowjetunion weit überstiegen.
Schon seit 1959/60 mehrten sich die Zeichen dafür, daß die zu hoch geschraubten Ziele nicht zu erreichen waren. Je deutlicher dies wurde, um so verbissener schien Chruschtschow jedoch an seinen Zielen festzuhalten. Die schwierige Situation Chruschtschows in den letzten fünf Jahren war weitgehend durch diesen Widerspruch zwischen den überhöhten Zielsetzungen und der zurückbleibenden Entwicklung zu erklären, ein Widerspruch, der Chruschtschow unbegreiflich erschien und den er durch hektische Reorganisationen zu überwinden suchte. Vielleicht gestand sich Chruschtschow in den letzten Jahren selbst ein, daß die von ihm gesteckten Ziele nicht zu erreichen waren, vielleicht sogar auch, daß die Probleme der entstehenden sowjetischen Industriegesellschaft nicht mehr durch Korrekturen am System, sondern nur durch grundlegende strukturelle Veränderungen des Systems selbst zu lösen sind. Aber Chruschtschow, durch seinen Lebensweg geprägt und an längst überholten Glaubenssätzen festhaltend, scheute sich, dies offen auszusprechen und die notwendigen Reformen zu verwirklichen.
Mit Chruschtschow verschwindet der letzte Führer des Sowjetkommunismus — wenn wir hier von den Mitgliedern des Parteipräsidiums Mikojan und Schwernik absehen —, der seine Kindheit noch unter dem Zarismus verbrachte, die Revolutionsjahre als Rotarmist und einfaches Parteimitglied erlebte und sich sein Wissen nicht in modernen Universitäten, sondern unter schwierigen Bedingungen während der Hungerjahre des Ersten Fünfjahrplanes erarbeiten mußte. Die entscheidende Periode seines Lebens und seines Aufstiegs — auch dies gilt nicht mehr für seine Nachfolger — hat er unter Stalin erlebt. Chruschtschow, der unter Stalin groß wurde, und die Abkehr vom Stalinismus einleitete, ist ein Mann zwischen Vergangenheit und Zukunft. Seine Reformen gingen den stalinistischen Apparatschiks zu weit, für die drängenden unaufschiebbaren Probleme der sowjetischen Industriegesellschaft reichten sie jedoch nicht aus. Chruschtschows unzweifelhaftes Verdienst bestand darin, daß er der Sowjetbevölkerung im Vergleich zur Stalin-Ära beträchtliche Erleichterungen verschafft hat — seine Tragik aber lag darin, daß er, weitgehend durch die Stalin-Periode geprägt, sich zur entscheidenden, tief-greifenden Umgestaltung des Systems noch nicht durchringen konnte.
Die neuen Sowjetführer, die nach dem Sturz Chruschtschows nun die Geschicke des Landes in ihre Hand nahmen, stehen zunächst vor der Aufgabe, ihre eigene Macht zu festigen, im weiteren aber davor, alle jene großen politischen Probleme zu lösen, die sie von dem jetzt gestürzten Partei-und Staatsführer übernommen haben.
Gegenwärtig und in der unmittelbaren Zukunft scheint für die neue Sowjetführung die Festigung der eigenen Macht im Vordergrund zu stehen. Es gilt für Breshnew und Kossygin, zunächst die eigenen Positionen zu festigen, ehe sie an weitreichende Veränderungen denken können. Wie zu erwarten, wird gegenwärtig wieder der Begriff „kollektive Führung" stark unterstrichen. Unwillkürlich erinnert man sich an die Zeit nach dem Tod Lenins im Januar 1924 und nach dem Tod Stalins im März 1953, als ebenfalls der Begriff „kollektive Führung" für eine gewisse Zeit im Vordergrund stand — bis sich der neue Spitzen-führer durchgesetzt hatte. Nach einigen jüngsten Erklärungen ist daran gedacht, die beiden höchsten Funktionen des Landes — den Posten des Ersten Parteisekretärs und des Vorsitzenden des Ministerrats — endgültig und für immer zu trennen. Zweifellos ist dies das ernste Bestreben der gegenwärtigen Sowjetführung. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob das sowjetische System trotz der sicherlich bedeutenden Veränderungen seit Stalins Tod auf die Dauer auf einen einzigen überragenden Spitzenführer verzichten kann.
Unmittelbar nach dem Sturz Chruschtschows wurden bei offiziellen Anlässen die ersten fünf Spitzenführer — Breshnew, Kossygin, Mikojan, Suslow und Podgorny — nach ihrer jetzigen politischen Bedeutung und Machtstellung aufgeführt, die verbliebenen fünf Mitglieder des Parteipräsidiums — Woronow, Kirilenko, Koslow, Poljanski und Schwernik — dagegen in alphabetischer Reihenfolge genannt (wobei, dem russischen Alphabet zufolge, Woronow an der Spitze steht). Es ist jedoch kaum wahrscheinlich, daß die gegenwärtige Rangfolge längere Zeit unverändert bleiben wird. Sie spiegelt vielmehr die Rolle, die die verschiedenen Sowjetführer bei der Ablösung Chruschtschows gespielt haben, und den augenblicklich noch recht labilen Machtzustand wider. Auf den nächsten Tagungen des Zentral-komitees sowie vor allem auf dem laut Partei-statut spätestens im Herbst 1965 einzuberufenden 23. Parteikongreß dürfte mit weiteren personellen Veränderungen in der Führung zu rechnen sein.
Die Sowjetführung in ihrer gegenwärtigen Phase wird häufig als „Duumvirat" bezeichnet, aber es wäre wohl richtiger von einem „Triumvirat" Breshnew-Kossygin-Mikojan zu sprechen. Leonid Breshnew vertritt dabei in erster Linie die kommunistische Partei, deren Funktion, wie aus sowjetischen Veröffentlichungen der letzten Tage deutlich ersichtlich, keineswegs eingeschränkt, sondern im Gegenteil noch erweitert werden soll. Dies aber würde zweifellos die Führungsposition Breshnews noch mehr unterstreichen. Der 60jährige Alexej Kossygin ist als der führende Repräsentant des Staats-und Wirtschaftsapparates anzusehen. Seine langjährigen Erfahrungen — schon seit 1938 hat er ununterbrochen führende Staats-und Wirtschafts-Positionen innegehabt — sind so bedeutend, daß keine Kreml-führung leicht auf seine Kenntnisse verzichten kann. Anastas Mikojan tritt zwar gegenüber Breshnew und Kossygin ein wenig zurück, darf aber auf keinen Fall unterschätzt werden. Durch seine Stellung im Parteipräsidium verleiht Mikojan dem bisher weitgehend repräsentativen Posten eines Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR ein bedeutendes politisches Gewicht. Seine außerordentlichen Fähigkeiten sind genauso unumstritten wie seine große Autorität. Darüber hinaus ist Mikojan neben Schwernik der einzige sowjetische Führer, der bereits vor 1917 der bolschewistischen Partei beitrat und sich an der Oktoberrevolution und am Bürgerkrieg maßgeblich beteiligte. Er verkörpert damit die besonders in den letzten Jahren wieder stark in den Vordergrund gerückte Tradition der sowjetischen Frühzeit.
Das starke Hervortreten von Breshnew, Kossygin und Mikojan bedeutet jedoch nicht, daß die übrigen Mitglieder des Parteipräsidiums alle nur als zweitrangig zu betrachten wären. Der jetzt an vierter Stelle in der Rangliste stehende 62jährige Michail Suslow wird seit dem Sturz Chruschtschows in der sowjetischen Presse relativ stark herausgestellt. Zweifellos dürfte er sich bei der Ablösung des langjährigen Parteiführers aktiv beteiligt haben, obwohl man gut daran tun wird, in ihm nicht den alleinigen Spiritus rector zu sehen und seine Rolle bei den Ereignissen im Oktober zu überschätzen. Vor allem erscheint es fraglich, ob Suslow seine gegenwärtige Position auf die Dauer halten kann. Zweifellos verfügt er über große Erfahrungen insbesondere auf dem Gebiet der Ideologie und des internationalen Kommunismus, und er dürfte wie kein anderer in der Lage sein, schwierige Probleme und Wendungen ideologisch einwandfrei darzustellen und zu begründen. Andererseits aber darf nicht vergessen werden, daß Suslow, seit 1946 im zentralen Apparat für Agitation und Propaganda tätig, über keine eigene „Hausmacht“ verfügt. Außerdem ist erneben Schwernik der einzige der gegenwärtigen Spitzenführer, der sich an den Stalinschen Wachsamkeits-Kampagnen aktiv beteiligt hatte. Als Gebiets-sekretär von Rostow hat Suslow in den Jahren 1936— 38 die Stalinsche große Säuberung unterstützt und auch in den letzten Monaten vor dem Ableben Stalins Ende 1952 an der damaligen Wachsamkeitskampagne teilgenommen. Es kann wohl sein, daß sich dies angesichts der weiteren Auseinandersetzung mit der Stalinschen Vergangenheit für Suslow als negativer Faktor erweist.
Um so mehr dürfte sich der Blick auf den jetzt 61jährigen Nikolai Podgorny richten, der als möglicher zukünftiger Anwärter auf die höchsten Spitzenfunktionen angesehen werden kann. An den Schrecken der großen Säuberung 1936— 38 war Podgorny — in diesen entscheidenden Jahren Chefingenieur eines großen Zuckerunternehmens in der Ukraine — unbeteiligt. Ähnlich wie die Mehrzahl der gegenwärtigen Spitzenführer — darunter Breshnew, Kossygin, Kirilenko, Woronow und Koslow — hat auch Podgorny in den dreißiger Jahren eine Technische Hochschule absolviert. Anschließend war er sieben Jahre, länger als jeder andere, als Chefingenieur und Betriebsdirektor in der ukrainischen Industrie tätig und erhielt dort jene technisch-administrative Erfahrung, die für einen heutigen sowjetischen
Spitzenführer nicht unbedeutend ist. Obwohl er bereits in den letzten Jahren der Stalin-Ära Gebietssekretär der Partei in Charkow war und 1952 in das Zentralkomitee der Partei aufstieg, gelangte er erst nach Stalins Tod in den inneren Kreis der Spitzenführung. Von 1957 bis 1963 war Podgorny Erster Parteisekretär der Ukraine und hatte damit die gleiche Funktion inne wie einst Chruschtschow in den Jahren 1938— 49. Im Sommer 1958 zum Kandidaten des Parteipräsidiums und im Mai 1960 zum Vollmitglied dieses höchsten Gremiums ernannt, wurde Podgorny im Juli 1963 zusammen mit Breshnew gleichzeitig noch Mitglied des ZK-Sekretariats, so daß er heute den beiden entscheidenden Führungszentren des Landes angehört. Zwischen Chruschtschow und Podgorny ist es mehrmals und vor allem in den Jahren 1961/62 zu ernsten Zusammenstößen gekommen.
Von den übrigen Mitgliedern des Parteipräsidiums dürfte der jetzt 78jährige Nikolai Schwernik zu alt sein, um noch eine aktive und bedeutende Rolle in der Führung spielen zu können. Der 54jährige Gennadij Woronow, seit Oktober 1961 Mitglied des Parteipräsidiums, ist bisher mit seinem Fachgebiet, der Landwirtschaft, zu sehr verbunden, um bereits in nächster Zeit als politischer Allround-Führer profiliert hervortreten zu können. Chruschtschow hatte noch einige wenige Monate vor seinem Sturz versucht, Gennadij Woronow aus der Spitzenführung zu entfernen. Die Tatsache, daß Chruschtschow dies nicht gelang, zeugt davon, daß der nach außen nicht im Vordergrund stehende Woronow doch über einen beträchtlichen Einfluß verfügt und seine Machtposition stärker sein dürfte, als es auf den ersten Blick erscheint.
Während Woronow sich eindeutig auf die Landwirtschaft konzentriert, sind die Arbeitsbereiche von Andrej Kirilenko und Dimitrij Poljanski nicht so genau zu definieren. Der 58jährige Andrej Kirilenko verkörpert ähnlich wie Breshnew, Kossygin und Podgorny eine Synthese zwischen technischer Hochschulbildung — er besuchte eine Hochschule für Luftfahrt — und langjähriger Parteierfahrung. Achtzehn Jahre lang, von 1944 bis 1962, war Kirilenko Gebietssekretär der Partei — zunächst in Saporoshje, dann in Nikolajew und Dnjepropetrowsk sowie schließlich fast sieben Jahre lang in Swerdlowsk, dem Zentrum des Uraler Industriebezirks. Als am Mai 1960 die U 2 abgeschossen wurde, war dies auf „seinem" Gebiet. Durch seine langjährige Partei-tätigkeit ist Kirilenko sowohl mit dem ukrainischen Apparat als auch mit dem wichtigen Uraler Industriegebiet verbunden. An den Schrecken der Stalinschen Säuberung unbeteiligt, kam Kirilenko auch erst nach dem Tod Stalins in die Spitzenführung: auf dem 20. Parteitag im Februar 1956 in das Zentralkomitee, im Juni 1957, nach dem Sturz der „parteifeindlichen Gruppe“, als Kandidat in das Parteipräsidium. Seit April 1962 gehört er diesem höchsten Führungsgremium als Vollmitglied an. Gegenwärtig dürfte er vor allem für Industriefragen sowie wahrscheinlich auch für Parteiangelegenheiten der russischen Föderation (RSFSR) zuständig sein. Auf dem Weg zum Allround-Führer hat er bereits die ersten entscheidenden Schritte getan.
In noch größerem Maße dürfte das für Dmitrij Poljanski gelten, mit 47 Jahren das jüngste Mitglied des Parteipräsidiums. Von manchen Sowjetexperten wird Poljanski bereits als ein möglicher „Führer von übermorgen" betrachtet. Nach einem mehrjährigen Agronomiestudium (1935— 39 im Landwirtschaftsinstitut in Charkow) absolvierte Poljanski während des Krieges die Parteihochschule beim Zentralkomitee und vereinigt damit eine wirtschaftliche und ideologische Ausbildung. Auch er durchschritt die typische Stufe des Gebietssekretärs, zunächst auf der Krim, anschließend in der westsibirischen Stadt Tschkalow und schließlich in Krasnodar. Im Sommer 1958 zum Kandidaten und im Mai 1960 zum Vollmitglied des Parteipräsidiums ernannt, spielte er gleichzeitig auch auf dem staatlichen Sektor zunehmend eine Rolle. Poljanski war mehrere Jahre Vorsitzender des Ministerrats der russischen Föderation (RSFSR) und ist heute stellvertretender Vorsitzender des sowjetischen Minister-rats. In der Spitzenführung ist er hauptsächlich für Fragen der russischen Föderation (RSFSR) urd auch für Landwirtschaft zuständig. Durch seine enge Liierung mit dem im Frühjahr 1963 erkrankten und degradierten Koslow rückte Poljanski etwas in den Hintergrund, aber es ist durchaus möglich, daß sich seine Stellung in nächster Zeit wieder zu seinen Gunsten ändern wird.
Auf diese Weise dürfte neben den jetzt im Vordergrund stehenden Breshnew, Kossygin und Mikojan auch die Rolle einiger anderer Führer, vor allem Podgornys, aber auch Kirilenkos, Woronows und Poljanskis nicht unterschätzt werden. Bei einer Betrachtung der Situation in der Kreml-Führung, vor allem auf eine etwas längere Sicht, wird man sich jedoch nicht nur auf die jetzigen 10 Vollmitglieder des Präsidiums beschränken dürfen, sondern auch einige andere bedeutende Führer in Rechnung stellen müssen. Von den Kandidaten des Parteipräsidiums dürften Jefremow und der Gewerkschaftsvorsitzende Grischin, von den Parteiführern der Unionsrepubliken vor allem der ukrainischen Parteisekretär Schelestj in der weiteren Entwicklung eine größere Bedeutung erlangen. Da in der Vergangenheit in Führungskrisen das ZK-Sekretariat eine entscheidende Rolle gespielt hat, sollten zumindest einige Mitglieder dieses Gremiums — etwa der Leiter der Kaderfragen, Vitalij Titow, und der für Partei-und Staatskontrolle zuständige Alexander Schelepin — bei eventuellen zukünftigen Auseinandersetzungen in der Führung nicht übersehen werden. Außerhalb des Parteiapparats könnten auch Marschall Malinowski als Vertreter der Armeekreise, der Chef des Staatssicherheitsdienstes, Wladimir Semitschastny, und einige höhere Wirtschaftsführer — wie etwa Dmitrij Ustinow — einen zunehmenden Einfluß erhalten
Von den vielen Problemen, die die Nach-Chruschtschow-Führung zu lösen haben wird, seien hier lediglich einige erwähnt. In der sowjetischen Innenpolitik dürfte die Entstalinisierung, d. h. Ausmaß und Grenzen der weiteren Modernisierung des Sowjetkommunismus im Vordergrund stehen. Die neue Führung hat bereits in ihren ersten Veröffentlichungen deutlich gemacht, daß für sie die weitere schnelle ökonomische Entwicklung der Sowjetunion einen ausschlaggebenden Platz einnimmt. Ein wirtschaftlicher Aufschwung aber — und dies dürfte den neuen Führern noch deutlicher bewußt sein als Chruschtschow — ist und war seit November 1962 Vorsitzender des Komitees für Partei-und Staatskontrolle. Auffallend bei der jüngsten Ernennung erscheint, daß Schelepin die meist übliche Durchgangsstufe eines Kandidaten des Parteipräsidiums übersprungen hat und sofort zum Vollmitglied dieses höchsten Gremiums ernannt worden ist.
Mit dem Aufrücken des 56jährigen Pjotr Scheie s t j ist erneut — nach Chruschtschow und Podgorny — ein Erster Parteisekretär der Ukraine in die Spitzenführung einbezogen worden. Schelestj, Parteimitglied seit 1928, hat, wie die Mehrheit der jetzigen Präsidiumsmitglieder, in seiner Jugend eine ingenieur-technische Ausbildung erhalten. Nach der Absolvierung des Instituts für Metallurgie in der ukrainischen Industriestadt Mariupol war er zunächst mehrere Jahre als Chefingenieur einiger Industriebetriebe tätig und hatte anschließend auch kleine Parteiposten inne. Seine eigentliche politische Karriere im ukrainischen Parteiapparat begann jedoch erst nach dem Tod Stalins. Von 1957 bis 1962 war Schelestj Gebietssekretär der Partei in Kiew, avancierte im August 1962 zum Mitglied des Sekretariats der ukrainischen Parteiführung und im Juni 1963 zum Ersten Parteisekretär der Ukraine. nur durch weitere Reformen des sowjetischen Wirtschaftssystems zu erreichen. Eine drastische Einschränkung des bürokratischen Plansystems, eine Dezentralisierung, größere Selbständigkeit für die einzelnen Industrieunternehmen sowie die Kollektivwirtschaften und Staatsgüter, eine stärkere Einführung von Marktelementen in die Wirtschaft und eine Veränderung des bis dahin administrativen Preissystems — all dies und vieles andere wird nun im Blickfeld der neuen Führung stehen.
Die Verwirklichung bedeutender Wirtschaftsreformen in der Sowjetunion ist jedoch unmittelbar mit dem politischen Problem der sowjetischen Parteiherrschaft verbunden, da der Parteiapparat auch in der Wirtschaft die „führende Rolle" spielt und bisher eine Fülle von administrativen Wirtschaftsfunktionen ausübte.
Unter diesen Umständen wird sich die neue Führung früher oder später auch mit der zukünftigen Rolle und Funktion der Partei und des Parteiapparates in der Sowjetunion zu beschäftigen haben. Es ist kaum wahrscheinlich, daß die kommunistische Partei und ihr Apparat auf die Dauer gleichzeitig die Funktion des ideologischen Verkünders („Licht unseres Lebens", „beseeligende Kraft", „Herz und Hirn unserer Epoche"), des politischen Machtzentrums („richtungweisende Kraft der Sowjet-gesellschaft“) und eines praktisch-wirtschaftlich-technischen Leitungsorgans aufrechterhalten kann. Mit der weiteren Entwicklung der immer komplizierter werdenden Sowjetgesellschaft wird es immer schwieriger, diese widersprüchlichen Funktionen der sowjetischen KP miteinander zu vereinbaren. Gewiß ist es heute noch nicht zu übersehen, ob die neue Sowjetführung daraus den Schluß zieht, die Partei aus dem praktisch-technisch-wirtschaftlichen Bereich zurückzuziehen und sie mehr und mehr auf die Funktion des politisch-ideologischen Machtzentrums zu beschränken. Wohl aber dürfte die widersprüchliche Rolle der Partei in der Sowjetgesellschaft ein Problem sein, dessen Lösung nicht in alle Ewigkeit hinausgeschoben werden kann.
Die zukünftige Rolle der Partei und ihres Apparates ist eng mit der Frage verbunden, ob und inwieweit andere Kräite der sowjetischen Gesellschaft die Möglichkeit erhalten werden, einen zunehmenden Einfluß auf die politischen Geschicke des Landes zu erlangen. Die wachsende Bedeutung der Wirtschaftler, Techniker, Manager und Wissenschaftler sowie der künstlerischen Intelligenz im letzten Jahrzehnt der sowjetischen Entwicklung ist nicht zu übersehen. Es bleibt die Frage, ob und inwieweit diesen Kräften in der Zukunft die Möglichkeit gegeben wird, entweder in den Führungsorganen stärker repräsentiert zu werden oder aber durch die Bildung neuer Gremien und Organe einen größeren Einfluß auf die politischen Geschicke des Landes zu erlangen. Dabei wird es auch von Interesse sein, ob dies bereits in der jetzt in Vorbereitung befindlichen neuen sowjetischen Verfassung zum Ausdruck kommen wird. Auch gewisse Regelungen für die personellen Veränderungen in der sowjetischen Spitzenführung dürften nun zur Debatte stehen. Bereits seit langem ist von manchen Kreisen, zumindest indirekt, der Wunsch nach institutionellen Regelungen zum Ausdruck gebracht worden, um die Einsetzung und Ablösung von höheren Funktionären in sowjetischen Spitzengremien zu normalisieren. Gewiß: im Artikel 26 des neuen Parteistatus vom Oktober 1961 wurde zum ersten Mal festgelegt, daß kein Mitglied des Parteipräsidiums länger als „drei Wahlperioden", d. h. 12 Jahre, im Amt verbleiben soll. Aber erstens enthält diese Regelung eine sehr vage und unklar formulierte Ausnahmemöglichkeit und zweitens fehlt sowohl im Parteistatut wie auch in allen anderen offiziellen Dokumenten jeglicher Hinweis über die Einsetzung, die Kompetenzen und die mögliche Absetzung eines Erstens Parteisekretärs. Vor allem nach der Ablösung Chruschtschows dürften sich nicht wenige Sowjetbürger, darunter in den Reihen der Intelligenz, der Wirtschaft und vieleicht auch des Parteiapparates die Frage stellen, ob es nicht an der Zeit sei, endlich entsprechende institutionelle Regelungen für die Ein-und Absetzung sowjetischer Spitzenführer zu schaffen
Die neue sowjetische Führung hat von Chruschtschow die schwere Verpflichtung übernommen, die sehr hoch gesteckten Ziele des im Oktober 1961 angenommenen Parteiprogramms zu erfüllen. Das Auseinanderklaffen zwischen den programmatischen Zielen auf der einen und den tatsächlichen Entwicklungsmöglichkeiten der UdSSR auf der anderen Seite ist der neuen Führung sicher wohl bekannt. Es geht dabei nicht nur um das Nahziel, bis zum Jahre 1970 die USA in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung zu überflügeln, sondern in noch größerem Maße um die bis zum Jahr 1980 zu erfüllenden Verpflichtungen. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen, laut Parteiprogramm, nicht nur die Industrieproduktion gegenüber 1960 auf das Sechsfache und die Landwirtschaftsproduktion auf das Dreieinhalbfache ansteigen, sondern gleichzeitig auch Wohnungen, Wasser, Gas, Heizung, sowie die kommunalen öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos sein und außerdem alle Werktätigen der UdSSR die Hauptmahlzeit (Mittagessen?) umsonst erhalten. Diese Zielsetzungen sind als Voraussetzung für die Errichtung des Endziels, der kommunistischen Gesellschaft, definiert worden und haben damit nicht nur eine wirtschaftliche, sondern vor allem auch eine politische Bedeutung.
Die Nachfolger Chruschtschows in der Kreml-Führung stehen damit, je näher das Jahr 1980 rückt, vor dem Problem, den Widerspruch zwischen dem inzwischen tatsächlich erreichten Stand und den im Parteiprogramm verkündeten Zielen entweder zu erklären oder irgendwie zu „überbrücken". Die Schwierigkeit liegt dabei vor allem darin, daß es sich nicht um eine einfache Erklärung einer staatlichen Behörde handelt, sondern um das offizielle Programm der kommunistischen Partei, d. h. das bedeutsamste politische Dokument der gegenwärtigen Phase der sowjetischen Entwicklung. Gewiß ist es möglich, nachträglich Chruschtschow für die überhöhten Zielsetzungen des Parteiprogramms verantwortlich zu machen, aber damit würde ein weiterer Vertrauensschwund unausbleiblich sein — weil ja dann erklärt werden müßte, warum nach den schweren Fehlern Stalins die sowjetische Entwicklung erneut durch die subjektiven Handlungen eines Ersten Parteisekretärs beeinträchtigt worden ist. Andererseits wäre es denkbar, daß die neue Führung erklärt, es sei möglich, das kommunistische Endziel auch ohne die im Parteiprogramm festgesetzten Voraussetzungen zu erfüllen. In einem solchen Fall könnte die zukünftige kommunistische Gesellschaft so beschrieben und definiert werden, daß sie den Möglichkeiten der sowjetischen Entwicklung bis 1980 entspricht. Damit aber würde unzweifelhaft das Endziel an Anziehungskraft verlieren. Ein völliger Verzicht auf die Errichtung der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft wäre zwar theoretisch denkbar, aber kaum wahrscheinlich — da ja die Aufrechterhaltung der Parteiherrschaft vor allem mit den notwendigen Umgestaltungen auf dem Weg zur Erreichung des Endziels begründet wird. Zu welcher Lösung sich die neue Führung auch entschließen würde, der Widerspruch zwischen dem programmatisch festgelegten Endziel auf der einen, den tatsächlichen sowjetischen Entwicklungsmöglichkeiten in der nächsten Zukunft auf der anderen Seite ist ein Problem, das von der Sowjetführung nicht umgangen werden kann.
Schließlich steht die neue Führung vor der großen Aufgabe, das 'Verhältnis der Sowjetunion zur kommunistischen Weltbewegung neu zu gestalten und zu definieren. Die Hoffnung Chruschtschows, gemeinsame ideologische Grundsätze der kommunistischen Parteien verschiedener Länder würden ausreichen, um die Einheit im Weltkommunismus zu garantieren, hat sich offensichtlich also nicht bewahrheitet. Die „Dezentralisierung" des Weltkommunismus geht weit über den Moskau-Peking-Konflikt hinaus, und vieles spricht dafür, daß die Verselbständigung der einzelnen kommunistischen Länder und der kommunistischen Parteien außerhalb des „sozialistischen Lagers" nicht mehr aufzuhalten ist. Selbst wenn es der neuen Führung gelingen würde — was heute noch recht zweifelhaft erscheint —, zu einem modus vivendi mit Peking zu kommen und ein neues kommunistisches Welttreffen unter Einschluß der Pekinger Gruppierung zu veranstalten, dürfte es kaum gelingen, die 92 kommunistischen Parteien auf eine einheitliche Generallinie festzulegen. Schon die kautschukartige Kompromiß-Deklaration der 81 Parteien vom Dezember 1960 war dazu nicht in der Lage — und inzwischen ist der Prozeß der Verselbständigung noch viel weiter fortgeschritten.
Alle diese — und noch manche andere — Probleme wird die Nach-Chruschtschow-Führung zu lösen haben. Es dürfte sich schon bald herausstellen, daß es selbst unter sowjetischen Bedingungen leichter war, einen Parteiführer abzusetzen, als danach die vielen Probleme zu lösen, die die Erben Chruschtschows von dem gestürzten Partei-und Staatsführer übernommen haben. Sowohl die Ablösung Chruschtschows als auch die noch zu erwartenden politischen Auseinandersetzungen und Machtkämpfe spiegeln den schwierigen und komplizierten Übergang vom Stalinismus zu moderneren Herrschaftsformen der sowjetischen Industriegesellschaft wider. Die neuen Führer mögen sich in den Methoden von Chruschtschow unterscheiden und in einzelnen Fragen die politischen Akzente verschieben; auf längere Sicht gesehen werden sie kaum umhin können, jene Reformen fortzusetzen, die der jetzt gestürzte Partei-und Staatsführer begonnen hatte.