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Der Zweite Weltkrieg | APuZ 36/1964 | bpb.de

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APuZ 36/1964 Der Zweite Weltkrieg Artikel 1

Der Zweite Weltkrieg

Hans Herzfeld: Walter Bußmann Taras von Borodajkewycz Hajo Holborn Henry Cord Meyer Gordon A. Craig

Ursachen und Folgen in der Sicht deutscher und ausländischer Historiker

Der Zweite Weltkrieg und die Gegenwart

Der am 1. September 1939 entfesselte Zweite Weltkrieg unseres Jahrhunderts ist heute noch in der deutschen Gegenwart Gegenstand ebenso leidenschaftlicher Erörterung wie sein Vorgänger in den Jahren 1914— 1918. Noch immer bestimmen seine Auswirkungen das Leben und Geschehen des ganzen Planeten. Nach einem Vierteljahrhundert beginnt nun aber langsam eine neue Generation in das öffentliche Leben einzutreten, die nicht einmal mehr in der Jugend mit seinen Ereignissen verflochten gewesen war. Sie kann nicht ohne Grund geltend machen, daß die an ihn geknüpften Probleme von Schuld und Verantwortung Fragen sind, die sie an die Generation ihrer Eltern richtet und auf deren Beantwortung sie mehr als einmal mit einem Temperament besteht, das kaum mehr von der Erinnerung an die Schwierigkeiten gedämpft ist, mit denen die Mitlebenden, keineswegs nur in Deutschland, von 1939— 1945 zu ringen hatten. Aber soviel läßt sich heute schon erkennen, daß auch diese Generation so wenig wie die Generation des Jahres 1945 einen einfachen „Abschied von der bisherigen Geschichte" wird nehmen können. Der die Generationen überwölbende Zusammenhang der Geschichte, von ihnen selbst bald — so im Beginn des 19. Jahrhunderts — als unverlierbarer Wert bejaht, bald als Fluch und verhängnisvolle Bindung empfunden, hat die Ereignisse von 1939 bis zum gegenwärtigen Tage übermächtig beherrscht und wird sie weiter beeinflussen, auch wenn die Anstrengungen, sie durch die Kraft der Ratio und des bewußten Willens zu beherrschen, größeren Erfolg haben sollten, als es in der tragischen Geschichte der nur zwei Jahrzehnte vom Ende des Ersten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges der Fall gewesen ist.

So wenig wie die Menschen von 1914 den Weg vorausgesehen haben, der sie zum November 1918 führte, so wenig ist es den Völkern von 1939 und ihren Führern geglückt, vorauszubestimmen, an welchem Punkte sie 1945 beim Ende ihres, zweiten, gigantisch gesteigerten Ringens stehen würden. Wohl war dies Ende der Untergang jener Diktaturstaaten, Japans und Deutschlands, die den Zusammenstoß der Waffen in Asien und Europa ausgelöst hatten. Aber der Preis, der dafür von den siegreichen westlichen Demokratien gezahlt wurde, war eine Verstärkung der Sowjetunion, die sie nur in gesteigerter Schärfe vor das Dilemma des Ringens zwischen Demokratie und Totalitarismus stellte, dem sie 1939 durch eine Flucht nach vorn ein Ende bereiten wollten. Wenn der Ausbruch des Krieges in einem Zeitpunkt ver-Hans Herzfeld Der Zweite Weltkrieg und die Gegenwart.................................. S. 3 Walter Bußmann 1914— 1939— 1964 ......................... S. 8 Taras von Borodajkewycz Gedanken zum 1. September 1939 und seinen Folgen.................................. S. 12 Hajo Holborn Die Welt 25 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges S. 15 Henry Cord Meyer Die amerikanische Haltung zur Weltpolitik 1939— 1964 ... S. 21 Gordon A. Craig Der Zweite Weltkrieg und die Revolution in der amerikanischen Außenpolitik............................................ S. 27 späteter Rüstungsanstrengungen gegen den Vorsprung des nationalsozialistischen Deutschland überstürzt — oder mit Illusionen des Augenblicks — gewagt worden war, so verknüpften sich mit ihm doch noch vage Hoffnungen, am Ende des Krieges zu jener Zielsetzung des dauernden Friedens und der Abrüstung zurückkehren zu können, um die man sich von 1919 bis 1933 mit unzulänglichen Ergebnissen, aber doch nicht ohne eine gewisse — von den Besiegten des Ersten Weltkrieges meist mit radikalem Mißtrauen empfangene — Ehrlichkeit bemüht hatte. Man war von 1939 bis 1945 bestrebt, den neuen Weltkrieg politisch, wirtschaftlich und militärisch sozusagen nach den verbesserten Rezepten der Jahre 1914— 1918 zu führen und den jetzt klar erkannten Fehler zu vermeiden, daß die Folgen der das ganze Jahrhundert durchziehenden militärtechnischen Revolution nicht rechtzeitig erkannt, aufgefangen und benutzt wurden. Wieder war das Ergebnis, daß man mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, diesem letzten Ergebnis eines erbitterten sechsjährigen Ringens, weit über alle Zielsetzungen hinausgetragen war, die man sich selbst in den Anfangsjahren des Duells gesteckt hatte Fast nur in einem, seit dem erneuten Kriegseintritt der Vereinigten Staaten nicht allzu schwer zu bestimmenden Punkte deckten sich schließlich analysierende Voraussicht und Ergebnis der Tatsachen: daß die Geschichte endgültig die Geschichte einer Welt, der „one world" Wendell Wilkies, geworden war, in der für große wie kleine Mächte der Versuch, sich aus der Verantwortung in die Isolierung zu flüchten, außer in begrenzten Sonderfällen, endgültig zum Scheitern verurteilt war.

Dieser Grundzug planetarischer Ausdehnung des geschichtlich-politischen Geschehens im 20. Jahrhundert ist das erste dauernde Ergebnis des Zweiten Weltkrieges geworden. Im Grunde war schon der Verlauf und das Ende des Ersten Weltkrieges durch die Teilnahme Rußlands und der Vereinigten Staaten — durch das Zarenreich mit der Hartnäckigkeit seiner Kriegsanstrengungen und durch den Bolschewismus mit der Vorbestimmung des Kommenden durch die Große Revolution von 1917, durch die Vereinigten Staaten mit der unverbrauchten Frische des Endstoßes und den Programmformulierungen Woodrow Wilsons — bestimmt worden. Verlauf und vor allem Ausgang des Zweiten Weltkrieges entschieden endgültig über die Rangordnung der fortan führenden Mächte, da nicht eine der alten Großmächte des mittleren und westlichen Europa mehr den Atem besaß, um sich als wirklich gleichberechtigter Partner neben die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten stellen zu können. Die Folgerungen, die Washington und Moskau aus den militärischen und politischen Erfahrungen des Krieges zogen, waren zunächst höchst verschieden: überstürzte Abrüstung auf dem Felde der konventionellen Streitkräfte und Waffen in den Vereinigten Staaten; Anspannung aller Kräfte bis an und über die Grenze des wirtschaftlich und sozial erträglichen Maßes in der Sowjetunion, deutlich zuerst in der massiven Überlegenheit ihrer konventionell-militärischen Stärke, überraschend schnell — erst im geheimen, dann offen — übergreifend auch auf das Feld der atomaren und thermo-nuklearen Rüstung. Aber jede Phase des Ringens zwischen ihnen bestätigte nur, daß sie beide zu Anstrengungen in der Lage waren, mit denen andere Mächte nicht zu wetteifern vermochten. Auf dem Felde der modernen Rüstungspolitik blieb die entscheidende Spitzenmöglichkeit der Vorbereitung zum nuklearen Kriege den beiden kontinentalen Großstaaten vorbehalten, mit denen kein auf der nationalstaatlichen Basis der Vergangenheit begründeter Staat in echter Weise zu rivalisieren vermochte.

Diese Lage hat in Aktion und Reaktion die Entwicklung des Weltstaatensystems unserer Tage seit 1945 bestimmt.

Es konnte sich weithin in Formen vollziehen, die gelegentlich Konsequenzen aus dem Ergebnis des Zweiten Weltkrieges scheinbar unabhängig von der Leitung der Giganten in einem von ihnen gleichsam frei gelassenen Raume zogen, wenn jene zum mindesten nicht mit voller Kraft einzugreifen bereit oder frei waren. Das ist in hohem Maße der Fall mit der Emanzipation der kolonialen Völker und Erdteile gewesen, die nach dem Vorspiel des Ersten Weltkrieges und nach der abschließenden Selbstzerstörung der alten europäischen Kolonialnationen im Zweiten Weltkrieg unvermeidlich geworden war. Großbritannien vermochte allerdings die Anfänge der Umwandlung seines Commonwealth, vor allem in Indien, noch aus eigenem freien Entschluß einzuleiten. Es geriet erst in der zweiten Phase dieses Prozesses, im Mittleren Orient und vor allem mit der Suezkrise von 1956, unter die volle zwingende Wirkung des Doppeldruckes, der dadurch zustande kam, daß die mit ihm verbündeten Vereinigten Staaten den Prozeß der Auflösung des kolonialen Imperialismus aus Tradition und Überzeugung ebenso wie als weltpolitisch unvermeidliche Notwendigkeit förderten, während die Beschleunigung und Unterstützung dieser Entwicklung für die Sowjetunion schon seit Lenin ein durch Stalin wie Chruschtschow festgehaltenes arcanum imperii darstellte. Noch bitterer waren die Erfahrungen von Staaten, die wie Frankreich in Hinterindien und Algerien, Holland in Indonesien und Belgien im Kongo nicht so rechtzeitig wie Großbritannien den Entschluß zur Liquidierung der Vergangenheit gefaßt hatten. Aber auch die bitterste Niederlage der Vereinigten Staaten seit 1945, der Sieg der kommunistischen Revolution in China, geht darauf zurück, daß sie, schwankend zwischen Fortsetzung einer überholten Politik und berechtigter Scheu vor der Unwiderstehlichkeit eines revolutionären Prozesses von stärkster Dynamik, nicht zu einer rechtzeitigen Entscheidung zwischen diesen Alternativen gelangten. Da mit Ausnahme von Korea und Indochina diese Ereignisse sich zunächst ohne direkten Einsatz der vollen Macht vollzogen, über die die beiden Riesenreiche verfügten, konnten die befreiten und zu eigener unabhängiger Staatlichkeit gelangenden Völker Asiens und Afrikas daran zunächst die — in der Bandungkonferenz von 1955 gipfelnde — Hoffnung knüpfen, daß es ihnen gelingen werde, sich als unabhängige Dritte Macht in einer mehr oder weniger klaren und echten Neutralität zwischen den beiden Weltlagern zu konstituieren. Vor allem die Erfahrungen Indiens seit 1960 haben inzwischen gezeigt, daß diesem Bestreben enge Grenzen gezogen sind. Das Übergewicht der großen Mächte hat sich in Asien wie Afrika doch immer wieder als so stark erwiesen, daß auch der Weg einer solchen Neutralität stets problematisch, ein Weg unter dem Vorzeichen der Gefahr bleibt, durch eine plötzliche Wendung zu Alternativen gezwungen zu werden. Was sich zunächst in Asien abzeichnete, gilt längst auch für ganz Lateinamerika, und zwar für die Protagonisten wie die in Beziehung zu ihnen stehenden schwächeren Staaten. Die Kuba-Krisen von 1961 und 1962 waren das Signal dafür, daß diese Situation jederzeit in einer Weise virulent zu werden vermag, die auch die miteinander rivalisierenden Führungsmächte zur Wahl zwischen Konflikt bis zum äußersten oder freiwilligem Rückzug zwingen kann. Auf jeden Fall aber haben sie das Gesetz der Kommunikation aller Machtbeziehungen auf dem Planeten erneut bestätigt.

Die besondere Situation des westlichen Deutschland ist heute dadurch gegeben, daß jeder größere Staat, dessen Machtpotential, ob auch mehr wirtschaftlich als militärisch, ihn zu einem Gegenstand ernsthaften Mitgerechnetwerdens in diesem Spiel der großen Kräfte macht, sich der Verflechtung in diese stete Auseinandersetzung nicht mehr entziehen kann. Denn selbst der Anspruch auf eine stärkere Teilnahme der Bundesrepublik auf dem Felde der bei besserer Einsicht nicht mehr unmittelbar politisch gebundenen Entwicklungshilfe bleibt doch unleugbar in letzter Linie mit dem Ringen zwischen Ost und West um die Zukunftsgestalt des Planeten verbunden. Auch — und heute vielleicht gerade — in seinen durch ein weitgehendes militärisches Schachmatt der nuklearen Rüstung bestimmten verfeinerten Formen bedeutet es ein Kräfte-messen, das für absehbare Zukunft in einem unlösbaren Zusammenhang mit der planetarischen Entwicklung dieser großen permanenten Machtprobe bleibt.

Wenn so auch das schon seit 1919 ohne jeden Kolonialbesitz dastehende Deutschland sich der indirekten Teilnahme an einer „Weltpolitik wider Willen" nicht entziehen kann — deren ethische Verbindlichkeit dadurch nicht betroffen wird —, so gilt doppelt, daß ihr Schicksal wie das Schicksal Europas in unbedingter Abhängigkeit von den Ergebnissen der deutschen Katastrophe im Jahre 1945 geblieben ist. Es ist psychologisch vielleicht begreiflich, aber dem großen Gang der Geschichte gegenüber im letzten Grunde doch eine provinzielle Ungeduld, wenn, mit steigendem Gewicht durch einen so völlig unerwarteten und nicht voraussehbaren wirtschaftlichen Aufstieg, in der Unzufriedenheit mit erreichten und noch mehr den bisher nicht erreichten Erfolgen der deutschen Nachkriegspolitik immer wieder die Illusion durchbricht, es müsse in absehbarer naher Zukunft gelingen, die Folgen eines — oder sogar von zwei — verlorenen Weltkriegen im Grunde schlagartig zu überwinden. Auch wenn die mit dieser Entwicklung verbundene Metanoia der Deutschen echt ist, bleibt doch bestehen, daß die Welt außerhalb Deutschlands von der Echtheit dieser Wandlung überzeugt werden muß. Nach dem in ihr nun einmal bestehenden Bilde von unserer jüngeren Geschichte — von dessen Gewicht sie überzeugt gewesen und zum Teil noch ist — vermag sie aber diese „Bekehrung" nicht ganz leicht als beendet anzuerkennen. Beim Ende des Zweiten Weltkrieges war — im Gegensatz zu der leichten Demonstration nachträglicher Weisheit aus zwei an Ereignissen überreichen Jahrzehnten — keineswegs vorauszusehen, daß der gemeinsame Waffengang der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten binnen drei Jahren — bis 1948 — in die voll entwickelte Gegnerschaft des „Kalten Krieges" umgeschlagen sein würde. Auch wenn uns heute die innere Notwendigkeit dieses Wandels — aber auch sie ist in Wirklichkeit keineswegs unumstritten — auf der Hand zu liegen scheint, schwächt dies die Schwierigkeit der daraus entspringenden Umstellung keineswegs ab. Der Wiederaufbau Europas in der Folge des Marshallplanes kann noch am ersten, obwohl in den Ursachen keineswegs ausschließlich, als Ausdruck eines aufgeklärten Eigeninteresses von amerikanischer Seite verstanden werden. Aber man sollte niemals das Paradox der Tatsache unterschätzen, daß die Weltmacht, die auch im Zweiten Weltkrieg wohl am stärksten überzeugt war, einen abschließenden Kreuzzug gegen das Reich als den großen historischen Antagonisten der Demokratie zu führen, sich 1949 selbst gezwungen sah, einen demokratischen Staat des westlichen Deutschland wieder in die Familie der modernen Staaten einzuführen und sehr bald, seit dem Koreakrieg von 1950 verstärkt und danach niemals wieder aufgegeben, die Wiederaufstellung einer deutschen Armee als für das globale Gleichgewicht der Macht zwischen Ost und West und die Verteidigung Europas unentbehrlich zu befürworten. Das geschah um den Preis, daß die praktisch bei Kriegsausgang 1945 bereits in ihren Grundlagen bestehende Zweiteilung des geschlagenen Reiches in tief tragischer Weise befestigt wurde. Die Debatte über Verantwortung und Schuld an dieser Verhärtung der Lage ist weder innerhalb Deutschlands noch jenseits seiner Grenzen heute schon zu einem endgültigen Abschluß gelangt, so stark auch die Thesen von Ost und West bei dem politischen wie dem historischen Betrachter in ihren Wertungen heute noch festgefroren sein mögen. Grundlegend bleibt, daß ihre tiefste Wurzel in Endlage und Ergebnis des Zweiten Weltkrieges — unabhängig von der in allen beteiligten Nationen am Verlauf der Ereignisse geübten Kritik — unbestritten sein sollte, es sei denn, man verlangte von den Vereinigten Staaten die Bereitschaft zum Risiko eines dritten Weltkrieges in dem Augenblick, als der Zweite Weltkrieg noch nicht einmal voll zu Ende geführt worden war. Sowohl die Option des westlichen Deutschland für das Zusammengehen mit der demokratischen Freiheit des Westens wie die von 1945 bis zum heutigen Tage gleichbleibende absolute Abhängigkeit der Sowjetzone von der Politik und der militärischen Macht der Sowjetunion sind konstitutiv von dieser Ausgangslage bestimmt gewesen. Und alle ideellen Bemühungen, den Ausweg eines Kompromisses aus dieser peinvollen Alternative zu finden — vor wie nach der verzweifelten Volkserhebung am 17. Juni 1953, vor wie im Verlauf der großen Ost-West-Krise seit dem November 1958 —, sind bisher auf die harte Mauer einer geschichtlich einmal verhärteten Lage gestoßen, die vorläufig jedem Erosionsprozeß einer nach historischen Maßstäben nun einmal sehr kurzen Zeit widerstanden hat. Solange diese Lage besteht, in der die Fronten von Ost gegen West durch die wechselseitige Bitterkeit enttäuschter Hoffnungen zwischen 1945 und 1948 gegeneinander gestellt sind, ist ein dramatischer Wechsel der Szenerie nicht zu erwarten. Er kann jedenfalls nicht von den Kräften einer selbst durch diese Lage gebundenen, keineswegs bewegungsfreien deutschen Politik allein erhofft werden, wenn diese isoliert von den sie beherrschenden Kräften der allgemeinen weltpolitischen Lage zum Vorstoß ansetzen möchte. Denn so sicher Initiative und Beweglichkeit unentbehrliche Potenzen jeder großen Politik sind, bleiben auch sie doch an die Grenzen einer allgemeinen Lage gebunden, die eines jedenfalls ausschließt: den Versuch der Anwendung gewaltsamer Mittel — dies aber nicht nur im militärischen, sondern auch und gerade in politischem Sinne verstanden.

Mit dieser Verstrickung hängt ein letztes Problem der durch den Zweiten Weltkrieg bestimmten Gegenwartslage zusammen: die Frage, ob heute nicht der Augenblick gekommen ist, in dem Europa das wagen könnte, was die seit 1945 befreiten Völker Asiens und Afrikas mit sehr begrenztem oder letzten Endes keinem Erfolge versucht haben, ob es wagen könnte, die aus dem Zweiten Weltkrieg stammende, noch immer lähmende Verstrikkung der beiden Weltlager aufzulösen, indem es seine wesentlich der Hilfe der Vereinigten Staaten zu verdankende Wiedererstarkung benutzt, um sich zwischen Washington und Moskau an das Abenteuer einer das Gleichgewicht der Schalen ausschlaggebend bestimmende Konstituierung einer Dritten Macht zu unternehmen. Idealistisch begreifliche Hoffnungen dieser Art haben schon bei den Anfängen der Europabewegung nach 1945 in nicht unerheblichem Ausmaß Pate gestanden. Volkszahl und wiedergewonnene Wirtschaftskraft — viel mehr in der Tat als die im Vergleich damit stets zurückbleibende Anstrengung auf dem Felde der militärischen Rüstungen, so wenig sie heute noch verdienen, einfach bagatellisiert zu werden — scheinen diesem Streben heute eine auch im Ausland, bis zu den von ihren globalen weltpolitischen Bindungen doch auch schwer belasteten Vereinigten Staaten, den Charakter einer freilich dauernd zwischen Realität und Traumbild einer noch ungewissen Zukunft schwebenden Ernsthaftigkeit zu geben. Verfolgt man kritisch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Haupt-partner dieser europäischen Zukunft, das westliche Deutschland, Frankreich und Italien auf der einen, Großbritannien auf der anderen Seite, aber auch auf die Gruppe der als ganzes keineswegs in ihrer Unentbehrlichkeit für eine wirklich „europäische" Zukunft zu unterschätzenden mittleren und kleineren Staaten, so meldet sich unwiderstehlich wieder die Mahnung an, die zwingende Tiefe der Furchen nicht zu unterschätzen, die auch in diesem Falle der Einheit Europas ebenso von seiner ganzen Geschichte mit ihrer Tradition von Nationalstaat und Eigenexistenz der Völker gezogen sind, wie von den noch keineswegs endgültig und für immer vernarbten Folgen der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges.

Gemessen an diesen Hindernissen erscheint allerdings die deutsch-französische Verständigung wie der Aufbau eines engeren Europa in Montanunion, EURATOM und Gemeinsamen Markt als eine bedeutende Leistung der Nachkriegszeit, die zum mindesten in Ansatz und Anlage die Möglichkeit einer echten Über-windung der Belastungen des Zweiten Weltkrieges in sich enthält. Aber das grundlegende Wesen der heute noch bestehenden Weltlage warnt vor dem Irrglauben, daß eine einfache Rückkehr zu der besonderen und einmaligen Rangstellung Europas im 19. Jahrhundert denkbar sein könnte, wie sie sich im Grunde sowohl an das «Europe des Nations» de Gaulles wie an den spezifischen Gedanken des christlichen Abendlandes knüpft, so ehrwürdig — und aufhebenswert in seinem letzten Gehalt — dies auch scheinen mag. Auch die Optionen der ersten Nachkriegsjahre für die westliche Welt als deckenden Partner des freien Europa können nicht rückgängig gemacht und nicht einmal vernachlässigt werden, ohne mit Sicherheit alles in Frage zu stellen, was durch sie an Schutz eines zunächst schutzlos der Überwältigung ausgesetzten Mittel-und Westeuropa bewirkt worden ist.

Die Folgen des heute die Weltpolitik bestimmenden Antagonismus können nicht durch das Abenteuer einer plötzlichen und ungenügend fundamentierten Änderung der Wegrichtung, sondern nur durch die vom Gang der Geschichte abhängige Auflösung der diesen Gegensatz in der Tiefe bestimmenden Motive ausgehoben werden. Die Anzeichen, daß im Wandel der Geschichte, die keine absoluten Endergebnisse kennt, auch diese Umsetzung von mehr als einer Seite her sich zwingend anbahnt, sind Signale, die nicht überhört werden sollten. Sie stellen die beste Begründung dafür dar, daß die so oft als abstrakte Forderung vertretene „Flexibilität" der Politik eines Tages in der Tat das Gesetz der Stunde werden könnte, im Augenblick vielleicht sogar zu werden verspricht. Das aber würde bedeuten, daß die erste Phase der Nachkriegs-entwicklung ihrem Ende zugeht, die ganz von den unmittelbaren Auswirkungen der Ereignisse von 1939— 1945 beherrscht wurde, und eine neue Phase mit der Aufgabe beginnt, Folgerungen aus der Tatsache zu ziehen, daß die ersten und unmittelbaren Ergebnisse dieser zweiten großen Katastrophe der allgemeinen und der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert begonnen haben, sich selbst als auf die Dauer unhaltbar zu widerlegen.

1914 -1939 -1964

Die These der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat die diplomatische Geschichtsschreibung in den Jahren der Weimarer Republik beherrscht. Ihre Widerlegung wurde das Ergebnis einer internationalen Forschung, die einen hohen Grad der Verständigung, sicherlich nicht der Übereinstimmung, über die Ursachen des Ersten Weltkrieges erreichte. Diese gelehrten Bemühungen wurden unglaubwürdig, als die nationalsozialistische Führung eine imperialistische Politik einschlug und den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Wenn die deutschen Historiker nach 1918 mit gutem Grunde und gutem Gewissen gegen die Legende von der Allein-schuld Deutschlands kämpften, so haben sie und ihre Schüler nach dem Zusammenbruch 1945 nicht daran gedacht, die These der „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges" durch die Politik Hitlers in Frage zu stellen. Weder Hoggan noch A. J. P. Taylor, die beide selbstverständlich nicht miteinander verglichen werden können, haben bei deutschen Historikern oder in den Kreisen, die „Interesse an der Geschichte" haben, einen positiven Widerhall gefunden. Ein Hinweis auf jene beiden deutschen Zeitschriften, die sich nach Versailles und nach dem Zusammenbruch Deutschlands im Jahre 1945 vornehmlich mit der Vorgeschichte der Weltkriege beschäftigten, mag aufschlußreich sein. Die „Berliner Monatshefte für internationale Aufklärung" kämpften mit wissenschaftlichen Mitteln gegen den Artikel 231 des Versailler Friedensvertrages. Die „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" unterzogen sich mit Recht der Mühe, die Legendenbildung Hoggans zu widerlegen. Wie wenig indes die Erforschung des Ersten Weltkrieges als ein gesichertes oder gar abgeschlossenes Kapitel der allgemeinen Geschichte gelten kann, hat die von Fritz Fischer („Griff nach der Welt-, macht") ausgelöste Diskussion offenkundig werden lassen.

Von den begründeten Einwänden gegen Fischers Methode abgesehen — sein Werk hat unsere Kenntnisse bedeutend erweitert — ist es erstaunlich, welche Emotionen geweckt werden können, wenn der Ursprung des Ersten Weltkrieges zum Thema gestellt wird. Die Beschäftigung mit der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges kann kaum zu einer ähnlichen wissenschaftlichen Sensation führen, die bis tief in die Kreise der Publizistik hineinwirkt.

Eine Sensation kann weder erwartet werden vom Nachweis einer angeblichen Kontinuität der deutschen Politik von Bismarck über Stresemanns Revisionspolitik bis zu Hitler beziehungsweise vom Nachweis sogenannter „beiderseitiger diplomatischer Schnitzer" (Taylor), aus denen der Krieg hervorgegangen sei, noch von der aussichtslosen Begründung eines Freispruches der politischen Leitung des „Dritten Reiches". Die Feststellung der Verantwortlichkeit der deutschen Regierung für den Zweiten Weltkrieg soll nicht etwa die Berücksichtigung solcher Faktoren ausschließen, die es Hitler erleichtert haben, seine Kriegsabsichten gegen Polen zu verwirklichen. Dazu gehört unter anderem das polnische Verhalten. Die polnische Führungsschicht dachte begreiflicherweise an die abschreckenden Beispiele der unglücklichen Begegnungen des deutschen Diktators mit Schuschnigg und mit Hacha, auf die der Einfall deutscher Truppen in ihre Länder folgte. Der polnische Nationalstolz wehrte sich mit Recht gegen die Annahme eines solchen Verfahrens mit schrecklichen Folgen, aber die polnische Selbstüberschätzung wirkte in diesem Sommer gleichwohl als ein verhängnisvoller Faktor. Polens Situation war ganz anders, als es die Österreichs und der Tschechoslowakei gewesen war; denn die Westmächte waren diesmal — und zwar trotz des deutsch-russischen Nichtangriffspaktes — entschlossen, den Krieg zu riskieren. Man überschätzte in Warschau die eigene Stärke und unterschätzte die deutsche — wenn auch nur vorübergehende — militärische Überlegenheit. Für die polnische Fehlbeurteilung mag ebenfalls die Illusion kennzeichnend sein, daß maßgebende Kreise der polnischen Diplomatie an den Ausbruch einer Revolution in Deutschland im Falle eines Krieges glaubten. Solche begründeten Einwände gegen die polnische politische Taktik des Jahres 1939 werden indes nicht nur ausgeglichen, sondern überwogen durch die geschichtliche Tatsache, daß es Hitler gar nicht um die legitimen und alten Bedürfnisse der deutschen Politik nach einer vernünftigen Regelung der Probleme Danzigs und des Korridors, sondern um die Erweiterung des Lebensraums schlechthin ging. Indem die Polen keine Furcht vor dem Kriege hatten und zeigten, muß ihnen ein Mangel an echter politischer Erfahrung zugeschrieben werden. Wenn man diesen Gedanken ausspricht, muß man gleichzeitig feststellen, daß das Verhalten der deutschen Regierung in jener kriegsreifen Situation unter den verschiedensten Gesichtspunkten unvergleichbar ist mit den uns aus der neueren Geschichte bekannten Konstellationen und diplomatischen Verhaltensweisen. Unabhängig und abgesehen von allen Details in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges hat der nationalsozialistischen Theorie des Lebensraumes eine Sprengkraft innegewohnt, welche die geschichtlich gewordenen Gebilde von vornherein bedrohte. Auf die Theorie folgte bekanntermaßen die Praxis des Lebensraumes, und es sollte daran erinnert werden, daß die Idee der zwangsweisen Vertreibung, die sicherlich ihre Vorgeschichte in den nationalstaatlichen Theorien des 19. Jahrhunderts hat, schon in den Überlegungen und Planungen der Vorkriegspolitik auftaucht, bevor sie sich zur Praxis der Ausrottung steigert.

Der Mangel an europäischer Erfahrung wird auf deutscher Seite noch deutlicher und folgenreicher durch die Abwesenheit eines europäischen Verantwortungsgefühls oder auch eines Gemeinschaftsgefühls. Er kam zum Ausdruck in einem Dilettantismus der politischen Methodik, die um so gefährlicher war, als sie seit 1935 zu überraschenden Anfangserfolgen geführt hatte.

Die Trauer über den Verfall des europäischen Geschichtsbewußtseins wie des Gefühls der Zugehörigkeit zur gewachsenen europäischen Staaten-und Völkergemeinschaft erfüllte das von Carl J. Burckhardt überlieferte Gespräch mit dem italienischen Botschafter in jenen Tagen, als der Glaube an die Erhaltung des Friedens dahinschwand:

wes gibt keine Diplomatie mehr", — sagte Attolico — „alles wird vom Zaune gebrochen.

• •. Längst hat ja die offizielle Diplomatie nichts mehr zu sagen, in unseren Systemen sind wir Saurier." Und die Diagnose seiner Gegenwart lautete: „Das, was hinter der drohenden Katastrophe steht, sieht heute niemand, es gibt nur nationale Politik, der Völkerbund ist verfrüht entstanden und schon verbraucht, ein Völkerbund ohne die Vereinigten Staaten war nicht möglich, vielleicht ist der Nationalismus an seinem Scheitelpunkt angekommen und geht es nicht mehr weiter, aber er ist am Scheitelpunkt, und wissen Sie, er entspricht der Summe aller Egoismen, der Gruppen, der einzelnen, der Summe aller Geltungstriebe, er ist im Laufe der Entchristlichung der europäischen Welt so langsam entstanden wie eine Wetterlage, die sich lange vorbereitet und lange hält.. . ."

Zu dem, was „hinter der drohenden Katastrophe" den Zeitgenossen noch verhüllt stand, gehört auch das Vordringen Rußlands nach Ost-und Mitteleuropa, wofür Hitler die Voraussetzungen geschaffen hatte.

Wenn Historiker (Ludwig Dehio) — oftmals nicht ohne literarische Zuspitzung — den dynamischen Zusammenhang beider Weltkriege hervorgehoben haben, so wollten sie durch die Annahme einer ja nur scheinbaren Logik in der Geschichte durchaus nicht das politische oder gar das moralische Gefälle von 1914 bis 1939 verschleiern. Der Krieg wurde 1914 von der politischen Führung — eine Bezeichnung, die nicht unproblematisch ist — im Gefühl der Bedrohung und in einer falsch verstandenen Bindung an den einzigen Bundesgenossen hingenommen. Die deutsche Politik war 1939 offensiv und wollte kein zweites „München". Das deutsche Volk befand sich 1914 in einer nationalen Hochstimmung — ein Sachverhalt, der bei der Beurteilung der inneren deutschen Geschichte seit 1871 trotz der ohne Zweifel veralteten Reichsverfassung Berücksichtigung finden sollte. Die Furcht vor dem Kriege war seit 1938 der stumme Begleiter der Deutschen, und die Söhne der Väter von 1914 wurden nicht umjubelt und jubelten selbst nicht, als sie nach einer kalten, heimlichen Mobilmachung ins Feld rückten.

Es kann nicht auf eine mechanische Aufzählung von Unterscheidungen ankommen, aber unter ihnen muß eine Verschiedenheit besonders beachtet werden. So komplex auch die politische Verursachung des Ersten Weltkrie-ges ist und so sehr diese erste Katastrophe unseres Jahrhunderts aus den imperialistischen Strömungen der Epoche hervorgegangen ist, so wenig darf doch die Abhängigkeit des politischen Denkens und der politischen Entscheidungen in der Krisis von militärischen Planungen verharmlost werden. Die Abhängigkeit der Politik vom Mob-Kalender blieb ebenso bedeutungsvoll wie verhängnisvoll, womit dem deutschen Generalstab und seinem Chef im Jahre 1914 nicht etwa eine Kriegslüsternheit zugeschrieben werden soll. Die militärische Aufmarschplanung schränkte den Raum der politischen Entscheidungsfreiheit von vornherein ein und ließ ihn schließlich ganz zusammenschrumpfen. Man hat mit Recht gesagt, daß die politische Leitung des Deutschen Reiches in der kriegsreifen Situation des Sommers 1914 nicht den moralischen Mut zum rechtzeitigen diplomatischen Rückzug besessen habe, wobei die Frage offen bleiben muß, ob aus der Perspektive von 1914, aus dem Lebensgefühl der damaligen Gegenwart heraus, das heißt unter Abzug der seither gemachten Erfahrungen, ein solcher „diplomatischer Rückzug" für das Empfinden der Zeitgenossen denkbar oder doch nur bei sehr starker Führung erträglich gewesen wäre. Das Jahr 1939 bietet das Bild einer vollkommen veränderten Landschaft, in der vor allem das Militär eine ganz andere Stellung einnimmt. Daß gerade die Chefs des deutschen Generalstabs die ungewöhnliche Aufgabe übernommen hatten, den Krieg zu verhindern, soll nur am Rande erwähnt werden. Das in viel zu rascher Aufrüstung seit 1934 entstandene Millionenheer war — und zwar nicht ohne Schuld der höheren militärischen Befehlshaber — ein willenloses Instrument der Politik Hitlers geworden. Wie willkürlich Hitler über das Heer verfügte, läßt seine Befehlsgebung am 25. August erkennen. Um 15. 02 wurde der Angriffstermin auf den Morgen des nächsten Tages festgesetzt, und um 20. 30 Uhr wurde dieser Befehl wieder aufgehoben. Der Diktator konnte seine persönliche und maßlose Politik treiben, weil die Kommandostellen des Heeres in der Lage waren, die Auswirkungen einer dilettantischen obersten Befehlsgebung immer wieder, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, auszugleicLen. Im Verlauf des Krieges hat sich Hitlers Willkür über das Heer bekanntermaßen von

Feldzug zu Feldzug und von Kriegsschauplatz zu Kriegsschauplatz gesteigert. Die Leistungsfähigkeit der Wehrmacht hat die Katastrophe wohl hinausgeschoben, aber sie hat sie nicht verhindern können. Wenn es 1939, anders als 1914, berechtigt ist, den Kriegswillen Hitlers und Ribbentrops festzustellen, so wird deren Kriegsschuld nicht geringer, sobald eine kritische Geschichtswissenschaft den hier nicht unternommenen Versuch macht, die Sonde in ältere und tiefere Schichten der allgemeinen Politik und der Gesellschaft zu senken und nicht bloß beim Verhalten von Einzelpersönlichkeiten zu verweilen.

Die Beschäftigung mit der Geschichte führt leicht zu der Frage nach den Lehren, die sie erteilt, und bei solcher Frage stellt sich die Erinnerung an Jakob Burckhardts Rat ein, der sinngemäß lautet, man solleversuchen, von der Geschichte zu lernen, nicht um klüger zu werden für das nächste Mal, sondern weise für immer. Versuchen wir trotzdem oder vielleicht sogar im Sinne des großen Baseler Historikers in der Situation, in der sich unser Land nach zwei Weltkriegen befindet, eine Lehre nicht „für das nächste Mal", sondern für unsere Gegenwart zu ziehen und zu begreifen. Im Rückblick eines deutschen Historikers auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg ist es legitim, wenn die Stellung Deutschlands besonders beachtet wird. Das Mißlingen der Weimarer Republik kann sicherlich nicht als ein isolierter deutscher Vorgang verstanden werden. Verhängnisvoll wurde indes der Glaube vieler Deutscher nach 1918, daß die im Weltkrieg gefällte Entscheidung über die Rolle, die Deutschland in der Weltpolitik zu spielen in der Lage sei, korrigiert und rückgängig gemacht werden könne. Für die Illusionen, in denen die Zeitgenossen der zwanziger Jahre befangen waren, lassen sich seit Versailles, seit dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa und seit der revolutionsbedingten Schwächung Rußlands mannigfache Gründe anführen. Der Zweite Weltkrieg hat, auch wenn er nach seinen Voraussetzungen sowie nach seinen Bedingungen mit dem Ersten Weltkrieg überhaupt nicht vergleichbar ist und keine Kontinuität darstellt, die schon einmal erteilte Lehre wiederholt und bekräftigt. Daß sich eine vollkommene politische Wandlung der Machtverteilung in der Welt vollzogen hat, ist 1945 noch sichtbarer als 1918 geworden. Alte politische Kategorien haben ihre Gültigkeit verloren, und historische Analogien sind noch weniger zulässig als zuvor. Und wenn die Vorstellung einer selbständigen, das heißt „freien" deutschen Politik schon vor 1914 gefährliche illusionistische Züge trug, so ist sie heute vollständig antiquiert und überholt. Das Paradoxe mag darin gesehen werden, daß nach dem Zusammenbruch des alten europäischen Staatensystems die Europaidee mit neuem Leben erfüllt ist. Unser politischer Standort in der Gegenwart wird von der Über-zeugung bestimmt, daß die Bindung an die Freiheit, konkreter an die Bewahrung der für uns unaufgebbaren und immer wieder bedrohten Menschenrechte niemals in Frage gestellt oder „aufs Spiel" gesetzt werden darf.

Gedanken zum 1. September 1939 und seinen Folgen

Blickt man heute, nach 25 Jahren, auf den 1. September 1939 zurück, so mag das Gewicht dieses Tages in unserer Erinnerung gegenüber der Bedeutung zurücktreten, die die Epochen-jahre 1914 und 1945 in unserem Weltbild gewonnen haben. Der Erste Weltkrieg und sein Ausgang konfrontierten uns mit einem Europa, in dem wir die vertrauten Züge unseres Kontinents nicht mehr wiederfanden. Entscheidende Elemente der alteuropäischen Struktur wie die Monarchien in Ost-, in Mitteleuropa und am Bosporus waren beseitigt, alte Reiche von der Landkarte gelöscht oder bis zur Unkenntlichkeit verändert, an ihre Stelle zahlreiche neue Staaten getreten, von denen einige noch nie eine staatliche Souveränität besessen hatten. Die Zauberformel, mit der die neue Wirklichkeit hingestellt wurde, bildete das feierlich proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, das als Ergebnis des „größten und letzten aller Kriege für menschliche Freiheit" (Wilson) ein neues Zeitalter der Gerechtigkeit heraufführen sollte; die Ideen Herders und der Französischen Revolution schienen zu einem neuen Weltprinzip erhoben zu sein. Es war die tragische Schuld der Siegermächte, daß der angekündigte Weltfrühling keine Blüten treiben konnte. Europa und die übrige Welt blieben weiterhin friedlos; an Stelle der versprochenen Gerechtigkeit verharrte die Macht auf ihrem Throne, nicht nur in Europa, sondern auch in der außereuropäischen Welt. Versailles schien die Tatsache zu bestätigen, daß das Schicksal der farbigen Welt auch weiterhin in Europa entschieden wird: Das britische Weltreich stand als Sieger Nr. 1 da, Lenins aufpeitschende Diagnose vom „Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus" wurde nicht zur Kenntnis genommen.

Der Hauptleidtragende der neuen Ordnung waren Deutschland und die Deutschen in Österreich, in der Tschechoslowakischen Republik, in Polen und in Italien. Ihnen waren das Selbstbestimmungsrecht und die mit ihm verbundene nationale Gerechtigkeit versagt, sie waren moralisch durch den Kriegsschuldparagraphen vor der ganzen Welt diffamiert worden. Es war daher nach allen Regeln menschlichen und politischen Verhaltens anzunehmen, daß die nächste Unruhe von Deutschland ausgehen würde. Das hatte sogar der sonst nicht von Skrupeln belastete britische „Friedensmacher" Lloyd George in seinem Expose von Fontainebleau vom 26. März 1919 hellsichtig prophezeit. Es ist kein Zweifel, daß die internationale Deklassierung alles Deutschen einen wesentlichen Impuls für die Ausbildung einer europafremden, antidemokratischen Einstellung im gesamten deutschen Lebensraum bildete.

Die Forderungen, die Deutschland mit Danzig und dem Korridor vorzubringen hatte, waren moralisch und völkerrechtlich vertretbar. Sie rechtfertigten gewiß nicht einen Krieg. Die Lösung der Österreich-und der Sudetenfrage hatte im Gegenteil überraschend und deutlich gezeigt, daß die ehemaligen Siegermächte nach zwanzig Jahren bereit waren, die Liquidierung des von ihnen gesetzten Unrechtes hinzunehmen oder dabei sogar mitzuwirken. Es blieb Hitlers herostratischer Maßlosigkeit und Verblendung vorbehalten, diese für einen deutschen Staatsmann einmalige Chance brutal beiseite zu schieben, ein an sich gerechtes und diskutierbares Anliegen zu einem leichtfertigen Kriegsanlaß umzuformen und damit den zweiten großen Weltbrand zu entzünden. Wer sich an den Sommer 1939 zurückerinnert, wird zugeben müssen, daß ein Grund für einen Krieg in Europa nicht vorhanden war. Deutschland zumal war von keiner Seite bedroht oder in seinen vitalen Interessen gefährdet, es sei denn, man verstieg sich zu der Behauptung, diese Interessen im Osten bis zum Ural finden zu wollen. Es hatte die Fesseln von Versailles abgestreift, den kleindeutschen Nationalstaat Bismarcks durch die Eingliederung Österreichs und der Sudetendeutschen mit Duldung und Zustimmung der Welt zum großdeutschen erweitert und das politische Vakuum Mittel-europas beseitigt. Mit der Einverleibung des Reststaates der Tschechen hatte Hitler wohl die Grenze des außenpolitisch Zumutbaren überschritten, aber auch dieser Übergriff hatte im Frühjahr 1939 keinen Krieg ausgelöst. Begnügte sich Hitler mit dem Erreichten, war ein Anlaß zu einem bewaffneten Konflikt in Europa trotz den lautstarken italienischen Demonstrationen gegen Frankreich nicht vorhanden, zumal auch in der spanischen Arena die Entscheidung gefallen war.

Die Abneigung gegen den Krieg war 1939, von unerfahrenen Jugendlichen abgesehen, eine allgemeine. Die Geschlechter, die den Ersten Weltkrieg mitkämpfend oder mitleidend durchgestanden hatten, empfanden dunkel die Schwere des hereinbrechenden Schicksals, gegen das der einzelne machtlos war. Die Wirklichkeit der folgenden Kriegsjahre übertraf die düstersten Vorahnungen. Sie verwandelte die Erde in ein noch nie dagewesenes Inferno. Nur mit Schaudern kann man an das Kriegsende und seine Folgen zurückdenken, mit Schaudern, aber auch mit tiefer Dankbarkeit. Denn wer hätte damals auch nur im leisesten zu hoffen gewagt, daß uns noch einmal ein lebenswertes Leben beschieden sein könnte? — auf einem Erdreich, das von dem Blut von Millionen Opfern durchtränkt ist. Überblicken wir unsere durch die Niederlage geschaffene nationale Lage, so muß uns noch heute und immer wieder der Atem stocken. Sie kann mit keiner früheren Situation unserer tausendjährigen Geschichte verglichen werden, was Tiefe des Sturzes und Ausmaß der Verluste an deutschem Boden und deutschen Menschen anlangt. Es ist nur ein Teil der gesamtdeutschen Katastrophe, daß wir deutschen Österreicher zum zweiten Male innerhalb einer Generation das größere Vaterland verloren haben. Schmerzlicher noch wirkt der Verlust alten deutschen Volks-und Kulturbodens, wie er uns in den Namen Königsberg, Danzig, Breslau und Karlsbad gegenübertritt. Von den drei politischen Gebilden, der Bundesrepublik, der Zone und Österreich, die — mit fremder Hilfe — aus Schutt und Trümmern erstanden, gehören zwei den gegensätzlichen Weltmachtblöcken an, das dritte wurde zu immerwährender Neutralität verpflichtet; dem entspricht, daß das eine der EWG angeschlossen ist, das zweite in das COMECON gepreßt wurde, das dritte — noch — im Kielwasser der EFTA dahintreibt. In all dem Unglück ist dem größeren Teil der deutschen Menschen — ohne Verdienst — das Glück widerfahren, in Freiheit leben, arbeiten und denken zu dürfen, in der Bundesrepublik ebenso wie in Österreich. Nichts Höheres und Wertvolleres konnte uns anvertraut werden! Erst, und nur im Schatten der Freiheit konnte jener Reichtum und Wohlstand des äußeren Lebens erreicht werden, von dem keiner von uns vor 20 Jahren zu träumen gewagt hätte. Schon heute können wir sogar mit Vorsicht sagen, daß die pessimistischen Prognosen der Zeit nach Kriegsende von der endgültigen Verweisung Europas in eine unbedeutende Statistenrolle durch die Entwicklung nicht bestätigt worden sind; der freie Teil unseres alten, geschichtsträchtigen Kontinents entwickelte im Gegenteil auf der Grundlage einer großherzigen und großzügigen amerikanischen Hilfe Energien aller Art, die für die Zukunft ein Unterpfand seiner unverwüstlichen Vitalität sind.

Die großen Weltentscheidungen fallen allerdings nicht mehr in den europäischen Hauptstädten, und auch die Herrschaft über die Welt ist von Europas Schultern genommen worden — mit ein Hauptergebnis der durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Entwicklung. Geblieben ist die Mitverantwortung einer völlig gewandelten und sich fast täglich neu verändernden Welt gegenüber, für die sich auch die zweite Nachkriegsthese von der monolithischen Geschlossenheit des kommunistischen Herrschaftsbereiches als nicht mehr haltbar erwiesen hat. Die Anzeichen mehren sich, daß auch in den europäischen Volksdemokratien die starre Einheitlichkeit des Systems ins Wanken gerät, von den hervorbrechenden Kräften zur nationalen Besonderung und Individualisierung, Grundtendenzen europäischen Wesens, erschüttert und durchbrochen wird. Diese Tendenzen tragen ein dialektisches Gesicht, auf ihnen beruhen Größe und Vielfalt Europas, sie umschließen aber auch Europas Tragik, wenn sie egoistisch überspannt werden. Daß es gelungen ist, zwei so bedeutende und ausgeprägte Völker Europas wie Franzosen und Deutsche von der Vorstellung einer unabwendbaren Erbfeindschaft zu befreien und zu Freunden und politischen Weggenossen zu machen, steht als eine der hoffnungsvollsten Tatsachen der jüngsten Weltgeschichte vor uns, die beweist, daß nicht nur der Glaube, sondern auch eine verantwortungsbewußte Politik Berge versetzen kann.

Dem Septemberbeginn des Jahres 1939 fehlen jede Größe und Helle. Er war mit dem Schatten Stalins als wohlwollendem und interessiertem Zuschauer im Hintergrund ein makabrer Ritt durch das durch den Moskauer Vertrag geöffnete Höllentor. Er hat unendliches Leid über unser Volk, über Europa und über die Welt gebracht. Es gehört zum Wesen der Geschichte, daß auch aus dem qualvollsten Sterben neues Leben erstehen kann. Das durften wir beglückend erleben. Und daran wollen wir uns halten und gläubig weiterschreiten.

Die Welt 25 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges

Vor fünfzig Jahren brach der Erste Weltkrieg aus. Beinahe genau in der Mitte dieser Zeitspanne liegt der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen beiden Kriegen, obwohl es zu weit geht, wenn man sie in ein einziges Ereignis umzudeuten versucht, wie es in dem Wort vom „Dreißigjährigen Kriege des 20. Jahrhunderts" versucht worden ist. In vieler Hinsicht hat der Zweite Weltkrieg Entwicklungen zum Abschluß gebracht, deren Beginn der Erste ausgelöst hatte, aber er hat auch ganz neue in die Welt gesetzt.

Es ist eines der hervorstechendsten Merkmale der Weltkriege, daß die Intensität der Krieg-führung als solche die menschlichen Verhältnisse umbildete. Der Erste Weltkrieg war ursprünglich ein großer europäischer Krieg. Der Krieg Japans gegen Deutschland war durchaus nebensächlich. Es ist freilich richtig, daß die Spannung zwischen den europäischen Großmächten, die zur feindseligen Spaltung geführt hatte und dadurch den lokalen österreichisch-serbischen Konflikt in einen allgemeinen Krieg verwandelte, auch wesentlich durch die kolonialen Streitigkeiten der Zeit zwischen 1880 und 1914 erzeugt worden war. Aber wichtiger war die Tatsache, daß in den fünfzig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Welt ökonomisch zusammengewachsen war und daß die moderne Weltwirtschaft globale Zusammenhänge zwischen allen Staaten geschaffen hatte.

Der Krieg von 1914, von dem alle General-stäbe dachten, daß er in Analogie zu den Kriegen von 1866 und 1870/71 ein kurzer Krieg sein würde, wurde ein langer und furchtbarer Krieg. Der deutsche Plan, die französische Kriegsmacht in einem Feldzug von sechs Wochen zu zertrümmern, mißlang, und beinahe vier Jahre von strategisch bedeutungslosen Kämpfen folgten. Auch das Opfer von immer neuen Hunderttausenden von Toten und der Einsatz von immer mehr Kriegsmaterial überwand nicht die Überlegenheit, die unter den technischen Bedingungen der Zeit die Defensive über die Offensive besaß. Es half nicht, daß die Alliierten zusätzliche europäische Verbündete in Italien und Rumänien gewannen, aber es nützte Deutschland auch nichts, daß es Rußland besiegte. Der unentschiedene Kampf wurde erst durch die militärische Intervention der Vereinigten Staaten entschieden.

Die lange Dauer des Krieges und die immer größer werdenden Anstrengungen und Opfer veränderten den Charakter des Krieges. Die Regierungen mobilisierten nicht nur Millionen von Soldaten, sondern auch die Zivilbevölkerung einschließlich einer ständig wachsenden Zahl von Frauen für die Kriegsproduktion. Rohstoffe wurden bewirtschaftet, Nahrungsmittel rationiert und Preise und Löhne stabilisiert. In immer größerem Umfange brachte der Staat Wirtschaft und Gesellschaft unter seine Leitung. Dieser „Kriegssozialismus" ging unter dem Druck der englischen Blockade am weitesten in Deutschland und hat später den Sowjets als Vorbild gedient. Aber auch die europäischen Alliierten hatten ihre Nöte, unter denen der Mangel an Schiffsraum eine der ernstesten war, und die Regierungen waren zu schwerwiegenden Eingriffen in die Wirtschaft gezwungen. Zum erstenmal in seiner Geschichte mobilisierte England ein Millionenheer und gleichzeitig seine Industrie für eine gewaltige Kriegsproduktion. Auch Frankreich erreichte eine erstaunliche Produktionsleistung an Waffen und Munition, obwohl es den letzten Mann mobilisieren mußte und einige seiner bedeutendsten Industrie-Reviere infolge der deutschen Besetzung verlor.

Aber gleichzeitig mit der Mobilisierung der physischen Machtmittel appellierten die Regierungen an die Gemüter und den Geist ihrer Völker. Das war nötig, um sie bereit zu machen, die unerhörten Opfer des Weiterkämpfens zu bringen. Der absolute Wert der eige-nen Güter, für die man kämpfte, sollte jedem eingeprägt werden; Ideen, die einzelne erlahmen ließen oder gar die gemeinsame Front zu zerbrechen drohten, mußten nach Möglichkeit unterdrückt werden. Ideen sollten auch den Kampf in den Augen der Neutralen rechtfertigen und womöglich auch bei den Feinden werben. Keine der am Ersten Weltkriege beteiligten Regierungen, wahrscheinlich nicht einmal die Regierung des Zaren, hatte die Macht, den Kampf der Meinungen im eigenen Lande völlig zu unterbinden. Sie konnten jedoch durch die Kriegszensur und durch massive Propaganda die Meinungen manipulieren, stilisieren, und — wenn der Ausdruck erlaubt ist — „ideologisieren". Ludendorff, der besiegte Feldherr von 1918, führte seine Niederlage nicht nur auf die Schwächen der deutschen Kriegswirtschaft, sondern vor allem auf das Fehlen einer von allen akzeptierten nationalen Ideologie zurück. Und Hitler war der gleichen Auffassung. Was beide nicht verstanden, war die Tatsache, daß Wilsons Friedensprogramm eine ins Außenpolitische projizierte Version amerikanischen demokratischen Denkens war, das ja wesentlich auf die universalistischen Ideen des 18. Jahrhundert zurückgeht, und deshalb, obwohl der Glaube einer Nation, doch eine unmittelbare Ausstrahlung in die Welt haben konnte.

Die Verwandlung des „kleinen Krieges" von 1914 in den totalen Krieg von 1917/18 hatte weittragende Folgen. Die Intensivierung des Hasses, die er verursachte, machte den Friedensschluß unendlich viel schwieriger. Diejenigen jedoch, die sich nach dem Friedensschluß auf neuen Kampf vorbereiteten, glaubten, daß dies die Annahme einer Ideologie, die die totale Mobilmachung möglich machen würde, zur Voraussetzung hätte. So gebar der totale Krieg auch den totalitären Staat.

Seit dem Eintritt der Vereinigten Staaten wurde der Krieg im vollen Sinn zum Weltkrieg. Der Krieg, den die alten europäischen Mächte vier Jahre lang nicht zur Entscheidung bringen konnten, wurde von Amerika zugunsten der Alliierten beendet. Es war das Ende des historischen europäischen Staaten-systems, und es wurde erst recht dazu, weil offensichtlich die europäischen Staatsmänner seine Bedeutung vergessen hatten. Auf der Friedenskonferenz wurde die Frage, ob ein Europa erbaut werden könne, das auf eigenen Füßen stehen würde, niemals auch nur theoretisch erörtert. Die französische Politik ging sehr weit, um ein französisches Übergewicht über Deutschland herzustellen und dadurch außereuropäische Unterstützung überflüssig zu machen. Aber Clemenceau wußte sehr wohl, daß • die Erhaltung der Beziehungen mit England und Amerika wichtiger war für die zukünftige Sicherheit Frankreichs als der eigene Gewinn strategischer Positionen. So verzichtete Clemenceau unter englisch-amerikanischem Druck auf die Abtrennung des Rheinlandes von Deutschland und begnügte sich statt dessen mit einer englisch-amerikanischen Garantie der französischen Ostgrenze, die sich dann freilich als sinnlos erwies, da sich Amerika von dem gesamten Pariser Vertragswerk zurückzog.

Es ist hier nicht der Ort, die Pariser Friedensverträge kritisch zu beschreiben. Man hat gestritten, ob die Friedensbedingungen, die Deutschland auferlegt wurden, zu hart oder zu milde waren. Aber der Frieden von Versailles scheiterte vor allem daran, daß die Mächte, die ihn zu Papier brachten, nicht bereit waren, ihn aktiv zu stützen. Nadi der Pariser Konferenz drängten die siegreichen Mächte nach „normalcy", wie es in Amerika genannt wurde, das heißt nach dem, was als der normale Vorkriegszustand der Nation betrachtet wurde. Die Vereinigten Staaten versuchten sich soweit wie möglich gegen die Welt zu isolieren. Das gelang nun zwar nicht vollkommen. Die amerikanische Politik verblieb aktiv im Fernen Osten, in Abrüstungsfragen und, wie später noch zu zeigen sein wird, in weltwirtschaftlichen Fragen. Aber die Erfahrung, die Amerika während des Ersten Weltkrieges gemacht hatte, nämlich daß die Kriege Europas auch Amerika hineinziehen würden, wurde als ein einmaliges und vor-übergegangenes Ereignis abgeschrieben.

Vielleicht wäre eine aktive politische Unterstützung Englands und Frankreichs durch Amerika nicht nötig gewesen, wenn sie eine gemeinsame Politik verfolgt hätten. Aber England weigerte sich, in irgendeiner Form die englisdi-französische Entente der Vorkriegszeit und die vor 1914 abgeschlossenen Militär-und Flottenverträge fortzusetzen. Es weigerte sich auch, den Völkerbund zu einem starken allgemeinen Sicherheitssystem auszubauen. In den Locarno-Verträgen gab England zwar eine beschränkte Garantie der Rheingrenze, aber es machte zugleich klar, daß es nur ein geringes Interesse an der Aufrechterhaltung der osteuropäischen Grenzen besaß.

Frankreich wußte, daß es eine wirkliche Überlegenheit über Deutschland nur in den ersten Nachkriegsjahren haben würde, und Poincare suchte sie dann sogar mit dem Einmarsch in das Ruhrgebiet zur Geltung zu bringen. Frankreich trachtete vor allem danach, durch Bündnisse mit den neuen osteuropäischen Staaten seine Hegemonie auf dem Kontinent zu festigen. Aber selbst alle diese Staaten zusammen hatten nicht das Gewicht, das das zaristische Rußland besessen hatte.

Deutschland konnte ihnen außerdem größere wirtschaftliche Vorteile bieten, als es Frankreich vermochte. Vor allem hatten diese Bündnisse nur so lange einen militärischen Wert, wie Frankreich in der Lage war, im Kriegsfall eine Verbindung mit den östlichen Verbündeten herzustellen. Mit dem Bau der Maginot-Linie legte sich Frankreich auf eine defensive Strategie der nationalen Landesverteidigung fest, die den französischen Bündnissen nur einen geringen Wert beilegte. Der eigentliche Wendepunkt in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges war die deutsche Wiederbesetzung des Rheinlands im Jahre 1936. Der Münchner Vertrag des Jahres 1938 war nur die Folge des entscheidenden früheren Ereignisses.

Alle Nationen versäumten es, sich die Lehren des Ersten Weltkrieges zu Herzen zu nehmen. Die Geschichte des Krieges hatte gezeigt, daß ein wirkliches europäisches Gleichgewicht nicht mehr existierte und daß Europas Schicksal von weltweiten Kräften abhängig war. Dadurch hätte es eigentlich auch erwiesen sein sollen, daß Europa es sich nicht erlauben konnte, den souveränen Nationalstaat als die Norm politischen Lebens zu betrachten, sondern daß gerade ein verantwortliches Nationalgefühl die Zusammenarbeit aller europäischen Staaten fordern würde. Nur wenige Außenseiter haben jedoch solche Gedanken zwischen den beiden Weltkriegen ernsthaft erwogen.

Was aber zum Nationalismus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gewaltig beitrug, war ein anderes grundsätzliches Versäumnis der Staatsmänner. Der Erste Weltkrieg hatte, wie wir sahen, den totalen Krieg erzeugt. Ein solcher Krieg konnte nur durch eine totale Diplomatie beendet werden. Es wurde aber kein systematischer Versuch von den Staatsmännern der Welt unternommen, die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen, auf denen die Welt vor 1914 geruh', hatte, wiederherzustellen. Allgemein wurde erwartet, daß mit dem Frieden sich die Weltwirtschaft wieder einspielen würde. Aber wenn diese Rückbildung von den einzelnen nationalen Regierungen unternommen werden sollte, konnte sie kaum gelingen. Natürlich konnte Wiederherstellung nicht bedeuten, daß alles so restauriert wurde, wie es im Jahre 1913 gewesen war, sondern nur, daß man die Bedingungen wiederherstellte, die das Blühen und Wachsen der Volkswirtschaften im Rahmen der Weltwirtschaft ermöglicht hatten. Das bedeutete in erster Linie stabile und austauschbare Währungen, ebenso einen vernünftigen internationalen Kapitalmarkt, dazu einen relativ unbehinderten Warenverkehr.

Es ließ sich nicht rückgängig machen, daß als ein Resultat des Krieges Europas relativer Anteil am Welthandel gesunken war, aber es wäre durchaus möglich gewesen, durch internationale Zusammenarbeit eine Ausweitung des Welthandels herbeizuführen und auch die anderen notwendigen Vorbedingungen einer Prosperität zu schaffen. Die größte Schwierigkeit lag in den Problemen der deutschen Reparationen und der Rückzahlung der alliierten Kriegsschulden. Hätte man sich zu den Lösungen, die die Konferenz von Lausanne im Jahre 1932 fand, fünf bis sechs Jahre früher entschlossen, wäre die Weltwirtschaftskrise von 1931 wohl wesentlich milder ausgefallen. Da die wirtschaftliche Rehabilitierung den Nationen überlassen blieb, dauerte sie lange. Erst 1924 war das Volkseinkommen Englands und Frankreichs wieder so groß wie 1913. Da die Kriegslasten jedoch groß waren, hieß dies noch nicht, daß die Vorkriegszeit oder normale Verhältnisse wieder eingekehrt waren. In den Jahren 1925— 30 war dann ein gewisses Wachstum zu beobachten, in Frankreich relativ stärker als in England. In den dreißiger Jahren verstand es England, ein recht erhebliches Wachstum, über das beste frühere Jahr 1929 hinaus, zu erzielen, während Frankreich niemals vor dem Zweiten Weltkrieg den Stand von 1929 erreichte. Deutschland erzielte zum erstenmal 1927 ein Volkseinkommen, das etwas größer war als im Jahre 1913. Die beiden nächsten Jahre waren noch etwas besser. In den Jahren 1931— 33 war das Absinken größer als in allen anderen Industriestaaten Europas. Danach wuchs die Wirtschaft durch die Rüstungsausgaben.

Für diese trübe Wirtschaftsgeschichte der Zwischenkriegsperiode muß vor allem Amerika verantwortlich gemacht werden. Ohne Amerika, das durch den Krieg das Hauptgläubigerland der Welt geworden war, konnten die grundsätzlichen ökonomischen Probleme nicht gelöst werden. Die protektionistische amerikanische Wirtschaftspolitik machte es für die europäischen Schuldner-länder unmöglich, ihre Exporte zu vergrößern. Gleichzeitig bewirkte die „Neutralisierung" des zusätzlichen Goldes in den Kellern des amerikanischen Schatzamtes, daß dieses Geld nicht ins Ausland zurückfließen konnte, sei es in der Form von zusätzlichen Einkäufen, sei es in der Form von Anlagen. Tatsächlich schrumpfte auch der koloniale Markt Europas, der vor 1914 größer gewesen war dank der europäischen, vornehmlich englischen Kapitalanlagen, die nach dem Kriege unterblieben, ohne daß amerikanisches Kapital dafür ein-sprang.

Amerika half immerhin die deutschen Reparationszahlungen etwas zu entpolitisieren. Der Dawes-Plan konnte jedoch von Deutschland nur so lange erfüllt werden, wie es durch das hereinströmende ausländische Kapital einen starken Devisenüberschuß besaß. Nach den deutschen Septemberwahlen von 1930 begann der Strom rückläufig zu werden. Amerika konnte zwischen 1919 und 1929 seine Wirtschaft gewaltig ausdehnen, erlitt aber dann in der Weltwirtschaftskrise, die von Amerika ihren Ausgang nahm, einen relativ größeren Rückschlag als jedes andere Land. Erst 1939 hatten die Vereinigten Staaten wieder ein Volkseinkommen, das so groß war wie dasjenige von 1929.

Der Zweite Weltkrieg wurde mit einem noch weit größeren Aufwand von industriellen, technischen und wissenschaftlichen Rüstungen geführt, als deren furchtbarstes Produkt am Ende des Krieges die Atombombe erschien. Am Beginn des von Hitler frevlerisch begonnenen Krieges schienen die längeren und größeren Kriegsvorbereitungen des totalitären Slaates einen raschen Sieg über die westlichen Demokratien möglich zu machen. Tatsächlich waren jedoch die KriegsVorbereitungen nicht groß genug für den Krieg, den Hitler später mit dem Angriff auf Rußland zu führen unternahm. Hitlers Rußlandfeldzug machte es England und Amerika möglich, den Vorsprung, den Deutschland besaß, einzuholen und bald zu überbieten.

Mit dem Eintritt Japans und Amerikas in den Krieg nahmen alle Kontinente an dem Ringen teil. Dieses Mal waren der Pazifik und der Ferne Osten kein Nebenkriegsschauplatz. Die Welt war nun wirklich eine Welt, allerdings zunächst nur in einem strategischen Sinne. Zugleich trat jetzt deutlicher in Erscheinung, was sich im Ersten Weltkrieg nur in schwachen Umrissen als eine zukünftige Möglichkeit abgezeichnet hatte, nämlich daß die Tage der Herrschaft des weißen Mannes über Völker anderer Kulturen gezählt waren. Wilson war davon schon 1919 überzeugt gewesen. Er hatte jedoch nur das — nicht gerade ideale — Mandatssystem des Völkerbundes in Paris durchsetzen können, das aber nur für frühere Gebiete und Kolonien der Feinde Gültigkeit hatte. Immerhin war dies ein nicht unwesentlicher Anfang in dem Abbau kolonialer Herrschaftsformen, der sich ursprünglich nur in Amerika breiterer Popularität erfreute. Die japanische Eroberung französischer, englischer und holländischer Kolonien in Südostasien machte es unmöglich, das Kolonialsystem in seiner alten Form wiederherzustellen. Aber wenn man nicht zurückgehen konnte, mußte man den ganzen Schritt vorwärts tun. Und was für Südostasien galt, konnte dann Burma und Indien, die ohnedies schon größere Freiheit besaßen, nicht versagt werden. Im letzten Jahrzehnt haben wir dann die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts auch in Afrika erlebt. Es ist nicht unmöglich, daß in einer späteren Zukunft das Ende des Kolonialzeit-alters als das wesentlichste Ergebnis des Zweiten Weltkrieges bezeichnet werden mag. Doch sind die Staaten des afro-asiatischen Blocks auf voraussehbare Zeit viel zu schwach, um als eine „dritte Kraft" außerhalb der Vereinten Nationen, die doch nur eine zweitrangige Bedeutung haben, zu wirken. Dazu kommt, daß selbst auf kulturellem Gebiet diese Nationen der Welt wenig an Eigenem anzubieten haben, vielmehr umgekehrt hauptsächlich damit beschäftigt sind, die Technik, Wissenschaft und Industrie Europas und Amerikas nachzuahmen.

Der Sieg über die Achsenmächte wurde durch das Zusammenwirken Englands und Amerikas mit der Sowjetunion errungen. Das Verhältnis wurde in den westlichen Ländern als ein echtes Bündnis aufgefaßt, während es tatsächlich nur eine gemeinsame Kriegführung (co-belligerency) war, denn Osten und Westen waren sich nur in dem Ziel der Vernichtung des Hitlertums einig, aber nicht in der Planung einer befriedeten Welt nach dem Kriege. Da die Amerikaner mit voller Macht erst 1944 aktiv in den Krieg eingreifen konnten, waren sie nicht geneigt, vorher über Friedensziele zu sprechen. Natürlich suchten sie auch zunächst nach einer Lösung, die es ihnen ermöglichen würde, nach Hause zu gehen, obwohl sie dieses Mal von vornherein bereit waren, einem neuen, mit viel größerer Macht ausgestatteten Völkerbund beizutreten. Auch andere Lehren des Ersten Weltkrieges und des verunglückten Friedens wurden jetzt bereitwillig gezogen. Um die Wiederholung der bedrückenden interalliierten Kriegsschulden zu vermeiden, wurden die gewaltigen Kriegs-lieferungen im Pacht-Leih-Verfahren (Lend-Lease) abgewickelt, das heißt größtenteils von Amerika finanziert. Schon vor dem Ende des Krieges wurden außerdem der internationale Währungsfonds und die Weltbank geschaffen. Dazu trat dann noch UNRRA, die Organisation der Vereinten Nationen für den Wiederaufbau der ehemals von Deutschland besetzten Gebiete, für die unmittelbare Nachkriegszeit.

Die Vereinigten Staaten waren dieses Mal sehr wohl auf eine totale Friedensdiplomatie vorbereitet, aber nicht auf die Übernahme globaler politischer und militärischer Verpflichtungen. Es wurde angenommen, daß in Europa England, unterstützt von Frankreich, ein genügendes Gegengewicht gegen Rußland werde bilde können, während in Asien China die politische Führung zufallen würde. Dazu kam noch die weitere unberechtigte Annahme, daß die Sowjetunion wohl ihre nationale Sicherheit gefestigt sehen wollte, aber sich nach den Zerstörungen des Krieges wesentlich auf den inneren Wiederaufbau konzentrieren würde. Die Hoffnung bestand, daß sich auf solcher Grundlage die Zusammenarbeit der Kriegszeit in den Vereinten Nationen fortsetzen lassen könne.

Schon sehr bald nach dem Ende der Feindseligkeiten wurde klar, daß die russischen Ansprüche gigantisch waren und die Sowjetunion sie bis an den Rand des Krieges zu verfolgen trachtete. Es erwies sich auch, daß weder England noch ganz Europa imstande sein würden, den Marsch Rußlands nach dem Westen aus eigener Kraft aufzuhalten. Amerika begann, seit es im Frühjahr 1947 den Schutz Griechenlands übernahm, das freie Europa systematisch aufzubauen und an seiner Verteidigung mitzuwirken. Es war in diesem Zusammenhang besonders wichtig, daß schon 1947 der Entschluß gefaßt wurde, auch Westdeutschland in den Marshall-Plan miteinzubeziehen. Die Ergebnisse des Marshall-Plans zeigten die enormen wirtschaftlichen Auftriebskräfte, die in der Zusammenarbeit der europäischen Länder liegen. Amerika hat immer ein starkes Europa gewünscht und niemals einen Vorteil darin gesehen, ein europäisches Land gegen ein anderes auszuspielen. Es weiß heute, daß es Europa nicht in die Hände totalitärer Mächte fallen lassen darf, wenn es selber als freies Land bestehen bleiben will. Da Europas Sicherheit auch heute noch wesentlich von Amerika abhängt, hat Amerika mächtige Truppen-und Flotteneinheiten in Europa stationiert.

Aber der Ausgang des Krieges in Asien stellte die Vereinigten Staaten auch dort vor die schwerwiegendsten Probleme. Der Verlust Chinas an die Kommunisten hätte leicht den Verlust ganz Asiens bedeuten können. Die Lage ist immer noch prekär. Die Zukunft eines freien Indiens zum Beispiel ist wegen seiner ungeheuren Armut noch recht ungewiß. Aber auch ein kommunistischer Sieg in Südostasien könnte die Entwicklung Indiens gefährlich präjudizieren.

Im Weltmaßstab ist der Kalte Krieg noch keineswegs vorüber und auch die Bipolarität ist im Augenblick noch vorherrschend, das heißt, die beiden nuklearen „Supermächte" Amerika und Rußland bestimmen noch wesentlich die Weltlage. Daß sich die Zahl der „blockfreien" Staaten erheblich vermehrt hat, bedeutet nicht viel. Und doch bereiten sich Veränderungen vor. Das atomare Patt und die „Konfrontierung" der beiden Weltmächte über die Stationierung russischer Raketen in Kuba haben eine gewisse Entspannung im Kalten Krieg herbeigeführt. Auf der anderen Seite haben die scharfe ideologische Spaltung des kommunistischen Blocks und die erstaunliche Feindseligkeit Pekings gegen Moskau die Weltlage geändert. Sie haben dazu geführt, daß die europäischen Satelliten Rußlands, mit der Ausnahme der sogenannten DDR, sich einige, übrigens immer noch sehr mäßige Freiheiten erlauben können.

Wir wissen nicht, ob der Riß zwischen Moskau und Peking endgültig ist, und es ist deshalb bedauerlich, daß in eben diesem Moment die erwähnten Ereignisse auch zu einem Nachlassen der Einigkeit der europäischen Staaten und ihrer Zusammenarbeit mit Amerika geführt haben. Die leichte Entspannung im Kalten Krieg öffnet Möglichkeiten für Unterhandlungen aber nur, wenn die freie Welt eine geschlossene Front aufrecht erhält.

Die amerikanische Haltung zur Weltpolitik 1939 bis 1964

Während des letzten Vierteljahrhunderts haben sich Amerikas Teilnahme und Amerikas Interesse an der Weltpolitik ganz offensichtlich gewandelt. Die Vereinigten Staaten wurden zu der entscheidenden Macht, die in einem globalen Sinne den Ausgang des Zweiten Weltkrieges bestimmte. Washington spielte eine hervorragende Rolle bei der Entstehung der Vereinten Nationen und ging eine Unzahl anderer internationaler Verpflichtungen ein, deren Übernahme es vor 1939 abgelehnt hatte. Die Atomwaffen verschafften den Vereinigten Staaten einen überragenden Einfluß in der Weltpolitik, der in der Folge dadurch begrenzt (aber nicht vermindert) wurde, daß andere Mächte ebenfalls in den Besitz von Atomwaffen gelangten und daß ihre Zerstörungskraft sich immer weiter vermehrte. So fanden sich die USA im Mittelpunkt der internationalen politischen, finanziellen und militärischen Verwicklungen wieder.

Diese äußeren Veränderungen waren nicht notwendig verbunden mit einer entsprechend umfassenden Änderung der amerikanischen Geisteshaltung und der amerikanischen Vorstellungen über das Wesen der Weltpolitik und Amerikas Rolle in ihr. Es ist wahr, daß diese Veränderungen möglich wurden, weil die Mehrheit der Amerikaner ihre Notwendigkeit einsah. Aber es hat immer eine bedeutende Minderheit von Amerikanern gegeben, die die Notwendigkeit in Zweifel zog oder die Anpassung an die weltpolitische Lage verzögerte, nicht aus zwingenden politischen Gründen, sondern weil sie gefühlsmäßig unfähig waren, ihre Einstellung zu ändern. Einen raschen und lebendigen Einblick in das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik der Jahre 1939— 40 kann uns die Beschäftigung mit einem mit viel Einfühlungsvermögen geschriebenen Büchlein aus dieser Zeit, Anne Morrow Lindberghs " The Wave of the Future”, verschaffen. Wenn wir die Haltung der Amerikaner zu jener Zeit dargelegt und ihre spezielle Wertung der Weltpolitik betrachtet haben, können wir uns der Untersuchung der gegenwärtigen Haltung zuwenden.

Im September 1939 waren die meisten Amerikaner den Methoden und Zielen der verschieB denen totalitären Systeme in Europa ideologisch feindlich gesinnt. Sie waren pro-britisch, pro-französisch, eine einflußreiche Minderheit war angezogen von der Fata Morgana der Volksfront, die im Kommunismus in erster Linie ein antifaschistisches Phänomen sah. Es gab wenig Sympathie für Deutschland, Italien oder den Faschismus. Man hätte ein frühzeitiges und massives Eingreifen Amerikas in den europäischen Konflikt erwarten können. Aber dazu kam es nicht.

Die latenten gefühlsmäßigen Sympathien für die „Alliierten“ von 1917— 18 wurden in Schranken gehalten durch spezifische politische Reaktionen. Die traditionelle Neutralitätshaltung des 19. Jahrhunderts wurde durch Schlußfolgerungen aus den Erfahrungen von 1914— 19 wiederbelebt. Amerika wurde offensichtlich deshalb in den Konflikt hineingezogen, weil es an seinen Rechten auf freien Handel und freie Schiffahrt festhielt. Späterhin, so schien es, wurde bei den Friedensschlüssen die amerikanische Diplomatie getäuscht und aus-manövriert. Diese Schlußfolgerungen traten schon 1919— 20 klar zutage, als der Senat den Eintritt der USA in den Völkerbund ablehnte und ein Bündnis mit Großbritannien und Frankreich im Rahmen des Vertrages von Versailles verhinderte. Der ständige Druck dieser Ansichten führte zur amerikanischen Neutralitätsgesetzgebung von 1935— 37, die den Verkauf von Waren an Kriegführende nur dann zuließ, wenn diese bar bezahlt und auf ausländischen Schiffen transportiert würden.

Die neuen Ideen des Internationalismus und politischen Idealismus wurden ebenfalls durch die Erfahrungen bei den Friedensverhandlungen in den Pariser Vororten ernstlich in Mit-leidenschaft gezogen. Die Mehrheit der Amerikaner, die nach wie vor dem Internationalismus zuneigte, überwand ihre Enttäuschung und fuhr fort, die Vereinigten Staaten zur Übernahme einer aktiveren Rolle in der Weltpolitik zu drängen. Eine bedeutende Minderheit jedoch verlieh ihrer Enttäuschung auf zweierlei Weise Ausdruck. Eine Gruppe wurde zu Neo-Isolationisten, die die europäische Politik als schmutziges Geschäft verdammten, aus dem sich die Amerikaner, gestützt auf ihre Stärke, hinfort heraushalten sollten. Die zweite Gruppe dachte ähnlich, reagierte aber unterschiedlich. Anstatt sich zurückzuziehen, übertrugen diese Internationalisten ihren Enthusiasmus und Idealismus auf die europäische Linke, die in der Mitte der dreißiger Jahre im Schatten der kommunistisch beherrschten Volksfront segelte. Genau in dem Moment, als die mit Westeuropa sympathisierenden amerikanischen Internationalisten ein wirkungsvolles Bündnis mit der Linken hätten eingehen können, wurde ihre Vorstellungswelt erschüttert durch die ideologischen Rückwirkungen des Paktes zwischen Nazis und Sowjets. So hegte die Mehrheit der Amerikaner im September 1939 — aus verschiedenen Gründen — Sympathien für Westeuropa, war aber gegen das Eingreifen der amerikanischen Macht in den Konflikt.

Während des folgenden Jahres, als Polen, Norwegen und Frankreich fielen, kristallisierten sich in Amerika zwei politische Konzeptionen heraus. Eine Gruppe argumentierte, daß das europäische Ringen die vitalen Interessen Amerikas und seine Zukunft berührte. Sie argumentierte, daß es besser sei, Deutschland und Italien sofort und zusammen mit einer Reihe von Verbündeten entgegenzutreten, als späterhin sich allein einem faschistischen Europa gegenüberzusehen. Die Rolle der Sowjetunion würde im Moment wegen Moskaus seltsamer Politik in den Jahren 1939— 41 außer Betracht gelassen. Die andere Gruppe war ebenso fest davon überzeugt, daß'Nichteinmischung den Interessen der Nation am besten dienen würde. Die Europäer könnten sich selbst überlassen bleiben, um ihre Streitfragen auszufechten, während die ungeschmälerte amerikanische Stärke mit etwaigen späteren Bedrohungen vom Alten Kontinent her fertig werden würde. Der Riß ging tiefer als in den Jahren 1914— 17, weil das gefühlsmäßige Eintreten für die Intervention noch stärker war als damals und weil andererseits die Traditionen des Isolationismus des 19. Jahrhunderts gestützt wurden durch die negativen Erfahrungen von 1917— 20.

Diese beiden einander entgegengesetzten Konzeptionen der Weltpolitik und amerikanischen Politik deckten sich im großen und ganzen mit den jeweiligen außenpolitischen Haltungen der beiden traditionellen Parteien. Die Demokraten unter Präsident Roosevelt waren im allgemeinen für jede mögliche Unterstützung Westeuropas und sogar für Intervention. Die Republikaner, sowohl gemäßigte wie konservative, traten für Nichteinmischung als den amerikanischen Interessen am dienlichsten ein. Dieser scharfe Gegensatz zweier politischer Auffassungen (trotz der allgemein vorherrschenden Sympathien für Westeuropa) löste sich nie auf, weder durch Diskussion noch durch innenpolitische Vorgänge. Die Streifrage war in dem Moment überholt, als der Angriff auf Pearl Haibor Amerika in den Krieg riß.

Als Mrs. Lindberghs Buch Mitte 1940 erschien, erregte es großes Aufsehen, nicht so sehr, weil es einen isolationistischen Standpunkt vertrat, sondern weil es sich einer aus den vornehmsten Traditionen des amerikanischen Idealismus kommenden Sprache bediente. Seltsamerweise lief dieser Idealismus (der sich in der Sehnsucht nach einer Reformierung Amerikas ausdrückte) den meisten konservativen, republikanischen, isolationistischen Ansichten zuwider-, eben dieser Idealismus versetzte die liberalen, demokratischen Interventionisten in Zorn, denn er benutzte eine ihrer stärksten Waffen gegen sie. Viele andere Streitschriften wurden in dieser Zeit veröffentlicht, aber das Buch „The Wave of the Future" hat einen bleibenden Wert, der noch heute einen brauchbaren Maßstab für das Wesen unserer sich schnell verändernden Zeitläufe lietert.

Der Aufsatz beginnt in einem Ton tiefsten Pessimismus, als Glaubensbekenntnis in einer Zeit nagender Unsicherheit, des Zweifels und der Furcht und schließt mit einer idealistisch-optimistischen Note. Unvermeidliche Veränderungen lägen in der Luft, erklärte die Autorin, und die Amerikaner müßten sich entscheiden, wie die Nation am besten auf neue Herausforderungen in der Welt antworten könne. Ein Gefühl für Tragik und eine Art aristokratischer Sozial-Darwinismus durchziehen das Buch. Mrs. Lindbergh mißtraut eifernden Interventionisten und benutzt ihren Moralismus, um gegen sie zu Felde zu ziehen; die Streitfragen dieser Welt sind nicht so kristallklar, sie können nicht auf so simple Weise gelöst werden; es gibt immer Alternativen, die bedacht werden müssen.

Hier rührte sie an eine Konstante der amerikanischen Außenpolitik, sei sie internationalistisch oder isolationistisch. Die Amerikaner waren lange empfänglich für schnelle und einfache Lösungen von Problemen, denen sie sich gegenüber sahen. Schließlich hatten sie einen ganzen Kontinent ohne große internationale Verwicklungen und mit Hilfe der industriellen Technik erobert. Die Amerikaner haben auch lange an einer tiefverwur-zelten Überzeugung von der Richtigkeit und naturgegebenen Sittlichkeit ihrer politischen Handlungen festgehalten; kein Wunder, daß der Begriff „Kreuzzug" so oft in ihren politischen Verlautbarungen erscheint. 1939/40 war diese Haltung in einer höchst aggressiven Form deutlich sichtbar im internationalistisch-demokratischen Lager, und viele seiner Anhänger nahmen Mrs. Lindberghs Plädoyer für Vorsicht und ruhige Überlegung übel auf.

Sie 'sah die Zeit als eine Periode tragischer Veränderungen an, in der vieles Gute unterging und die liberale Fortschrittsgläubigkeit erschüttert wurde. Die Interventionisten hatten ein Ringen zwischen den Mächten des Guten und den Mächten des Bösen vor Augen; sie fragte sich, ob es in Wahrheit nicht Mächte der Vergangenheit und der Zukunft waren. Gewiß waren da, gab sie zu, die Sünden der Verfolgung, der Aggression, des Krieges und des Raubes. Aber es gab auch andere Sünden, Blindheit, Selbstsucht, Verantwortungslosigkeit, Selbstzufriedenheit, Teilnahmslosigkeit, Widerstand gegen Veränderungen — Sünden, deren sich die Demokratien schuldig machten. „Das Böse scheint mir nicht", schrieb sie, „aus einer reinen und makellosen Welt zu entspringen, und Geißeln kommen nicht ohne Ursache über die Menschheit. Es ist diese Ursache, die ich ergründen will. Was war die Antriebskraft hinter dem Kommunismus? Welche stand hinter dem Faschismus in Italien? Welche hinter dem Nazismus? Ist es nichts als eine . Rückkehr zur Barbarei', die, koste es, was es wolle, durch einen . Kreuzzug'niedergeworfen werden muß? Oder ist es irgendeine neue und vielleicht im letzten . gute'Konzeption der Menschheit, die ans Licht drängt, oftmals in bösen und verabscheuungswürdigen Formen und fehlgeschlagenen Versuchen?"

Hier setzte sie ihre grundlegende Prämisse, historisch begründet und aus einer umfassenden Sicht der Welt, daß nämlich Krisen und Streitfragen verknüpft waren mit schweren, ungelösten inneren und äußeren Verwicklungen. Wohlgemerkt, sie setzte den Kommunismus nachdrücklich in Parallele zum Faschismus — eine Tatsache, die ihre interventionistischen und linksstehenden Kritiker immer übersahen, als sie sie in der Folge als „arglos" gegenüber den Nazis anprangerten.

Nein, fuhr sie fort, es war kein Fall von „Gut gegen Böse". — „Irgendwie haben die Führer Deutschlands, Italiens und Rußlands herausgefunden, wie die neuen sozialen und wirtschaftlichen Kräfte zu nutzen sind, wenngleich sie sie sehr oft schlecht genutzt haben ... Sie haben die Veränderungen erspürt und sie haben sie ausgenützt. Sie haben die Woge der Zukunft gefühlt und haben sich auf diese Woge geschwungen. Die Übel, die wir in diesen Systemen beklagen, sind nicht selbst die Zukunft; sie sind der Schaum auf der Woge der Zukunft."

Welche Alternative schlug Mrs. Lindbergh vor? „Anstatt einen Kreuzzug gegen eine unvermeidliche . Revolution'oder einen Wandel in Europa zu führen, sollten wir auf eine friedliche . Revolution'im eigenen Land hinarbeiten — lieber zuhause reformieren als draußen Kreuzzüge unternehmen ... Eine rein amerikanische Lösung zu finden, heißt nicht, einen strikten . Isolationismus'fordern .. . Nur wenn wir diesen Regeln folgen, können wir dem Außenstehenden wirklich etwas geben. Im Leben der Nationen wie im persönlichen Leben kann man nur geben, wenn man stark ist, niemals, wenn man schwach ist. .. Ich glaube nicht, daß wir gegen eine motorisierte deutsche Armee, die an unserer Küste landet, verteidigt werden müssen, wir müssen vielmehr geschützt werden gegen den Niedergang, die Schwäche und Blindheit, die alle . Demokratien'seit 1920 befallen haben .. . Uns droht Gefahr genau von denselben Zuständen, die Europa Unheil gebracht haben und unvermeidlich auch uns Unheil bringen werden, wenn wir sie nicht ändern . ..

Man kann sich der Woge der Zukunft nicht entgegenstellen ... Sollen wir unsere eigenen Sorgen hinter uns lassen und im Ausland Kreuzzüge unternehmen? . . . Fürchten wir uns davor, den Preis für den Frieden zu bezahlen? ... Der Preis für den Frieden ist, eine starke Nation zu sein, nicht nur physisch, sondern auch moralisch und geistig. Er fordert den Aufbau nicht nur in statischer Stärke, sondern einer Stärke, die auf Wachstum, Reform und Wandlung beruht. Denn nur im Wachstum, Reform und Wandel ist — paradoxerweise — wahre Sicherheit zu finden ... Reform sollte mehr sein als eine Probe auf unsere Glaubensüberzeugungen . .. Sie sollte ihrem Wesen nach ein lebensspendender Prozeß sein. Wir sind zu einem schöpferischen Akt aufgerufen. Und wie alle schöpferischen Akte erfordert er Arbeit, Geduld, Mühe — und einen unbegrenzten Glauben an die Zukunft." Diese gedrängte Zusammenfassung aus Mrs.

Lindberghs Büchlein macht nicht . hinreichend deutlich, welche Vorschläge sie zur Lösung des akuten Dilemmas unterbreitet, ob man Großbritannien helfen oder dem Faschismus den Sieg überlassen solle. Es genügt zu sagen, daß ihre Beweisführung nicht sehr überzeugend war. Sie legte das traditionelle isolationistische Vertrauen in die günstige geographische Lage und in die Sicherheit der Vereinigten Staaten an den Tag. Dies unterstützte ihre Illusion, daß Amerika die Zeit wie die Gelegenheit haben würde, eine Art „Rückzug und Wiederkehr" (Toynbee) zu vollziehen, zum Nutzen künftiger Generationen im eigenen Land und draußen. Aber der bleibende Wert ihrer Argumentation liegt in der Kombination von einem Gefühl für geschichtliche Vorgänge, einem schöpferischen Idealismus und der realistischen Erkenntnis, daß Wandlungen mit fruchtbaren Gegenvorschlägen beantwortet werden müssen.

Ihre Kritiker gingen nicht sanft mit ihr um. In den wachsenden Spannungen und Emotionen der Zeit wurde sie von den Internationalisten heftig angegriffen. Das Erscheinen des Büchleins fiel zusammen mit der Entstehung der „America First" -Bewegung im Jahre 1940 — einer heterogenen Organisation von Anti-Interventionisten aller Spielarten, einschließlich einer Randgruppe von linksgerichteten Pazifisten. Später wurde Oberst Lindbergh selbst aktives Mitglied von „America First". Die Kontroversen, die sich an manchen seiner Verlautbarungen entzündeten, wurden unvermeidlicherweise auch seiner Frau angelastet. So scheint ihr Beitrag in dem ideologischen Milieu des reaktionären Konservatismus, der Republikanischen Partei, der politischen Geographie des 19. Jahrhunderts und der Appeasement-Politik beheimatet zu sein.

Eine nähere Betrachtung aus der Perspektive von 1964 jedoch erbringt einige überraschende Ergebnisse. Ihr Sinn für geschichtliche Entwicklung auf längere Sicht erweist sich als ziemlich exakt. Die „Woge der Zukunft" hat jetzt die ganze nicht-westliche Welt erfaßt. Dieselben Fragen, die sie gestellt hatte, könnten wir heute berechtigterweise in globaler Perspektive stellen, sei es im Hinblick auf den Kongo, auf Süd-Vietnam oder Kuba. Die sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen, die sie in Europa erblickte, haben heute in beschleunigtem Tempo die ganze Welt erfaßt. Die Aufgaben der Reform und des Wiederaufbaus, vor denen ihr Amerika zu stehen schien, sind jetzt Forderungen an den ganzen industrialisierten Westen, und an die Sowjetunion. Reformen oder schöpferische Gegenmaßnahmen können sich nicht als „Rückzug und Wiederkehr" des Westens vollziehen. Wenn sich die Kolonialreiche auch auflösen und die früheren Großmächte sich zurückziehen, macht sich ihre Anwesenheit als „Reformer" nach wie vor bemerkbar durch individuelle Anstrengungen oder durch die weitgespannten Unternehmungen der Welt-organisationen.

Fünfundzwanzig Jahre später ist man von Mrs. Lindberghs Großherzigkeit, von ihrem Humanismus beeindruckt. Trotzt des Anfluges von Pessimismus und Tragik in ihrer Sicht der Dinge legt sie den Nachdruck auf die zentrale Wahrheit der Menschheitsgeschichte: Veränderung ist unvermeidlich; einsichtige Männer zur rechten Zeit können sie erträglich machen; wenn keine Zeit mehr bleibt, kommt es zu Umsturz und Katastrophe. Sie ist eine Philosophin, die für die Sache der einsichtigen Männer in einer nur schwer überblickbaren Welt eintritt. 1940 glaubte sie, daß noch Zeit bliebe, obwohl schon allzu viel Zeit verstrichen war. Gilt das nicht auch für 1964?

Es bleibt natürlich das akute Dilemma, das sie 1940 nicht löste und das wir heute auch nicht außer acht lassen können —-welche Strategie und welche Taktik können entwickelt werden, die die Notwendigkeit von Veränderungen anerkennen und zugleich . die optimalen Möglichkeiten für schöpferische Lösungen sichern, dabei aber die Rechte und Interessen der betroffenen Gesellschaften in vernünftigem Maße respektieren. Wie kann man die Sicherheit erlangen — durch Engagement, nicht durch Rückzug —, daß die Spannungen nicht in einen katastrophalen Konflikt münden.

Das sind die Fragen, mit denen sich die amerikanische Außenpolitik während all der Jahre seit 1945 befaßt hat. Und diese Politik hat in der amerikanischen Nation mehr Unterstützung erfahren als in irgendeiner anderen Friedensperiode im 20. Jahrhundert. Ob republikanisch oder demokratisch, die Grundzüge der Außenpolitik waren zwischen 1945 und 1960 gleichartig. Man könnte sie eine Politik des konservativen Liberalismus nennen. Die Männer, die sie geprägt haben, kamen aus derselben Gesellschaftsschicht: Es waren aufgeklärte Männer aus der Wirtschaft oder aus akademischen Berufen, erzogen in Har-vard, Yale oder Princeton, wohl vertraut mit der internationalen Atmosphäre. Mit einigen Varationen war das Generalthema „Eindämmung" —, der Versuch, eine weitere kommunistische Aggression zu verhindern, daneben auch die Katastrophe eines Atomkrieges abzuwenden. Ein System von Reformmaßnahmen lief diesem grundlegenden System parallel: der Marshall-Plan, hundert Milliarden Dollar Auslandshilfe, Unterstützung für die verschiedenen Entwicklungsorganisationen der UN usw. Man war überzeugt, daß die mächtigen, gemäßigten, wohltätigen, liberal-kapitalistischen Vereinigten Staaten durch ihr Vorbild und ihre Hilfeleistungen die Weltpolitik in fruchtbarer Weise beeinflussen würden.

Wenn auch die überwiegende Mehrheit der Amerikaner diese Politik unterstützte, formierte sich jetzt eine neue Opposition. Zwar gab es noch ein paar Überbleibsel aus der Zeit vor 1939: Reste der alten Volksfront-Clique agitierten immer noch für das Arbeiterparadies und setzten große Hoffnungen auf Sowjetrußland, das nunmehr zur dritten Weltmacht geworden war; ein konservativer Überrest blieb bei dem Glauben, daß Amerika durch die finsteren Machenschaften eines bösen Präsidenten in den Krieg getrieben worden war und weigerte sich, die Ergebnisse und Veränderungen, die 1945 sichtbar geworden waren, anzuerkennen.

Wirklich neue Haltungen bildeten sich aber erst unter dem Eindruck des Aufkommens der Atomwaffen und der Revolution in Asien heraus. Drastische Veränderungen im Fernen Osten und die „absoluten" Waffen führten zu „absoluten" außenpolitischen Konzeptionen sowohl auf der Linken wie auf der Rechten des politischen Spektrums. Beide Gruppen schließen das Element des Zufalls in den internationalen Beziehungen aus. Mit anderen Worten, sie glauben nicht länger, daß Außenpolitik durch einen ständigen Ausgleich zustande kommt. Sie glauben stattdessen, daß die „absolute" Ideologie und die „absoluten" Waffen die Lage bestimmen, aus der heraus außenpolitische Entscheidungen getroffen werden. Unter den Verfechtern einer solchen neuen »absoluten Politik" auf der Linken sind ein paar enthusiastische Anhänger des Kommunismus, aber zumeist sind es Männer und Frauen mit einem ausgeprägten Gewissen und von hoher Intelligenz, die die sozialen Umwälzungen in Asien und die Atomwaffen mit einer Mischung aus Idealismus und Entsetzen betrachten. Vor allem wollen sie die Menschheit nicht durch einen Atomkrieg vernichtet sehen (sie sind überzeugt, daß die Verwendung von Atomwaffen zu diesem Endergebnis führen muß), und sie starren wie gebannt auf den sozialen Umbruch. Es sind zumeist höchst gedankenreiche Leute, die sich zwar an der Diskussion über die Außenpolitik beteiligen, aber tatsächlich aus bestimmten Erwägungen den Glauben an die Wechselseitigkeit und an die Rolle des Zufalls in den außenpolitischen Beziehungen aufgegeben haben. Die unheilvolle Kraft der Bombe schiebt alle anderen Faktoren in ihrem Denken beiseite. Sie stellen heute eine vernehmliche Minderheit in der Demokratischen Partei dar. Präsident Kennedy sah sich im vergangenen Jahr veranlaßt, einige ihrer außenpolitischen Empfehlungen ausdrücklich zurückzuweisen — darunter den Vorschlag, West-Berlin aufzugeben und zu neutralisieren.

Viel mehr ins Auge fallend sind, vor allem seit dem jüngsten Nationalkonvent der Republikanischen Partei, die neuen Befürworter einer „absoluten Politik" auf der Rechten. Sie sind zutiefst überzeugt von der moralischen Rechtschaffenheit und derAllmacht ihres Landes. Primitiv, wie sie an die Dinge herangehen, simplifizieren sie die innen-und außenpolitischen Streitfragen und erwecken die Illusion, daß eindeutige Entscheidungen möglich sind. Noch 1939/40 vertrat die Rechte eine Außenpolitik der Stärke und Isolation aus einer Defensivposition des noli me tangere heraus. Heute ist sie zur Offensive übergegangen. In ihr sind Frustrierung, Furcht und Ungeduld mit der Weltpolitik seit 1945 eine komplizierte Mischung eingegangen. In Europa, in China, in Korea lag der Sieg greifbar nahe vor uns (vereinfachen sie), warum haben wir ihn nicht errungen? Die Antworten sind simpel: verbrecherische Dummheit der Führung, Unzuverlässigkeit der Verbündeten, Abgeneigtheit, unsere Macht zu gebrauchen und — Verrat. Für sie gibt es in der Außenpolitik keine Verhandlungen und keine Diskussionen mehr. Wenn die Europäer Einwendungen erheben, können sie ihre Ratschläge für sich behalten. Gleich den Interventionisten von 1939/40 sieht die extreme Rechte die Außenpolitik als einen Kampf zwischen Gut und Böse an. Offensichtlich werden sie in Berlin fest bleiben, zweifellos es auch unverzüglich mit Atomwaffen verteidigen. Unklar ist indessen, wer überleben wird, um sich an dem Sieg zu erfreuen. Mrs. Lindberghs Ideal einer Verbindung von sozialer und moralischer Reform mit einer wirkungsvollen Außenpolitik kam der Verwirklichung am nächsten in der Ara Präsident Kennedys. Wenn man seine Antrittsbotschaft noch einmal liest, die Allianz für den Fortschritt in Betracht zieht und auf die wirtschaftspolitische Gesetzgebung zurückblickt, die dazu bestimmt war, Amerika zur Beteiligung an einer größeren Atlantischen Gemeinschaft zu befähigen, fühlt man das tiefe Vertrauen und die Hoffnung, die den Geist seiner Zeit auszeichneten. In gewisser Weise setzt die Regierung Johnson diese Linie fort, wenngleich herkömmliche Tendenzen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder sichtbar werden. Der kommende Wahlkampf wird heftig sein, sogar widerwärtig. Nuancen und Unwägbarkeiten in außenpolitischen Dingen werden verdrängt werden durch lautstarke Schlagworte und scharfe Auseinandersetzungen. In dieser Situation scheinen einige der Schlußbemerkungen in Mrs. Lindberghs Büchlein für die Amerikaner und die übrige Welt auch heute noch von Nutzen zu sein:

„Die Vereinigten Staaten sind traditionell ein Land der Reformen ... Wegen dieser Tradition haben viele von uns in Amerika gehofft, daß es möglich sein würde, der Woge der Zukunft in relativer Harmonie und in Frieden entgegenzutreten. Es sollte möglich sein, ohne entsetzliches Blutvergießen von einem alten Leben zu einem neuen zu gelangen... Wir sind immer eine Nation gewesen, die für neue Ideale aufgeschlossen gewesen ist und nicht alten Legenden nachgeträumt hat, eine Nation, die es vorzog, neue Wege zu gehen, anstatt in den ausgefahrenen Geleisen zu bleiben ... Wir sollten uns der Probe unseres Gesellschaftssystems und unserer Glaubensüberzeugungen mutig unterziehen!“

Der Zweite Weltkrieg und die Revolution in der amerikanischen Außenpolitik

Von allen politischen Veränderungen, die sich aus dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 ergaben, hat sich keine einschneidender ausgewirkt als die, die sich in der Einstellung der Vereinigten Staaten der Außenwelt gegenüber vollzog. Vor 1939 waren die Vorstöße Amerikas in die internationale Arena noch krampfhaft und unsicher, und die Bereitwilligkeit, Verpflichtungen außerhalb seiner eigenen Grenzen auf sich zu nehmen, fehlte gänzlich. Die Ereignisse vom September 1939 stellen den Beginn einer Revolution in der amerikanischen Außenpolitik dar, die die Vereinigten Staaten innerhalb einer Generation in eine Macht mit Bindungen in allen Teilen der Welt und mit Bündnissen und anderen Verpflichtungen verwandelt haben, die Politikern vor einem Vierteljahrhundert unglaublich — ja „unamerikanisch" — erschienen wären.

Es ist keineswegs übertrieben zu sagen, daß selbst Franklin Delano Roosevelt, unter dessen glänzender Führung die Vereinigten Staaten erstmalig den neuen Kurs einschlugen, verblüfft wäre, wenn er sehen könnte, wie stark doch sein Land gegenwärtig in die Weltpolitik verwickelt ist, und es nur schwerlich zu erklären wüßte. Roosevelt war politisch während der zwanziger Jahre gereift, als die Vereinigten Staaten der Welt den Rücken gekehrt hatten; den Rest seines Lebens war er sich der Stärke der isolationistischen Gesinnung in seinem Lande bewußt und neigte sogar in seiner ersten Amtsperiode dazu, sich damit zu identifizieren. Als er sich nach 1936 allmählich zu dem Schluß durchrang, daß „Isolationismus" in einer Welt mit Hitler und Mussolini keine genügende Grundlage für die Außenpolitik einer Großmacht darstelle, fand er es schwer, seine Landsleute davon zu überzeugen. Sein Aufruf an sie vom November 1937 in Chicago, sich anderen Demokratien in einer „Quarantäne" der Angreifer anzuschließen, löste einen Sturm der Enrüstung und Bestürzung im Lande aus, der ihn zu einem eiligen, unwürdigen Rückzug zwang; und seinen folgenden Bemühungen, den Kongreß dazu zu bewegen, das Neutralitätsgesetz aufzuheben, damit die Vereinigten Staaten in der Lage wären, Opfern von Aggressionen zu helfen, war nicht mehr Erfolg vergönnt — wenigstens nicht ehe der Krieg schließlich in Europa ausgebrochen war.

Diese Rückschläge und die Erinnerung daran, was aus den Plänen Woodrow Wilsons für eine „schöne neue Welt" wurde, als dieser der öffentlichen Meinung zu weit vorauseilte, hat Franklin Roosevelt immer vor Augen gehabt. Sie stimmten ihn wenig zuversichtlich in seinen Überlegungen, inwieweit sich das amerikanische Volk, selbst in den schwierigsten Lagen, für Angelegenheiten außerhalb seiner eigenen Grenzen engagieren würde; und sie übten einen starken Einfluß auf die Politik aus, die er in den Kriegsjahren nach 1939 betrieb.

Seine geheime Überzeugung in dieser Hinsicht hielt ihn nicht von der Entschlossenheit ab, alles, was in seiner Macht stand, für die Unterstützung der gefährdeten Demokratien zu tun. In den Jahren, als die Vereinigten Staaten theoretisch im Krieg noch neutral waren, zeugten der Tausch von 50 amerikanischen Zerstörern gegen britische Stützpunkte (als Großbritannien auf dem Tiefpunkt war) und das Leih-und Pacht-Gesetz von seiner Bereitschaft, große Risiken einzugehen, denn diese Unterstützung der Opfer von Hitlers Aggression hätte Vergeltungsmaßregeln ausgelöst, wenn Deutschland den Krieg gewonnen hätte. In gewisser Flinsicht kann man diese Maßnahmen als die ersten Schritte auf dem Wege betrachten, der die Vereinigten Staaten in die Weltposition gebracht hat, die sie heute innehaben; aber es muß betont werden, daß Roosevelt keine Vorahnung von den umfassenderen Verpflichtungen einer späteren Zeit hatte. Die Schritte, die er unternahm, gingen, so glaubte er, bis zur Grenze dessen, was Amerika auf sich nehmen würde. Er bereitete sie vorsichtig, ja nervös vor, und er unternahm sie erst, nachdem er sich des Einverständnisses einiger maßgebender Republikaner und der Unterstützung eines beträchtlichen Teils der öffentlichen Meinung versichert hatte.

Diese gleiche Vorsicht kennzeichnete Roosevelts Politik nach dem Dezember 1941, als die Vereinigten Staaten in den Krieg ein-27 traten. Das erklärt auch seinen Versuch, die militärischen und politischen Aspekte des Kriegs in verschiedenen Abteilungen zu belassen, und seine Abneigung, Einzelheiten einer Nachkriegsregelung vor dem Ende der Feindseligkeiten zu diskutieren. Der Versuch, Entscheidungen über territoriale und andere Regelungen aufzuschieben, war unrealistisch und unglücklich in seinen Auswirkungen, aber er war eine natürliche Konsequenz von Roosevelts besonderer Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung. Er fürchtete, daß eine verfrühte Diskussion über die Gestaltung der zukünftigen Welt das amerikanische Volk durch die Aussicht auf spätere Risiken und Belastungen erschrecken und somit die Kriegsanstrengungen schwächen werde. Anstatt greifbare Lösungen für bestimmte Probleme zu besprechen, zog Präsident Roosevelt es vor (wie Wilson vor ihm), alles auf die Schaffung einer Weltorganisation zu setzen, die alle komplizierten Probleme mit der Zeit lösen würde — einer Weltorganisation, die jedenfalls (wie es Maurice Matloff ausdrückt) die ganze politische Lage der Welt erneuern und sie von den gefährlichen Komplikationen der alten " balance of power” und anderer traditioneller Mittel der Außenpolitik befreien würde, und die gerade deshalb — vorausgesetzt, daß sie dem amerikanischen Volke geschickter präsentiert würde, als es Wilson mit dem Völkerbund getan hatte — für die öffentliche Meinung akzeptabel wäre.

Niemals hat Präsident Roosevelt glauben können, daß das amerikanische Volk nach dem Ende der Feindseligkeiten eine andauernde Verwicklung in politische Verhältnisse Europas und Asiens dulden werde, und er machte sich Hoffnungen, daß die zu gründende Welt-organisation dies unnötig machen werde. Wiederholt hat er während der alliierten Besprechungen über eine Nachkriegsregelung für Deutschland seinen Widerstand gegen die Vorstellung einer langfristigen Besetzung Europas durch amerikanische Truppen bekundet. „Wir sollten uns nicht", informierte er die Chefs des Vereinigten Generalstabs im November 1943, „dazu verlocken lassen, irgendeine Einflußsphäre zu übernehmen." Später, im Februar 1944, schrieb er an Winston Churchill: „Bitte, verlangen Sie nicht von uns, irgendwelche Truppen in Frankreich zu lassen! Ich kann es einfach nicht! Ich werde sie alle nach Hause bringen müssen. Wie ich bereits zu verstehen gab, lehne ich unter Protest die Vormundschaft über Belgien, Frankreich und Italien ab. Sie sollten wirklich Ihre eigenen Kinder großziehen und züchtigen. Angesichts der Tatsache, daß sie in der Zukunft einmal zu Ihrem Schutze dienen könnten, sollten Sie wenigstens jetzt für ihre Ausbildung aufkommen."

In diesen und ähnlichen Aussagen des Präsidenten spiegelte sich die Hoffnung wider, daß die Vereinigten Staaten ihre Rolle nach dem Kriege hauptsächlich mittels der Vereinten Nationen spielen würden und daß die Völker Europas und Asiens sich selbst überlassen werden könnten, ohne daß die Vereinigten Staaten in ihre Angelegenheiten hineingezogen würden. In bezug auf Europa lag dieser Hoffnung bewußt oder unbewußt die Annahme zugrunde, daß die Nationen des westlichen Teils des Kontinents sich schnell von den Verheerungen des Krieges erholen und dabei keinen Bedrohungen von außen ausgesetzt sein würden. Noch vor Präsident Roosevelts Tod stellte sich jedoch klar heraus, daß diese Annahme auf tönernen Füßen stand, als die materielle und moralische Zersetzung Europas fortschritt und als die Zeichen sowjetischer territorialer Ambitionen zunahmen. Zunächst versuchte Roosevelt, vor den Tatsachen die Augen zu verschließen und zu argumentieren, daß es im sowjetischen Interesse liege, das Bündnis der Kriegszeit mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten. In seinen letzten Monaten jedoch schien selbst sein sonst unerschütterlicher Optimismus ins Wanken geraten zu sein.

Die Krise, die sich mit der Erschöpfung des Westens und den sowjetischen Ambitionen einstellte, erreichte ihren Höhepunkt in den ersten Nachkriegsjahren und bewies, daß Roosevelts Befürchtungen hinsichtlich der begrenzten Duldsamkeit des amerikanischen Volkes sich als unbegründet erwiesen. Der Rückzug von der Verantwortung der Welt gegenüber, der 1920 stattgefunden hatte, wiederholte sich 1947 und 1948 nicht; die Verkündung der Truman-Doktrin und des Marshall-Plans sowie die folgende Bildung der atlantischen Allianz wurden vom amerikanischen Volk nachhaltig unterstützt, trotz der Tatsache, daß sie eine zukünftige Verwicklung in den inneren Angelegenheiten Europas auf unbestimmte Zeit bedeuteten. Beobachter der amerikanischen öffentlichen Meinung zeigten sich während der Debatte über diese Maßnahmen überrascht und beeindruckt, wie schwach die isolationistische Opposition doch war. Wohl wurden die alten Argumente, man solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und den Rest der Welt sich selbst überlassen, wieder laut, doch wurden sie ohne viel Eifer und ohne überzeugende Kraft vorgetragen. Das amerikanische Volk hatte zwar nur langsam gelernt — von Adolf Hitler —, daß ungehinderte Aggression alle bedroht, aber es erkannte die allgemeine Gefahr schnell, als sie in der Person Josef Stalins wieder erschien. Hitler und Stalin gemeinsam haben den amerikanischen Isolationismus liquidiert, und seit den Tagen, da die Truman-Regierung die von Roosevelt begonnene Revolution der amerikanischen Außenpolitik vollendet hat, gibt es keine Anzeichen dafür, daß er Wiedererstehen könne.

Das heißt keineswegs, daß es nicht gelegentlich Ausbrüche amerikanischer Ungeduld und selbst Bestürzung über das Ausmaß an Verantwortung gegeben hat, die die Vereinigten Staaten durch ihre veränderte Rolle in der Welt übernommen haben. Charles Burton Marshall hat einmal darauf hingewiesen, daß die Amerikaner dank ihrer langen isolationistischen Vergangenheit und ihrer relativen Unerfahrenheit in der Außenpolitik nicht immer die Grenzen dessen, was in der Außenpolitik erreicht werden kann, verstehen. Viele übersehen die Tatsache, daß eine Nation in der Außenpolitik nicht so völlig souverän ist wie in ihren inneren Angelegenheiten und daß sie ihre Wünsche wahrscheinlich wird beschränken müssen, ehe sie sich realisieren lassen, es sei denn, sie will sie mit Waffengewalt durchsetzen. Viele geben theoretisch zu, daß die Vereinigten Staaten Verbündete benötigen, aber sträuben sich gegen die Folgerung, daß man, wenn man Verbündete hat, sie auch konsultieren und ihre Interessen respektieren muß und nicht einlach von ihnen erwarten darf, daß sie sich für die Interessen des Partners einsetzen. Und vielen fällt es schwer zu verstehen, daß — wie es auch in der Innenpolitik damit bestellt sei — sich wenige Probleme der Außenpolitik leicht lösen lassen und daß es für manche gar keine Lösungen gibt, daß man vielmehr mit ihnen einfach leben muß.

Weil diese Einstellung (oder dieser Irrtum) im amerikanischen Volk fortbesteht, hat sich im Laufe der amerikanischen Außenpolitik seit 1949 manches ereignet, was Amerikas Freunde beunruhigt und verärgert hat. Da Erklärungen zur amerikanischen Außenpolitik in eine Sprache gekleidet sein müssen, die auf die Volksstimmung Rücksicht nimmt, hat ihr Ton ausländische Beobachter manchmal arrogant oder moralisierend angemutet. (Walter Lippmann klagte einmal, daß die Reden Präsident Eisenhowers und Außenminister Dulles'immer auszusagen schienen, daß die Vereinigten Staaten nicht nur die stärkste, sondern auch die beste Nation der Welt seien, und daß andere Nationen ihre Ratschläge ohne Widerrede annehmen sollten.) Von Zeit zu Zeit haben sich amerikanische Politiker beschwert, daß die Verbündeten der Vereinigten Staaten allzu unabhängig seien, und gefordert, die Regierung solle Schritte unternehmen, um sie zu „erziehen". (Vor den Novemberwahlen werden Dutzende von Republikanern Präsident Johnson dafür kritisieren, daß er Präsident de Gaulle nicht „auf Vordermann gebracht" habe, und ihrer Rhetorik wird rückhaltslos applaudiert werden.) Und oft hat gerade die Unlösbarkeit der Probleme, in die ihr Land überall in der Welt verwickelt ist, die Amerikaner gereizt und erbittert und die Extremisten unter ihnen zu der Anschuldigung verleitet, daß die Probleme nur deshalb nicht gelöst worden sind, weil die Regierung sich nicht genügend eingesetzt habe oder weil irgend jemand in der Regierung sich dem Kommunismus gegenüber schwach gezeigt habe. Das schlimmste Beispiel derartiger Reaktionen zeigte sich während der letzten Jahre der Regierung Truman, als Senator McCarthy seinen Angriff auf das Außenministerium startete.

Verständlicherweise verursachen Vorfälle dieser Art Besorgnis im Ausland, aber gewiß sollte man ihre Bedeutung nicht überbewerten. Es sind die Auswirkungen eines relativ späten und etwas widerwilligen Eintritts in die Weltpolitik. Sie werden immer weniger häufig in Erscheinung treten, sowie die harten Lehren der internationalen Politik in das Bewußtsein des amerikanischen Volkes dringen. Von entscheidenderer Bedeutung ist die Tatsache, daß sämtliche Verpflichtungen, die die Regierung Truman eingegangen ist, von allen Regierungen eingehalten worden sind, die seitdem im Amt gewesen sind, und daß bisher keine starke Bewegung hervorgetreten ist, die die Verpflichtungen in irgendeiner Weise abzuändern gedenkt. Wenn man einmal von Unterschieden im Stil absieht, war doch die Außenpolitik von John Foster Dulles identisch mit der der Regierung Truman (Dulles bemerkte einmal einem seiner Botschafter gegenüber, er glaube an die Politik der vorherigen Regierung — nur noch stärker, als es diese getan hatte), und John F. Kennedys berühmte Erklärung der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den Vereinigten Staaten und dem Rest der Freien Welt könnte als eine elegante Formulierung der Philosophie nicht nur seiner eigenen Regierung, sondern auch der seines Vorgängers gelten.

Während sich die Vereinigten Staaten für die Präsidentschaftswahlen von 1964 rüsten, ist es immerhin bedeutsam, daß bisher noch keine wesentlichen Unterschiede in Fragen der Außenpolitik zwischen den Kandidaten zu erkennen sind. Sowohl Präsident Johnson als auch Senator Goldwater glauben, daß die Vereinigten Staaten weiterhin eine führende Rolle in der Verteidigung der Freien Welt gegen Aggressionen spielen müssen, beide setzen sich für die Erhaltung der amerikanischen Bündnisse in Europa und im Fernen Osten ein und beide glauben — trotz Senator Goldwaters gelegentlicher Kritik —, daß die Vereinigten Staaten den Vereinten Nationen weiterhin ihre Unterstützung angedeihen lassen müssen. Da sich Senator Goldwater der Tatsache bewußt war, daß manche seiner früheren Aussagen seine Freunde wie auch seine Kritiker verwirrt oder bestürzt hatten, hat er letzthin erklärt, daß er im Falle seiner Wahl die gleiche Außenpolitik wie John Foster Dulles betreiben werde. Präsident Johnson könnte dasselbe sagen, obgleich er es nicht tun wird — aus begreiflichen Gründen.

Daß man in keinem der beiden politischen Lager zum Rückzug bläst und daß außerdem amerikanische Soldaten in Berlin und in Westdeutschland, im östlichen Mittelmeer, in Korea und am Golf von Tonkin Wache halten, ohne daß die Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit die Forderung " Bring the boys hörne! ” erhebt, ist der beste Beweis dafür, wie tiefgehend die Revolution der Außenpolitik, die mit Hitlers Invasion in Polen begann, schon in das Bewußtsein des amerikanischen Volkes eingedrungen ist. Es hat eine Zeit gegeben, als man sagen konnte, daß es die Außenpolitik der Vereinigten Staaten sei, keine Außenpolitik zu haben, und als die Anwesenheit amerikanischer Truppen im Ausland undenkbar gewesen wäre. Heute beschäftigt sich jeder intelligente Amerikaner mit Außenpolitik, und er hat gelernt, wenn auch widerwillig, daß die Belastung, die sie ihm auferlegt, getragen werden muß, wenn seine Welt fortbestehen soll.

Fussnoten

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Hans Herzfeld, Dr. phil., em. o. Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, geb. 22. Juni 1892 in Halle/Saale. Veröffentlichungen u. a.: Die moderne Welt 1789— 1945, Teil I: Die Epoche der bürgerlichen Nationalstaaten 1789— 1890, Braunschweig 1952 (19613); Teil II: Weltmächte und Weltkriege 1890— 1945, Braunschweig 1957 (19602); Das Problem des deutschen Heeres, 1952; Demokratie und Selbstverwaltung in der Weimarer Epoche, Stuttgart 1957; Ausgewählte Aufsätze zur neueren und Zeitgeschichte, Berlin 1962; Geschichte in Gestalten (Hrsg.), 4 Bde., Frankfurt 1963 s. Walter Bußmann, Dr. phil., o. Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Direktor des Friedrich-Meinecke-Instituts, geb. 1914 in Hildesheim. Veröffentlichungen u. a.: Treitschke, Sein Welt-und Geschichtsbild, Göttingen 1952; Das Zeitalter Bismarcks, in: Handbuch der deutschen Geschichte, Konstanz 1957. Taras von B o r o d a j k e w y c z , Dr. phil., o. Professor für Wirtschaftsgeschichte und Vorstand des Instituts für Wirtschafts-und Sozialgeschichte der Hochschule für Welthandel, Wien, geb. 1. Oktober 1902 in Wien; Veröffentlichungen u. a.: Deutscher Geist und Katholizismus im 19. Jahrhundert, Wien 1935. Hajo Holborn, Dr. phil., geb. 18. Mai 1902 in Berlin, 1924 Promotion bei Friedrich Meinecke, 1926 Privatdozent in Heidelberg, 1931 Inhaber des Carnegie Lehrstuhls für Geschichte und Internationale Beziehungen an der Deutschen Hochschule für Politik und Henry Cord Meyer, o. Professor für Neuere Geschichte am Pomona College, Clare-mont, Kalifornien, geb. 1913. Veröffentlichungen u. a.: Mitteleuropa in German Thought and Action, Den Haag 1955; Five Images of Germany. Half a Century of American Views on German History, Washington 1960; Das Zeitalter des Imperialismus, in: Propyläen Weltgeschichte, Bd. IX., Berlin 1961. Gordon A. Craig, o. Professor für Geschichte an der Stanford University, Kalifornien, und Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin, geb. 26. November 1913 in Glasgow/Schottland. Veröffentlichungen u. a.: The Politics of the Prussian Army, 1640— 1945, Oxford 1955 (deutsch: Die Preußisch-Deutsche Armee 1640— 1945, Düsseldorf 1960); From Bismarck to Adenauer: Aspects of German Statescraft, Baltimore 1958 (deutsch: Deutsche Staatskunst von Bismarck bis Adenauer, Düsseldorf 1962); Europe since 1815, New York 1961; The Battle of Königgrätz, New York 1964.