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Hannah Arendt und der Mensch im totalitären Staat | APuZ 45/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 45/1964 Artikel 1 War Eichmann ein Dämon? Hannah Arendt und der Mensch im totalitären Staat Vorrede zur deutschen Ausgabe

Hannah Arendt und der Mensch im totalitären Staat

Wolfgang Scheffler

Angesichts der Fülle vorliegender Publikationen, die über die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch den nationalsozialistischen Staat berichten, herrscht der weitverbreitete Eindruck vor, als sei dieser in der modernen Geschichte der Menschheit einmalige Vorgang in seinen Grundzügen, aber auch in vielen Einzelheiten, genügend erforscht. Daß dieser Eindruck trügerisch ist und nicht dem tatsächlichen Stand der Forschung entspricht, hat für den genauen Betrachter nicht nur der Eichmannprozeß bewiesen, sondern wird auch täglich in den Gerichtssälen in Deutschland demonstriert, wo sich die Richter nahezu in letzter Stunde darum bemühen, die Stellung der Angeklagten in der Vernichtungsmaschinerie zu bestimmen und die Mörder von damals zu überführen. Daß die wesentlichen Faktoren dieses gesamten Vorganges, von ihren Voraussetzungen einmal ganz abgesehen, der Aufbau und die Funktion der verschiedenen Organisationsformen (geradezu ein Wesenselement des totalitären Staates), die verwirrende Vielfalt der beteiligten Kräfte usw. und auf der anderen Seite das Leben, die Verhaltensweisen der Opfer dieses unbeschreiblichen Terrors noch intensiver Grundlagenforschung bedürfen, ehe man auf Grund vielfältigen Beweismaterials überzeugend belegbare Typologien aufstellen und entscheidende Schlußfolgerungen ziehen kann — dies bewiesen zu haben, ist das Verdienst des Buches „Eichmann in Jerusalem" von Hannah Arendt. Erst wenn man sich der hier zunächst nur angedeuteten Voraussetzungen bewußt ist, wird man die offensichtliche Verwirrung, Betroffenheit und überaus heftige Reaktion verstehen, die dieses Buch in aller Welt ausgelöst hat.

Es ist nicht nur eine Aufgabe zeitgeschichtlicher, sondern gerade auch politologischer Forschung, sich neben der Analyse demokratischer Regierungsformen ebensosehr dem Herrschaftssystem totalitärer Staaten zu widmen, in immer erneuten Untersuchungen das Wesen dieser staatlichen Erscheinungsformen des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten, um letztlich auch die Hintergründe ihres Entstehens und ihrer Existenz zu erfassen. Daß wir auf diesem Wege noch ein großes Stück von einem einigermaßen befriedigenden, wissens-mäßig gesicherten Zustand entfernt sind, zeigt nicht nur die bisherige Erforschung des nationalsozialistischen Staates, sondern auch jene simplifizierende Gleichstellung des nationalsozialistischen mit dem sowjetrussischen System, die beide zwar mancherlei Parallelen, aber auch tiefgreifende Unterschiede aufweisen, ganz abgesehen davon, daß stattfindende Wandlungsprozesse sehr oft überhaupt ignoriert werden.

Will man den heutigen Stand der Erforschung der nationalsozialistischen Judenpolitik in ihren vielfältigen Erscheinungsformen kurz umreißen, um einen Überblick über das Geleistete zu erhalten, so kommt man um folgende, natürlich Mißdeutungen ausgesetzte Feststellung nicht herum: die Masse der vorliegenden, in ihrem Wert oft recht unterschiedlichen Darstellungen und Dokumentationen dient in erster Linie der Notwendigkeit, Aufklärungsarbeit zu leisten, die zumal im Nachkriegsdeutschland von entscheidender pädagogischer und politischer Wichtigkeit war und ist. Nach hergebrachten wissenschaftlichen Arbeitsmethoden erstellte Dokumentationen und Analysen sind dabei allerdings in der Minderheit geblieben, auch wenn sich hier in letzter Zeit ein Wandel anzubahnen scheint. Die notwendigen Monographien, die den Weg zu Gesamtdarstellungen ebnen können und müssen, sowie einwandfreie Quellenpublikationen fehlen vielfach, so daß einem Versuch einer derartigen Gesamtanalyse noch beschwerliche Hindernisse im Weg stehen.

Die Gründe, die zu diesem Zustand, den man nur allzu oft einfach nicht zur Kenntnis nehmen will, geführt haben, waren einmal rein technischer Art und auch nicht nur auf Deutschland beschränkt. Die Zerstreuung der überreichlich vorhandenen Aktenbestände des nationalsozialistischen Regimes hat lange Jahre nicht nur eine generelle Übersicht über das Vorhandene verwehrt, sondern auch dem Forscher allein aus finanziellen Gründen die Arbeit überaus kompliziert. Nun hat sich aber in den letzten Jahren der Zugang zu den Quellen erheblich verbessert, und es sind vor allem auch Bestände zutage getreten, die man lange Zeit für verschollen hielt. Die Quellenlage ist aber auch heute noch als fließend zu betrachten.

Der zweite Grund liegt im Thema selbst und hängt mit der geistigen Situation in Deutschland aufs engste zusammen. Wir meinen die Betroffenheit und Verwirrung der Menschen, unabhängig von ihrem persönlichen Standort, die sich nur zu häufig in einer geradezu hektisch anmutenden, sehr oft irrigen „Vergangenheitsbewältigung" Luft machen. (Irrig deswegen, weil man mit der Geschichte seines Volkes leben muß, auch wenn man die Konsequenzen nicht zur Kenntnis nehmen will. Allein in der Wortwahl liegt ein für die Nachkriegssituation Deutschlands bezeichnendes Problem.) Nicht umsonst wurden die wichtigsten Untersuchungen zu dem zur Diskussion stehenden Thema im Ausland geschrieben (hier sei nur auf die Werke von Reitlinger, Hilberg, Adler, Reich-mann, Massing usw. verwiesen). Auch die Erforschung der Geschichte des deutschen Judentums hat sich in seinem Schwerpunkt im wesentlichen nach dem Kriege im Ausland entwickelt (Leo-Baeck-Institut). Während auf anderen Gebieten der Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland Wesentliches geleistet worden ist, für das das Werk von K. D. Bracher und die Einzeluntersuchungen des Instituts für Zeitgeschichte beispielgebend ge-nannt sein sollen, kann man das für das gesamte Gebiet der antijüdischen Politik des Nationalsozialismus nicht behaupten. Erst nach und nach scheint sich hier, nicht zuletzt durch die zunehmende Distanz bedingt, eine Änderung anzubahnen.

Schließlich muß noch eine weitere Vorbemerkung gemacht werden, die es entscheidend zu beachten gilt, wenn auf deutscher Szenerie die Diskussion über Hannah Arendts umstrittenes Buch sinnvoll geführt werden soll. Klärend kann eine solche Erörterung nur dann sein, wenn sie mit unerbittlicher Wahrheitsliebe betrieben wird, sich an den Fakten orientiert, Emotionen und Ressentiments peinlichst vermeidet, so schwer das auch angesichts des furchtbaren Themas vielen fallen mag. Im Hinblick auf die Leidenschaftlichkeit der internationalen Auseinandersetzung und auf den Inhalt dieses Buches sei es daher unmißverständlich gesagt: es geht nur um die Wahrheit! H. A. hat auf Probleme hingewiesen, die zwar zum Teil nicht neu sind, die aber auch niemals mit derartiger Schärfe zur öffentlichen Diskussion gestellt wurden. Sie hat gewollt und wahrscheinlich auch ungewollt Tatbestände aufgedeckt, denen man sich stellen muß, gleichgültig, ob es opportun erscheint oder nicht.

Entstehung, Inhalt und Thesen

Der jetzt vorliegenden deutschen Ausgabe gingen der ursprüngliche Abdruck in der amerikanischen Zeitschrift “ The New Yorker”, eine amerikanische und eine englische Buch-ausgabe voraus. Im Kern unverändert, enthält die deutsche Ausgabe einige Zusätze (vornehmlich in der Verdeutlichung der Aussage über den deutschen Widerstand, aber auch hinsichtlich der Situation der deutschen Juden nach 1933), verschiedentliche Streichungen besonders scharfer Bemerkungen usw., ferner wenige Korrekturen von Irrtümern. Es muß von vornherein betont werden, daß eine kritische Lektüre dadurch überaus erschwert wird, daß die Vers, in den seltensten Fällen Belegstellen angibt (wenn ja, dann fehlen zumeist die genauen Seitenangaben), und auch die in der Einführung enthaltene Quellenübersicht sowie das beigefügte Literaturverzeichnis können diesen Mangel nicht beseitigen. Der Leser muß also selbst über den wesentlichen Quellen-und Literaturbestand verfügen, um den Angaben im einzelnen nachgehen zu können, was sich bei der Lektüre als unabdingbar erweist, für die Allgemeinheit jedoch nur in Ausnahmefällen möglich ist.

Die Verfasserin, die Teile der Gerichtsverhandlungen in Jerusalem selbst verfolgen konnte, will anhand des Prozesses eine Antwort vornehmlich auf folgende Fragen geben: wie war der Mann beschaffen, dessen Name für die Öffentlichkeit mit dem Begriff „Endlösung" identisch war; was waren die Beweggründe, die ihn zu seiner unheilvollen Tätigkeit führten; welche Rolle spielte er überhaupt auf diesem absoluten Höhepunkt nationalsozialistischer Verbrechen; wie wurden er und seine Handlungen im Jerusalemer Prozeß beurteilt? Parallel dazu läuft der zweite Themenkomplex: Haltung, Bewährung oder Versagen der Opfer, insbesondere der leitenden Persönlichkeiten der europäischen Juden. Audi wenn die Vers, in ihrer, nur in der deutschen Ausgabe enthaltenen Einführung betont, daß ihr Thema begrenzt sei (S. 14), behandelt sie nolens volens durchweg den Gesamtkomplex der nationalsozialistischen Judenpolitik und darüber hinaus auch Fragen, die um das Gewissen des Menschen im totalitären Staat kreisen, sei es bei den Verfolgern, bei ihren Opfern oder bei den Nicht-juden, die Widerstand geleistet haben. Zwar ist ihr Bericht (dessen Darstellungsprobleme sie mit denen einer historischen Monographie vergleicht, S. 11) durchweg brillant geschrieben, jedoch erweist sich ihr Stil bei näherer Betrachtung leider im Inhalt als äußerst unpräzise. Die Darstellungsweise ist häufig so widersprüchlich, daß sich erst nach mehrmaliger Lektüre der volle Kern ihrer Thesen heraus-schälen läßt.

Der 1960 in Argentinien gefangene und 1961 in Jerusalem vor Gericht gestellte Adolf Eichmann war im Laufe der Jahre seines Verschwindens immer mehr zur schlechthin zentralen Figur der „Endlösung" geworden. Da der Apparat der „Endlösung" in seinem ganzen Umfang der Öffentlichkeit nicht immer bewußt war, wurde in den sich für diesen Mann interessierenden Kreisen Eichmann immer mehr zu einer Art Dämon, in dessen Händen alle Fäden der „Endlösung" zusammengelaufen sein sollten. Daß diese Vorstellung mit der Hierarchie des Verfolgungsapparates nicht ganz übereinstimmen konnte, wurde dabei wenig beachtet, wenn auch das von ihm geleitete Judenreferat im Reichssicherheitshauptamt zweifellos eine äußerst wichtige Rolle innehatte. Die Überbewertung der Person des Angeklagten spiegelt sich denn auch in der Anklageschrift entsprechend wider und erfuhr durch die Art und Weise des Vorgehens des israelischen Generalstaatsanwalts Gideon Hausner im Prozeß sogar noch eine Steigerung. Zu aller Überraschung saß dann aber auf der Anklagebank ein ziemlich unscheinbarer Mann, dessen immense Aussagefreudigkeit die Vernehmer ebenso verblüffte wie sie sein schlechtes Bürokratendeutsch, mit schnarrender Stimme, den österreichischen Akzent niemals verleugnend, vorgetragen, verwirrte („Amtsdeutsch ist meine einzige Sprache").

Der äußere Eindruck aller Prozeßbeobachter war bald dahingehend, daß dieser Mann ebenso hinter irgendeinem Amtsschalter hätte sitzen können und bar jeglicher Besonderheit war. Mitbedingt durch die Furchtbarkeit der Dinge, die im Prozeß zur Sprache kamen, übersah man ihn bald, um ganz plötzlich wieder den Glaskasten im Saal zu entdecken. Aber in diesem Mann einen der Hauptverantwortlichen des größten Massenmordens aller Zeiten zu sehen, diese Vorstellung machte den Beobachtern, gerade auch angesichts seiner Normalität im Hinblick auf die tatsächlichen Gegebenheiten im Deutschland vor 1945 und die fatalen Konsequenzen, die sich für die Beurteilung allzuvieler Handelnder im Dritten Reich aufdrängten, schwer zu schaffen. Die Halbbildung einer aus den Fugen geratenen, muffigen und spießerhaften Welt, der Aufstand utopischen Vorstellungen erlegener Menschen, die, zur Macht gekommen, sich vornahmen, die Welt umzustürzen, und zu reinen Barbaren entarteten, all dies stand plötzlich erregend aktuell mehr als 20 Jahre danach im Gerichtssaal. In der Person des Angeklagten hatte diese Welt unverändert die Zeiten überdauert. Es besteht kein Zweifel, daß diese erschreckende Wiederentdeckung eines der Hauptmotive für Hannah Arendt war, dieses Phänomen näher zu analysieren.

So versucht die Verfasserin in ihrem Bericht, den Grundzug der Erscheinung Eichmanns herauszuarbeiten. Sie charakterisiert ihn als einen durch und durch banalen, erschreckend normalen Menschen, der aus Zufall zur SS kam und keineswegs ein überzeugter Antisemit gewesen sei. Seine Beschäftigung mit der „Judenfrage", im nationalsozialistischen Sinne verstanden, sein Idealismus und nicht zuletzt die Lektüre zionistischer Klassiker (Herzl und Böhm) hätten bei ihm so etwas wie eine pro-zionistische Einstellung hervorgebracht. Eichmanns „Idealismus" sei erst dann zum Scheitern verurteilt gewesen, als er — inzwischen als Fachmann für Auswanderungsfragen im Reichssicherheitshauptamt anerkannt — sich mit der „Endlösung" konfrontiert sah. Auch als Organisationsfachmann, als Leiter der Zentralinstanz für die Transporte in die Vernichtungslager, sei er der unbedeutende Apparatschik geblieben, dessen Gewissen gelegentlich nochmals anschlug, der sich aber, dem Zug der Zeit folgend, willig unterordnete, seine Pflicht tat und niemals, der Größe seiner Verbrechen entsprechend, aus seiner Banalität herauskam. Es ist völlig irrig, wie manche Kritiker annehmen, daß Frau Arendt an irgendeiner Stelle auch nur annähnernd versucht, Eichmann zu verteidigen. Hier liegt der Eindruck nahe, daß ihr Buch zwar viel beB sprochen, aber wohl ebenso häufig nicht gründlich gelesen wurde. Ihr Versuch geht vielmehr dahin, Eichmanns Normalität, ja Banalität konsequent nachzuweisen und aufzuzeigen, wie er geradezu der Idealtyp eines Menschen war, der nach Anlage und Charakter vom totalitären Staat nutzbringend eingesetzt werden konnte. Das Beispiel Eichmann sei die Regel, nicht die Ausnahme gewesen. Sein größtes Laster sei ebenso seine Prahlerei gewesen, an der er schließlich zugrunde gehen sollte, wie auch seine fatale Neigung zur Selbsttäuschung, die ihn zum Verkünder von Phrasen werden ließ, an die er selbst in Jerusalem noch glaubte.

Das zweite große Thema des Buches war es vor allem, das die Gemüter erregte und zu den schärfsten Kritiken geführt hat. Es betrifft die Haltung der jüdischen Bevölkerung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, vor allem die der jüdischen Funktionäre und hier insbesondere die der Zionisten. Ihnen allen wirft Hannah Arendt vor, die Situation falsch eingeschätzt, sich — beginnend bei den deutschen Juden — aus einem irrigen Realismus heraus auf den Boden der Tatsachen gestellt und dadurch im Stadium der „Endlösung" den Mördern ihre Handlungen wesentlich erleichtert zu haben (S. 35). Statt einer Beschreibung seien hier die Kernsätze wiedergegeben: „In dieser Frage der Kooperation gab es keinen Unterschied zwischen den weitgehend assimilierten jüdischen Gemeinden in Mittel-und Westeuropa und den jiddisch sprechen-den Massen des Ostens. In Amsterdam wie in Warschau, in Berlin wie in Budapest konnten sich die Nazis darauf verlassen, daß jüdische Funktionäre Personal-und Vermögens-listen ausfertigen, die Kosten für Deportation und Vernichtung bei den zu Deportierenden aufbringen, frei gewordene Wohnungen im Auge behalten und Polizeikräfte zur Verfügung stellen würden, um die Juden ergreifen und auf die Züge bringen zu helfen — bis zum bitteren Ende, der Übergabe des jüdischen Gemeindebesitzes zwecks ordnungsgemäßer Konfiskation." (S. 154) „Wir kennen die Männer, die zur Zeit der . Endlösung'an der Spitze der jüdischen Gemeinden standen — die Skala reicht von Chaim Rumkowski, genannt Chaim I., den Judenältesten von Lodz......... über den gelehrten, milden und hochkultivierten Leo Baeck, der ernsthaft meinte, daß jüdische Polizisten . sanfter und hilfreicher'seien und . die Qual erträglicher machen’ würden, .... bis zu den wenigen, die Selbstmord begingen — wie Adam Czerniakow ..." (S. 155) „Wäre das jüdische Volk wirklich so unorganisiert und führerlos gewesen, so hätte die . Endlösung'ein furchtbares Chaos und ein unerhörtes Elend bedeutet, aber angesichts des komplizierten bürokratischen Apparats, der für das . Auskämmen'von Westen nach Osten notwendig war, wäre das Resultat nur in den östlichen Gebieten, die ohnehin der Kompetenz der . Endlösung'nicht unterstanden, gleich schrecklich gewesen, und die Gesamtzahl der Opfer hätte schwerlich die Zahl von viereinhalb bis sechs Millionen Menschen erreicht." (S. 162)

Zur Quellenfrage

Ehe wir anhand einiger der von Hannah Arendt aufgeworfenen Probleme die Frage zu beantworten haben, ob ihre Behauptungen zutreffen, muß man auf die von ihr benutzten Quellen hinweisen. Der informierte Leser wird bei der Lektüre, die, wie schon gesagt, etwas mühsam ist, sehr bald merken, daß eine Vielzahl von Angaben einfach nicht stimmt (auf das Fehlerproblem wird weiter unten näher eingegangen werden müssen). Es erhebt sich also das Problem der Herkunft ihrer Quellen. Die Verfasserin verweist in ihrer Einführung neben den ihr zugänglichen Prozeßunterlagen vor allem auf ein Werk, das 1961 (nicht 1962, wie auf Seite 102 gesagt wird) in den Vereinigten Staaten erschienen ist. „Ich habe durchgängig , Die Endlösung'von Reitlinger herangezogen, vor allem aber mich auf das Werk von Raul Hilberg 'The Destruction of the European Jews', die ausführlichste und auch fundierteste quellenmäßige Darstellung der Judenpolitik des Dritten Reiches, verlassen." (S. 11)

In der Tat ist das Buch von Hilberg die beste Gesamtdarstellung, die wir z. Z. über dieses Thema besitzen. Dieses Werk hat Reitlingers „Endlösung“, das schon 1953 erschienen war, jetzt zwar in der 4. Auflage vorliegt, aber niemals einer gründlichen Überarbeitung unterzogen wurde und sowohl quellenmäßig als auch in der Darstellung als überholt angesehen werden muß, voll ersetzt. Hilberg untersucht als erster den Gesamtvorgang seit 1933, schil22 dert den Vernichtungsprozeß aufgrund umfangreicher Unterlagen und beleuchtet in großer Ausführlichkeit auch die Rolle der soge-nannten „Judenräte" (zusammengefaßt a. a. O. S. 662 ff). Ohne hier in eine Besprechung dieses gewichtigen Buches eintreten zu können, muß allerdings angemerkt werden, daß diese Arbeit materialmäßig im wesentlichen schon 1955 abgeschlossen war und weitere Ergänzungen nur sporadisch erfolgten. Diese Einschränkung mindert nicht den Wert seiner Arbeit, nur muß man angesichts der überaus fließenden Quellensituation korrekterweise darauf hinweisen.

Will man nun den Arendtschen Bericht voll verstehen, ist die Lektüre des Hilbergschen Buches unerläßlich. Trevor-Roper hat hierauf in seiner Besprechung schon treffend hingewiesen. Er schreibt: „Diese meisterhafte Studie von Mr. Hilberg ist H. A. zweite Hauptquelle für ihre These. Sie bestätigt, daß sie sich in seiner Schuld befindet, aber das ganze Ausmaß dieser Schuld kann nur von denen gewürdigt werden, die beide Bücher gelesen haben. Immer wieder werden Beweisführungen, in identischen Sätzen, unbewußt wiederholt. Jedes-mal, wenn Hannah Arendt von der Rolle spricht, die die deutsche Bürokratie oder die Judenräte spielten, oder wenn sie sich zu dem Problem der Halbjuden oder zu den Methoden der Selbsttäuschung, der sich alle Seiten hingaben, äußert, spiegelt ihr Text mehr oder weniger direkt den Hilbergs wider.......... Niemand wird es einfallen zu sagen, daß Frau Arendt nicht auf ihrem eigenen Wege zu ihrer Schlußfolgerung gekommen ist. .. Aber es bleibt schwierig, sich die Entstehung ihres Buches ohne das seine vorzustellen........" Dem brauchen wir nichts hinzuzufügen.

Zur Frage der „Kooperation"

Da die Frage der „Kooperation" jüdischer Funktionäre zu den heftigsten Auseinandersetzungen geführt hat, wollen wir unsere kritische Analyse mit diesem Problem beginnen und sie vornehmlich im Hinblick auf die Situation der deutschen Juden nach 1933 überprüfen. H. A. ist der Ansicht, daß sich die deutschen Juden 1933 auf den Boden der Realitäten gestellt hätten und in Verhandlungen mit den Nazibehörden eingetreten seien (S. 35). Sie meint, daß es in jenen Jahren einfach eine Erfahrungstatsache war, „daß nur Zionisten Aussichten hatten, mit deutschen Behörden erfolgreich zu verhandeln" (S. 89). Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), dem die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden, soweit sie sich überhaupt für innerjüdische Fragen interessierten, angehörte oder zumindest nahestand, sei allein aufgrund des in seinen Statuten niedergelegten Kampfes gegen den Antisemitismus disqualifiziert gewesen (wobei noch hinzugefügt wird, daß der CV diesem Grundsatz nach 1933 nicht treu geblieben ist). Auch nach 1939 hätten die Vertreter der Zionisten (nach einem nicht näher spezifizierten Bericht) alle führenden Positionen innegehabt (S. 89). Diese Hinweise auf die maßgebliche Rolle führender Zionisten ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch hindurch und sind nicht nur auf Deutschland beschränkt. So traf nach H. A.

die aussichtsreichste Position der zionistischen Vertreter mit der pseudo-zionistischen Haltung Eichmanns zusammen — beide mit dem gleichen Ziel: der eine mit der forcierten Auswanderung, sprich Vertreibung, die anderen mit der Aufgabe, so viele wie möglich vor den drohenden Gefahren nach Palästina zu retten. Um einen Begriff davon zu bekommen, wie unsere Verfasserin mit ihren Unterlagen umgeht, um ihre Thesen zu beweisen, sei auf folgendes Beispiel hingewiesen (S. 68):

„Die . Reichsvertretung der Juden in Deutschland'(eine Dachorganisation aller Gemeinden und Organisationen, die im September 1933 auf Initiative der Berliner Gemeinde gegründet und keineswegs von den Nazis ernannt worden war) vertrat die Meinung, die Nürnberger Gesetze beabsichtigten, . eine Ebene zu schaffen, auf der ein erträgliches Verhältnis zwischen dem deutschen und jüdischen Volk möglich ist', und ein Mitglied der Berliner Gemeinde, ein radikaler Zionist, fügte hinzu: , Man kann unter jedem Gesetz leben. Nicht leben kann man aber in völliger Unkenntnis dessen, was erlaubt ist und was nicht. Auch als Mitglied einer Minderheit innerhalb eines großen Volkes kann man ein nützlicher und geachteter Bürger sein'. (Hans Lamm, Uber die Entwicklung des deutschen Judentums, 1951)."

Dazu ist zu sagen, daß es sich hierbei einmal um die „Reichsvertretung der deutschen Juden" handelt (der Begrilf „deutsch" wurde 1935 verboten und durfte von den jüdischen Organisationen nicht mehr geführt werden deren Gründung am 17. September 1933 nach langen zwischen den jüdischen Organisationen und Gemeinden geführten Verhandlungen öffentlich beschlossen wurde, allerdings nicht auf Initiative der Berliner Gemeinde.Jeder, der die Vorgänge auf Grund des vorliegenden Materials kennt, weiß, daß die Gründung der Reichsvertretung wegen der von den Berliner Gemeinderepräsentanten eingenommenen Haltung nicht gerade einfach verlief. Angemerkt sei ferner, daß das Verhältnis zwischen dieser Gemeinde und der Reichsvertretung auch nach ihrer Gründung von Auseinandersetzungen nicht frei war.

Das dann bei H. A. folgende Zitat stammt aus der von der Reichsvertretung anläßlich des Erlasses der Nürnberger Gesetze herausgegebenen Erklärung, wobei die wesentlichen Sätze allerdings weggelassen wurden. In ihr entwickelte die Reichsvertretung als Antwort auf die Nürnberger Gesetze ihr Arbeitsprogramm für die Bewältigung der auf die jüdische Gemeinschaft zukommenden Schwierigkeiten. Die einleitenden Sätze dieser Erklärung seien hier vollständig zum Vergleich wiedergegeben: „Die vom Reichstag in Nürnberg beschlossenen Gesetze haben die Juden in Deutschland aufs schwerste betroffen. Sie sollen aber eine Ebene schaffen, auf der ein erträgliches Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volke möglich ist. Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland ist willens, hierzu mit ihrer ganzen Kraft beizutragen. Voraussetzung für ein erträgliches Verhältnis ist die Hoffnung, daß den Juden und jüdischen Gemeinden in Deutschland durch Beendigung ihrer Diffamierung und Boykottierung die morali-sehe und wirtschaftliche Existenzmöglichkeit gelassen wird."

Die Hinzufügung des „radikalen Zionisten" mit der wohl die Anpassungsfähigkeit dieser Gruppe bewiesen werden soll, ist einer Umfrage entnommen, die vom Israelitischen Familienblatt am 24. Mai 1933 veröffentlicht worden war und von anderen jüdischen Blättern nachgedruckt wurde, allerdings im Juni 1933 und nicht als Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen. So enthält die herangezogene Arbeit von Hans Lamm („über die innere und äußere Entwicklung des deutschen Judentums im Dritten Reich") auch die zitierten Sätze, jedoch an verschiedenen Stellen und im richtigen Zusammenhang (S. 106 bzw. 147).

Es mag eingewendet werden, daß diese Art des „Auseinandernehmens“ unfair ist, aber einmal stutzig geworden, wird man hellhörig. Trevor-Roper hat völlig recht, wenn er schreibt: „Immerhin müssen einige tatsächliche Irrtümer eine richtige These nicht unbedingt beeinträchtigen. Wesentlich bedeutsamer, wenn auch schwerer nachzuweisen, ist eine schiefe Darstellung." Leider muß gesagt werden, daß diese „Schiefheit“ der Darstellung ein kennzeichnendes Merkmal des ganzen Buches in einem Ausmaß ist, daß man sich diesem etwas ausführlicher widmen muß.

Sieht man sich die Zusammensetzung der Reichsvertretung einmal näher an, so kann gar keine Rede davon sein, daß die Zionisten in ihr über die Mehrheit verfügten. In der Leitung der Reichsvertretung hatten sie nur ein Drittel der Sitze inne. Leo Baeck als Präsident — der von H. A. in allen Ausgaben ihres Berichtes konstant als „Oberrabbiner" bezeichnet wird, er hat diesen Titel nie besessen — und Otto Hirsch, der 1941 in Mauthausen ermordet wurde, als geschäftsführender Vorsitzender des Präsidialausschusses standen zwar dem Palästinaaufbau durchaus positiv gegenüber, waren aber Mitglieder des Centralvereins. Die personelle Auswahl dieser führenden Mitglieder war gerade unter dem Aspekt vorgenommen worden, Persönlichkeiten zu finden, die allen Beteiligten tragbar erscheinen konnten. Das galt insbesondere für Leo Baeck, der ohne-hin richtungsmäßig kaum einzuordnen war’). Daß die deutschen Zionisten in späteren Jahren darauf drängten, in den verschiedenen Organisationen stärker berücksichtigt zu werden und sie trotz ihrer Bemühungen keineswegs immer den gewünschten Erfolg erzielten, kann man allein schon den Veröffentlichungen in der jüdischen Presse der damaligen Zeit entnehmen.

Die Arbeit der Hilfsorganisationen, deren Tätigkeit hier näher zu untersuchen nicht möglich ist, stand ohnehin unter einem ständigen, durch die Auswanderung vieler Persönlichkeiten bedingten Personenwechsel. Schließlich ging es mit fortschreitender Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft einfach darum, zu retten, was zu retten war. Wenn bis zum Auswanderungsverbot im Oktober 1941 von den ursprünglich über 500 000 deutschen Juden nahezu 315 000 bis 320 000 das rettende Ausland erreichen konnten (wobei ihre Sicherheit nicht überall die gleiche war, wie aus dem Schicksal der in den westlichen Nachbarländern verbliebenen Menschen hervorgeht, die später vom deutschen Einmarsch überrascht wurden), so war das nicht zum geringsten Teil der Arbeit der an der Auswanderung beteiligten Organisationen zu verdanken.

Daß dabei dem Palästina-Amt eine besonders wichtige Rolle zufiel, liegt auf der Hand. Während der Hilfsverein der deutschen Juden die Voraussetzungen in aller Welt zu schaffen suchte, die für eine sinnvolle Auswanderung notwendig waren, was sich angesichts der zum größten Teil nicht sehr aufnahmefreudigen Haltung des Auslands als besonders schwierig erwies, konnte das Palästina-Amt sich ganz auf das Ziel Palästina konzentrieren. Trotz der aus der damaligen Situation resultierenden Probleme, die sich durch den Ausbruch der Unruhen Mitte der dreißiger Jahre noch wesentlich erschwerten (von den Fragen der Zertifikatszuteilung einmal ganz abgesehen) und den Auswanderungsstrom in dieses Land auf die Hälfte des ursprünglichen Umfanges reduzierten, konnte man doch hier von dem einzigen Land sprechen, in dem von der dortigen jüdischen Bevölkerung die größten Anstrengungen unternommen wurden, den Weg für die Flüchtlinge mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu ebnen. Nur so kann man z. B. das 1933 abgeschlossene Transferabkommen („HaavaraAbkommen“) richtig verstehen Aus den einzelnen Bedingungen dieses Abkommens, das ja keineswegs unbestritten blieb, unterschwellige Vorwürfe abzuleiten, ist genauso abwegig wie Rückschlüsse aus dem Abkommen selbst auf die „legitime Zusammenarbeit" der zionistischen Vertreter mit den Nazibehörden zu ziehen. Es war eine Chance, Menschen die erzwungene Auswanderung zu erleichtern, die, wenn sie sich woanders geboten hätte, von den Nichtzionisten in gleicher Weise ergriffen worden wäre.

Geradezu grotesk wird die Arendtsche Beweisführung, wenn sie im Zusammenhang mit bestehenden Kontakten zwischen Vertretern jüdischer Siedlungsgenossenschaften und der Gestapo in Auswanderungsfragen davon spricht, daß es für diejenigen, die hierbei für die Emigration nicht ausgewählt wurden, unausweichlich zwei Feinde gab: die Nazibehörden und die jüdischen Behörden (S. 91). Daß der in Deutschland verbleibende Teil der jüdischen Bevölkerung hoffnungslos überaltert war, lag u. a. nicht daran, daß Zionisten und Eichmann eine gemeinsame Sprache gefunden hatten und deshalb in erster Linie junge Menschen den Weg der Emigration gingen. Alter und Beruf spielten bei der Auswanderung nach allen Ländern sehr oft eine ausschlaggebende Rolle. Wie würde man heute im übrigen urteilen, wenn die Chance, daß die Auswanderungspolitik des Nazistaates zeitweise aus außenpolitischen Gründen ein Interesse daran hatte, daß deutsche Juden gerade nach Palästina gingen, nicht genützt worden wäre? Außerdem: woher soll auch der unbefangene Leser wissen, daß es sich bei diesen von H. A. so herausgestellten Kontakten um eines der erregendsten Kapitel der illegalen Einwanderung nach Palästina handelt, das man besser in dem angeführten Buch von Jon und David Kimche nachliest. (Deutsch: Des Zornes und des Herzens wegen, Berlin 1956. Wir können den Gang der Auswanderungsfragen nicht im einzelnen behandeln. Es muß aber gesagt werden, daß bei H. A. diese Fragen zum Zwecke ihrer Beweisführung in einen Zusammenhang gestellt werden, der der Wirklichkeit von damals nicht entspricht.

Hier ist allerdings auch eine methodologische Frage am Platze. H. A. wird ohne weiteres für ihre Behauptungen diesen oder jenen Zeugen anführen können, der ihre Angaben bestätigt. Nur muß man Einzelangaben mit anderen vorhandenen Unterlagen vergleichen und kann erst aus dem gesamten vorliegenden Material, nach immer erneuter Prüfung, Schlußfolgerungen ziehen. Mit isoliert betrachteten Zeugenaussagen wird man der Situation niemals gerecht werden können, und es entstehen lediglich Zerrbilder. Dies um so mehr, wenn es sich um Vorgänge handelt, die bei den Betroffenen noch heute aus völlig verständlichen Gründen Emotionen hervorrufen.

Die Reichsvereinigung schließlich als zionistisch beherrscht darzustellen ist ebenso schief. Abgesehen davon, daß die Leitung dieser durch die 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz am 4. Juli 1939 ins Leben gerufenen Zwangsorganisation, der alle Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze angehören mußten, gleichfalls in den Händen von Baei und Hirsch lag, die es beide abgelehnt hatten zu emigrieren, weil sie ihre Mitmenschen in der Stunde der Gefahr nicht verlassen wollten, war die Zusammensetzung der verschiedenen Ressorts gar nicht mehr von der Frage der jeweiligen Richtungszugehörigkeit abhängig. Ohnehin war die Reichsvereinigung in ihren Handlungen völlig von der Gestapo abhängig, der sie direkt unterstellt war. Die autonomen jüdischen Organisationen waren verboten, das Ghetto ohne Mauer war perfekt.

Schon die Reichsvertretung hatte zu keiner Zeit die Chance gehabt, als legitime Sprecherin der deutschen Juden von der nationalsozialistischen Regierung als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden. Sie war in ihrer Tätigkeit (Auswanderungsvorbereitung, Berufsumschichtung, Schul-und Bildungswesen, Wirtschaftshilfe und Wohlfahrtspflege) gänzlich auf innerjüdische Angelegenheiten beschränkt. Natürlich gab es auch Kontakte mit den staatlichen Behörden, vornehmlich in Auswanderungsfragen, die lebensnotwendig waren, wenn die Auswanderung vorangetrieben werden sollte. Im ganzen gesehen ging es doch um das Problem, den in einer feindlichen Umwelt lebenden Menschen inneren Halt zu geben, dafür zu sorgen, daß die brennenden Existenzprobleme eine den Umständen entsprechende Lösung fanden. Hatte man anfänglich noch die Hoffnung gehabt, einen modus vivendi finden zu können, so waren die Jahre vor dem Krieg vom unaufhaltsamen Auflösungsprozeß der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und von der Notwendigkeit der Auswanderung völlig erfüllt. Auch hier empfiehlt es sich, einen Blick in die jüdische Presse jener Tage zu werfen, um zu sehen, wie dieser Auflösungsprozeß die Situation in zunehmendem Maße beherrschte. Diese ganze Tätigkeit letzthin als Voraussetzung und Erleichterung für die Arbeit — oder allein die Möglichkeit der Arbeit — der Reichsvereinigung während des Krieges hinzustellen (S. 35) ist eine spitzfindige Logik.

Und nun zur Kriegssituation. Es ist bekannt, daß die Gestapo die Reichsvereinigung zwang, bei den technischen Vorbereitungen der Deportation Hilfsdienst zu leisten. Daß sich einzelne ihrer Vertreter dadurch den Haß der anderen Verfolgten zuzogen, ist völlig verständlich. Aber ebenso offenkundig ist, daß es, den Gesetzen des totalitären Staates zufolge, kaum einen Ausweg für diejenigen gab, die in diese furchtbare Situation gerieten. Genausowenig wie man den deutschen Juden insgesamt einen Vorwurf daraus machen kann, daß sie 1933 das Kommende nicht bis zur letzten Konsequenz übersahen — diese „Schuld" teilten sie bekanntlich mit ziemlich vielen Menschen innerhalb und außerhalb Deutschlands —, kann man die in der äußersten Grenzsituation menschlicher Bewährungsprobe stehenden Menschen pauschal verurteilen. Man kann die daraus sich ergebenden Probleme darstellen, analysieren — aber wer will hier Richter sein? Auch diejenigen, die wie Kurt Blumenfeld oder gerade Leo Baeck (der 1933 die prophetischen Worte sprach: „Die tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums ist zu Ende") den Gang der Dinge ahnten, hatten trotzdem keine Vorstellung davon, wie entsetzlich das Ende sein sollte. Der Verlauf der Verfolgung übersteigt noch heute die Vorstellungskraft jedes normalen Menschen, nur wissen wir jetzt, zu welcher Perversität Menschen auch in unserer Zeit bereit und fähig sind. Der Vorschlag Ghandis 1938, die deutschen Juden sollten aus Protest Selbstmord begehen, war auch in der Kriegs-situation der Realität des totalitären Staates nicht angemessen.

Es kommt ferner hinzu, daß die Darstellung bei H. A., einem Klischee folgend, den Tatsachen nicht entspricht. Sie schreibt z. B., daß die endgültige Festnahme der Juden in Berlin ausschließlich in den Händen jüdischer Polizei gelegen hätte. Diese Behauptung ist vermutlich im Ansatz dem Buch von Hilberg entnommen, der auf Seite 297 schreibt: " In Germany the Gestapo was after all in hörne territory. Tens of thousands of Gestapo men were available for the operations ... Only in the big cities, like Berlin and Vienna, were the Gestapo forces stretched thin. Accordingly, the Zentralstellen started to make use of Ordner, or Jewish police, which helped in the seizures and in the guarding of Jews at the collecting points (Sammelstellen)." Belege gibt Hilberg an dieser Stelle nicht an.

Wie verhielt es sich wirklich? In Berlin hat es zu keinem Zeitpunkt eine jüdische Polizei oder gar jüdische Polizeitruppen gegeben. Allerdings gab es die Tätigkeit der jüdischen „Ordner", wie bei Hilberg an sich richtig angedeutet wird. Von der Gestapo gezwungen, mußte die Jüdische Gemeinde Ordner stellen, die anfänglich teilweise allein, in der Mehrzahl der Fälle jedoch als Begleiter der Kriminalpolizeibeamten als „Abholer“ tätig waren. Manche haben das abgelehnt und wurden dafür sofort „auf Transport geschickt", andere „tauchten unter" und versuchten, illegal lebend, dem Verhängnis zu entgehen. (Generalisierend heißt es hinsichtlich der Illegalen bei H. A.: „Die wenigen, die sich zu verbergen oder zu entfliehen versuchten, wurden von besonderen jüdischen Polizeitruppen ausfindig gemacht“ [S. 151].) Natürlich hat es auch jüdische Spitzel gegeben, für die stellvertretend der Name Stella Kübler hier genannt sei — aber jüdische Polizeitruppen in Berlin? Selbst den zuständigen Behörden gingen die Deportationen nicht schnell genug, und so wurde im Winter 1942 Wiener SS nach Berlin geholt, die anstelle der Berliner Gestapo mit brutalsten Mitteln die Deportation ohne Abholer vorantrieb.

Diese komplexe Situation, zu deren Erfassung Genauigkeit und vor allen Dingen Einfühlungsvermögen am Platze ist, mit den Gegebenheiten in anderen europäischen Ländern auf einen Nenner unter dem Begriff „Jüdische Polizei" (die es in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten ja teilweise auch gab) zu bringen, ist einfach verfehlt. Schon gar nicht kann man die Berliner oder die Situation in Deutschland überhaupt mit der in den polnischen Ghettos vergleichen. Da werden bei H. A. für Polen vielleicht zutreffende Bemerkungen mit den in Deutschland herrschenden Bedingungen vermischt, holländische Gegebenheiten mit denen in den Balkan-ländern in einen Topf geworfen. Ohne aus der gebotenen Zurückhaltung heraustreten zu wollen, muß doch gesagt werden, daß hier Fakten, Halbwahrheiten und nicht Existentes vermengt werden, nur um die Generalthese in aller Schärfe beweisen zu können. Das ist jedoch nicht nur in einer „historischen Monographie" unzulässig.

Nun steht der gesamte Fragenkomplex der „Judenräte", wie sie generell genannt werden, seit geraumer Zeit zur Diskussion. Auch Hilbergs Darstellung dieser Institutionen wurde herber Kritik unterzogen. Man warf ihm vor, sich einseitig auf nationalsozialistische Dokumente gestützt und die Darstellungen derjenigen, die die Zeit selbst erleiden mußten, zumeist in hebräischer oder polnischer Sprache geschrieben, nicht berücksichtigt zu haben. (Sicherlich spielt auch dabei der frühe Abschluß seiner Materialsammlung eine nicht unwesentliche Rolle.) Einen methodischen Ansatz zur Behandlung der mit den Judenräten verbundenen Probleme hat bereits 1957 Philip Friedman zu geben versucht.

In einem in den Yad Washem Studies (Bd. II, 1958, S. 95 ff.) veröffentlichten Vortrag zählt er eine Reihe von Fragen auf, die es zu beantworten gelte, wenn man die Rolle der Juden-räte in ihrer Bedeutung erfassen wolle. So unvollständig die bisherigen Untersuchungen darüber auch sein mögen, es steht fest, daß die Judenräte unterschiedlich in der Zusammensetzung, im Aufbau und in den Kompetenzen waren und von den nationalsozialistischen Behörden nach opportunistischen Gesichtspunkten eingesetzt wurden. In einer anderen Betrachtung zum gleichen Thema bemerkt Friedman zur Rolle der Judenräte, vornehmlich in Polen: " The Judenrats presented a serious ethical and social probiern. The Jewish masses hated them and bestowed upon them many derogatory nicknames to express their feelings. Within the Ghetto there were heated debates concerning the relative Utility of these councils. It is necessary to point out that discussions of the value of these councils are frequently marked by an oversimplified approach, whereas the probiern is in fact very complicated. Persons of radically different caliber served on these councils for equally differing reasons. Some served voluntarily, others did so under German compulsion. Some of the Judenrats were composed of reprensentatives of Jewish political parties. Others were dominated by cliques or by individual 'strong men'. In some instances the Germans dissolved Judenrats because they were too democratic and substituted Commissars of their own choice. Some Judenrats were passive Instruments in German hands; others maneuvered and tried to rescue as many as they could. There were even some Judenrats which cooperated with the resistance movement and with the Partisans. In any case, it is impossible to define the entire Institution of Judenrats as all black or all white. ”

Welche Subtilität bei der Analyse dieser Institutionen geboten ist, kann man der instruktiven Studie von H. G. Adler entnehmen, der am Beispiel Theresienstadt die jüdische Lagerleitung mit äußerster Gründlichkeit untersucht hat. Seine Darstellung, die nichts beschönigt, sondern die das Wirken einzelner Personen, nicht zuletzt aus eigenen Erfahrungen in nationalsozialistischen Konzentrationsund Vernichtungslagern, eingehend beleuchtet, hebt sich in ihrer wissenschaftlichen und auch ethischen Beweisführung weit von den Generalisierungen ab, wie sie bei H. A. vorhanden sind.

H. A. spricht mit vollem Recht von der „Totalität des moralischen Zusammenbruchs", den die Nazis (noch konsequenter: der totalitäre Staat) in fast allen von Deutschland beherrschten Ländern verursacht haben (S. 162). Wenn diese richtige Feststellung schon gemacht wird, dann muß man sie allerdings auch auf alle Situationen, für die dies zutraf, in Rechnung stellen. Louis de Jong schreibt in seinem von H. A. zitierten Aufsatz (" Jews and nonJews in Nazi-Occupied Holland”) in Verbindung mit der Rolle, die der Joodsche Raad in Amsterdam bei der Deportation der holländischen Juden gespielt hat: " The Joodsche Raad and the administrative bodies functioning like small wheels in the complicated machinery — built into normal Society — which week after week carried thousands of Jews to the gas chambers by the deportation train from Westerbork to Poland. There was hardly a branch of the Dutch administration which was not implicated in the tragedy in one way or another. Dutch police-agents, very few of them Nazis, fetched the Jews from their homes. The Amsterdam municipal trams carried them to the Station from the Jewish Theatre where they were first assembled. At the Station the train for Westerbork stood ready; it was a train of the Dutch State Railways, served by Dutch personel. Neither among Jews nor among the non-Jews was there a systematic refusal to co-operate in the deportations. It was not realized how deadly necessary it was to organize this refusal. ” H. A. spricht zwar ebenso davon, daß der Joodsche Raad wie alle anderen holländischen Behörden zu einem „Werkzeug der Nazis" wurde (S. 162), aber berücksichtigt sie dies auch in ihrem Urteil über die Judenräte? Warum sollten die Juden besser als die übrigen Menschen die Situation erfassen können — nur weil sie die unmittelbar Betroffenen waren?

Um zu demonstrieren, wieweit man sich auf diesem Weg bereits in die Sphäre der Spekulationen begeben kann, sei noch folgende Überlegung angestellt. Zitieren wir nochmals den hierfür entscheidenden Satz: „Wäre das jüdische Volk wirklich unorganisiert und führerlos gewesen, so hätte die , Endlösung'ein furchtbares Chaos und ein unerhörtes Elend bedeutet, aber angesichts des komplizierten bürokratischen Apparates, der für das , Aus-kämmen'von Westen nach Osten notwendig war, wäre das Resultat nur in den östlichen Gebieten, die ohnehin der Kompetenz der . Endloser'nicht unterstanden, gleich schrecklich gewesen, und die Gesamtzahl der Opfer hätte schwerlich die Zahl von viereinhalb bis sechs Millionen Menschen erreicht." (S. 162)

Wir wollen hier nicht zur Frage Stellung nehmen, ob die östlichen Gebiete außerhalb der „Endlösung" ohnehin dem Massenmorden „freigegeben" waren. Folgt man jedoch der Logik von H. A., so schieden nach der bei Hilberg angegebenen Todesbilanz 4 170 000, d. h. über 81 % der Ermordeten aus der Arendtschen Feststellung aus (Sowjetunion und baltische Länder, Polen sowie Rumänien, das ohnehin seine eigene „Endlösung" praktizierte). So makaber ein derartiges Rechen-exempel überhaupt ist, so kann es sich bei der Frage der Verantwortung der Judenräte nach der Arendtschen Spekulation nur um die Verfolgten in den übrigen Ländern handeln. (Seltsam genug, da gerade die Bedeutung der Judenräte in Polen für die Arendtsche Beweisführung außerordentlich groß ist.) Daß sie selbst bei dieser Spekulation recht ungenau vorgeht, zeigt der Satz über die „Kooperation der Judenräte" von Polen bis Holland (S. 162).

Und noch ein weiteres. Wer die Wirklichkeit des Nazistaates erfahren hat, glaubt nicht daran, daß es ohne „jüdische Polizei", oder was man auch darunter verstehen mag, den Verfolgern nicht gelungen wäre, die Deportation durchzuführen. Allein für Deutschland muß leider wahrheitsgemäß gesagt werden, daß die Nazis auch hierzu in der Lage gewesen wären, die notwendigen Menschen einzusetzen. Was schließlich den bürokratischen Apparat anbelangt, der zum überwiegenden Teil von Nichtjuden betrieben wurde (die bürokratische quasi-gesetzliche Perfektion in der Erfassung der Vermögen usw. erreichte ohnehin ihren Höhepunkt in Deutschland), so wäre die Auswertung der Karteien der Reichs-vereinigung bzw.der Gemeinden, die mit zur Grundlage der Zusammenstellung der Deportationslisten dienten, zwar etwas schwieriger gewesen, am Ergebnis hätte sich jedoch nichts geändert. Die Mörder hätten mit oder ohne Reichsvereinigung ihre grausame Tätigkeit ausgeübt, nur erregte es auf diese Weise weniger Aufsehen.

Hinsichtlich der übrigen Länder in West-, Süd-und Südosteuropa blieben, ganz der Arendtsehen Feststellung zufolge, vor allem Holland und Ungarn übrig, wo angesichts der immensen Höhe der Ermordeten die entscheidende Frage zu stellen wäre, ob hier die Existenz jüdischer Funktionäre den Nazis so dienlich war, daß die Höhe der Opfer davon wesentlich beeinflußt werden konnte.

Aber es sei nochmals gesagt: aus dem Bereich der Spekulationen erhebt sich diese Frage erst dann, wenn die Situation der Judenräte im einzelnen untersucht worden ist und offen zutage liegt. Allein aus der Tatsache ihrer Existenz und ihrer Tätigkeit eine Schlußfolgerung zu ziehen, wie es bei H. A. ohne Berücksichtigung der Gegebenheiten der Fall ist, ist nicht möglich.

Eichmann und die nationalsozialistische Judenpolitik „Selbst heute, nahezu 20 Jahre nach dem Kriege, kennen wir aus dem ungeheuren Aktenmaterial des Naziregimes kaum mehr, als was zu Zwecken der Strafverfolgung aussortiert und veröffentlicht worden ist.“ (S. 216) Diesen Satz von H. A., der für die breite Öffentlichkeit vielleicht Gültigkeit besitzt, nicht aber für die Spezialforschung, gilt es zu berücksichtigen, wenn wir uns nun der Charakteristik zuwenden, die die nationalsozialistische Judenpolitik und insbesondere die Person Eichmanns durch die Vers, erfahren. Es genügt ja nicht, wenn man zuerst und ausschließlich über die Grundthese von der „Banalität des Bösen" diskutiert und die dem zugrundeliegenden Materialien nicht mit in die Betrachtung einbezieht. So ist es für den Stand der bisherigen Diskussion überaus kennzeichnend, daß eine Auseinandersetzung mit der bei H. A. gegebenen Schilderung der Stadien der Judenverfolgung anhand der Person des Jerusalemer Angeklagten, soweit wir sehen können, nicht erfolgt ist. Statt dessen findet sich sehr häufig die entstellende Behauptung, die Vers, beabsichtige mit ihren Ausführungen, die Rolle Eichmanns zu verkleinern, u. ä. Feststellungen, die einfach phantastisch sind Wir sind anscheinend noch sehr weit davon entfernt, nüchtern der Klärung dieser furchtbaren Ereignisse nachgehen zu können, auch wenn es große Überwindungskraft kostet Was zu begreifen notwendig ist, hat H. G. Adler in einer Betrachtung über die Konzentrationslager bereits 1960 treffend beschrieben: „Die Emphase des Abscheus, die die Beschäftigung mit dieser Einrichtung des Dritten Reiches auslöst, ist berechtigt, aber sie darf nicht von einer vorurteilslosen, nüchternen Betrachtung abhalten, denn hier haben sich in einer extremen und verzerrten Ausprägung menschliche Möglichkeiten verwirklicht, die vor 1933 für die moderne Welt als unvorstellbar galten, die aber in den Untiefen der menschlichen Natur schlummern und darum, wenn je ähnliche Bedingungen wiederkehren würden — und das darf nicht als schlechthin ausgeschlossen gelten —, abermals Gestalt gewinnen können. Die Dinge zu sehen, wie sie sind, gerade auch die Abgründe, scheint darum kein müßiges Beginnen, sondern nötig, denn nur die Kenntnis des Unheimlichen ver-mag gegen die Gefahr seines erneuten Hervortretens zu wappnen.“ t Ganz vorsichtige Rezensenten warnten davor, das Buch von H. A. in Deutschland erscheinen zu lassen, da die „Unbelehrbaren" aus dieser Veröffentlichung neue Nahrung für ihre revisionistischen Ansichten erhalten könnten. Wir teilen diese Meinung nicht, weil diese Unverbesserlichen ja wohl auch über englische Sprachkenntnisse verfügen, ganz abgesehen davon, daß es mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit in diesen Fragen schon hoffnungslos sein müßte, wenn allein aus diesem Grunde die Diskussion in Deutschland nicht stattfinden könnte.

Die Rolle Eichmanns in der „Endlösung" schildern zu wollen, bedeutet gleichzeitig, seine Stellung im Reichssicherheitshauptamt zu klären, die Bedeutung dieses Amtes in der SS-Hierarchie herauszuarbeiten und darüber hinaus die Entwicklung des Verfolgungsapparates überhaupt näher zu analysieren. Wenn wir für die Geschichte der Reichsvertretung bereits feststellten, daß sie noch nicht geschrieben worden sei, so gilt das in gleichem Maße für die Entwicklung der Gestapo, des Sicherheitsdienstes und der verschiedenen an der „Endlösung" beteiligten Ämter. Da die Anklage in Jerusalem von der übermächtigen Rolle Eichmanns in der „Endlösung" ausging, ihn als Schlüsselfigur des ganzen Vorganges hinzustellen versuchte, dieser Eindruck zwar vom erstinstanzlichen Urteil revidiert, im Revisionsurteil jedoch unvermindert wieder in Erscheinung trat, konnte die verwickelte Maschinerie in den Prozeßunterlagen schwerlich klar zutage treten. Auch wenn H. A. sich in diesem Punkt sehr deutlich von dem Versuch der Anklage, im wesentlichen wohl durch den Eindruck des Hilbergschen Buches, distanziert, begibt sie sich, vielleicht unbewußt, auf ein Gebiet, das in der Literatur bisher ungenügend behandelt wurde. Hierbei kann man sich eben nicht auf die vorliegenden gedruckten Unterlagen der Nürnberger Prozesse verlassen, sondern muß das ungedruckte Material einsehen und unabhängig davon die inzwischen zutage getretenen Materialien der Gestapo und des SD kennen.

So ist die Gefahr, faktisch falsch zu berichten, sehr groß, und H. A. ist ihr — selbst dann, wenn es in ihrem Falle nur um die Auswertung des Vorhandenen geht — sehr oft erlegen. Hinzu kommt, daß Dokumente will-kürlich interpretiert, verschiedenartige Sachverhalte vermengt oder Vorgänge einfach weggelassen werden, die an der betreffenden Stelle zur Klärung unabdingbar sind. Auch wenn wir der Meinung sind, daß die Aussagen Eichmanns der Wahrheit sehr oft mehr entsprechen als gemeinhin von den Kritikern des Arendtschen Buches angenommen wird, muß man seine Aussagen doch stets mit den anderen vorhandenen Unterlagen vergleichen. Gleichgültig wie man sein Erinnerungsvermögen einschätzt, so sind manche Dinge von ihm zweifellos im Lichte der späteren Ereignisse interpretiert worden, was nicht gerade immer zu seinen Gunsten ausfiel.

Hinsichtlich der Quellenfrage lag die Bedeutung des Eichmann-Prozesses nicht darin, daß er „neue" Dokumente an das Tageslicht brachte. Viel ausschlaggebender war, daß für diesen Prozeß weitverstreutes Material zu einem Thema zusammengetragen und dadurch der Zugang zu manchen in der Literatur bereits ausgewerteten Unterlagen erleichtert wurde. Das gilt z. B. für den sogenannten „Löwenherz-Bericht", den H. G. Adler in seiner Untersuchung über Theresienstadt schon verwenden konnte (es handelt sich also keineswegs um „eines der wenigen neuen Dokumente, die dieser Prozeß ans Tageslicht brachte"; H. A. S. 93). Auch sind die von der Vers, so geheimnisvoll beschriebenen „Memoiren" Eichmanns, die im Prozeß vorgelegt wurden (Staatsanwaltsnummer 1492), nicht unzugänglich; in den einschlägigen Archiven kann man sie einsehen.

Ferner hatte dieser Prozeß für die Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrecher keineswegs irgendwelche Bedeutung. Die Dokumente lagen vor, und die Untersuchungen liefen bereits vor dem Eichmannprozeß. Es entspricht einfach nicht den Realitäten, wenn H. A. schreibt: „...der Prozeß hat tatsächlich dazu gedient, andere Nazis und Verbrecher aus ihren Schlupfwinkeln zu holen" (S. 37). Damit keine Mißverständnisse entstehen, möchte der Verfasser ausdrücklich darauf hinweisen, daß er die Frage der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen und die z. T. von deutschen Gerichten dazu eingenommene Haltung keineswegs als ein Ruhmes-blatt deutscher Geschichte ansieht. Auch wenn immer wieder erklärt wird, daß die Verfolgung derartiger Straftaten infolge mangelnder Unterlagen und Zeugen erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre erfolgreich begonnen werden konnte, so enthielten doch die Protokolle der Nürnberger Prozesse, vor-nehmlich der sogenannten Nebenprozesse, so viel Material, daß zumindest vorbereitende Arbeiten daran die spätere tatsächliche Strafverfolgung wesentlich erleichtert hätten Nur so, wie H. A. diese Vorgänge darstellt, stimmen sie nicht. Weder der Wolff-Prozeß noch das Verfahren gegen Otto Hunsche und Hermann Krumey oder der Auschwitz-Prozeß, um einige wenige zu nennen, sind durch den Eichmann-Prozeß ausgelöst worden. Wer sich über die Verfolgung der Mörder uni über die Gerichtsurteile ein Bild machen möchte, sollte lieber die sehr nüchterne und gründliche Darstellung von Reinhard Henkys benutzen, wo mit schonungsloser Offenheit diese Fragen behandelt werden. Auch die Bemerkung, daß »von den 11 500 Richtern in der Bundesrepublik 5000 an den Gerichten unter dem Hitler-Regime tätig gewesen sind" (S. 41), besagt in dieser Form gar nichts. So reagiert man zwar ein allgemeines Unbehagen ab, fördert aber keineswegs die Ausschaltung von Personen, die sich Verbrechen schuldig gemacht haben. H. A. beginnt ihre Schilderung der eigentlichen Laufbahn Eichmanns im Sicherheitsdienst mit folgenden Sätzen: „Im Jahre 1934, als sich Eichmann erfolgreich um eine Stelle bewarb, war der SD noch eine relativ neue Abteilung der SS, die Himmler zwei Jahre zuvor als Nachrichtendienst der Partei gegründet und der Leitung von Reinhard Heydrich unterstellt hatte — einem ehemaligen Offizier in der Spionageabwehr der Kriegsmarine, der später, nach den Worten Gerald Reitlingers, zum . eigentlichen Dirigenten der Endlösung'wurde. Ursprünglich hatte der Sicherheitsdienst Parteimitglieder zu überwachen und sollte auf diese Weise der SS eine beherrschende Stellung in dem regulären Parteiapparat sichern. Mittlerweile waren einige zusätzliche Aufgaben hinzugekommen, vor allem diente der SD der Geheimen Staatspolizei als Nachrichten-und Forschungsabteilung. Damit waren die ersten Schritte getan, die zu einer Verschmelzung von SS und Polizei führen sollten, die jedoch erst im September 1939 vollzogen wurde, obwohl Himmler die Doppelstellung von Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei schon seit 1936 innehatte." (S. 64)

Der 1931 gegründete Sicherheitsdienst (SD) mag zwar 1934 noch „relativ neu“ gewesen sein, in seiner Bedeutung jedoch war er bereits mancher anderen Parteiformation bei weitem überlegen. So viele Krisen der Sicher-heitsdienst in seiner Aufgabenstellung auch im Verlauf seiner Geschichte durchgemacht hat, für Himmler und Heydrich stellte er gerade 1934 ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele dar, die mit „Parteiüberwachung“

oder „Nachrichten-und Forschungsabteilung"

reichlich euphemistisch umschrieben sind.

Wie man in bayerischen Polizeiakten nachlesen kann, war die Münchener Polizei bereits vor der Machtergreifung über diese damals neue Institution und ihre schnell wachsende Gefährlichkeit recht gut unterrichtet gewesen, bis es Reinhard Heydrich, dem der Aufbau des Sicherheitsdienstes in der Zeit innerparteilicher Spannungen und Zwistigkeiten übertragen worden war, gelang, die in seinen Reihen befindlichen Informanten der bayerischen Polizei „umzudrehen" — ein Beweis für seine damals schon vorhandenen Fähigkeiten. Aber auch diese hatte er sich erst erwerben müssen, denn Heydrich war zwar Nachrichtenoffizier in der Kriegsmarine (bei Reitlinger wird er allerdings gleich zum Chef des Nachrichtendienstes der Ostseeflotte ernannt; Endlösung S. 15), dürfte aber keineswegs Spezialist in der Spionageabwehr gewesen sein

Welche Bedeutung der SD besessen hatte, kann man daraus erkennen, daß die Eroberung der preußischen Gestapo, vornehmlich des Geheimen Staatspolizeiamtes (Gestapo), durch die SS im wesentlichen mit Hilfe von SD-Angehörigen gelang, die Himmler in weiser Voraussicht in die ursprünglich von Göring beherrschte Geheime Staatspolizei placiert hatte. Ging aus den verschiedendsten Gründen die Machtstellung des SD zeitweise auch zurück, allein in der Überwachung nicht nur der Parteimitglieder sicherte er sich fast ein Monopol bei der Bespitzelung der Bevölkerung. Daß er nicht zum Kern einer neuen nationalsozialistischen Polizei wurde, lag nicht zuletzt an den Fähigkeiten Heinrich Müllers, der die Gestapo mit ihren Exekutiv-vollmachten zum wichtigsten Instrument in der Hand Heydrichs werden ließ. Im inländischen Bereich gelang es aber vor allen Dingen der mit der sogenannten „Judenfrage“ befaßten Abteilung des SD, mit der Entwicklung der Gestapo Schritt zu halten und an Bedeutung zu gewinnen.

Von all diesen Vorgängen hatte der Anfänger Eichmann, wie H. A. richtig bemerkt, 1934 keine Ahnung. Seine Arbeit sowohl zunächst in der Freimaurerabteilung und später in der für Judenfragen zuständigen Gruppe diente der Beschaffung ausreichender Unterlagen und Informationen über die Geschichte und Organisation des deutschen Judentums und später auch über die der Juden anderer Länder. Auch in den sehr frühen SD-Lageberichten ist diese Berichterstattung bereits enthalten, zu einer Zeit also, in der Eichmann dort noch nicht tätig werden konnte. Daß dem Nationalsozialismus der Gedanke des Zionismus nicht so befremdlich erschien, hatte nicht nur später zutage tretende außenpolitische Gründe, sondern lag auch in einer für seine Augen überschaubaren Programmatik des Zionismus. Daß damit ein konkretes Auswanderungsziel verbunden war, konnte der damaligen Nazipolitik nur recht sein. Mit einer „prozionistischen" Einstellung hatte das allerdings nichts zu tun.

Eichmann mußte sich wie alle anderen in seiner Abteilung, nicht etwa im Alleingang, wie es im Jerusalemer Prozeß und auch bei H. A.den Anschein hat, zur Ergänzung seiner täglichen Arbeit einer allgemeinen Fortbildung unterziehen, zu der auch die Lektüre einschlägiger Literatur gehörte. Hier lag die Quelle dafür, daß er im Jerusalemer Prozeß so stolz auf die Bücher von Herzl und Böhm verweisen konnte. Er unterschied sich von den anderen seiner Abteilung nur dadurch, daß er sich mit seiner Wiener Tätigkeit im Rahmen der Arbeit des SD-Sonderkommandos Wien 1938 seine Ausgangsstellung als „Fachmann" in Auswanderungsangelegenheiten schaffen und damit die Grundlage für seine spätere unheilvolle Tätigkeit legen konnte. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.

Eine direkte Fühlungnahme mit jüdischen Persönlichkeiten hat es in der Frühzeit seiner Tätigkeit wohl kaum gegeben. Bis zum Frühjahr 1937 war die SD-Abteilung 11/112, der Eichmann angehörte, in dieser Beziehung auf die Arbeit der Gestapo angewiesen, was man einem Bericht der Abteilung 11/112 vom Dezember 1937 entnehmen kann, der unter der Staatsanwaltsnummer 1185 auch im Jerusalemer Prozeß vorgelegt worden ist. Es heißt darin: „Eine praktische Fühlungnahme mit den Juden in Deutschland war infolge der ungeschickten Taktik der Abteilungsleitung um diese Zeit fast ausgeschlossen. Man hielt sich bei der Gesamtbearbeitung lediglich an die Staatspolizeileitstelle Berlin, die selbst-verständlich über die örtlichen Gegnerformen unterrichtet war. Bei den wenigen Verhandlungen, die auf der Stapostelle geführt wurden, haben die Männer der Abteilung 11/112 keine Gelegenheit gehabt, sich praktisch zu betätigen. Die Verhöre wurden lediglich von den Stapobeamten geführt. Die politische Ausrichtung der in Deutschland ansässigen jüdischen Organisationen nach staatspolizeilichen Gesichtspunkten war unter diesen Umständen natürlich nicht möglich; zudem bestand nicht einmal eine Kontrolle über die Tätigkeit der leitenden jüdischen politischen Funktionäre." Allgemein gesehen begannen also Eichmanns Kontakte mit verantwortlichen jüdischen Menschen zu einem Zeitpunkt, als die so viel zitierte „pro-zionistische" Orientierung der von den Nationalsozialisten betriebenen Auswanderungspolitik bereits im Rückgang war. Bei H. A. lesen wir (S. 69) über den Eichmannschen „Idealismus" hinsichtlich des Zionismus: „Um Verständnis für diese Ansichten der Dinge zu verbreiten, begann er in der SS Vorträge zu halten und sogar Broschüren zu schreiben." Auch dies war keine besondere Leistung Eichmanns, sondern fiel in den Aufgabenbereich der Abteilung 11/112, der sich auch die anderen dieser Abteilung widmen mußten. Man kann sich bei vielen Stellen der Schilderung Hannah Arendts des Eindruckes nicht erwehren, daß sie manche Stellen aus dem Polizeiverhör und den Gerichtsverhandlungen einfach übernimmt, ohne sie einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Liest man das Polizeiverhör genau durch und vergleicht Eichmanns Ausführungen mit dem dokumentarischen Material, so sieht man sehr schnell, daß der Angeklagte, nicht zuletzt auch durch die Bedeutung, die sein Fall hatte, in der eigenen Rückschau an Wichtigkeit zunahm. Zweifellos hat er in seiner Wiener Tätigkeit die größte „Entwicklungsmöglichkeit" seiner ganzen Laufbahn gehabt. Aber vorher und nachher, nur dann einige Stufen höher und mit größeren Kompetenzen und furchtbareren Konsequenzen, war er einer unter anderen gewesen. Seine „Angeberei“, die H. A. treffend heraushebt, färbt bei ihr allerdings ebenfalls die Darstellung, vornehmlich im Hinblick auf die von ihm so betonte „zionistische" Einstellung, die H. A. durchweg ironisch behandelt, doch in gewisser Weise ernst nimmt. Wir können uns sehr gut vorstellen, daß Heinrich Müller, stände er vor einem Gericht, auf seine Weise die Vorzüge und ideellen Motive der nationalsozialistischen „Umerziehung" (d. h. Schutzhaft) schildern könnte, die nur durch höheren Befehl in die unabänderliche Grausamkeit der Wirklichkeit der Konzentrationslager umgewandelt worden wären. Uber Heinrich Müller heißt es bei H. A. im Zusammenhang mit der Gründung der Reichs-zentrale für jüdische Auswanderung 1934 (S. 96): „Zum Leiter des Berliner Büros wurde jedoch nicht Eichmann ernannt, sondern Heinrich Müller, den Heydrich entdeckt hatte und der später Eichmanns hochbewunderter Vorgesetzter wurde. Heydrich hatte Müller gerade aus seiner Stellung als bayerischer Polizeioffizier . . . fort-und zur Gestapo nach Berlin geholt, weil er eine Autorität auf dem Gebiet des sowjetrussischen Polizeisystems war. Auch Müllers Karriere hat damals ihren eigentlichen Anfang genommen, obwohl ihm zunächst ein relativ unbedeutender Posten zugewiesen wurde.“

Aus diesen Sätzen über eine der wichtigsten Personen im SS-Verfolgungsapparat können wir nur entnehmen, daß die Vers, nicht ahnt, wer dieser Mann war: der weithin berüchtigte „Gestapo-Müller". Heinrich Müller war zu diesem Zeitpunkt bereits SS-Standartenführer und leitete das Hauptamt Sicherheitspolizei in Berlin. Mit der Gründung des Reichssicherheitshauptamtes im September 1939 übernahm er die Gesamtleitung der Gestapo, deren Aufbau er seit seinem Weggang aus München (1934) maßgeblich beeinflußt und vorangetrieben hatte. Es war kennzeichnend für die Personalpolitik Heydrichs, daß er 1933 als Chef der Bayerischen Politischen Polizei die fähigen alten Beamten, ungeachtet ihrer früheren politischen Einstellung, mit übernahm und später nach Berlin nachzog. Das traf auch auf Müller zu, der allerdings kein ausgesprochener Gegner der NSDAP gewesen war. Er hatte ihr nur nicht angehört und wurde von der Partei, die ihm nicht freundlich gesonnen war, als „zwischen der Deutschnationalen Volkspartei und der Bayerischen Volkspartei stehend" angesehen. Sicherlich spielten bei dem Entschluß Heydrichs 1933 und 1934, Müller weiter zu verwenden, die ausgezeichneten Kenntnisse eine Rolle, die dieser über das russische Polizei-wesen besaß, wie auch H. A. bemerkt. Der Aufstieg des kleinen Kriminalpolizeibeamten der Bayerischen Politischen Polizei bis zum SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei (1941) bildete den äußeren Rahmen für die Tätigkeit eines der gefährlichsten Männer des Dritten Reiches, dessen Bedeutung die der anderen Amtschefs im Reichssicherheitshauptamt bei weitem überstieg. Was sich hinter seiner Person verbarg, war manchem unbekannt, so auch der Gauleitung München, die ihm Ende 1936 das denkbar schlechteste Zeugnis ausstellte und sich seine Aufnahme in die Partei nicht vorstellen konnte. Diese erfolgte dann 1939, und Müller erhielt sogar, der Bedeutung entsprechend, die man ihm zumaß, den „Blutorden" der Partei.

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, im nun Folgenden auch nur einen annähernden Über-blick darüber zu geben, inwieweit die Schilderung des Ablaufs der Vernichtung bei H. A.

von den tatsächlichen Ereignissen im einzelnen abweicht. Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß es der entscheidende Fehler der Vers, ist, in ihre Analyse des Verhaltens Eichmanns gleichzeitig das ganze Geschehen der damaligen Zeit einzubeziehen. Damit kein Irrtum entsteht: es geht hierbei nicht um eine kleinliche Aufzählung von Fehlern, die jedem passieren können, sondern es handelt sich um eine erschreckende Vielzahl einfach falscher Sachverhalte, die in ihrem Buch vorhanden sind. Vermerkt sei nur die offensichtliche Verwechslung des Inhalts der berüchtigten Pogromkonferenz vom 12. November 1938 (Nürnberger Dokument PS-1816), auf der Heydrich auf die Tätigkeit der Wiener Auswanderungszentrale, allerdings ohne Nennung Eichmanns, „rühmend“ verweisenkonnte, mit dem Inhalt des Briefes von Göring an Heydrich vom 24. Januar 1939, in dem die Anweisung an Heydrich erging, eine Reichszentrale für jüdische Auswanderung zu gründen, ohne daß dabei die Tätigkeit Eichmanns, seine Arbeitsmethoden usw. auch nur erwähnt wurden (vgl. dagegen H. A. S. 96, allerdings ohne genaue Nennung der Quellen) — oder die von der Vers, angestellten Spekulationen über den sogenannten „Madagaskarplan", den sie als „aufgelegten Schwindel“ charakterisiert, als eine Art Gewöhnung der Beteiligten an radikale Gesamtlösungen (S. 108 ff.).

Bei der Mentalität der beteiligten Stellen war eine solche Gewöhnung ohnehin unnötig, da der „Befehl", das „Wohl des Vaterlandes" und ähnliche Formulierungen etwa vörhandene moralische Restbestände einer für überholt angesehenen Zeit von allein beseitigten. (Daß dieses Projekt ernst gemeint war, so utopisch es auch angesichts der Zeitverhältnisse erscheinen mußte — aber was wurde nicht alles an irrsinnigen Plänen damals entwickelt —, kann man der Denkschrift Himmlers über „die Behandlung der fremdländischen Völker im Osten" vom Mai 1940 entnehmen Hier heißt es: „Den Begriff Juden hoffe ich, durch die Möglichkeit einer großen Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder sonst in eine Kolonie völlig auslöschen zu sehen.“ Wenn das Ergebnis solcher Deportationspläne schließlich das gleiche wie die spätere „Endlösung“ gewesen wäre, so war die Ausarbeitung des Madagaskarplanes für die Beteiligten eine Tat-Sache, mit deren Realisierung sie im Sieges-taumel — Sommer 1940 — anscheinend rechneten.

Schließlich sei noch auf die widersprüchlichen Angaben über die Einsatzgruppen verwiesen (S. 140, 256). Einmal setzten sich die Mann-schäften bei H. A. aus Angehörigen der Waf-f 1 en-SS zusammen, einmal aus Kriminellen oder : zum Strafdienst abkommandierten Wehrmachtsangehörigen. Beides ist in dieser Form unzutreffend. Im wesentlichen waren diese Mord-]kommandos aus Einheiten der Sicherheitspoliz. ei (Kriminalpolizei und Geheime Staatspolizei), Angehörigen des SD und anderen SS-Angehörigen zusammengesetzt. Diese Beispiele mögen genügen.

über das Gewissen eines SS-Mannes

Die falsche Schilderung wird entscheidend, wenn die Verfasserin daraus Schlüsse auf das Verhalten Eichmanns zieht. H. A. stellt die wichtige Frage, „wie lange ein durchschnitt-licher Mensch dazu braucht, seinen eingeborenen Abscheu vor Verbrechen zu überwinden und wie er sich im einzelnen verhält, wenn er diesen Punkt erreicht hat" (S. 128). In dieser Fragestellung wollen wir eines der wichtigsten Probleme des Buches sehen, das manche anderen überwiegt. Es geht um das Problem: Hat •Adolf Eichmann als der Mustertyp des Schreibtischmörders ein Gewissen gehabt, das bis zu einem bestimmten Augenblick normal reagierte? Stimmt seine Aussage, daß er sich erst nach der Wannseekonferenz, angesichts der einhelligen Zustimmung der Vertreter der Ministerialbürokratie, die „Endlösung" aktiv zu unterstützen, beruhigt seiner Tätigkeit widmen konnte?

H. A. stellt die Frage nach dem Funktionieren des Gewissens nicht allein an den Angeklagten. Sie richtet sie an Verfolger und Verfolgte, an Mitläufer und an diejenigen, die Widerstand geleistet haben. In diesem Zusammenhang ist das Ganze nur eine Variante zum Thema des Verhaltens der Menschen im totalitären Staat.

Eichmann stand mit seiner Handlungsweise und seinen späteren Erklärungen in Jerusalem nicht allein. Ein Blick in die Memoiren von Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, zeigt, daß auch er sich vom „Pech“ verfolgt sah, unzufrieden seiner barbarischen Aufgabe nachging und letzten Endes wohl auch nicht „verstand", welch tatkräftiger Vollstrecker eines teuflischen Unternehmens er war. Das gleicht den bei H. A. zutreffend wiedergegebenen Aussagen Eichmanns: „Ich weiß nicht, es ist verhext gewesen, mein Leben, was ich auch plante und was ich auch wollte, hat mir das Schicksal irgendwie verwehrt und hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Egal, was es immer gewesen ist." (S. 79)

Es gehörte wohl mit zu den unheimlichsten Eindrücken, vor allem für die deutschen Beo, bachter des Eichmann-Prozesses, daß in Eichmann, in seinem Auftreten, in seinen wahren, 1halbwahren und unwahren Aussagen, in seinen Phrasen vom ersten Moment an, als er den Mund öffnete, die Wirklichkeit des Dritten Reiches wieder lebendig wurde. Da erschien das, was H. A. die „erhabenen Gefühle" nennt, di ie ganze Verlogenheit nationaler Phrasen, der Selbstbetrug aus pervertierter Vaterlandsliebe. Bei aller Kritik, die wir an H. A. üben mi üssen, in dieser Charakterisierung Eichmanns findet sie unsere volle Zustimmung. In seinen Aussagen in Jerusalem demonstrierte er jene „bedingungslose Pflichterfüllung", die keinen Widerspruch duldete (weil es Sünde an der G 1 emeinschaft gewesen wäre, den „Führer" zu kritisieren), und die in der Ausführung jeder Anordnung „um ihrer selbst willen" die höchste Tugend sah. Hier trat der Kern der Wirklichkeit des Dritten Reiches zutage und damit auch das Funktionieren des Vernichtungsapparates. Dies zu verstehen war, angesichts der durch die Geschichte gegangenen Judenverfolgungen und im Hinblick auf die traurige Tradition des Antisemitismus, der Anklage in Jerusalem nicht möglich. Nur unter diesem Blickwinkel ist Eichmanns Aussage, daß er persönlich niemals etwas gegen die Juden gehabt hätte, also kein passionierter Antisemit gewesen sei, zu verstehen. Auch wenn diese Feststellung auf Widerspruch stoßen mag, so ist eine derartige Einstellung typisch für viele, die an den Verbrechen beteiligt waren. Wären sie nämlich alle dem Radauantisemitismus erlegen gewesen, hätte die Judenverfolgung im Dritten Reich vor dem Kriege anders ausgesehen, und der Novemberpogrom 1938 wäre nicht von der Partei allein praktiziert worden.

Was sie alle einte, waren Gehorsam und der Glaube, Mithandelnde an einem einmaligen Geschehen zum „Wohle der Nation" zu sein.

Daß hierbei der Rassenmythos, die pathologische Verhetzung im Stile eines Julius Streicher oder die „vornehmere" Form einer angeblich wissenschaftlichen Rassenlehre eine wichtige Rolle gespielt hat, ist sicher richtig. Ausschlag-34 gebend wäre die Rolle der Propaganda jedoch nur gewesen, wenn sich zum Beispiel die Einsatzgruppen tatsächlich durch und durch aus Menschen zusammengesetzt hätten, die samt und sonders fanatische Antisemiten gewesen waren. Das war jedoch nicht der Fall. Der Polizeilehrgang der Polizeischule Berlin-Charlottenburg zum Beispiel, der im Sommer 1941 nach Rußland ging, um dort an den Massenerschießungen teilzunehmen, bestand zum Teil aus Polizeibeamten, die normalerweise den Verkehr regelten, Diebstähle untersuchten und anderen normalen polizeilichen Aufgaben nachgingen. Antisemiten aus Überzeugung waren wohl die wenigsten unter ihnen.

Will man die Mentalität dieser Leute aufhellen, so wird man die Frage nach den Bedingungen im totalitären Staat nationalsozialistischer Prägung stellen müssen. Mit Hilfe der Gewissensbefragung angesichts der „Tat" kommt man nicht weiter, auch bei Eichmann nicht.

H. A. meint: „ .. . Ja, Eichmann hatte ein Gewissen, sein Gewissen hat ungefähr vier Wochen lang" (zum Beispiel 1941; der Vers.) „so funktioniert, wie man es normalerweise erwarten dürfte; danach kehrte es sich gleichsam um und funktionierte in genau der entgegengesetzten Weise." (S. 130) Zu dieser Auffassung kann man allerdings nur gelangen, wenn man das für bare Münze nimmt, was Eichmann in Jerusalem aussagte. Unglücklicherweise demonstriert die Vers, dieses Funktionieren, wie so häufig, an einem Beispiel, in dem, wenn wir die vorhandenen Quellen und Darstellungen richtig einschätzen, das faktische Geschehen in der geschilderten Weise einfach nicht stimmt.

Eichmann hatte im Prozeß Wert darauf gelegt, glaubhaft zu machen, daß er es bei der Organisierung der ersten Deportationen aus dem Reichsgebiet in der Hand gehabt hätte, die Opfer nicht in den Bereich der Einsatzgruppen nach Rußland, sondern in das Ghetto von Litzmannstadt (Lodz) zu deportieren. Abgesehen davon, daß die bei H. A. wiedergegebenen Umstände falsch sind (zum Beispiel handelte es sich nicht um 000 Menschen aus dem Rheinland, sondern aus dem ganzen Reichsgebiet, die Mitte Oktober davon betroffen waren 20), vermengt sie den Vorgang auch noch mit der Konferenz vom 10. Oktober 1941 in Prag, aut der unter anderem auch der weitere Gang der Transporte besprochen wurde, die dann tatsächlich nach Riga und Minsk gingen, (Die im Eichmann-Prozeß vorgelegte Niederschrift der Konferenzergebnisse findet sich bereits bei Adler ). Daß Eichmann den Zielort nicht bestimmen konnte, wissen wir aus dem Briefwechsel zwischen Himmler und Greiser sowie den übrigen zuständigen Behörden in Lodz, den man im Extrakt bei Hilberg (S. 142 ff.) nachlesen kann. Die von den Lodzer Behörden gemachten Schwierigkeiten, mit denen vor allem Eichmann konfrontiert war, wurden nicht von dem Jerusalemer Angeklagten, sondern von Himmler persönlich aus dem Wege geräumt.

So sehr man annehmen kann, daß Eichmann im Prinzip von der Entscheidung zur „Endlösung" zunächst vielleicht beeindruckt war (sicherlich auch durch die von seinen wenigen Reisen in die Vernichtungslager mitgebrachten Erfahrungen), hatte man ihm jedoch den Befehl erteilt, so führte er die angeordneten Maßnahmen in seinem Kompetenzbereich auch mustergültig aus. Das beste Beispiel dieser Pflicherfüllung lieferte er in Ungarn zu einem Zeitpunkt, als Himmler den Deportationsstopp bereits ausgesprochen hatte. Hier stand Eichmann die Treue zum Führerbefehl allem Anschein nach sogar höher als die zu dem entgegenlautenden Befehl Himmlers. Er hatte zu keinem Zeitpunkt die Möglichkei: und den Willen gehabt, vom „Endziel" abzuweichen. Alles andere ist eine Spekulation.

Nein, das Gewissen Eichmanns, das sich angeblich später überhaupt nicht mehr angesprochen fühlte, hat niemals anders reagiert, als man es von ihm erwartete. Die Wertskala des „SS-Gewissens" hatte keinen Raum für Hemmungen, die aus einer Welt stammten, die der Nationalsozialismus zumindest für die SS als völlig überholt ansah. Die „SS-Moral" kannte kein Mitleid für die „Untermenschen". Die „Gewissensfrage" für Eichmann konnte immer nur heißen: habe ich alles getan, um den Befehlen, die zum „Wohl der Gemeinschaft" angeordnet wurden, Geltung zu verschaffen. Diese „staatlicherseits vorgeschriebene Umwertung der Werte", wie Eichmann es in einem einsichtsvollen Moment in seinem Schlußwort in Jerusalem nannte, betraf alle, die im Dienste des Nazistaates dem „völkischen Recht“ zum Siege verhelfen wollten.

Neben der zweifellosen Wichtigkeit der ideologischen Komponente, neben eingehenden soziologischen Untersuchungen im allgemeinen und der Mörder im besonderen muß zu einer Klärung der Frage der bereitwilligen Entpersönlichung im totalitären Staat der Wertgebundenheit oder der in wichtigen Fragen anscheinend vorhandenen moralischen Ungebundenheit in der deutschen Bevölkerung insgesamt nachgegangen werden. Inwieweit waren die Lehren des Christentums, die Unverbrüchlichkeit des Gesetzes usw. bindend oder reine Formalien, die man zwar im Munde führte, die aber in der Praxis letzten Endes nichts oder sehr wenig bedeuteten? Die Gründe, die zu einer Verwirrung in den Elementarfragen des Moralischen" (wie H. A. in anderem Zusammenhang treffend formuliert — S. 23) geführt haben, gilt es zu untersuchen. Das gleiche trifft für das sogenannte „deutsche Kultur-erbe“ zu, an dessen Wirksamkeit im positiven Sinne Juden und Nichtjuden bis 1933 glaubten. Für die einen führte diese irrige Vorstellung zu den Gaskammern in Auschwitz und damit zum Ende dessen, was man unter dem Begriff „deutsches Judentum" verstand, für die anderen zur tiefsten Erniedrigung des Geistes und der Moral in der Geschichte des Volkes, von den politischen Konsequenzen (Teilung des Reiches usw.) einmal ganz abgesehen. Um es nochmals zu unterstreichen: mit dem Hinweis auf den Rassenwahn, der zweifellos im Zentrum des Hitlerschen Denkens stand wird man die Tätigkeit von Tausenden von Mördern an den Massengräbern in Rußland, an den Gaskammern in Auschwitz, an den Schreibtischen im Reichssicherheitshauptamt wie im Reichinnenministerium, um nur einige beteiligte Stellen anzuführen, allein nicht erklären können. Träfe das zu, wäre die Erklärung, so erschreckend es klingen mag, relativ einfach. Falsch verstandene Pflichttreue und der Glaube an das vermeintliche Wohl des Vaterlandes, dieser ganze Bereich eines irrigen „Idealismus", sind zumindest in gleicher und nicht zu unterschätzender Weise ein Schlüssel zu dem unfaßbaren Geschehen. Nicht zu übersehen ist fernerhin, daß im ideologischen Bereich die Konsequenz des nationalsozialistischen Antisemitismus, der Massenmord, mit der Verwirklichung der für Hitler grundlegenden Theorie des Lebensraumes auf das unmittelbarste verknüpft war.

Die Konsequenzen, die sich aus der angedeuteten Verquickung verschiedener Voraussetzungen ergeben, sind für die Erkenntnis der Vorgänge, die mit der „Endlösung" verbunden waren, in der Tat erschreckend. Ein weiteres Merkmal der Wirklichkeit des Dritten Reiches darf ferner nicht übersehen werden. H. A. ist nicht die einzige, die feststellte: „Offen und unverhüllt totalitär ... wurde das Naziregime erst mit dem Ausbruch des Krieges.“ (S. 99) Dieser Satz ist auf Kritik gestoßen und bedarf einiger Modifikationen. Im ideologischen und propagandistischen Anspruch, in seinen Methoden gegenüber seinen Feinden war das Regime seit Anbeginn totalitär. Jenseits dieses Bereiches war für die übrige Bevölkerung jedoch bis zum Ausbruch des Krieges ein gewisses Maß an innerer und äußerer Freiheit vorhanden. Es ist sehr einfach, unter dem Eindruck des verbrecherischen Charakters des Regimes im Kriege so zu tun, als habe das Leben der Deutschen vom 30. Januar 1933 an unter der Knute einer terroristischen Geheimpolizei allein im Zeichen von Angst und Schrecken gestanden. Ohne die zweifellos sich steigernde Begeisterung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung wäre Hitler nicht in der Lage gewesen, seine Pläne so ungestört verfolgen zu können, wenn auch der Ausbruch des Krieges auf keine große Gegenliebe stieß. Zu groß war die Identifizierung der Mehrheit der Bevölkerung mit den öffentlich verlautbarten Zielen des Nationalsozialismus, was immer man sich auch darunter im einzelnen vorstellte, als daß es der ständigen Nachhilfe der Geheimen Staatspolizei bedurft hätte. Die jubelnae Zustimmung vor dem Kriege sollte erst nach und nach einer allmählichen Beklemmung angesichts des eingeschlagenen Weges weichen. Nur war es jetzt zu spät. Nichts kennzeichnet die Situation vor dem Kriege besser als die hoffnungslose Isolierung der jüdischen Bevölkerung. Auch hier beruhte der Erfolg der vom Nationalsozialismus gewünschten Aussonderung auf einer Vielzahl von Faktoren, die nicht nur mit der Angst vor der Gestapo erklärt werden können.

Das Verhalten des Jerusalemer Angeklagten, seine Handlungsweise als „Transportspezialist" im Geschehen der „Endlösung" erschließt sich erst ganz, wenn man die verschiedenen Mitschuldigen in ihren Handlungsweisen und ihrem Entwicklungsgang daneben stellt. Sicherlich werden sich dann mehrere Gruppierungen ergeben, die Bürokraten und Organisatoren, die Fanatiker und Sadisten, die ganze Skala von Menschen, die sich einbildeten, eine neue Welt zu verkörpern. Daß jedoch ihre Durchschnittlichkeit keine Einzelerscheinung war, hat nicht nur J. C. Fest an der „Elite" des Dritten Reiches nachgewiesen, sondern dies wird in den Gerichtssälen in der Bundesrepublik bei den zahlreichen heute laufenden Verfahren in überwältigender Weise bestätigt. Der Mörder, ganz gleich, wo er tätig war, ob in der Kurfürstenstraße 116 in Berlin oder in einem der Vernichtungslager im Osten, der nach vollbrachter Tat als biederer Familienvater im Kreise seiner Angehörigen saß, der nach Beendigung des Krieges zumeist „wieder in die bürgerliche Gesellschaft einge-ordnet und ein ehrbares, nicht sozialschädliches Leben geführt hat" dieser Typ ist das Problem, mit dem man sich auseinander-setzen muß. Da heute nur noch ein Bruchteil der Täter erfaßt werden kann, wobei sich die Gesetzgebung des Rechtsstaates angesichts des neuartigen Tätertyps und der einzigarti-gen Taten als lückenhaft erweist, muß man der Tatsache ins Auge sehen, daß der Mörder von gestern heute als wohlangesehener Bürger unerkannt unter uns lebt. Mit diesem Bewußtsein zu leben, ist auch ein „Erbe“ der Vergangenheit, das nicht „bewältigt“ werden kann.

Hannah Arendt und der deutsche Widerstand

Mit der gleichen Aggressivität, mit der H. A. die Haltung der jüdischen Führung während der Zeit der „Endlösung" untersucht, beschäftigt sie sich auch mit der deutschen Widerstandsbewegung. Diese ist für sie praktisch mit den Menschen identisch, die mit dem Aufstand vom 20. Juli verbunden waren. Es handelt sich dabei um die gleiche Frage nach dem Gewissen, wie sie von der Autorin auch an Eichmann gerichtet wurde. Als Unterlagen für ihre Bemerkungen erwähnt sie vornehmlich die Goerdeler-Biographie von Gerhard Ritter, das wenig überzeugende Buch von Fritz Hesse „Spiel um Deutschland" sowie eine amerikanische Dissertation, die einzusehen nicht möglich war

Ihre Ansicht über die Motive der Widerstandsbewegung und den Stand ihrer moralischen Gesinnung faßt H. A. in folgenden Sätzen zusammen: „Was sie einigte, war, daß sie in Hitler einen . Schwindler'sahen, einen Dilettanten, der , ganze Armeen entgegen dem Rat der Fachmänner geopfert hatte',... einen . Geisteskranken'und schließlich . die Verkörperung des Bösen', womit in der Sprache und Atmosphäre der Zeit zugleich mehr oder weniger gesagt war, als wenn sie ihn einen . Verbrecher und Narren'nannten, was auch gelegentlich vorkam" (S. 134). „Sieht man sich aber die Dokumente und vorbereiteten Proklamationen derer an, die in den Kreis der Verschwörer vom 20. Juli gehörten und im Falle des Erfolgs das . andere Deutschland'in der Welt und der deutschen Öffentlichkeit vertreten hätten, so kann man sich schwer des Eindrucks erwehren, daß das, was man gemeinhin unter Gewissen versteht, in Deutschland so gut wie verlorengegangen war, ja, daß man sich kaum noch bewußt war, wie sehr man selbst bereits im Bann der von den Nazis gepredigten neuen Wertskala stand und wie groß der Abgrund war, der auch dieses . andere Deutschland'von der übrigen Welt trennte" (S. 138).

Man kann über die Pläne der verschiedenen Widerstandsgruppen über die künftige Gestaltung eines vom Nationalsozialismus befreiten Deutschland verschiedener Meinung sein, man kann auch Betrachtungen über die illusionäre Einstellung mancher Beteiligter anstellen, die Gedanken Goerdelers für eine „Dauerlösung"

eines, angesichts seiner Formulierung, fiktiven „Judenproblems" verurteilen. Es ist aber schlechterdings nicht möglich, dem deutschen Widerstand abzusprechen, daß er aus einer tiefen Gewissensprüfung, orientiert an Werten, die für die ganze abendländische Welt verbindlich waren, zu seinem Entschluß kam, sich gegen das Unrecht in Deutschland aufzulehnen, Werte, die auch H. A. als die Grundlage ihrer eigenen Urteile ansieht. Nicht nur, weil er der Verderber Deutschlands war, lehnte man sich gegen Hitler auf, sondern primär, weil durch ihn und sein Regime Sitte, Anstand und Moral permanent verletzt und das Antlitz des Menschen zutiefst geschändet wurden. Oder in den Worten von Hellmuth Stiess vom 21. November 1939: „Diese Ausrottung ganzer Geschlechter mit Frauen und Kindern ist nur von einem Untermenschentum möglich, das den Namen deutsch nicht mehr verdient. Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein" M).

Wir sind nicht willens nachzuweisen, wie sehr diese Frauen und Männer das Verbrecherische in Hitler erkannt hatten und ihn auch als das ansahen, was er war: ein Massenmörder. Die Autorin möge selbst die zahlreichen Zeugnisse einsehen, die uns diesen Beweis zu führen ersparen. Auch hier fehlt H. A. das Einfühlungsvermögen in die damalige Situation, eine unabdingbare Voraussetzung jedoch für eine kritische Auseinandersetzung mit den Ideen und Motiven der Widerstandsbewegung. Sie sagt in ihrer für die deutsche Ausgabe ihres Buches geschriebenen Einleitung: „Worüber man sich in weiten Kreisen der öffentlichen Meinung einig zu sein scheint, ist, daß man überhaupt nicht urteilen dürfe, jedenfalls nicht, wenn das Urteil Personen betrifft, die Ansehen genießen. Der Weg der Argumentation ist immer der gleiche: er biegt von den verbürgten, belegbaren Einzelheiten ab ins allgemeine, in dem alle Katzen grau und wir alle schuldig sind" (S. 24). Nun, geurteilt werden muß, vorausgesetzt aber, daß die Einzelheiten in ihrer Vielfalt stimmen und ein zutreffendes Bild der Zeit ergeben. Pauschalurteile Wie die oben angeführten zum Thema Widerstand lassen in der Tat „alle Katzen grau werden".

Schlußbemerkung

Diese Ausführungen über H. A. Buch haben sich mit voller Absicht auf einige wenige, jedoch für das Verständnis der Ereignisse vor 1945 äußerst wichtige Aspekte beschränkt. Eine volle Behandlung der angeschnittenen Fragen, die einer grundsätzlichen Klärung bedürfen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. So sind die für die deutschen Verhältnisse bedeutsamen rechtlichen Probleme der Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen von Jürgen Baumann in dem schon genannten Band „Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen" eingehend dargestellt worden. Auch konnte hier nicht auf die von H. A. eingenommene Haltung zum Jerusalemer Prozeß eingegangen werden, weil sie eine ausführlichere Stellungnahme zu Rechtsproblemen verlangt hätte, die ohnehin bei ihr in nicht überzeugender Weise zur Darstellung gelangen.

Hinzu kommt, daß die Mehrheit der bisherigen Betrachter des Berichtes von H. A. mehr oder minder davon ausging, daß die von der Vers, vorgetragenen Dinge in ihrem Ablauf mit dem Geschehen übereinstimmten. Durch die provozierenden Thesen abgelenkt, hat man diesem Aspekt zu wenig Rechnung getragen. Es ist jedoch entscheidend, daß mit der Erörterung der Thesen die Prüfung des zugrundegelegten Tatsachenmaterials einhergeht. Nimmt man diese Untersuchung vor, so ist das Ergebnis erstaunlich, da es sich eben nicht nur um „technische Formfehler" handelt. Es beweist wieder einmal, wie sehr im Bereich der Erforschung des nationalsozialistischen Staates empirische Untersuchungen notwendig sind, ehe entscheidende Schlußfolgerungen gezogen werden können.

So ist Hannah Arendts Urteil z. B. über die Judenräte in der vorgelegten Form Unhaltbar, und selbst dort, wo es der Logik der Vers, zufolge hatte bewiesen werden müssen, fehlt die unvoreingenommene Darstellung des Beweismaterials. Der These von der Normalität des Mörders vom Typ Eichmann ist im Prinzip zuzustimmen, jedoch in einer etwas differenzierteren Weise. Der „Idealismus" Eichmanns war mehr oder minder eine Konstruktion des Angeklagten, seine Haltung in einem verständlicheren Licht erscheinen zu lassen, über seine tatsächliche Handlungsweise sagt er nichts aus. Aber auch hier gilt, daß das Beweismaterial überzeugend dargebracht und nicht Um der These willen zurechtgelegt wird.

Die fatale Neigung der Vers., ihre moralischen Grundsätze und die Erfahrungen, über die wir heute auf Grund der grauenvollen Ereignisse von 1933 bis 1945 verfügen, apodiktisch auf die Verhältnisse der damaligen Zeit zu übertragen, ohne Rücksicht auf die seinerzeitigen Voraussetzungen, läßt das entstehende Bild auch dann unklar werden, wenn die getroffenen Feststellungen an sich richtig sind.

Der totalitäre Staat nationalsozialistischer Prägung hat gezeigt, daß er sich neben der ideologischen Verbrämung, neben der Identifizierung großer Teile des deutschen Volkes mit den öffentlich propagierten „Idealen" und Zielen bei der Verwirklichung seiner Pläne auf die willige Unterordnung des einzelnen verlassen konnte. Die Absonderung von der Entwicklung in der übrigen Welt, die bewußte und unbewußte Anpassung an eine neue, amoralische Wertordnung führte zu einem Tiefpunkt moralischer Entartung. Das Beispiel Eichmann besitzt nur insoweit Bedeutung, als es aufzeigt, wie diejenigen beschaffen waren, die jeden Befehl ausführten. Das Schicksal der Opfer dieses Irrsinns hat schließlich bewiesen, in welche verzweifelte, hoffnungslose und ausweglose Lage dieses barbarische System und seine nur zu willigen Anhänger Menschen bringen konnte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zitiert nach „Die Kontroverse — Hannah Arendt, Eichmann und die Juden", München 1964, S. 185 f.

  2. Auch wenn die Arbeit der Reichsvertretung noch nicht untersucht worden ist, gibt es doch vornehmlich für die Anfangszeit einige wichtige Aufsätze. Vgl.: Kurt Alexander, „Die Reichsvertretung der deutschen Juden“, in: Festschrift zum 80. Geburtstag von Leo Baeck, London 1953, S. 76 ff.; Max Gruenewald, „The Beginning of the . Reichsvertretung’“, in : Year Book I of the Leo Baeck Institute of Jews from Germany, London 1956, S. 57 ff.; Kurt J. Ball-Kaduri, „The National Representation of Jews in Germany — Obstacles and Accomplishments at its Establishments“, in: Yad Washem Studies on the European Catastrophe and Resistance, II, Jerusalem 1958, S. 159 ff.; Friedrich S. Brodnitz, „Die Reichsvertretung der deutschen Juden'in: Festschrift für Siegfried Moses „In zwei Welten", hrsg. von Hans Tramer, S. 106 ff.; Hugo Hahn, „Die Gründung der Reichs-vertretung", a. a. O., S. 97 ff.

  3. Zitat nach „Informationsblätter, Jg. III, S. 70.

  4. Es ist immerhin verwunderlich, daß die Vers, sich dieses Mannes nicht besonders annimmt, weil er, soweit man feststellen kann, wohl der einzige deutsche Jude war, der später innerjüdische Probleme mit Hilfe der Gestapo zu lösen versuchte.

  5. Die Kontroverse, S. 184.

  6. Folgender Halbsatz (Amerik. Ausg. S. 105), der von der Kritik zu Recht als anstößig empfunden wurde, ist in der deutschen Ausgabe gestrichen worden: "... as in the case of Dr. Leo Baeck, former Chief Rabbi of Berlin, who in the eyes of bolh Jews and Gentiles was the’Jewish Führer ." Bei Hilberg, S. 292, lesen wir: " The Jewish 'Führer'in Berlin, as one of Eichmanns people called Rabbi Leo Baeck ..." Wir führen dieses Beispiel nur an, um zu zeigen, wie eine einzelne Bemerkung plötzlich zur herrschenden Ansicht von Juden und Nicht-juden erhoben wird. Ohne hierauf näher eingehen zu wollen — es ist ganz aufschlußreich, einmal die deutsche Übersetzung mit den anderen Ausgaben parallel zu lesen.

  7. Vgl. hierzu den ersten Überblick bei Lud-wig Pinner, „Vermögentransfer nach Palästina 1933— 1939“, in: Festschrift für Siegfried Moses, a. a. O., S. 133 ff.

  8. Friedman, " Jewish Reaction to Nazism”, in: Jewish Frontier, vol. XVII (Sept. 1950), Heft 9, S. 22.

  9. Theresienstadt — Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 19602.

  10. Louis de Jong, Jews and non-Jews in Nazi-Occupied Holland, in: On the Track of Tyranny, London 1960.

  11. Als Musterbeispiel unsachlicher Auseinandersetzung mit H. A. Buch sei hier auf die Besprechung von Michael A. Musmano in der New York Times Book Review vom 19. Mai 1963, abgedr. in: „Die Kontroverse", S 85 ff., verwiesen. Musmano, der im Eichmann-Prozeß aussagte, gehört zu denen, die die Bedeutung Eichmanns maßlos überschätzen, und seine Aussage in Jerusalem hat denn auch zur Erhellung der Rolle des Angeklagten nichts beitragen können. (Vgl. das Protokoll der Verhandlungen vom 15. Mai 1961, S. 31 ff.).

  12. Beispiele hierfür finden sich sehr häufig in Stellungnahmen zu Veröffentlichungen über Probleme des Nationalsozialismus, auch wenn es sich um Arbeiten handelt, die das Ergebnis ernsthaften Bemühens darstellen. Erinnert sei an die Auseinandersetzung über die Arbeit von Fritz Tobias über die Hintergründe des Reichstagsbrandes oder an die über die Einführung von P. E. Schramm zur Neuausgabe von Hitlers Tischgesprächen. Gleichgültig, wie man zu den in diesen Untersuchungen geäußerten Ansichten auch stehen mag, nur eine sachbezogene Diskussion kann weiterführen.

  13. H. G. Adler, „Selbstverwaltung und Widerstand in den Konzentrationslagern der SS", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 8. Jhrg., München 1960, S. 221.

  14. H. G. Adler, Theresienstadt, S. 272 ff.

  15. Vgl. hierzu: Wolfgang Scheffler, „Verurteilt in Etappen“, in: Clvis, 10. Jhrg., März 1964, S. 10 f.

  16. Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen — Geschichte und Gericht, Stuttgart—Berlin 1964.

  17. Wir wollen hier nicht auf den auch von H. A. wiedergegebenen Hinweis auf die angebliche jüdische Abstammung Heydrichs eingehen. Es muß jedoch gesagt werden, daß es sich hierbei vermutlich um eine Legende handelt. Hinweise dafür erhielt der Vers, von Herrn S. Aronson, der in einer Untersuchung über die Entstehung und den Aufbau des SD und der Gestapo auch Nachforschungen zu dieser Frage angestellt hat. Die Arbeit von Aronson wird 1965 abgeschlossen und veröffentlicht werden.

  18. d. h.: 1935— 1937.

  19. Abgedruckt in Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte, 5. Jhrg., 1957, S. 196 ff.

  20. H. G. Adler, Theresienstadt, S. 772 ff.

  21. Vgl. hierzu: Wolfgang Scheffler, „Faktoren nationalsozialistischen Herrschaftsdenkens", in: Faktoren der politischen Entscheidung — Festgabe für Ernst Fraenkel, Berlin 1963, S. 56 ff.

  22. J. C. München 1963. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches,

  23. Reinhard Henkys a. a. O., S. 234.

  24. Georg K. Romoser, The Crisis of Political Direction in the German Resistance to Nacism — Its Nature, Origins, and Effects University of Chicago, 1958.

Weitere Inhalte

Wolfgang Scheffler, Dr. phil., wiss. Assistent am Otto-Suhr-lnstitut der Freien Universität Berlin, geb 22. Juli 1929; Veröffentlichungen u. a.: Die Judenverfolgung im Dritten Reich, Berlin 19604; Faktoren nationalsozialistischen Herrschaftsdenkens, in: Faktoren der politischen Entscheidung — Fest-gabe für Ernst Fraenkel, Berlin 1963; Der Totalitarismus nationalsozialistischer Prägung, in: Politik im 20. Jahrhundert, Braunschweig 1964.