Um die Deutung des Kriegsbeginns im September 1939 in der heutigen sowjetischen Geschichtsschreibung zu verstehen und Klarheit darüber zu gewinnen, ob es sich bei ihr um eine einfache Übernahme von zeitgenössischen Urteilen der damaligen sowjetischen Führung, also Stalins und Molotows, um eine bloße Einfügung ihrer Einzelanalysen in einen jetzt überschaubaren größeren Zusammenhang handelt oder ob sich bis zu einem gewissen Grade ein Wandel in der Sehweise vollzogen hat und damit eine Veränderung oder zumindest eine Differenzierung in der geschichtliehen gegenüber der politischen Bewertung der Ereignisse des Herbst 1939 eingetreten ist, dürfte es sinnvoll sein, zunächst die wichtigsten Äußerungen und Stellungnahmen der sowjetischen Führung zum Kriegsbeginn aus den Monaten August bis Oktober 1939 wiederzugeben Es kann sich hierbei wie auch in dem folgenden zweiten Teil dieses Aufsatzes, in dem die entscheidenden Werturteile der gegenwärtigen sowjetischen Geschichtsschreibung über das Geschehen des August und September 1939 zusammengestellt werden, nicht darum handeln, jede sowjetische These eingehend auf ihre sachliche Richtigkeit hin zu überprüfen, da dies eine eigene Darstellung und Deutung des Kriegsbeginns, zum Teil auch des weiteren geschichtlichen Hintergrundes notwendig machen würde. Beabsichtigt ist im Rahmen dieser knappen Skizze vielmehr lediglich, die zeitgenössischen und die gegenwärtigen sowjetischen Deutungen einander gegenüberzustellen, um die sowjetische Position zur Kenntnis zu nehmen und zugleich an diesem Beispiel den Zusammenhang von Politik und Historiographie in der Sowjetunion zu beleuchten.
I.
Am 31. August 1939 feierte Molotow, Regierungschef und Außenkommissar der UdSSR, in einer Rede vor dem Obersten Sowjet den Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts vom 23. August als einen Akt sowjetrussischer Staatsräson und als staatsmännische Tat, durch die der Ausbruch eines großen europäischen Krieges verhindert werde; denn durch diesen Pakt sei eine „Wendung zu besseren Beziehungen zwischen den beiden größten Staaten Europas* herbeigeführt worden: „Selbst wenn sich Feindseligkeiten in Europa als unvermeidlich erweisen sollten, dann wird ihr Umkreis nun beschränkt sein. Nur die Anstifter eines allgemeinen europäischen Krieges, nur jene, die unter der Maske des Pazifismus einen allgemeinen Brand Europas entfachen möchten, können über diese Wendung der Dinge unzufrieden sein. *
Schien sich diese Formulierung nur auf einen lokalisierten Krieg zwischen Deutschland und Polen zu beziehen, so machten spätere Ausführungen Molotows in dieser Rede deutlich, daß seine Bemerkungen offensichtlich auch einen Krieg zwischen Deutschland und den Westmächten einschlossen. Der deutsch-sowjetische Pakt verhindere, so erklärte er in ironischer Argumentation gegen „rasende Kriegstreiber“ in Großbritannien und Frankreich, daß die Sowjetunion für Interessen anderer, das heißt „kapitalistischer" Mächte in einen Krieg gerate Die UdSSR befinde sich nun in der günstigen Lage, weder dazu verpflichtet zu sein, „in einen Krieg an der Seite Großbritanniens gegen Deutschland einzutreten noch auch in einem Krieg an der Seite Deutschlands gegen Großbritannien zu kämpfen"
Diese am Vorabend des deutschen Angriffs gegen Polen bezogene Position formal korrekter Neutralität fand faktisch mit dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen am 17 9., deklamatorisch mit der von Molotow zusammen mit Ribbentrop unterzeichneten „Erklärung der Deutschen Reichsregierung und der Regierung der UdSSR" vom 28. 9. 1939 ein schnelles Ende:
Allerdings zeitigte der daran anknüpfende zweite Versuch Ribbentrops — nach einem ersten vergeblichen Bemühen während der Anfangsphase des Polenfeldzuges —
Stalin fragen
Demgegenüber gab Stalin nur seine Zustimmung zu der von ihm selbst verfaßten abgeschwächten Wiedergabe seiner Änßerungen vom 23. August 7): „Der Standpunkt Deutschlands, das eine militärische Hilfe ablehnt, flößt Achtung ein. Indessen ist ein starkes Deutschland die unbedingte Voraussetzung für den Frieden in Europa. Hieraus folgt, daß die Sowjetunion an der Existenz eines star-ken Deutschlands interessiert ist. Daher kann die Sowjetunion sich nicht damit einverstanden erklären, daß die Westmächte Bedingungen schaffen, die Deutschland schwächen und es in eine schwierige Lage bringen könnten. Hierin liegt die Gemeinsamkeit der Interessen Deutschlands und der Sowjetunion." Wenn Ribbentrop schließlich auch aus unbekannten Gründen darauf verzichtete, diese Fassung der Erklärung Stalins in seine Rede vom 24. Oktober aufzunehmen 8), so mußte Stalin doch mit einer Veröffentlichung rechnen, so daß sie als offizielle sowjetische Stellungnahme zum Kriege zwischen Deutschland und den Westmächten zu betrachten ist.
Bewegten sich die bisher zitierten sowjetischen Feststellungen wesentlich im Bereich des machtpolitischen Kalküls und zeigten sie das Interesse an der Aufrechterhaltung des Gleich-gewichtszustandes zwischen den verfeindeten »kapitalistischen" Mächten und an der Stärkung des mutmaßlich schwächeren Gegengewichts gegen die Westmächte (Deutschland), so suchte Molotow in seinem „Bericht an den Obersten Sowjet
eine neue Bedeutung gewonnen. Man könne ihn nicht mehr in dem gleichen Sinne wie noch vor drei oder vier Monaten gebrauchen. Heute strebe Deutschland nach einer frühest möglichen Beendigung des Krieges und nach Frieden, während Großbritannien und Frankreich für die Fortsetzung des Krieges und gegen den Abschluß eines Friedens seien. Die Rollen Deutschlands und der Westmächte seien also vertauscht. In der gleichen Rede bezeichnete Molotow — unbekümmert um die am 17. September offiziell verkündete Version von der „Befieiung“ der Ukrainer und Weißruthenen in Ostpolen nach dem „Zerfall" der polnischen Regierungsgewalt — den Einmarsch der Roten Armee als einen „Schlag", der zusammen mit der deutschen militärischen Aktion zum „Zerfall" Polens, dieser „Mißgeburt des Versailler Vertrages", geführt habe
In ähnlicher Tendenz gegenüber den Westmächten waren Stalins Bemerkungen zum Kriege, die die „Iswestija" am 29. November 1939 veröffentlichte, und Molotows Reden vom 6. November 1939 und vom 29. März 1940 gehalten. Die „Friedens-Offensive" der Kommunisten in allen Ländern fügte sich in den Rah-men dieser die Zeit des sogenannten „Dröle de guerre" über anhaltenden Bewertung des Krieges und der Rolle der Westmächte ein
II.
Wie sieht nun die sowjetische Geschichtsschreibung heute, 25 Jahre später, nach den mehrfachen „Entstalinisierungs“ -Wellen, die auch die Geschichtsschreibung erfaßten, die Ereignisse des Herbstes 1939? Wir beschränken uns in dem folgenden Resümee im wesentlichen auf die beiden wichtigsten offiziellen Darstellungen aus der jüngsten Zeit, die von einem Autorenkollektiv des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen unter Federführung von W. G. Truchanowski erarbeitete „Geschichte der internationalen Beziehungen 1917— 1939"
Allerdings bestand in der ganzen Zeit seit 1917 — in sowjetischer Sicht — mit wechselnder Stärke in den einzelnen Zeitphasen die Gefahr, daß die verschiedenen Gruppen der kapitalistischen Mächte sich untereinander einigten und entweder gemeinsam gegen die einzige „sozialistische“ Macht, die Sowjetunion, zu Felde zogen oder die saturierte Staatengruppe die besonders „aggressiven" Staaten, die „faschistische“ Gruppe, von der Bedrohung des eigenen Besitzes fort gegen die Sowjetunion ablenkte. Ziel der sowjetischen Außenpolitik mußte es demnach sein, die seit der Mitte der zwanziger Jahre mehrfach in bedrohliche Nähe rückende Verständigung der kapitalistischen Großmächte in Europa (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien) zu verhindern ,
denn für sie steht nicht die Frage einer individuellen „Schuld“ oder der Verantwortung einer Regierung für den Krieg zur Diskussion, sondern — entsprechend der marxistisch-leninistischen Deutung der Geschichte — die Frage nach den „ökonomischen Ursachen“: „ 20 Jahre lang hatten die Westmächte dem deutschen Imperialismus geholfen, sein kriegswirtschaftliches Potential zu stärken. Diese Politik hatte jedoch objektiv dazu geführt, daß Deutschland sich — mit aktiver Unterstützung der Westmächte — zu einem starken imperialistischen Konkurrenten entwickelte. Mit dem Anwachsen des kriegswirtschaftlichen Potentials, mit der Besetzung Territorien durch fremder Deutschland wuchsen und verschärften sich die imperialistischen Gegensätze zu den Westmächten. Diese Entwicklung nahm zwei Jahrzehnte in Anspruch und führte letzten Endes zum Zweiten Weltkrieg. Hierin lagen seine ökonomischen Ursachen.“
In der „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges" wird zwar einerseits von der „faschistischen Aggression“ gegen Polen gesprochen, doch heißt es mit Blick auf den europäischen Krieg: „Beide imperialistischen Gruppierungen fielen übereinander her."
Als eine der „Hauptursachen" für die Niederlage Polens, „eines der reaktionärsten Staaten Europas", wird die „kurzsichtige antisowjetische Außenpolitik seiner Regierung" bezeichnet: „Nur eine enge Freundschaft, ein Bündnis mit der UdSSR und die Bildung einer antifaschistischen Einheitsfront hätte Polens Unabhängigkeit und Souveränität sichern können.“
Die Autoren der „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ sprechen — unter Zitierung Chruschtschows — von der doppelten Zielsetzung der „Imperialisten der west-lichen Länder während des Zweiten Weltkrieges", die „eng miteinander verbunden" gewesen seien: sie wollten „den sozialistischen Sowjetstaat der Werktätigen vernichten, die besten Errungenschaften der Arbeiterklasse, der Werktätigen im Blute der Völker erträn-ken und gleichzeitig ihre deutschen Konkurrenten schwächen"
Damit ist die Drei-Phasen-Theorie der sowjetischen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg angedeutet, die durch den Gegensatz vom verwerflichen „imperialistischen Eroberungskrieg" und vom „gerechten Krieg'der „Volksmassen" gegen die imperialistischen Unterdrücker und Eroberer zugleich mit einer Wertung verbunden ist’
III.
Aus alledem ergibt sich, daß sich die Deutung des Kriegsbeginns 1939 in der heutigen sowjetischen Geschichtsschreibung von den vorwiegend machtpolitisch argumentierenden und durch die taktische Rücksichtnahme auf den deutschen Vertragspartner bestimmten zeitgenössischen Wertungen Stalins und Molotows vor allem durch die ideologische Verhüllung, in begrenztem Maße auch durch Modifizierung bei Einzelurteilen, dagegen überhaupt nicht im Kern unterscheidet. Die sowjetische Geschichtsschreibung ist auch in den neuesten Darstellungen — trotz aller (im übrigen oft nicht sachgerechten) Auswertung der westlichen Publikationen — hinsichtlich des für eine sowjetische Geschichtsschreibung wesentlichsten Aspekts, der Darstellung der eigenen Außenpolitik, über den im großen festliegenden ideologischen Rahmen hinaus in doppelter Weise eingeengt: durch eine Reihe von Tabus (etwa Nichtberücksichtigung der geheimen Zusatzprotokolle zu den Verträgen vom 23. August und 28. September 1939, Nichterwähnung der Kriegslieferungen an Deutschland) und durch die Sperrung der Akten des sowjetischen Außenministeriums. Die meisten Äußerungen Stalins und Molotows, die wir zitierten, werden im übrigen stillschweigend übergangen.
Die einzige offene Kritik gegen eine Erklärung der damaligen sowjetischen Führung, die das Werk „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ enthält, richtet sich gegen die von uns erwähnten Bemerkungen Molotows vom 31. Oktober 1939 über die Zerschlagung Po-lens. Offensichtlich ist diese Kritik mit Rücksicht auf das heutige Polen Gomulkas eingefügt worden. Zum sowjetischen Einmarsch in Ostpolen heißt es
Mag man auch den Widerspruch zwischen der „Friedens-Kampagne" Stalins und Molotows im Winter 1939/40 und dem Vorwurl in der Geschichtsschreibung, die Westmächte hätten durch ihre Untätigkeit in jener Zeit ihre anti sowjetische Zielsetzung klar zu erkennen ge geben'für beträchtlich ansehen und vermer ken. daß jetzt von einer deutschen „Aggres sion" statt von der der Westmächte die Rede ist, so sind die Gemeinsamkeiten im Kern det Aussagen doch weitaus bedeutsamer in der Grundthese, daß es sich 1939 um einen „impe rialistischen Krieg" handelte, der sich aus den dem System des Imperialismus als Spätstufe des Kapitalismus innewohnenden Spannungen aus ökonomischen Ursachen also, mit Notwendigkeit entwickelte, wobei es das Verdienst der damaligen sowjetischen Führung sei, durch ihre gesamte Außenpolitik in der Vorkriegszeit, besonders aber durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, die drohende Gefahr einer Ablenkung dieser Spannungen innerhalb des imperialistischen Lagers durch den Angriff der „faschistischen"
Mächte auf die Sowjetunion, speziell 1939 eines Zweifrontenangriffs Japans und Deutschlands, abgewendet zu haben. Der erstmals von Stalin in seiner Rede vom 3. Juli 1941 (der ersten nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion) angegebene Zweck des Pakt-Abschlusses. Zeit zu gewinnen, um die sowjetische Rüstung zu vervollkommnen, bleibt dabei als Nebenmotiv erhalten Jedoch werden die Träger dieser Politik, Stalin und Molotow, in dem diplomatisch-geschichtlichen Werk überhaupt nicht mehr namentlich erwähnt, während die Gegenspieler, voran Hitler, immer wieder genannt werden. Dies gilt mit der erwähnten Ausnahme der Kritik an der Äußerung Molotows vom 31 Oktober 1939 auch tüt das kriegshistorische Werk in seinen politischen Partien Stets ist nur von der „Regierung der UdSSR'oder vom „Zentralkomitee" der KPdSU die Rede
In allen entscheidenden Fragen ist indessen die Kontinuität in der Beurteilung der Situation des Herbstes 1939 und in der Bewertung der beteiligten Mächte von den aktuellen politischen Aussagen in der Kriegszeit bis hin zur heutigen Geschichtsschreibung bei weitem beachtenswerter, als es die im ganzer, geringfügigen Varianten im Detail sind, die sich im übrigen keineswegs in Richtung auf eine größere Nähe zur historischen Wahrheit hin bewegen, wie das Beispiel der Kritik an der Molotow-Rede zeigt. Eine Überraschung ist dies nicht; denn die Maßstäbe der Beurteilung sind die gleichen geblieben. Sie ergeben sich folgerichtig aus der ideologischen Bewertungsskala des Historischen Materialismus, vor allem aber den machtpolitischen Interessen der Sowjetunion, denen Stalin und Molotow mit einem — ihren „kapitalistischen" Gegenspielern in beiden „Gruppierungen“ weit überlegenen — nüchtern-realistischen Kalkül dienten und denen auch die heutige sowjetische Geschichtsschreibung in des Wortes Doppelsinn „verpflichtet" ist.