Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Situation und Krise der heutigen Universität | APuZ 39/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 39/1964 Situation und Krise der heutigen Universität Gedanken über die politische Verantwortung des Lehrers in der heutigen Demokratie

Situation und Krise der heutigen Universität

Richard Schwarz

Friedrich Nietzsches Thema „Die Zukunft unserer Bildungsanstalten" ist heute im gesamten europäischen Kulturleben und darüber hinaus zu einem vordringlichen Anliegen geworden. Kritik, Klage, Anklage und Reformen lösen sich ab. Ja, die Katastrophen unserer Zeit werden oft genug als Bildungskatastrophen angesprochen. Man fragt beängstigt nach den Umständen, die eine solche Situation ermöglicht haben. In einer Zeit, in der die wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftlichen Ergebnisse dem Ethos des Menschen zu entlaufen scheinen, in einer Zeit, da die technischen Wissenschaften fast zur geistigen Grundlage unserer abendländischen Kultur zu werden scheinen, geht es auch um die Gewinnung beziehungsweise Wieder-gewinnung eines gültigen Standortes der Universitäten und Hochschulen in einer ideell, soziologisch, wissenschaftstheoretisch und wissenschaftspraktisch so veränderten Welt 1).

Eine solche Aufgabenstellung aber greift notwendig immer in je letzte Fragestellungen und Stellungnahmen. Es kann sich hier nicht darum handeln, den ganzen Umkreis der Technik um die heutige und künftige Universität vorzustellen. Es sollen vielmehr einige zentrale Perspektiven benannt werden, die unseres Ermessens zu den fundamentalen Problemen jener Fragestellung gehören, obwohl sie zumeist in den Diskussionen kaum aufscheinen.

In vier Schritten möge diese Thematik hier benannt werden:

I. als Frage nach der Situation der heutigen Universität, II. als Frage nach der geltenden und gültigen Wissenschaftsidee, III. als Frage nach dem Bildungsauftrag der der Universität, IV. als Frage nach den Möglichkeiten und Aufgaben einer künftigen Universität.

I. Die innere Situation der Universität

Wilhelm Wortmann Gedanken über die politische Verantwortung des Lehrers in der heutigen Demokratie (Seite 21)

Die moderne Universität ist eine Geburt der idealistischen Philosophie und des bürgerlichen Zeitalters. Ihre geistigen Wurzeln liegen im Neuhumanismus. In der These Fichtes ist die Universität „die sichtbare Darstellung der Einheit der Welt, als der Erscheinung Gottes und Gottes selbst“. Das Idealbild des Akademikers ist der allseitig gebildete Mensch, der den Wissensstoff noch zu überschauen vermag, der in der Philosophie die metaphysische Klammer erkennt. Akademische Berufsausbildung bedeutet weniger den Erwerb spezieller Fachkenntnisse als die Befähigung zu menschlichen Führungsaufgaben.

Diese Bestimmung des Grundzuges der neuzeitlichen deutschen Universität wurde deshalb hier zur Geltung gebracht, um zu erweisen, wie anachronistisch eine solche Wesens-bestimmung heute erscheinen muß. Die Uni-1) versität, so heißt es, sei nicht mehr in der Gesellschaft verwurzelt. Die Form der Hochschule und die Bedingungen des Studiums stammten aus einer vergangenen Zeit. Das Humboldtsche Bildungsideal der Universität sei 150 Jahre alt; die Nochfolger Humboldts hätten dessen reformatorischen Geist nicht übernommen, sondern eher sein Vorbild als Abziehbild genommen. Die Fachschule, zu der sich die Universität entwickelt habe, sei nicht in der Lage, den sozial verbundenen und sozial verErweiterte Antrittsvorlesung zur Übernahme des Ordinariats für Pädagogik an der Universität München am 13. Mai 1964 antwortlichen Menschen zu erziehen, den unsere Zeit brauche.

Was hier in Sicht kommt, ist das vielbesprochene Problem der Spezialisierung. Ein Blick auf den Forschungs-und Lehrbetrieb der heutigen Universität zeigt an, in welchem Maße die Disziplinen und Fakultäten kaum noch mehr sind als ein loser Zusammenschluß von Fachhochschulen, und es darf hier nicht jene bedrohliche Entwicklung unerwähnt bleiben, die als Inflation von „Hochschulen" ohne eigentlich wissenschaftliche Voraussetzungen zu kennzeichnen wäre. Parallel dazu läuft die Tendenz, möglichst alle Bereiche des Lebens unter den Aspekt und die Methode des wissenschaftlichen Denkens zu zwingen. Doch daneben lauert eine offenbar noch größere Gefahr: die Auflösung der bestehenden wissenschaftlichen Hochschulen in Institute. Diese wachsen zu selbständigen, in sich isolierten Verwaltungseinheiten heran; das alte akademische Kollegalitätsprinzip wich dem Prinzip der Unterordnung, der Hierarchie nach Art eines „Betriebes". Bei diesem typischen „Institutsdenken“ bedeuten dann die fachliche utilitaristische Ausbildung und Forschung noch das einzige Ziel, wobei andere Zielsetzungen, die ganzheitliche Persönlichkeitsbildung als die wesenhafte Menschenbildung, nicht mehr gesehen werden oder gar nicht gesehen werden dürfen.

Der moderne Wissenschaftsbetrieb kennt weithin kein Problem der Krise. Die spezialisierte Wissenschaft trägt ihr Gesetz in sich selbst. Eine existentielle Problematik um jene Fragen, die den Menschen als Menschen betreffen und angehen, ist ihr mithin fremd, ja muß vor den Toren liegenbleiben. Auch wenn diese Forschung vom Menschen spricht, bleibt der Mensch Objekt. Es wird nicht der Mensch vom Menschen aus, sondern es wird über den Menschen verhandelt. Bindung besteht nur noch als zweckrationale Zusammenfassung von organisch unverbundenen Teilgebieten. Dieser neuen Situation der Wissenschaft und der Universität steht freilich weithin noch die Behauptung ihres ursprünglichen Auftrages gegenüber. Doch diese unechte Diskrepanz zwischen jenem traditionellen Konstatieren, das oft — wider besseres Wissen — aus Ratlosigkeit an den hergebrachten Forderungen festzuhalten scheint, und den neuen geschichtlichen Gegebenheiten, wird immer offenbarer. So also will die Universität etwas darstellen, was sie längst nicht mehr ist.

Diese bezeichnete Entwicklung eines in sich selbst verlorenen Denkens scheint dazu mit einer fast gesetzmäßigen Notwendigkeit ihren Lauf zu nehmen. Die veränderte soziologische Situation unseres gesamten Lebensgefüges, die frühere traditionelle Werttafeln und Sinn-beziehungen geradezu umkehrt, mußte auch eine Umschichtung in der Wesensgestaltung der Universität bewirken. Auch die Hochschule geriet in eine neue Beziehung zur Problematik der modernen Arbeitswelt. Von der Freiheit der wissenschaftlichen Bildungsmöglichkeiten ist bei einer „massenmäßigen Fertigungsmethode“ nur wenig zu spüren. An ihre Stelle traten die festumrissenen Fachlehrgänge, das oft ausschließliche Examensstudium zur Gewinnung einer wirtschaftlichen Lebensgrundlage. Die proklamierte Einheit von Forschung und Lehre bleibt weithin nur Programm. Damit mußte der Schlüssel zur Sinnerschließung des Ganzen, ja schon das Bewußtsein um eine mögliche innere Einheit der Wissenschaft, aller Wissenschaftsdisziplinen als Ausdruck vielfältiger Lebensbezüge, notwendig verlorengehen. Die heutige Universität und Hochschule mußte sich weithin ihres einen Wesenscharakters begeben: daß sie neben Forschung und Lehre ihrem Bildungsauftrag als Ort der ganzheitlichen Menschenbildung nachzukommen vermag.

II. Idee und Grenze der Wissenschaft

Der mittelalterlichen Universität lag eine gemeinsame geistige Glaubensstruktur zugrunde als Ausdruck der hierarchischen Ordnung der Dinge. Auch den Universitäten der Aufklärung und des Deutschen Idealismus war ein sinnleihender Traggrund noch eigen. Heute erst spricht man von einer prinzipiellen Umstrukturierung der modernen Universität, die keine materiale Einheit der Wissenschaften, keine „Mitte" als geordnetes Ganzes mehr kennt, ja nicht mehr kennen soll; denn wir sind heute — wie es heißt — in das erste Stadium der Befreiung von Weltbildern eingetreten, womit notwendig ein Leben in der Bodenlosigkeit verbunden ist, sofern nicht jeder selbstschöpferisch sich seinen Traggrund erst schafft. In diesem Sinne wird die Universität nur noch als Ort des Kampfes der Positionen deklariert, wo das Kämpfen um Wahrheit die einzige Wirklichkeit abgibt, die in der Offenheit zur radikalen Kritik jeder errungenen Position sich anzeigt, wobei freilich ebenso die Frage des Wahrheitsbegriffes selbst einer zersplitternden Problematik Platz gegriffen hat.

Eine solche Bestimmung der Universität mußte freilich jeden tieferen Einheitsgrund der Wissenschaften, also die Universitas der Universität, aufgeben. Die Universität als Kosmos der Wissenschaften existiert nur noch in ihrer Idee. Allein es erhebt sich die Frage, ob eine solche befreite wissenschaftliche Position überhaupt möglich ist, ob nicht vielmehr auch jene, noch so kritische und vernunftsgemäße Position immer und notwendig in ihrem Kern von einem „Hintergrund" der Sinnbeziehungen lebt, ohne dies selbst zu wissen oder sich einzugestehen?

Hier ist der Ort zu der Feststellung, daß Max Weber mit seiner programmatischen These „Wissenschaft als Beruf" 2) gewiß einen hohen Ernst asketischer Forschertugend beschwor. Seine Forderung, Forschung und Lehre an der Universität habe nur der Einsicht, der Tatsachenfeststellung der logischen Sachverhalte zu gelten, jede wissenschaftliche Vertretung von praktischen Stellungnahmen, also die Fragen nach dem Wert und dem sittlichen Maßstab, stehe aber der intellektuellen Redlichkeit entgegen, hält jedoch der Kritik nicht stand, eben weil eine solche Trennung existentiell nicht möglich erscheint. Gibt es doch sinnintentionale, das heißt wert-bezogene Voraussetzungen, die jeden je bestimmten Lebensgrund und Denkansatz tragen. Diese Voraussetzungen können zwar kritisch erhoben, aber dennoch niemals restlos durchleuchtet werden. Niemand kann sich selbst „restlos" erkennen, verstehen. Auf diesem „Rest“ aber liegt das Gewicht unserer These, daß es danach keinen restlos neutralen oder objektiven Ansatz zu geben vermag, ohne je schon vorgegebene und niemals ganz überschreitbare letzte Sinn-und Bedeutungszusammenhänge. Denn ohne Wertgesichtspunkte gibt es auch keine sinnbestimmte Wissenschaft. Ohne Sinnbestimmung aber erschöpft sich Wissenschaft nur in Sammlung, Registrierung, Ordnen von Tatsachen und Sachverhalten in einer vermeintlichen reinen Objektivität, die es — wie uns selbst die moderne Naturwissenschaft zeigt — nicht geben kann. Auch die „Tatsachen" des Posi-tivismus sind immer schon gedeutete Tatsachen — eben solche, daß es Erkenntnisse, die nicht erfahrbar sind, nicht gibt. Auch eine Weltanschauung, nur eine andere! Nicht von ungefähr hat man von der „latenten Metaphysik des Positivismus" gesprochen. Der Grundzug des Positivismus ist die Verabsolutierung der logisch-mathematischen Methode und ihrer naturwissenschaftlichen Anwendung, die Orientierung am wertfreien Erkenntnis-verfahren der exakten Wissenschaften und die Ausschließung der Erörterung des Wert-problems aus der Wissenschaft. Sein Ziel ist ein System, das den Menschen radikal auf seinen Funktionswert für die Gesellschaft reduziert.

Für jene andere Sichtweise, selbst in der Physik, mag hier nur Werner Heisenberg 3) genannt werden mit seiner, einen reinen Objektivitätsglauben aufhebenden These:

„Die Naturwissenschaft steht nicht mehr als Beschauer vor der Natur, sondern erkennt sich selbst als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur. Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen bewußt, die ihr dadurch gesetzt sind, daß der Zugriff der Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann. Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein ...". Mit einer merkwürdigen Unbefangenheit wird heute jedoch eine Wissenschaftsidee als genuin und allein „wissenschaftlich"

deklariert, die als eine durch die gesellschaftlich-kulturelle Wandlung bedingte „Umschichtung"

in den Natur-und Geisteswissenschaften zu kennzeichnen wäre. Für solche Thesen stehen mit Helmut Schelsky die Behauptungen, daß das Ende der historisch gerichteten Geisteswissenschaften gekommen sei, daß die Wirkungsmöglichkeit der ideen-geleiteten Persönlichkeit durch die Eigengesetzlichkeit der modernen industriegesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zivilisation schlechthin aufgehoben werde. Man spricht von der gemeinsamen Technisierung und Funktionalisierung aller Wissenschaften, ja von der Strukturangleichung der Geistes-wissenschaften an die entwicklungsleitenden Natur-und Handlungswissenschaften, wozu auch die Pädagogik zählen soll, die auf dem Wege der Ausgliederung aus den Geistes-wissenschaften in die Soziologie sich befände.

Dies also ist eine verbreitete Haltung, die durch Negierung einer genuin „geistigen Welt" und durch die monistische Übertragung naturwissenschaitlicher Prinzipien, Denkiormen und Methoden aui die Geisteswissenschaften sich zu bestätigen sucht. Der Dualismus von Geistes-und Naturwissenschaften kann aber nicht durch „die gemeinsame Technisierung und Funktionalisierung der Naturwissenschaften und der ehemals geisteswissenschaftlichen Handlungswissenschaften vom Menschen“ überwunden werden. Auch heute führt über eine solche Funktionalisierung kein Weg zur Personalität des Menschen; denn der Mensch ist nicht nur das Wesen, das biologisch existiert, das geistbestimmt lebt oder handelnd sich bewährt, es ist vor allem das Wesen, das sinnbezogen existiert, sofern es wahrhaft menschlich existiert, so daß auch alle Einzelfunktionen bzw. Erscheinungsweisen des Menschlichen, nur organisch-strukturell, das heißt von einem übergeordneten Sinnbezug her, erst gültig gedeutet und gewertet werden können. Geisteswissenschaftliche Merkmale lassen sich daher eben nicht nur in Analogie und nach Art naturwissenschaftlicher Modelle aufhellen, es sei denn, man will noch heute oder heute wieder die beiderseits verbindlichen Gesetzlichkeiten beschwören, die freilich selbst im naturwissenschaftlichen Bezirk längst problematisch wurden 6). Eine „Rekonstruktion" der Welt durch die zur Technik gewordenen Natur-und Geistes-wissenschaften läßt die eigentliche Frage des Menschen und an den Menschen völlig unbeantwortet. Eine ausschließliche „Berechenbarkeit" zielt aber notwendig in die Linie des Roboters und seiner mechanistischen Funktionen mit ihren determinatorischen und statistischen Voraussetzungen und Konsequenzen

Aber muß es nicht als ein Mangel an Selbstkritik als an jenem unabdingbaren Merkmal jeder Wissenschaftlichkeit angesehen werden, wenn man nicht jene Voraussetzungen einbezieht, die eine solche Objektivität nicht erreichen lassen? Wenn das Wesensmerkmal dieser sogenannten „reinen" Wissenschaft die Kritik ist, so bleibt hier die ebenso entscheidende wie zumeist übersehene Frage: Woher stammen denn jeweils die Kriterien für diese Kritik? An dieser Frage müssen notwendig alle sogenannten neutralen Ansätze scheitern. Eine solche Absicht aber hat weitgehendste Konsequenzen nicht nur für den Wissenschaftsbegriff selbst, worum heute doch letzthin die gesamte Problematik der modernen Universität zentrierend kreist, sondern auch für die Sinnbezüge der Wissenschaft im Gesamt der Lebensbezüge überhaupt.

Nach Helmut Schelsky sind Wissenschaft und Bildung künftig dadurch charakterisiert, daß sie zwar die metaphysischen Glaubens-systeme anerkennen, sich aber doch von ihnen distanzieren. Bildungssysteme, die auch im Range der geistigen Erkenntnis auf die Voraussetzungen eines bestimmten und dogmatisch festgelegten metaphysischen Glaubens-systems mit Ausschließlichkeitscharakter gründen, seien — so heißt es hier — zur „Rolle des geistigen Provinzialismus" verurteilt. Wir fragen: Was soll das bedeuten: Anerkennung und Distanzierung zugleich? Hieße es nicht besser: Die metaphysischen Glaubenssysteme sind durch den wissenschaftlichen Geist belanglos geworden, an ihre Stelle trat die Wissenschaft als säkularisierter Religionsersatz, als „höherer Gesichtspunkt", und eine verschwommene globale Humanität als ihr abstraktes Ethos? Was bedeutet das „Festhalten am Gemeinsamen im Menschen und seinem inneren Auftrag gegenüber der Vielfältigkeit der politischen, religiösen und weltanschaulichen Wertordnungen"? Worin bestehen die Kriterien für diese Gemeinsamkeiten und wie soll diese, die konkreten und partikularen Wertvorstellungen übergreifende Wertordnung gültig und für alle Menschen verbindlich fundiert werden? Auch eine weltbürgerliche Humanität im Sinne eines „realen Welt-bürgertums" lebt von sehr konkreten inhaltlichen Bestimmungen und Fixierungen, deren Bedeutungscharakter als „einfache Sittlichkeit" o. ä. sich immer schon als ein komplexes Ethos je spezifischen Ursprungs verrät. Ob dies je noch möglich sein wird? Gibt es ein solches „übergeordnetes" Ziel, das nicht nur im Flächigen verhaftet bleibt und sich nicht viel mehr über das Gewicht von konventionellen Verkehrszeichen erheben würde, womit das menschliche Zusammenleben gemeistert werden soll? Gibt es eine „Fernethik" als „tatbereites Gefühl der Verantwortlichkeit für abstrakte Partner"? Oder bedingt nicht notwendig die moderne Situation, daß die gemeinsamen Grundüberzeugungen, auf die es ankäme, nach Ursprungsfeld und Bedeutungscharakter so differenziert sind, daß gar keine gleichsinnige Verbindlichkeit über die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Menschenwürde mehr möglich wäre? Hat Karl Jaspers wirklich recht mit seiner Bemerkung: „Wir haben keinen Lebensgrund mehr in unseren allgemeinen Zuständen. Wir stehen wie im Leeren"? Woher sollen die verpflichtenden Normen genommen werden, wenn das vielschichtige Naturrecht oder die angestammte Gesittung einer Kulturtradition nicht mehr tragen? Hier erscheint der Ort für die Frage, ob eine „wissenschaftliche Ethik“ als voraussetzungslos besteht, die uns die Grundnormen des Handelns somit allein mit den Gewichten der „reinen Vernuft“ aufzuweisen und als y/erpilichtung aufzuerlegen und zu begründen hätte. Wer jedoch die sich widersprechende Vielschichtigkeit ethischer Wert-begründungen übersieht, wonach das Gute in der Seinsordnung, in der menschlichen Wesensnatur oder in dem Prinzip der nützlichen Brauchbarkeit oder in einem absoluten „Wertgefühl" oder in der formalen „Pflicht" oder in den Geboten der verschiedenen religiösen und politischen Weltanschauungsgruppen begründet werden soll, dem bleibt nur der Rückbezug auf bestimmte „angestammte" Weisen und Formen der Gesittung, die — mit oder ohne Vernunftseinsicht begründet — letzthin doch grundsätzlich noch aus dem offenen oder verkappten christlichen Werthorizont stammen. Wir haben an anderer Stelle bereits die Fragwürdigkeit jener Bestimmungen zu erweisen versucht, wonach Humanismus und Humanität eine geistige Haltung darstellen sollen, die in der aufgeschlossenen Kenntnisnahme von anderen Humanismen bestünde oder in der Abwesenheit von „exklusiven" Dogmen in einer grundsätzlich geistigen Öffnung nach allen Seiten. Sofern die Wissenschaft im Selbstverständnis einer szientifischtechnischen Weltzivilisation Ursprungsfeld und Wertziel des Menschen schlechthin beansprucht, erscheint sie aber als heilsgeschichtliche Kategorie. Allein das Menschenbild der modernen Wissenschaftshaltung ist weithin der mobile, nur-zweckrationale Mensch, der sich — hier die Forderung des Soziologen Richard F. Behrend — als der mündige Mensch aus allen transzendentalen und traditionalen vorgegebenen Bindungen gelöst hat. Das weltumspannende Problem von Glauben und Wissen ist damit scheinbar aufgehoben, ohne es in der eigentlichen Breite und Tiefe überhaupt erreicht zu haben

Der durch Berechnung alles machende, ja der machbare Mensch ist das Signum dieser fortschrittlichen Existenz. Doch schon Fichte und Humboldt sprachen von der Priorität und Neutralität der Wissenschaft gegenüber allen weltanschaulichen Voraussetzungen, gegenüber Religionen und Konfessionen. Für die Bildung durch Wissenschaft, für das „gelehrte Studium" forderte Fichte Freiheit und Offenheit gegenüber den festgelegten religiösen Wahrheiten Doch kann man nun wirklich hierin mit Schelsky eine „vorbildliche Lösung der Frage" sehen, „wie sich eine wissenschaftliche Bildung zu den unmittelbaren Glaubens-und Wertsystemen verhält, die heute in ihrer Verschiedenheit in einer pluralistischen Gesellschaft Gültigkeit und Existenz beanspruchen"? Aber schon hier, in der Geburtsstunde der modernen „liberalen" Universität, lag bereits auch schon der Keim zu ihrem Verhängnis; denn einen neutralen Lebensbezug, ein Denken, auch noch so kritisches Denken, ohne einen je bestimmten und letzthin im Bedeutungscharakter unüberschreitbaren lundamentalen weltanschaulichen Ansatz gibt es nicht, Und so hat es ihn ja auch bei den Deutschen Idealisten nicht gegeben, deren Wissenschafts-und Bildungsidee weltanschaulich, das heißt auch anthropologisch, ja heilsmäßig in sehr umschriebenen und erhebbaren religiösen Fundamenten und Voraussetzungen begründet waren. Damals, in der Universität des Deutschen Idealismus und Neuhumanismus, die von dem säkularisierten christlichen Gedankengut lebten, gab es auch eine weltanschauliche Voraussetzung als Grundlage. Es ist also nicht so, als ob damals im Sinne von Fichte, Schelling, Schleiermacher u. a. die Wissenschaft neutral und die Bildungsidee der Universität weltanschauungsfrei bestanden hätten, zumal die Universitätsbildung ausdrücklich als „ein religiöser Vorgang in der Person" verstanden wurde. Neutralität ist also ein irreführender Begriff, wenn er nur die Ablösung der Universitätswissenschaft vom Vorrangs-und Führungsanspruch bestimmter kirchlich-theologischer Gebundenheit bezeichnen soll, zugunsten einer „freien" Aufklärungs-Religion, die doch ebenso an einen Glauben, inhaltlich und formal, sich gebunden wußte und weiß, nur eben an einen anderen! Aber selbst auch hier noch gibt es ebenso bestimmte geistige und auch institutionelle regionale und überregionale Bindungen — nur eben andere! Auch die „Zahmen Xenien" Goethes „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt Hat auch Religion;

Wer jene beiden nicht besitzt, Der habe Religion" bedeuten eine fundamentale Glaubensentscheidung, wonach dem Volke die „Volksreligion", das heißt hier der Glaube an geoffenbarte und beziehungsweise oder festgelegte religiöse Wahrheiten, dem „Eingeweihten" aber die „höhere Religion", also die Bildung durch Wissenschaft und Kunst, entspricht. Aus dieser Geisteshaltung aber ist jener Wissenschaftsbegriff und der dem zugrunde liegende Lebensbegriff geboren. Auch dieser hat somit an einer je fixierten, vorzeichenhaften Glaubensbindung des Denkens sein Leben. Die Skala reicht von der „Weltfrömmigkeit" und der „Unentscheidbarkeit“ äußerst vielschichtig bis zu gewissen uneingestandenen praktisch atheistischen Voraussetzungen und deren Pseudoreligionen. Die Glaubensbindung wurde aber ebenso nicht durch den neuen Wissenschaftsbegriff des Positivismus aufgehoben; denn auch diese Voraussetzungen liegen offen zutage. Wenn hier argumentiert wird, dann höre die Wissenschaft im reinen objektiv-neutralen, erfahrbaren und verifizierbaren Sinne auf, so bleibt uns das Eingeständnis: Eine solche Wissenschaft hat es — zumindest als Geisteswissenschaft — nie gegeben! Die eigentliche Entscheidungsfrage lautet: ob es ein Denken ohne Daseinsbindung gibt, und ob es ein Dasein ohne eine, wie immer auch bestimmte Glaubensbindung des Denkens gibt. Und wenn dies nicht gedacht werden kann — wie wir meinen —, so wäre im Bereich der Wissenschaft ernsthaft und endlich nach dem wie selbstverständlich behaupteten prinzipiellen Unterschied der Bedeutungs-und Wirkmächtigkeit eines dogmatisch fixierten Glaubens zu fragen, sofern für beide „Ansätze" eine Gebundenheit besteht, für die der freie Gewissens-entscheid grundsätzlich als letzte, den Menschen verpflichtende Instanz erachtet wird. Bemerkenswert erscheint, daß diese letzte Instanz des Gewissens bereits im 13. Jahrhundert von Thomas von Aquin — wenn auch im katholischen Raum noch lange genug ohne wirkmächtige Konsequenz — bezeugt wurde.

So also setzt die wissenschaftliche Ebene grundsätzlich die Freiheit und Offenheit gegenüber allen weltanschaulichen Bedingungen, Voraussetzungen und Bindungen voraus, nicht also nur gegenüber den geoffenbarten und theologisch-dogmatisch festgelegten Wahrheiten. Freiheit und Offenheit gegenüber allen ansatzgebundenen Sinn-und Bedeutungszusammenhängen, gegenüber jedem letzthin freilich nie ganz überschreitbaren „weltanschaulichen Apriori", ohne das wiederum — wie an anderer Stelle näherhin begründet wurde — gar keine Möglichkeit einer sinnhaften wissenschaftlichen Bemühung denkbar ist.

Es ist dabei ein verbreitetes Mißverständnis, daß in jenem Bezug ein prinzipieller Unterschied zwischen einem im Glauben gebundenen Katholiken oder Prostestanten besteht. Der „Eiserne Vorhang" verläuft ja ganz anderswo. Er trennt vielmehr jene noch im christlichen Existenzbewußtsein sich verstehenden Wissenschaftler von jener zahlenmäßig erdrückenden Mehrheit, die im Lebens-bezug des Positivismus steht mit seinen pragmatischen und „brauchbaren" Vordergrund-perspektiven. Diese Grenzlinie ist aber nicht etwa mit geographischen oder nationalen Fixierungen von Ost und West zu markieren. Findet doch jener östliche Prozeß-Fatalismus in einer herrschenden westlichen determinatorischen Soziologie und psychologischen Anthropologie mit ihren neuen Evangelien unbedingter „Anpassung" und funktionaler „Substanzlosigkeit" seine Entsprechung. Rükken nicht Ost und West aber dann bestürzend nahe zusammen?

Nicht also nur etwa im Budget rangiert heute die Bildungsfrage neben den Verteidigungsansprüchen. Hier in der Wissenschaft an der Universität und ihren sonstigen Institutionen geht es im letztgültigen Sinne mit der fundamentalen Frage und Antwort darüber, was und wozu der Mensch und seine Wissenschaft und Bildung sei, auch und nicht zuletzt um eine existentielle Entscheidung zwischen Ost und West. Es geht daher nicht nur um einen Bildungs-und Planungswettlauf zwischen Ost und West, sondern grundsätzlich um die anthropologische Wert-und Sinnfrage, um die geschichts-und kulturphilosophische Frage letzter Stellungnahmen

Das also ist der katastrophale Irrtum einer bestimmten Wissenschaftsidee, die heute die letzte Konsequenz aus jenem Mißverständnis zieht, allerdings ebenso unter einem durchaus sehr fixierten weltanschaulichen Postulat: Ein bestimmtes wissenschaftliches Denken trat an die Stelle der Religion — in Ost und West! Die Zeugnisse hierfür sind eindeutig. Es sei nur an die These von Edmund Husserl 17a) erinnert: „Wissenschaft — das ist Gottesdienst, der Hörsaal — das ist die Kirche." Der Weg zu einer Wissenschaft als „Mythos atheos" oder gar „antitheos" war nur noch ein Schritt.

Die Frage, ob eine religiöse beziehungsweise konfessionell bezogene Wissenschaftshaltung noch Wissenschaft sei, beantwortet sich dann von selbst, da es doch überhaupt keinen Wissenschaftler gibt, der nicht von einer je bestimmten und bestimmenden Welt-und Selbst-ansicht her existiert — auch in seinen wissenschaftlichen Sinn-und Wertbezügen. Dies gilt also ebenso für die weltanschauliche Basis des Liberalismus, des Idealismus, des Positivismus, des Materialismus, des Pragmatismus und aller anderen Ismen. Das ist es, was auch Eduard Spranger meint, daß es immer eine Selbsttäuschung gewesen sei, daß es irgend ein Wissen ohne verschwiegene metaphysische Grundentscheidungen gegeben habe und geben könne. Sein Gedanke, daß „in den letzten Prinzipien der Wissenschattsansätze alte religiöse Grundhaltungen weiterwirken" wäre einer ernsthaften Untersuchung wert. Eine solche Aufhellung könnte für die Wesensbestimmung der Wissenschaft und ihre* Verhältnisbeziehung zu weltanschaulich bedingten Voraussetzungen und sinn-bestimmenden Vorentscheidungen geradezu alarmierend wirken. Für den Bedeutungscharakter der Wahrheitsergebnisse wirksam sind aber jeweils alle Ansätze in spezifischer Weise. Hier erscheint der Ort der eigentlichen Problematik einer möglichen, nicht restlos aufhebbaren inneren, das heißt existentiell zu bestimmenden Verschränkung von Wissenschaft und Weltanschauung. Für diese Vorentscheidung, auch in der Wissenschaft, gilt uns aber, daß der freie Gewissensbezug letzte Instanz bleibt — für Dozenten und Studenten. Es wird letzthin immer darum gehen, die Spannung zwischen dem überkommenen beziehungsweise „angestammten“ weltanschaulichen „Horizont“ und der möglichen Revision und Korrektur durch die methodisch-kritische rationale Erkenntnisbemühung auszuhalten. Diese Spannung aber wird niemals ganz aufgehoben werden können, weil jeder denkende Mensch eben nur von seinem „Horizont" her zu denken vermag. Die hier anstehende Frage der personalen Freiheitsproblematik vermag dabei nur angedeutet zu werden. Diesem bedrängenden Zirkel zwischen Glauben und Wissen, zwischen „da" -seiender Bedeutungsgewißheit und denkender Besinnung, in einem bestimmten Verständnis zwischen Weltanschauung und Wissenschaft werden wir als Menschen also niemals ganz entfliehen können — auch nicht mit einer radikalsten Wissenschaftstheorie! Hier das aufschlußreiche Wort Nietzsches (WA 14, 41): „Der letzte Wert des Daseins" ist „nicht Folge der Einsicht", sondern er ist selber „Zustand, Voraussetzung der Erkenntnis."

Es soll dabei nicht übersehen werden, daß sich im Hinblick auf die religiös beziehungsweise konfessionell bestimmte institutionelle Wissenschaftsebene bestimmte schwerwiegende Fragen und Fragwürdigkeiten anmelden können, welche die Thematik oder gar die Gefahr einer unzureichenden Wissenschaftshaltung, einer möglichen „Horizontverengung", einer nicht immer garantierten freien Entwicklungsund Entfaltungsmöglichkeit der Persönlichkeit, einer echten Reifung der Überzeugung in der offenen Begegnung, ja unter Umständen wohl sogar die Gefahr einer charakterologischen Unechtheit betreffen. Doch solche Gefahren bestehen in der institutionellen Wissenschalt keineswegs nur für jene konfessionell fixierte Ansatzgebundenheit.

Die Wissenschaft allein leiht keine Richtbilder und Werttafeln für das Leben. Der Sinn unse-rer Existenz läßt sich nicht wissenschaftlich fixieren. Die Hoffnungen, daß die Wissenschaft den Menschen zum wahren Glück, zum wahren Sinn, zur wahren Natur, zum wahren Gott führen könne, sind längst zerschmolzen. Gewiß sind Wissenschaft und Universität, damit der Mensch sich auch seines Standortes in der Welt rational-kritisch versichere. Allein die Wissenschaft geht bis an die Grenze, dort wird sie inne, daß sie eigentlich von jenseits dieser Grenze stammt — daß also ganz andere vorgelagerte Grunderfahrungen und Wert-erlebnisse die existentiellen Grundentscheidungen fixiert haben und verbürgen. Diese Überzeugung war aber auch bei den großen Geistern — nicht nur „Könnern" — jeder spezifischen Disziplin immer lebendig gewesen. So etwa bei Ferdinand Sauerbruch 20): „Heute haben die Wissenschaften und insbesondere auch die Medizin ihre Grenzen wieder entdeckt, und beide suchen nach Fäden, die sie mit einer übergeordneten Weltanschauung verbinden .... Hier liegt eine Aufgabe, deren Lösung höher zu werten ist als alle Fach-leistungen .... übertriebenes Spezialistentum war ... immer der Ausdruck einer Dekadenz, eines Stillstandes oder Rückganges. Auch wir sind von ihm bedroht."

Wird diese unbehagliche Problematik um die gekennzeichneten Fragwürdigkeiten in Fragen der Wissenschaftsidee heute wirklich gesehen? Und wenn sie gesehen wird, wagt man, sie zu benennen oder gar in mögliche Konsequenzen zu stellen? Und doch zentriert in der Bestimmung dessen, was Wissenschait sei, jene tiefere Problematik der heutigen Universitätssituation. In diesen Thesen bezeugt sich keine Wissenschaftsfeindlichkeit, sondern nur der Versuch, die gültige Wissenschaftsidee aus ihrer unbefragten Insichbezogenheit zu befreien und ihr jene Stelle im menschlichen Funktionsbereich zuzuweisen, die ebenso nach dem Sinn wie auch nach der Grenze wissenschaftlicher Bemühung fragt.

Es kann nicht deutlich genug betont werden, daß dies nicht bedeutet, daß die wissenschaftliche Forschung und Lehre unter bestimmten verbindlichen weltanschaulichen Vorzeichen betrieben werden sollte. Es bedeutet aber, daß für jeden je einzelnen keine Sinnfindung seines wissenschaftlichen Erkenntnisbildes möglich sein wird, außer unter dem kritischen Ansatz seines Weltanschauungsbildes, für das die gewissentliche Freiheit aufmerksam zu wahren ist, sofern unter Weltanschauung nicht etwa eine bestimmte Religion oder Konfession verstanden werden soll, sondern der je persönliche Bezug als „letzte Stellungnahme“ zur Existenz überhaupt. Gibt es doch auch areligiöse Weltanschauungen, zumindest als verkappte Religionen. Weltanschauung besagt uns vielmehr das Insgesamt aller Stellungnahmen, Erlebnis-und Fühlweisen eines Menschen, seines wissenschaftlichen Weltbildes ebenso wie seines wertbezogenen Lebenszieles, seines Lebensstiles und seiner bewußten oder unbewußten Grundhaltungen zur Welt und zu sich selbst als integrierender Lebensform. Die Universität soll Weltanschauung weder erfinden noch die Wissenschaft doktrinär weltanschaulich betreiben — sie soll aber den „Horizont" aufspannen, das heißt offen halten und in Freiheit gelten lassen, unter dem eine für das Ganze der menschlichen Existenz je sinnbezogene Wissenschaft erst möglich wird.

Richtig ist, daß Wissenschaft im Selbstverständnis der Universität nicht nach weltanschaulichen Gesichtspunkten bestimmt werden soll. Ebenso richtig aber ist, daß Wissenschaft an der Universität notwendig je weltanschaulich bestimmt ist. Unrichtig aber wäre die Behauptung, daß die Berufungspolitik der Fakultäten immer ohne weltanschauliche Gesichtspunkte geschieht. Wie anders sollte man sonst die Merkmaligkeit des Lehrkörpers, besonders in bestimmten geisteswissenschaftlichen Disziplinen, an manchen Universitäten wohl erklären? Was soll aber dann „Liberalität" bedeuten, wenn damit nur die Freiheit einer bestimmten Position gemeint ist? In jener offenkundigen Diskrepanz liegt eine bis ins Mark zehrende Krise der Universität, die einen überzeugenden Beleg für die Brüchigkeit eines bestimmten Wissenschaftsbegriffes darstellt, der schon an jener Belastung scheitert.

Hier liegen eigenartige Widersprüdie, besonders der deutschen, ja der deutschsprachigen Universität, die freilich kaum eingestanden werden.

III. Hat die Universität einen Bildungsauftrag ?

Was aber bedeuten jene Perspektiven für den Bildungsauftrag der heutigen Universität? Ja, gibt es und darf es einen solchen geben?

Dieser Auftrag der Universität ist heftig bestritten worden, da — so auch nach Ansicht des Verbandes Deutscher Studentenschaften — Erziehung Menschenformung nicht durch freie Selbstbildung, sondern zu einem vorgesehenen Ziele hin sein will. Die vernünftigste, der Hochschule einzig mögliche pädagogische Maßnahme gegenüber den Studenten sei, sich hartnäckig jeder pädagogischen Maßnahme zu enthalten. Was möglich erscheine, sei die Bildung durch Wissenschaft als intellektuelle Bildung mit den spezifisch wissenschaftlichen Tugenden der Sachlichkeit, der kritischen Reflexion, der Selbsttreue und so fort.

Was bleibt dazu zu sagen? — So einfach liegen uns diese Fragen nicht. Ob hiermit auch bereits ein Maßstab des Urteils, des Wert-bezuges gegeben ist? Könnte nicht ebenso unter jenem formalen Tugendhorizont das Wertwidrige, ja das Unmenschliche getätigt werden? Die entscheidende Frage ist, ob es der Universität gegeben ist und aufgegeben ist, über die Grenzen des Nur-Fachlichen der Wissenschaft hinaus als Bildungsstätte des Geistes zur Wirksamkeit zu gelangen. Soll also Bildung an der Universität nur bedeuten, zu dem formalen Vermögen verantwortlicher Entscheidungen und charaktervoller Haltungen zu führen? Erschöpft sich die Bildungsaufgabe der Universität in Sinne Fichtes darin, „eine Schule der Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauchs zu sein"? Und wie sollte und könnte dies geschehen? Ist denn Bildung ohne ein inhaltliches Moment überhaupt je möglich, das sich der Tradierung eines Kultur-gutes, der Hineinführung des Menschen in die Kulturwelt ebenso verpflichtet weiß wie der Offenheit für alle neuen Perspektiven? Das „Fach an sich" vermag niemals Wertgesichtspunkte zu erschließen, die als Maßstab das Ganze unter einem sinntragenden über-bzw. vorgeordneten Daseinsbezirk erscheinen lassen. Jene verbreitete These 22), das Humanum lasse sich allein aus dem Fach entwickeln, vermag nicht zu überzeugen und ist auch aus der Praxis der Hochschulen kaum zu belegen, außer in wenigen Ansätzen in solchen Fächern, die den Umkreis des Humanum selbst zum spezifischen Vorwurf haben. Kann dann aber behauptet werden, Bildung gehöre nicht zu den „planenden Funktionen der Universität"? Die Rede von der selbsttätigen Bildungskraft der Wissenschaft bleibt — wie gesagt — prinzipiell richtungslos und material unverbindlich, ganz abgesehen von der Tatsache, daß immer eine wertbezogene Richtungsbestimmtheit der Gehalte schon mitgegeben ist — auch wenn man sich ihrer nicht kritisch bewußt sein sollte.

Auch wir sind der Überzeugung, daß jede echte Erziehung und Bildung nur in der unbedingten Freiheit möglich und fruchtbar sein kann. Doch ebenso bedrängt sogleich diese andere Frage: Gibt es denn eine solche Freiheit? Gibt es einen rein neutralen, das hieße doch verantwortungsfreien Raum, gibt es eine reine Funktionsschulung? Immer wird es notwendig eine je bestimmte Weltansicht und Weltdeutung sein, die jeder auch noch so vermeintlich rein objektiven Diktion des Dozenten, einer vermeintlichen reinen „Bildung durch Wissenschaft" als vorgegebene Richtungs-und Maßstabsbestimmtheit zugrunde liegt. Kann es dabei aber gleichgültig sein, welche Kulturwelt mit ihren je ganz bestimmten Denk-und Erlebnisbezügen, Sinnbestimmtheiten und so fort dem heranwachsenden Menschen zur Begegnung angeboten wird? Denn eine reine formale Bildung als reine Unverbindlichkeit der Gehalte bleibt immer Selbsttäuschung.

Wenn Bildung im abendländischen Verständnis ein existentielles Geschehen am ganzen Menschen ist, weder eine nur formale oder materiale Ausbildung an und zu Kenntnissen und Fertigkeiten, — wenn also Bildung bedeutet die Gewinnung eines formenden Bewußtseins der Persönlichkeit für den rechten Maßstab der Dinge, für einen verbindlichen Beziehungsmittelpunkt des Lebens, Denkens und Handelns, so gerät zumal die heutige Universität in ihre eigentliche Verlegenheit. Wo aber der Blick für letzte Bezüge verloren-ging, dort wird Erkenntnis rein instrumental. So sind unsere modernen Universitäten weithin nicht mehr Stätten dieser Besinnung, sondern „Fabriken", die „Werkzeuge unserer Zi-vilisation" produzieren, einschließlich der Werkzeuge ihrer Zerstörung.

Allein der Sinn der Universität kann auch heute nicht nur formal bestimmt werden, weil auch die heutige Universität — wie immer — nicht im leeren Raum existiert, sondern von einem durchaus bestimmten, wenn auch brüchigen Boden einer Kulturtradition her noch lebt. Wer nur sein Fachgebiet bedenkt, fragt immer nur nach Teilwahrheiten. Wer wirklich nach der Wahrheit fragt, fragt immer nach dem sinnleihenden Mittelpunkt und damit nach einem bestimmenden Gesichtspunkt für das Ganze. Aber ist es nicht gerade die Tragödie der modernen Universität, daß sie glaubte, im Namen der „reinen" Wissenschaftlichkeit den Menschen und das Menschliche ausklammern zu können? Jeder Lebensversuch aus zwei Händen — aus der „reinen“ entmenschlichten Wissenschaftshaltung und dem existentiellen Heilsverlangen — muß Spaltung bewirken. Ein solcher methodischer und existentieller Positivismus, der technologisch und statistisch und mechanistisch das eigentlich Menschliche zu eliminieren sucht, sofern der „Fall" Mensch getestet und gemessen und errechnet „einsetzbar" erscheint in das anonyme Räderwerk des gesellschaftlichen Kollektivs, trägt im Grunde die Schuld an jener Entzweiung von Forschung und verantwortlicher Lebenshandlung, an jener existentiellen Gespaltenheit mit ihren so tragischen, unhumanen Folgen einer Unechtheit des Lebensstils und einer flächigen Abtötung aller tieferen seelischen Bezirke. Und dies im Zeichen einer unverbindlichen statistischen Richtigkeit, die an Stelle der Wahrheit als eines organischen Seins-und Sinnbezuges trat.

Wenn aber die menschliche Persönlichkeit ohne eine ethische und geistige Grundlage des Handelns nicht denkbar ist, so erscheint dann hier die bildungstheoretische Aufgabe der Universität: Ansatzstellen für die Erfahrung jeweils letzter Entscheidungen und Stellungnahmen, die dem einzelnen gewissentlich aufgegeben bleiben, in und durch die Fachgebiete zu erschließen, zu fixieren und sie in den Zusammenhang der menschlichen Perspektiven zu stellen. Die Verdrängung dieser Perspektiven könnte als der eigentliche Widerspruch der modernen Universität und ihrer vermeintlich wertneutralen Wissenschaftshaltung gelten. Dann aber wird diese Erfahrung hier zudringlich: daß der Wissende in dem Maße, wie für ihn die Sinn-Einheit des Wissens verlorengeht, auch die personhafte Mitte, die ihn zum Träger verantwortlicher Entscheidungen macht, verliert.

Wenn in der Gegenwart der Verlust der inneren Einheit des Menschen als innerseelische Ganzheit im Hinblick auf die Sinn-und Lebens-zusammenhänge als das bezeichnendste Phänomen angesprochen wird, so wollte Helmut Thielicke4) von einem „geistigen Existenzminimum der Hochschullehrer" hinsichtlich ihrer „universellen Fundierung" heute sprechen. Dem entspricht seitens der Studierenden bei Abschluß ihres Studiums in zunehmendem Maße die notvolle Erfahrung, daß sie im Grunde kaum je über ihr spezialisiertes Fach-studium hinaus in ihren menschlichen Bezügen beteiligt worden sind, was keineswegs allein mit dem Massenstudium erklärt werden kann. Wahre geistige Existenz ist jedoch nur dann gegeben, wenn der innere Abstand genügend groß ist, um die Horizontfragen, die übergreifenden Fragen als Sinnfragen zu erreichen. Ohne das zentrale Bewußtsein um den sinngebundenen, nicht nur methodologischen Ort einer Einzeldisziplin im Ganzen der Universitas gibt es wohl hohe Gelehrsamkeit, aber keine eigentlich geistigen Bezüge. Es gilt hier die Einsicht, daß wissenschaftliche Forschung und Lehre nur sinnvoll werden unter einem gültigen Richtbild als einer tragenden Sinnrichtung für alle Erkenntnisse der Fachgebiete. In diese Richtung zielt ebenso das, was Josef Pieper die „Offenheit für das Ganze" als Wesensmerkmal der Universität genannt hat, den Blick und die Bemühung um den „Gesamtzusammenhang der Existenz überhaupt", die „Konfrontierung mit dem Ganzen der Wirklichkeit".

Wenn es richtig ist, daß die wissenschaftliche Hochschule nur insofern Bildungsanstalt sein kann, als sie die Begegnung mit dem sinngegebenden Einheitsgrund des Wissens ermöglicht, so wird die Bemühung um jene „prinzipielle“ Wissenschaftshaltung geradezu zum Kernproblem der Wissenschaft und des Studiums überhaupt. Bildung ist nur aus einem geistigen Zentrum heraus möglich: doch es scheint fast, als ob heute die philosophische als jene doch wesenhaft akademische „Tiefensicht", ja das Organ für prinzipielles, dem Sinn-und Wertbezirk zugeordnetes Denken und Fragen weithin fehlt. Doch ohne dieses „Philosophische" als Grundaspekt jeder Wissenschatt muß die Universität notwendig trotz aller Kooperation und Konvergenz eine mechanistische Addition von gewiß eminentem Umkreis bleiben, aber es führt kein Weg zur „organischen" als einer strukturellen sinnleihenden Bemühung, die doch immer den Menschen betrifft. Die Frage ist nicht, ob der Mensch dem Fortschritt der Wissenschaft zu dienen hat, sondern ob die Wissenschait der echten Entfaltung des Menschen zu dienen vermag. Diese Vorentscheidung ist unerläßlich, sollen nicht die Rollen vertauscht werden und damit die Wissenschaft selbst und der Mensch in Frage gestellt werden. Was sollen anders For-

schungsinstitute und Organisationsmechanismen bedeuten, wenn das Fundamentale nicht benannt und geklärt ist? Was für die heutige pragmatische Wissenschaft schlechthin gilt, ist dieses: ob es gelingt, das PRAGMA (im modernen Sinn verstanden) wieder an den LO-GOS zu binden, das heißt richtungs-und sinn-bestimmt zu fixieren. Das Gerede von der Wertneutralität wissenschaftlicher Ebenen ist nicht nur ein fatales Mißverständnis, es ist auch der Tod jeder Bildung und Erziehung wie jeder Menschlichkeit überhaupt. Denn es gibt keine gültige Soziologie ohne den sozialphilosophischen und sozialethischen Hintergrund — oder nur Anpassungstechnik und Statistik von sogenannten Gesetzlichkeiten. Es gibt keine gültige Psychologie ohne den substantialen, personalen seelischen Hintergrund — oder nur Feststellungen von aktualen Mechanismen. Eine bestimmte mechanistisch-atomistische Position wird geradezu zum Religionsersatz, indem sie dem Menschen die Enträtselung seines Daseins verspricht, wenn er nur auf wesentliche Züge seines Menschseins verzichtet. Der Mensch vermag in der Wissenschaft niemals nur als Objekt angenommen zu werden; denn der Mensch ist im philosophischen, psychologischen, soziologischen und pädagogischen Aspekt immer zuerst und wesenhaft Subjekt, das durch eine unspezifische gegenständliche Betrachtung bereits objektiviert, verdinglicht und damit auch entmenschlicht wird. Es gibt aber auch keine gültige Pädagogik ohne den fundierenden Aspekt eines strukturell bestimmten und bestimmenden Bildes vom Menschen als Voraussetzung und Zielbild aller Bildung und Erziehung — oder es gibt nur eine biologische oder soziologische oder ökonomische Bildungstechnik und einen ebenso anspruchsvollen wie leeren Organisationsmechanismus. In allen Fällen aber — so auch hier — liegt solchen Wissenschaftsauffassungen und Methoden eine höchst bestimmte Weltanschauung voraus als jene mechanistisch-biologistische, determinatorische Weltansicht. Diese „Hintergründe" sind ja immer schon „da", wirkmächtig bis in die Methodenwahl, — warum sucht man sie zu übersehen?

Die Universitas scientiarum erscheint somit als ein Existenzialproblem, als ein Sinnproblem des Menschen. „Einheit der Wissenschaft" ist danach keine andere als „Einheit des Menschen", der Wissenschaft „betreibt". Einheit des Menschen als Einheit der Person aber bedeutet strukturelle, das ist geordnete Sinneinheit aller Bezüge im Hinblick auf eine letzte Bezogenheit. Einheit der Wissenschaft wird dann zum anthropologischen, sinnintentionalen Problem als dem Sinnbezug des Menschen, seiner Probleme, seiner Forschungen und Ergebnisse aller Einzelfachgebiete auf eine Beziehungsmitte. Desintegration der Wissenschaft zwingt in solchem Verständnis umgekehrt zu dem Schluß einer Desintegration des Menschen, einer möglichen Verkehrung seiner Wert-und Sinnbezüge als Bedeutungsträger, ja des Verlustes eines gültigen Wert-und Sinnbewußtseins überhaupt.

Um der Isolierung der Fachgebiete, wodurch das Prinzip der Universität selbst sich auflöst und die Kooperation wissenschaftlicher Forschung in Gefahr geriet, zu begegnen, sollen die Grenzen zwischen den Disziplinen und Fakultäten fallen. Man sucht daher — so im Modell der Universität Bochum — eine allseitige Verflechtung der wissenschaftlichen Disziplinen dadurch zu ermöglichen, daß mit der Preisgabe der bisherigen Gliederung in Fakultäten jene Wissenschaften in Abteilungen zu ordnen sind, die einen engeren inneren Zusammenhang aufweisen und in einem Zentra-Institut zusammengefaßt werden. Eine solche Synthese als Strukturprinzip, wonach die Grenzfragen zu den eigentlichen Forschungsthemen zu erheben sind, wurde bereits im Jahre 1957 inder Veröffentlichung,, Wissenschaft und Bildung" nachhaltig gefordert, damals, als solche Gedanken allgemein noch als wissenschaftlich verdächtig galten. Daß jedoch „Kooperation" nicht nur eine äußere, sondern zuerst eine fundamentale existentielle Frage des Wissenschaftlers selbst ist, haben wir schon besonders bemerkt. Die Kooperation verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ist nicht zuerst eine Frage der Institutionen, sondern der Personen.

Was aber folgt daraus für den Studienraum? Nicht die perfektionistische Bewältigung der Stoffülle erscheint als Ziel, sondern die Bemühung um die Erfassung des Geistes einer Disziplin. Dies wird freilich für den Studenten nur durch die zwar vielbesprochene, aber kaum verwirklichte Revision der Examens-praktika erreicht werden können. Noch jedenfalls wird auf Schule und Hochschule oft nur nach dem Maß des Wissens gefragt und abgefragt — die Prädikate „mündig" und „reif" und „Persönlichkeit" verharren dabei in den „Richtlinien"! Jede Hochschulreform wird bei der Reform der Prüfungspraktiken beginnen müssen. Das heißt bei den Dozenten und Bürokratien! Damit aber stellt sich jenes umstrittene, engere Problem der pädagogischen Verantwortung der Universität, nämlich die Frage nach der Verhältnisbeziehung von Wissenschaft, Universität und Berufsbildung. Besteht jene These zu Recht, die die Wissenschaftlichkeit von Forschung und Lehre in unbedingtem Gegensatz zu jeder Berufsbildung sehen will? Mit einer solchen These müßten freilich ebenso gar manche Fachdisziplinen von der Universität verwiesen werden, worin sich der Gebrauchs-und Verbrauchsstandpunkt deutlich genug anzeigt. Ob die Bildung und Ausbildung des Volksschullehrers an die Universität gehört, ist ein vielseitig diskutables Problem. Daß man jedoch, wie eine kürzliche Erklärung des Senats der Universität Kiel bezeugt, dagegen deren reine, mit der Wissenschaftlichkeit nicht vereinbare Fachausbildung ins Feld führt, bleibt angesichts so vieler reiner Fachausbildungen an der Universität nicht überzeugend.

Aber stünden nicht gerade die Philosophie, Pädagogik, Psychologie des Lehrerstudenten dem eigentlich Akademischen der Universität weit näher als gar manche „heimische"

Disziplinen? Oder aber wird Wissenschaft um so wissenschaftlicher, je weiter sie von Bildungsbezügen als den wesenhaft menschlichen Sinnbezügen entfernt ist? Die Verantwortung der Universität wird sich bewußt auch auf diejenige Seite des künftigen Berufs ihrer Studierenden zu erstrecken haben, die über den Bereich des fachwissenschaftlich Bestimmbaren hinausgreift. Wahrheit und Wissenschaft sollen an der Universität nicht nur in sich verschlossene Ziele bleiben. Sie sollen ebenso einen sittlichen Wert anzeigen. Sie sollen auch an der Universität nicht ohne jeden Bezug zum künftigen Beruf als wesensgemäßer und ethischer fundierter Erfüllung einer akademischen Berufsaufgabe betrieben werden, sofern eben die Universität die Heranbildung dieser Berufe übernimmt. Wissenschaftliches Studium an der Universität soll zwar nicht Berufsausbildung, wohl aber bewußt Berufsvorbildung sein. Daß die Universitäten zu allen Zeiten auch Stätten der Berufsausbildung waren, möge doch nicht übersehen werden. Und verliert die Wissenschaft wirklich an Wissenschaftlichkeit, wenn hierbei die Gegenstände der Vorlesungen, des Seminars, der Prüfungen so gewählt würden, daß sie zum künftigen Beruf einen organisch nahen Bezug nehmen? Kann doch jeder Gegenstand exemplarisch zum wissenschaftlichen Gegenstand erhoben werden. Die Warnung, dann wäre die Freiheit des Studiums bedroht, ist nicht überzeugend. Wo noch gibt es heute keine fest umrissenen Fachlehrgänge mit Scheinen und Nachweisen? Was längst mit schlechtem Gewissen und ohne volles Eingeständnis geschah, — man wird auch planmäßig zur Teilung der Aufgaben gelangen müssen, etwa von Studienstufe und Forschungsstufe, sollen nicht unsere Vorlesungen und Seminare einen unbehaglichen Kompromiß zwischen den Forschungsidealen und den Pflichten als Lehrer etwa für künftige Staatsexamenskandidaten des Lehramtes darstellen, die doch nicht verhinderte Privatdozenten werden sollen. Die Forderung nach einer gewissen Praxisnähe des akademischen Studiums bei aller Wahrung der Wissenschaftlichkeit kann heute nicht mehr ignoriert werden, wie sie doch etwa im Medizinstudium selbstverständlich ist, ohne daß an dem Wissenschaftscharakter dieser Disziplin gezweifelt würde. So sollte ebenso die künftige Lehrer-existenz mit einem pädagogisch-philosophisch-psychologischen verbindlichen Begleitstudium als Grundstudium auch die künftigen Lehrer der höheren Schulen beteiligen. Die Frage einer pädagogischen institutioneilen Perspektive innerhalb der Philosophischen Fakultät erscheint uns als ein echtes Problem. Gewiß ist, daß die Vorstellungen von akademischer Bildung im traditionellen Sinn keineswegs immer den Forderungen entsprechen, die Staat und Berufsverbände an die „Ausbildungskurse" stellen, ja das Eigentliche der Universität wird durch diesen „Kompromiß" äußerst gefährdet, besonders dann, wenn die durch jene Prüfungsanforderungen gelenkte und die Freiheit der Universität und des Hochschullehrers einschränkende massenmäßige Berufsausbildung der Universität mit ihrem Grundgesetz der Wahrheitsfindung, der kritischen Pro-blemoffenheit und der Persönlichkeitsformung durch wissend-forschende Teilhabe heute praktisch erdrückt Hier stünde die These zur Diskussion, wonach wissenschaftliche Berufs-prüfungen grundsätzlich nur als akademische Prüfungen in die Zuständigkeit der Universität selbst fallen können, soll das garantierte Freiheitsrecht des Hochschullehrers nicht verletzt werden Die eigentliche Frage liegt aber noch anders. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, ein Minimum des eigentlich Akademischen mit seinem spezifisch wissenschaftli-chen Ethos der Verantwortung dem Geist und der Forschung gegenüber in Methode, Gegenstand und Haltung auch für das Massenstudium der Berufsfächer zu wahren. Hierzu gehören zuerst das initiative kritische Problembewußtsein und Wahrheitsstreben des Studierenden. Also, um mit Wolfgang Clemen zu sprechen, „die Rettung der Universität in der Universität". Dies doch unterscheidet die Universität von der Fachschule. Das Durcheinander von Verschulung und freiem Studium scheint kaum mehr länger erträglich zu sein.

IV. Möglichkeiten und Aufgaben einer künftigen Universität

Charakteristisch für die heutige Situation erscheint, daß das Verhältnis von Staat und Hochschule in zunehmendem Maße von einer anderen Korrelation verdrängt wird, die der Bezug von Hochschule und Gesellschaft anzeigt Gesellschaftliche Gruppen und ihre Wortführer suchen über die Medien der staatlichen politischen, wirtschaftlichen, nicht zuletzt der kapitalbesitzenden Mächte und Kräfte ihre Auffassungen über Zweck und Aufgabe der Hochschulen ohne Rücksicht auf die Merkmaligkeit des der Universität ureigenen bisherigen Leitbildes zur Geltung zu bringen. Danach habe die Hochschule „nach Art und Umfang meßbare und bestimmbare gesellschaftliche Aufträge" zu erfüllen und in der Produktion von Funktionären mit bestimmten Kenntnissen und Fertigkeiten, ganz abgesehen von den Aufträgen zur industriellen Verwertung bis zur Kriegswaffe. Eine solche isolierte Berufs-und Materialideologie des „Hochschulbedarfs" weiß nichts mehr und will auch nichts mehr wissen von jenen Traditionsbezügen der Universität. Diese Funktionalisierung der Hochschule ist seit langem fortschreitend im Gange, ohne daß dabei bemerkt wurde, in welchem Maße die Unterschiede zu östlichen Hochschulideologien bereits gefallen sind

Nicht jene, vom Grundgesetz geschützten Freiheiten der Forschung und der Lehre sind unmittelbar in Gefahr. Vielmehr muß eine heute fast hektische totale Verplanung der Wissenschaft, des Kultur-und Bildungslebens und damit der fundamentalen Lebensbezüge überhaupt im Sinne eines reinen Gebrauchs-und Verbrauchsstandpunktes, eines Bildungsmaterialismus, der in Konsum-und Machtsteigerung alles sieht, also die produktive Erfüllung eines Plansolls an Akademikern, die Freiheit des Individuums wie auch die Freiheit des Bildungsstrebens merkbar einschränken und jene bis heute trotz allem noch durchhaltende christlich-abendländische Idee von der geistig bestimmten Maßstabsgerechtigkeit der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Werttafeln in einer radikalen „Umwertung aller Werte" geradezu auf den Kopf stellen. Planungen im Bildungs-und Erziehungsbereich, die nicht zuerst und bewußt über den fundamentalen Fragestellungen nach dem Wesensmerkmal dessen, was Bildung und Erziehung gültig sei und welche Bildungsziele als Ziele menschlicher Wertgestaltung richtungweisend sein sollen, erhoben und betrieben werden, wirken geradezu alarmierend, wie ein Rückfall in eine Barbarisierung, wie eine Primitivisierung der Lebensbedürfnisse und Lebensauffassungen. In solchem Verständnis bemerkt auch Wilhelm Röpke -. „Wissenschaft und Bildung geraten in höchst bedenklicher Weise in die Saugkraft der industriellen Wohlstandsgesellschaft selber . .. , wobei eine mehr oder minder materialistische Massenkultur die Skala der Werte vom Geistigen zum Materiellen ... verschiebt“. Bei allem Erfordernis planmäßiger Vorsorge könnte dazu der Anspruch bestimmter über-geordneter Institutionen, politischer und sonstiger Einrichtungen und Machtgruppen, das autonome Leben der Universität wie das freie weil geistige Leben überhaupt mit seinen regionalen Eigenständigkeiten überspielen und letzthin zerstören. Was soll die Rede von der Freiheit der Person, jenem „Fossil aus der abendländisch-christlichen Epoche" (J. Schoeps), wenn zugleich seitens der Gesellschaft alles getan wird, um diesen Freiheitsraum im Dienste des nur materialen Fortschritts zu verplanen und damit unmöglich zu machen? Das ist es, was Adolf Butenandt die Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Beamten und Parlamente genannt hat, wobei noch die ökonomischen Bezirke hinzuzurechnen wären.

Es bedarf keiner Begründung, wieweit auch in westlichen Deklamationen das, was hier als „Bildung", „Menschenbildung" deklariert wird, oft genug ohne wesenhafte Hintergrundsperspektiven nur als Transparent für ein längst verlorenes Bewußtsein genommen wird, als Phantom für ein „höheres Menschentum" und eine höhere Kulturauffassung, eben in der katastrophalen Verwechslung von Bildung und Ausbildung.

Wenn Bildung des Menschen allein von der Sorge geleitet sein soll, daß wir unser Leben fristen, daß wir „überleben" können, so wird eine so verstandene Lebenshilfe doch nur im ersten Vorfeld zu placieren sein. Nicht daß wir nur leben und überleben, sondern daß und wie wir dieses Leben sinnvoll bestehen können — dies wäre das gültige Anliegen einer „Lebenshilfe" für den geistigen Menschen. Ob und wie ein Mensch den „Kern" seiner Existenz begreift und verwirklicht, wie sein „letztes Wort" zu seiner Existenz lauten wird — so hoch also greifen wir mit unseren Forderungen, wenn von Bildung und Erziehung die Rede ist. Denn auch das drängende Thema „Mensch und technische Welt" gewinnt nur von hier aus seine tragenden Perspektiven.

Daß dieser moderne Mensch „mitkommt“ in Wirtschaft und Arbeitsprozeß und Konjunktur — dies ist ein Anliegen seiner Ausbildung.

Daß er aber sinnvoll in dieser modernen Welt als geistig-seelisches Wesen zu leben vermag — dies ist eine Frage seiner Bildung als Lebens-und Wesensnorm seines Menschseins.

Das heute in der Bildungs-und Erziehungsebene fast dringendste Problem ist das einer Integrierung von Bildung und Ausbildung. Es ist ein Irrtum, daß der Mensch gültig in zwei Ebenen leben kann, in einer Innenwelt, die man humanisiert oder auch nur human konservieren und schützen könne, also als „Privatperson" reserviert existiere, zum anderen aber in einer technischen Arbeitswelt lebe, die nur unter dem Signum des sachgemäßen Gebrauchs stehe. Eine menschliche Daseinsverfassung wird nur dann möglich sein, wenn die von der technischen Arbeitswelt andrängenden Probleme ernsthaft ausgenommen und zu den übrigen Richtungen und Aspekten humanen Bestrebens in innere Beziehung gesetzt werden. Ein Leben auf zwei Ebenen, in zwei Stockwerken, muß jene seelische Gespaltenheit bewirken, die heute typisch ist.

Allein zuerst muß der sinnleihende Maßstab für die gesamtmenschliche Existenz, die Bildung, gewonnen sein, ehe die fachlich-berufliche Ausbildung als Weg zur Bildung Gültigkeit zu gewinnen vermag. Universitäten waren aber stets mehr als nur Stätten des wissenschaftlichen Fragens und Forschens und der Bereitstellung von „Arbeitswissen". Sie waren immer zugleich — eben nach den Ideen ihrer Gründer — Stätten der Lebensideen und der Kulturverantwortung. Während freilich immer noch ernste Bemühungen der Hochschulen versuchen, das Bewußtsein um den notwendigen Bezug zum Ganzen in der Spezial-wissenschaft nicht ganz zu verlieren, scheint jene „Bedarfsdeckungsideologie" weithin zu siegen. Es verstärkt sich heute der Eindruck, als ob viele Kriterien und Vorschläge zur Gründung neuer Universitäten „von unten her" datieren, das heißt vom Erfolgsstandpunkt, allein also von soziologischen und betriebstechnischen Erwägungen für diesen neuen „Großbetrieb". Doch eine Universität muß zuerst eine innere Gestalt, ein Telos, ein ideales Richtbild haben, das existentiell den menschlichen Bezirk als solchen betrifft, wofür freilich bestimmte, sich heute geradezu aufdrängende soziologische „Berechnungen" nicht geeignet sind für die Fixierung von Idee und geistigem Traggrund der Universität. Die Diskussionen um neue Universitäten neuen Typs bleiben also nur im Vorfeld stecken, wenn man meint, mit einigen Änderungen der Organisation, des Studienbetriebes, der Neugliederung von Instituten und Abteilungen, der Errichtung von Forschungsuniversitäten oder ähnliches, eine solche Aufgabe schon bewältigt zu haben. Der Ruf nach der neuen Universität zeitigte in den als fortschrittlich fixierten Programmen dann auch gar keine wesentlichen neuen Perspektiven Organisation und Technologie allein reichen eben nicht aus, um „Neues“ zu gestalten. Die innere Hochschulreform als die Frage nach Sinn und Auftrag der Universität überhaupt rangiert notwendig vor allen äußeren Maßnahmen, die sich eben an dem Maß, dem Maßstab für das Ganze zu orientieren haben. Das Neue ist nicht schon deshalb besser, weil es neu, aktuell ist — eine Denkweise, die zunehmend an Gewicht gewinnt. Ein Konzept bedarf der existentiellen, nicht nur der ökonomischen und juridischen Fundierung.

Gerade heute, wo das Schwinden der Freiheit — trotz aller Beschwörung der Freiheiten — ein kaum aufzuhaltender Weltprozeß zu sein scheint, müßte es vordringlich erscheinen, den einzelnen, auch den Hochschullehrer, der sich in Flucht vor der Geschichte und Tradition auf sich selbst oder auf die neuen Sachprobleme zurückziehen möchte, in seine Pflicht der verantwortlichen Entscheidung zu rufen. Aber dieses Persönliche wird nur in Abhebung von der Gesellschaft, im Rückbezug auf den Urgrund der Person zunächst wiedergewonnen werden müssen, um dann erst in den Dienst an der Gesellschaft einzutreten. Ein umgekehrter Prozeß wird notwendig zur Entmündigung der freien Person führen, sei dies durch Gewalt, wie im Osten, oder durch seelischen Substanzverlust, durch eine „existentielle Auszehrung", wie im Westen.

Dies bedeutet, daß den Lehrenden und Lernenden nicht nur die Aufgabe zufallen kann, Tatsachen zu finden und in „Hilfestellung" dem öffentlichen Raum bereitzustellen, sondern daß zugleich die Sinn-und Wertperspektiven dieser Ergebnisse und die Zielrichtung ihrer Verwirklichung verantwortlich auch dem akademischen Raum zugehören, was die Problematik um Ethik und Atomphysik unter anderem deutlich anzeigt. Hier zentrieren alle jene, unserer Epoche erstmals aufgetragenen innerseelischen Konflikte, wie sie Albert Einstein in seiner Botschaft nach Lucca im Jahre 1950 so eindringlich als die „Erniedrigung des wissenschaftlichen Menschen" benannt hat, da der moderne Forscher selbst „die Mittel zu seiner äußeren Versklavung und zu seiner Vernichtung von innen her geschaffen hat“. Er muß sich „von den Trägern der politischen Macht einen Maulkorb anhängen lassen ..., er erniedrigt sich sogar so weit, daß er auf Befehl die Mittel für die allgemeine Vernichtung der Menschheit weiter zu vervollkommnen hilft“ Der große Naturforscher setzt dem sein Bekenntnis entgegen, daß man einen innerlich freien und gewissenhaften Menschen zwar vernichten, aber nicht zum Sklaven machen kann. Kraft der unvernichtbaren sittlichen Freiheit könne allein die allgemein bedrohende Lage noch gebessert werden. — Den Gelehrten in jene „Dienerrolle" zu verweisen, konnte nur gelingen durch die Erniedrigung des Wissens zur pragmatischen Größe im Verein mit jener sinnentleerten Wissenschaftsauffassung und mit dem Übergewicht einer bestimmten öffentlichen Spielregel, wonach der Mensch nicht mehr als Mensch, als „gebildete" Persönlichkeit, sondern als Funktionär in einem politischen, ökonomischen und juridischen Organisationsmechanismus, also als brauchbare, „versierte" Persönlichkeit in Geltung steht. Der Dozent wurde — im Worte Romano Guardinis — zum Produzenten brauchbarer Richtigkeiten, sofern die Wahrheit sich in Brauchbarkeit umfälscht 34). Ja, der Dozent „neuen Stils" scheint heute in bestimmten lebensnahen Disziplinen fortschreitend in den Sog eines massenpsychologisch und massensoziologisch bestimmten Managertums zu geraten. An die Stelle des fundierten und in langjähriger Bemühung gewachsenen und gereiften „Werkes" tritt oft genug der Hang nach „Publicity" und konjunkturpolitischer Tagesgerechtigkeit. Bildung aber meint eben zuerst den Menschen als Menschen, nicht nur den Funktionär, der möglicherweise, wie Karl Jaspers es treffend formulierte, als geistiger Babar mit Leistungen glänzen kann.

Die heutige Universität wird im Grunde diese zentrale Aufgabe zu bewältigen haben, von deren Lösung ihr weiterer Bestand abhängt:

Sie wird in Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbegriff und der Universitätsidee ihrer idealistischen Gründerzeit, die in einem ganz bestimmten philosophisch-religiösen Ansatz verwurzelt sind, von unserer heutigen veränderten soziologischen, ökonomischen und letzihin weltanschaulichen Situation und von einer wissenschaftstheoretischen und kritischen Erkenntnis her in offener Begegnung diese Diskrepanz aufzunehmen haben, wenn sie nicht in der Unechtheit ihrer Lebensform sich selbst aufgeben will. Hierzu aber gehört vordringlich die „Heimholung" jener abgespaltenen Ingenieurwissenschaften in den organisatorischen und organischen Verband der Universität, zumal in einer Zeit, wo die prinzipiellen Grenzfragen zur „Universitätswissenschaft" längst zum existentiellen Anliegen der Begegnung geworden sind. Jenes Bemühen wird um so schwieriger, als die heutige geistige Situation in dem Pluralismus und Relativismus aller Wahrheits-und Wertnormen als der fundamentalen Lebensgrundlagen nur schwerlich einen neuen Traggrund bereitzustellen imstande sein dürfte. Haben doch die Vorherrschaft des positivistischen Forschungsdenkens, mehr noch seines dem zugr inde liegenden Lebensgefühls, längst eine neue Basis der Universitätsidee geschaffen, mit der allerdings jene abendländische akademische Lebens-und Bildungsidee gar nichts mehr gemeinsam hat.

Die positivistische Forschung mit ihrer unbeiragten Zerspaltenheit in sinn-und wertneutrale „Fortschritte" erscheint jedoch nur als die notwendige Folge einer ebenso zerspaltenen menschlichen Existenzleere in letzten Sinn-und Wertbezügen letztgültiger Bestimmung. Hier halten wir wirklich an der „Grenze" ganz anderer Bereiche und Wirklichkeiten. Haben doch heute die Positionen der Wissenschaitshaltung tast den Gewißheitsgrad von Glaubensüberzeugungen angenommen, die im Kampf um den Sieg jeweils ihre Lebensüberzeugung dokumentieren. So tief greift also das Problem um die heutige Universität, in dessen spiegeligem Brennpunkt sich der unbewältigte Lebenshintergrund unserer Zeit gültig abzeichnet.

Eine künftige Universität wird bei aller erforderlichen Umorientierung ihrer äußeren Gestalt und bei aller Umstrukturierung ihrer teilweise nicht mehr übernehmbaren inneren Form dennoch jenen fundamentalen Richtungssinn als ihre eigentliche Idee zu bewahren haben: Das freie Streben nach Wahrheit in der integrierenden Verbindung von Forschung und Lehre, von Bildung und Ausbildung, das stete Bemühen um einen Maßstab als Kriterium für das Fach im Gesamt einer übergeordneten Sinnorientierung, die nicht nur einer unverbindlichen Richtigkeit oder nur dem Tagesbedürfnis, sondern der menschlichen Wertgestaltung verpflichtet ist. Dies aber bedeutet, daß die Menschenbildung im aufgewiesenen Verständnis oberstes Ziel der Universität bleiben muß, wonach im Sinne Platons, des Akademikers, Wissen eine Wesens-verwandlung des Wissenden bewirkt, wonach Wissenschaft mehr ist als die Produktion von verwertbaren „Gütern", wonach eben der Mensch mehr ist als eine Marktpersönlichkeit, die sich nur nach den Bedürfnissen der Gesellschaft zu richten hat. Wenn das Bewußtsein um ein in jener Richtung fixierbares Bild vom Menschen wirklich verloren geht, ist auch die Universität verloren — trotz aller Universitäten. Universitäten sind keine isolierten Inseln, in denen in Entsprechung zu den Industriebetrieben nach den Erfordernissen der Bedarfsdekkung Forschung „betrieben" und Forschungsergebnisse den staatlichen, wirtschaftlichen, politischen und sonstigen Machträumen „auf Bestellung" zur Verfügung gestellt werden. Es ist mit der Idee einer freien Universität unvereinbar, Aufträge und Weisungen für Forschungsziele, Forschungsobjekte und Forschungsmethoden entgegenzunehmen. Dies gilt ebenso auch für das gewichtige Gebiet der „Berufungspolitik". Nicht zu Unrecht hat Max Weber darauf hingewiesen, daß dort, „wo, wie in einzelnen Ländern, die Parlamente oder, wie bei uns bisher, die Monarchen (beides wirkt ganz gleichartig) oder jetzt revolutionären Gewalthaber aus politischen Gründen eingreifen, kann man sicher sein, daß bequeme Mittelmäßigkeiten oder Streber allein die Chancen für sich haben". „Politisch" darf hier gewiß ebenso als „kulturpolitisch" oder ähnlich verstanden werden. Nicht Direktive der Universität durch Staat und Parteien und sonstige Gruppen vermag die Idee der Universität einer künftigen Erfüllung näher zu bringen, sondern allein die im Zeichen der Kulturverantwortung verpflichtende Bereitstellung der Möglichkeiten für ihr freies Wirken garantiert in einer pluralistischen Gesellschaft die Freiheit des Geistes und damit die Freiheit überhaupt. Die Universität aber wird freie Stätte des freien Geistes sein — oder aber sie wird zur Schulungsburg für gelenkte Berufe mit gelenkten Ideologien. Die Universität steht heute am Scheidewege ihres eigentlichen Wesens. Eine kulturstaatliche Auffassung der Wissenschaft im Sinne Humboldts kann und wird und soll es auch nicht mehr geben. Doch wenn die akademische Welt nur zu einem strukturell angepaßten Funktionsprinzip der Industrie-gesellschaft werden soll, so bedeutet dies das Ende der abendländischen Universität, die schließlich nicht erst seit Humboldt datiert. Universitäten waren bisher Stätten des Geistes. Um die „Unterscheidung" des Geistes dreht sich alles: ob also Geist determinatorisch als soziologische, technologische und ökonomische Funktion zu betrachten ist. Oder aber ob stets und dennoch ein Reservat einer sinnbestimmten und sinnbestimmenden Persönlichkeitsmitte bleibt als jener Hauch der eigentlich akademischen Lebensform, die sich aus Tradition und Neubeginn versteht, die das Leitmotiv der geistigen Welt als „Sinnverstehen, als Werterleben, als Sich-entscheiden-können" noch als die freie Mitte der Universität erfährt — hier fällt die Entscheidung über das Schicksal der abendländischen Universität. Denn Sinn und damit Struktur der Universität sind zuerst Fragen des menschlichen Selbstverständnisses und damit der Wissenschaitsidee, nicht aber nur und zuerst Fragen der Bedarfsdeckung der Begabungsreserven in Analogie zu den Rohstoffreserven, Fragen des juridischen Organisationsmechanismus oder gar der Parteipolitik. Ob man sich dessen in allen verantwortlichen Kreisen bewußt ist? Schon im Jahre 1923 hat Werner Jaeger 36) in seiner Rede über die „Stellung und Aufgaben der Universität in der Gegenwart" die Frage erhoben: „Wozu erhalten wir den menschlichen Leib, wozu erbauen wir Maschinen und häufen Mittel über Mittel, wenn wir an den Zweck selbst nicht mehr glauben, an die Entfaltung des höheren Lebens im Menschen?"

Dies ist nicht nur eine Frage an die Universitäten, in dieser Verlegenheit stehen alle Bildungsinstitutionen, ja die sittlichen Grund-erfahrungen überhaupt. Die Welt, in der man selbstverständlich lebte, ist für viele eingestürzt. Auf die Welt der überkommenen Über-zeugungen oder zumindest Konventionen folgte ein Zustand des Lebens, in dem der Mensch sich in der Krise findet, das heißt in der Betroffenheit, daß keine tragenden Lebensüberzeugungen mehr bereitliegen. Dies also bedeutet Krise: die fundamentale Erschütterung des überkommenen. Der Mensch fühlt sich in seiner inneren Existenz bedroht. Das Gerede von dem modernen Einzelsein und dem Leben in offenen Horizonten, im offenen Lebensgefüge, von der Notwendigkeit des Erfindens neuer Normen, entspringt heute eher der Verlegenheit als einer gültigen Über-zeugung. Die Krise der Universität ist dann nicht eine Frage ihres Könnens, sondern eine Verlegenheit ihres Sinnes, wenn Gerhard Krüger Recht hat, daß wir nur noch in der Inkonsequenz leben, davon, daß wir nicht wirklich alle Tradition zum Schweigen gebracht haben. Dies aber müßte die radikale Unmöglichkeit einer sinnvollen und gemeinsamen Existenz bedeuten. Wir freilich sehen noch durchaus intentional bestimmte konkrete Ziele der Bildung als Menschwerdung im abendländisch-bestimmten Kulturraum — auch an der Universität, von der auch keine Wahl-freiheit dispensieren kann: Wir meinen die Freiheit der Person, die Würde der Person als geistig-sittliches Wesen, die Verantwortung für eine hohe abendländische Kulturtradition, aus deren christlich-humanem Ursprungsraum wir alle — gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt, bejahend oder verneinend — noch leben, die Ehrfurcht vor dem Leben und den überweltlichen Mächten. Die Universität wird sich dem Dienst an der Gesellschaft verpflichtet fühlen, ohne jedoch nur eine Funktion der Gesellschaft zu sein. Denn in der freien Wissenschaft geht es um die Wahrheit, im parlamentarischen Staat geht es letzthin um die Mehrheit, die keineswegs immer die Wahrheit zu bedeuten braucht.

Ein technologisches oder ökonomisches Ethos? — Hier erscheinen deutlich genug die Folgen einer Verkehrung der Maßstäbe, die im Zeichen einer biologistisch-pragmatistischen Anpassungs-Doktrin sich anzeigen: Es zeigt sich, daß Sachdenken ohne Sinndenken nicht ausreicht, daß die Richtbilder für das menschliche Tun nicht von den Reaktionsweisen einer individuellen oder kollektiven Psyche, nicht von der Retorte oder der Zündkerze oder dem Atomkern, auch nicht von Mehrheitsbefragungen der Gesellschaft gewonnen werden können, daß fachkundliches Wissen — auch in der Wissenschaft — nicht ausreicht, daß vielmehr das Gewissen beschworen werden muß, und zwar nicht nur das Wahrheitsgewissen, sondern zuerst das Wertgewissen für letztgültige Sinnzusammenhänge. Eine solche Denkweise aber verlangt nicht nur die Gewinnung eines entsprechenden Blickpunktes, sie bedeutet eine . Umschichtung“ des Bewußtseins, eine Achsendrehung der Maßstäbe, des Denkens, mehr noch des gesamten Existenzverständnisses überhaupt. Wenn aber die heutigen Hochschulen — wie es den Anschein hat — diese Stunde nicht erkennen sollten, daß ihnen nicht nur fachlich zu schulende Spezialisten und Manager anvertraut wurden, müßten sie mitschuldig werden an der Auslieferung einer bangenden Menschheit an die technologischen und politischen Mächte und ihrer unkontrollierbaren Folgen. Aber umschreibt nicht gerade dies die Krise der Gegenwart, daß die seelische als die eigentlich menschliche Reife des Menschen nicht standgehalten hat mit den Eroberungsprozessen der äußeren Welt, daß trotz aller noch nie dagewesenen wissenschaftlichen Bestandsaufnahmen und Erkenntnisse eben dieser Mensch sich selbst noch nie so fragwürdig gewesen, was seine eigentliche Bestimmung angeht, wie eben heute? über allen Diskussionen zur neuen Universität sollte aber auch jene andere Frage nicht vergessen werden, ob und inwieweit die heutigen Studierenden überhaupt in der Breite die Voraussetzungen für ein wissenschaftliches Studium im gültigen Sinne mit der Offenheit der Fragehaltung, des Problembewußtseins und so fort besitzen, nicht aber nur den Willen zur fachschulmäßigen „Fertigungsmethode“. Ein Problem, das unmittelbar in die jugendpsychologische Frage einer behaupteten möglichen Umschichtung der Bewußtseinsstruktur eingreift. Im Konkreten könnte dies etwa bedeuten, daß gar kein „Organ" für die zentrale Merkmaligkeit eines einheitlichen Lebensvollzuges, für die Wertigkeit geistiger Werte „an sich" und überhaupt, für das „Oben" und „Unten" einer bindenden Wertordnung, für richtungsbestimmende Sinnfragen und Sinnmaßstäbe hoher geistiger und letztgültiger, nicht also nur pragmatistischer Bedeutung mehr vorhanden wäre Dies freilich ist wiederum im ersten Bezug eine Frage an die Erwachsenen unseres Zeitalters, die weithin weder Bild noch Vorbild hierfür bereitzustellen oder gar vorzuleben mehr imstande sind.

Die gegenwärtige Krise der Universität ist Symptom, nicht Ursache für das Fehlen eines sinntragenden Kulturbewußtseins. Krise der Universität ist Krise der Existenz, weil uns die Idee der Wissenschaft ebenso fragwürdig wurde wie die Idee der Bildung. Beides aber, weil der Sinnbezug der menschlichen Existenz überhaupt zur bedrängenden Frage wurde. Das bedeutet Krise und Chance zugleich. Es scheint uns aber als ein unverlierbares Erbe der abendländisch-deutschen Universität, daß bloße „Feststellungen" ihr nie genügen können, das ein faustisches Fragen nach Wert und Sinn und den Prinzipien in der Tiefe beteiligt. Hier liegt ihre große Chance, ihre Aufgabe, ja ihr eigentümliches Geheimnis inmitten einer oft ganz anderen universitären Wei

Fussnoten

Fußnoten

  1. Einsamkeit und Freiheit Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, 1963, S. 282 a. a O.

  2. H. Schelsky, a. a. O., S. 225.

  3. Vgl. u a. bes. Hermann J. Meyer, Die Technisierung der Welt. Herkunft, Wesen und Gefahren, 1961.

  4. A. a. O., S. 303; ders., Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, 1961.

  5. Arnold Gehlen, Uber kulturelle Kristallisation, 1961, S. 17.

  6. Yom lebendigen Geist der Universität, 1946,

  7. Richard Schwarz, Wissenschaft und Bildung, S. 144 ff.

  8. Der Mensch im Licht der Soziologie, 1962, S. 58 f.

  9. Richard Schwarz, Wissenschaft und Bildung, S. 175 ff. (Wissenschaft und Weltanschauung); ders., Das Problem einer Christlichen Philosophie (Philos. Jb.der Görres-Ges., Jg. 60, 1950). Vgl. dazu Hans Meyer, Christliche Philosophie?, in: Weltanschauungsprobleme der Gegenwart, 1956.

  10. Johann Gottlieb Fichte. Deduzierter Plan einer zu Berlin errichtenden Höheren Lehranstalt, 1807, in: Ges. Werke hisg. v. J. H. Fichte, Band VIII, S. 97 ff,

  11. Einsamkeit und Freiheit, S. 302.

  12. Richard Schwarz, Wissenschaft und Bildung, a. a. O.

  13. Richard Schwarz, Die Frage nach dem Sinn der Geschichte, in: Wissenschaft und Weltbild, 14, 1961, S. 161— 179; ders., Ost und West in der religiösen und politischen Prophetie, in: Universitas, 13, 1958.

  14. Forschung, Berufsbildung und Menschenbildung in der gegenwärtigen deutschen Universität, in: Kulturfragen der Gegenwart, 1953, S. ll.

  15. Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften (Sitz. -ber.der Preuß. Akad.der Wissenschaften, Phil. -Hist. Klasse, 1929, S. 7.

  16. Richard Schwarz, Sinn und Form einer akademischen Bildung. Antrittsvorlesung an der Universität Wien in: Wissenschaft und Weltbild, 1959 S. 321 ff.

  17. H. Schelsky, a. a. O., S. 271.

  18. Das Schlagwort von der Hochschulreform (Manuskript des NWDR), 1956, S. 3.

  19. Vgl. Richard Schwarz, Prinzipien der Bildung in der gegenwärtigen Situation, in: Markierungen. Beiträge zur Erziehung im Zeitalter der Technik, 1964, S. 13 ff.

  20. Not und Schuld der Universität, in: Gehört — gelesen, 1958, H. 7, S. 605; ders., Idee und Wirklichkeit auf der Universität, 1963; Ludwig Raiser, Studium und Hochschule, 1964.

  21. Vgl. zur gesamten Thematik: Richard Schwarz, Idee und Verantwortung der Universität, a. a. O., S. 157 ff.

  22. Vgl. J. Fischer, Versuch über die Wirkungen massenstaatlicher und sozialstaatlicher Tendenzen auf das Hochschulwesen (Dt. Univ. Ztg., 6/1960).

  23. Vgl. eingehend Richard Schwarz, Idee und Verantwortung der Universität, a. a. O., bes. S. 183 ff.

  24. Die Weltentscheidungen der Gegenwart und die Wissenschaft, in: Universitas, 19, 1964, S. 340.

  25. über Freiheit in der Forschung, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 57 vom 6. 3. 1964. Vgl. kritisch auch Fr. Klenner, Die Freiheit in einer geplanten Welt oder — Wud die Planung die Planifikation des Menschen zur Folge haben?, in: Modelle für eine neue Welt I, Der Griff nach der Zukunft. Planen und Freiheit, hrsg. von Robert Jungk und Hans Josef Mundt.

  26. Zu den einzelnen Modellen vgl. Hans Wenke, Die deutsche Universität — heute und morgen, in: Mitteilungen des Ubersee-Clubs Hamburg, März 1964, sowie die entsprechenden Denkschriften; vgl. auch: Zur Gestalt der neuen deutschen Universität (Wirtschaft und Wissenschaft, 1963).

  27. Zit. nach Reinhold Schneider, Der Friede der Welt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, vom 28. 12. 1956, S. 833; vgl. auch Richard Schwarz, Die christliche Friedensidee als Erbe und Aufgabe, in: Wissenschaft und Weltbild, 12, 1959.

  28. Wissenschaft als Beruf, a. a. O. Vgl. auch Paul Bockelmann, Aufgaben und Aussichten der Hochschulreform, 1962.

  29. Geschichte und Tradition, 1948.

  30. Vgl. u. a. Theophil Thun, Die religiöse Entscheidung der Jugend, 1963.

  31. Zu Idee und Form der Universitäten in allen Ländern und Kulturkreisen vgl. die Beiträge in: Universität und moderne Welt, a. a. O.

Weitere Inhalte

Richard Schwarz, Dr. phil., geb. 29. Mai 1910 in Hagenau/Elsaß, deutsche und österreichische Staatsangehörigkeit, ordentl. Professor der Pädagogik und Vorstand des Pädagogischen Seminars der Universität München, Mitglied der österreichischen UNESCO-Kommission, Vorsitzender des Schulausschusses der österreichischen Rektorenkonferenz und der „Bayerischen Schulkommission" beim Bayerischen Ministerpräsidenten, Träger des Oberfränkischen Wissenschaftspreises (Dr. -Ludwig-Gebhard-Preis, Bayreuth 1957).