Vor fast 25 Jahren begann der Zweite Weltkrieg! Dieser beklagenswerte Jahrestag kann einem Historiker, der selbst Zeuge dieses Dramas war, nur Anlaß zu betrüblichen Überlegungen geben.
Während der Erste Weltkrieg wie durch Zufall ausgebrochen war, und zwar nach so Krisen, vielen die seit 1905 jedesmal mehr oder weniger zufriedenstellende Lösungen gefunden hatten, erschien der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fast unvermeidbar, seit Hitler im März 1939 seinen Vorteil mit unerhörter Rücksichtslosigkeit ausgenutz'und alles an sich gerissen hatte, was von dei sechs Monate zuvor verstümmelten Tschechoslowakei übriggeblieben war.
Zeichnen wir unvoreingenommen die Erinnerungen und Eindrücke eines Franzosen nach, der leidenschaftlich vom Gang der internationalen Politik gepackt war und nie aufgehört hat, sie weiterzuverfolgen.
Wie könnte man die Wiederkehr eines blutigen Krieges verhindern? Das war die Frage, die man sich damals angstvoll stellte! Nach 20 Jahren — nur nach 20 Jahren — sollte man wirklich ein neues unsinniges Massaker an Millionen von Menschenleben auf sich das zukommen sehen? Wohin sollte führen? Elend, Verzweiflung, Haß und Hoffnungslosigkeit würden nur noch ein viel größeres Übel erzeugen können! Man bebte vor Grauen bei dem Gedanken an die Masse vorzeitig dahingeiaffter Menschenleben, an Verluste, die für Menschheit daraus entstünden, an die Leiden, die die Schlacntfelder hinterließen. Ein kleinmütiger Fatal'smus bemächtigte sich der Herzen, die von der unaufhörlichen Bedrohung erschlafft waren. Man fühlte sich ohnmächtig angesichts eines unerbittlichen Schicksals Was wollte eigentlich im Jahre 1939 Frankreich? Es wollte Frieden, ganz einfach Frieden! Es besaß nicht mehr die Stellung, die es von 1919 bis zum März 1936 innegehabt hatte, was es übrigens als erstes Land anzuerkennen bereit war Es wußte, daß es eine Schlacht verloren hatte, der es sich ganz friedfertig ge-stellt hatte, um die wesentlichen Bestimmungen des Versailler Vertrages zu behaupten. Es war nicht mehr die Rede von der gegenseitigen Beistandspflicht, die vom Völkerbund vorgesehen war. Nach außen hin blieb dieser zwar ein Zubehör der Politik. Aber seit Jahren wußte man im Völkerbund nicht mehr genau, die was Franzosen eigentlich wollten und wie sie es wollten.
Nach wechselnden Perioden zu kurzer Hoffnung und langer Furcht besaß Frankreich, das 1918 zwar siegreich gewesen war, dessen Lebenskraft sich aber im Kriege verausgabt hatte, im Jahre 1939 nur noch eine unsichere Würde; sie grenzte an Resignation, die jeder Anstrengung feind war. Ein dick aufgetragener Heroismus hatte nur eine Art skeptischen Mutes überdauern lassen.
Kurzlebige Regierungen hatten den Sieg von 1918 nicht für die Konsolidierung des Landes zu nutzen vermocht. Man hatte hartnäckige Trugbilder genährt und damit die Widerstandskraft geschwächt und den inneren Halt zersetzt. Die Nachgiebigkeit gegenüber den eigenen Parteigängern und privaten Interessengruppen war derart groß geworden, daß man kaum noch von nnem französischen Staat sprechen konnte. Jedenfalls existierte kein Staat mehr, der sich der Zukunft, d. h.der beständigen Entwicklung und Pflege aller nationalen Kräfte, gegenüber verantwortlich gezeigt hätte. Als Objekt zunehmenden Verschleißes, der in den dreißiger Jahren immer mehr voranschritt, hatte ein heruntergekommener, von schleichender Blutarmut befallener Staat das Frankreich der finanzpolitischen Höhepunkte von 1931 noc tiefer in den Abgrund rutschen lassen, als es die Nationen taten, die viel stärker unter der Weltwirtschaftskrise zu leiden hatten. Von diese-Krise kaum in Mitleidensc gezoj ", hatte Frankreich einen beständige Abstieg zu verzeichnen und war schließlich das inzige Land, das 1938 aus dem wirtsc'aftlichen Wiederauftieg keinen Nutzen zog.
Die militärische Überlegenheit von 1932, gegen die sich noch die Teilnehm der AbB rüstungskonferenz verbündet hatten, war gründlich vorbei.
Man kann sagen, daß bis zu Hitler ein französisches Verteidigungssystem den Frieder Europas bewahrt und gesichert hatte. Die Vorherrschaft Frankreichs, eine Hegemonie des Friedens, hatte den neuen und beträchtlich zahlreicher gewordenen Nationen gestattet, sich zu organisieren. Sie übte ihre Befugnisse im Rahmen des Völkerbunds aus und fand in ihm ihre Grenzen. Frankreichs militärische Verpflichtungen wurden erst wirksam, wenn der Rat des Völkerbundes seine Billigung ausgesprochen hatte. Frankreich riskierte also nicht, durch Machenschaften oder Ungeschicklichkeiten seiner Alliierten automatisch in irgendein Dilemma hineingezogen zu werden. Gleichzeitig mit den französischen Verpflichtungen militärischer Art machte der Beschluß des Rates die Verpflichtungen aus dem Pakt für alle Mitglieder des Völkerbundes rechtskräftig. Selbst wenn diese sich in der Praxis auf wirtschaftliche Maßnahmen beschränkt fanden, erhöhte sich das Risiko, das ein Aggressor auf sich nahm, beträchtlich und schreckte ihn wirksam ab.
Mit Locarno schien dieses System vollkommen zu sein. Der Irrtum lag in der Annahme, es besitze soviel Kraft, daß Konzessionen an die ehemaligen Besiegten, besonders an Deutschland, unnötig seien, Konzessionen, die Vorortverträgen festgelegten allgemeinen Ab-das Mißverhältnis zwischen der in den Pariser rüstung und der überwältigenden militärischen Überlegenheit Frankreichs und seiner Verbündeten gemildert hätten. Von dieser Unnachgiebigkeit bezog Deutschland die moralische Rückenstärkung, die einzig die Stellung Frankreichs während der langen und erbitterten Debatten der Abrüstungskoferenz seit dem 2. Februar 1932 in Genf schwächte, nachdem die vorbereitende Kommission für Abrüstungsfragen sieben Jahre lang getagt hatte.
Nach dem Jahre 1931, als Frankreich eine Überlegenheit von Fall zu Fall besaß, hatte der Tardieu-Plan, der eine glatt« ousforderung war, keinen ernsthaften Verhandlungsversuch beabsichtigt. Am 11. Dezember 1932 erkannte schließlich Frankre: das Prinzip der „Rechtsgleichheit" für Rüstungsfragen zwischen allen Mächten an.
Eine andere schicksalsschwere Entseeidung von überragender Bedeutung stammt aus dem Jahre 1932: Im Juli endete die Konferenz von Lausanne mit der Streichung der Reparationen, die mehr als zehn Jahre so schwer das deutsch-französische Verhältnis belastet hatten.
Hitler kam an die Macht, nachdem beide Entscheidungen, das Ende der Reparationen und die Anerkennung des gleichen Rechtes auf dem Gebiete der Rüstung, gerade gefallen waren. Selbstverständlich sollten sie einen Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich verhindern. Am 19. Oktober 1933 verließ Hitler dann den Völkerbund. Er glaubte, wie er viel später sagte, das kühnste aller seiner bisherigen Unternehmen gewagt zu haben. Welch ungeheuerliche Herausforderung er damit in die Welt schleuderte, wußte er selbst besser als die, die sie schließlich schluckten. Indem er der internationalen Gemeinschaft den Rücken kehrte, trat er Recht, Gesetz und alle Verpflichtungen mit Füßen.
Den Völkerbund verlassen, hieß tatsächlich, alle Verträge zerreißen und kein anderes Gesetz mehr anerkennen als das der Gewalt.
Hitlers Erfolge reizten seinen Appetit und steigerten seine Begierde, die niemals zu befriedigen war. Er vermochte nicht, sich Schranken zu setzen. Er wollte nicht wahrhaben, daß Politik die Kunst des Möglichen ist. Weit davon entfernt innezuhalten, um die Früchte seiner Siege zu genießen, ließ er sich hemmungslos fortreißen.
Bismarck zitierte gern und oft die Fabeln von Lafontaine. „Der kranke Mann am Bosporus", der von den Großmächten ausgeplündert wurde, erinnerte ihn an „den Mann mit zwei Mätressen". Alle beide wollen ihm gefallen. Es handelt sich dabei um eine junge und eine ältere Witwe, die ihn umschmeicheln und verwöhnen. Oft frisieren sie ihm das Haupt. Die Alte zuft ihm dann die schwarz gebliebenen Haare aus, damit er besser zu ihr passe; die junge dagegen rupft ihm die grauen aus, damit er jünger aussehe. Beide bringen es schließlich dahin, daß der Arme glatzköpfig wird.
Bei Hitler hätte man den „Wolf" von Lafontaine zitieren können, der vier schöne Wesen zu seiner Verfügung hatte, womit er für Wochen seinen Hunger hatte stillen können: einen Damhirsch, einen Pfau, einen Eber und einen Jäger. Er will aber schließlich auch noch die Bogensaite des Jägers auffressen. Deshalb stürzt er sich auf die Armbrust, die sich plötzlich entspannt und ihm den Pfeil ins Gedärm bohrt. „Das war des Guten zuviel“, sagte der Dichter, „aber was kann schon die Begierde eines Eroberers stillen?"
Nach dem Anschluß Österreichs ließ die Welt zu, daß Hitler die Tschechoslowakei nieder-hielt und zerstückelte. Er lebte noch im Wahn, seinem Schicksal entgehen und sich jeder not-B wendigen Fessel entziehen zu können. Er weigerte sich, an die Logik der Dinge und Handlungen zu glauben. Der unbeugsame Wille Hitlers, besessen von der Idee einer „dynamischen Auseinandersetzung mit der Geschichte", hat seiner Politik einen unerbittlichen Antrieb verschafft. Indessen präsentiert sich sein leidenschaftlicher Herrschaftstraum in klug abgemessenen Schritten. Er weiß eine kühl berechnete Vorwärtsbewegung in Gang zu halten. Jede Etappe, isoliert betrachtet, schien den andern nicht wichtig oder aufregend genug, um das Risiko eines Krieges wert zu sein.
Am 7. März 1936 wurde die durch Versailles entmilitarisierte Zone des Rheinlandes besetzt; deutsche Truppen marschierten nach Essen und Köln. Das war die letzte Gelegenheit, dem Diktator Einhalt zu gebieten; abei Frankreich stand am Vorabend von Parlamentswahlen. Seine militärischen Führer erklärten, man müsse die allgemeine Mobilmachung verkünden, wenn man gegen Deutschland mobil machen wolle, und das hätte nun wirklichen Krieg bedeutet. Frankreich hatte nicht die Kraft, sich allein dazu durchzuringen, nicht ohne England und Belgien. Alle waren einmi j für den Frieden. Auch die Locarno-Mächte, die Garanten der entmili arisierten Zone, wie der Rat des Völkerbundes wiesen jeden Gedanken an militärische Maßnahmen zurück Man beschloß eben, nmts z tun.
Im übrigen muß man anerkennen, daß Frankreich für die Rechtlertigung einer Intervention sich in einer außerordentlich ungünstigen Lage befand; denn von einer Verletzung seines Staatsgebietes konnte keine Rede sein. Es handelte sich nur um die Verletzung eines Vertrages, an dessen Wert niemand mehr glaubte.
Aber am 7 März 1936 änderten sich alle Verhältnisse Am 16. März wurde Charles-Roux, der Botschalter am Vatikan, vor. Papst Pius XL in Privataudienz empfangen. Natürlich kam das Gespräch bald auf die internationale Krise. „. Wenn Sie sofort 200 000 Mann in die von den Deutschen wiederbesetzte Zone hätten einmarschieren lassen, hätten Sie der Menschheit einen unschätzbaren Dienst erwiesen , sagte zu mir der Hl. Vater. Ich antwortete ihm, wir hätten es nur aus Friedensliebe nicht getan. , Ja’, — erwiderte er — , das ist von Ihnen aus gesehen verdienstlich.
Und außerdem haben Sie ohne Zweifel damit gerechnet, daß Ihnen die Engländer nicht folgen würden, und noch weniger die Italiener.
Aber, ich sage es noch einmal, Sie hätten der Menschheit einen unschätzbaren Dienst erwiesen! Das ist für Sie gewiß eine unerwartete Meinung von einem Manne, den Maurras als Germanophilen apostrophiert hat.'— Der Papst sagte mir ferner, er bezweifle nicht, daß Deutschland unentwegt neue Vorstöße nach allen Seiten hin unternehmen werde, wo es etwas wiederzugewinnen oder dazuzuerwerben hoffen könne. Er erwähnte Danzig, Memel, den Polnischen Korridor, Österreich und die deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei. Allein die Reihenfolge und die Termine dieser Vorstöße seien nicht vorauszusehen. Aber wenn man auch nicht vorhersagen könne, womit Deutschland beginnen und in welcher Reihenfolge es fortfahren werde, so müsse man doch damit rechnen, daß es keines dieser Ziele auslasse. Der Hl. Vater persönlich glaubte allerdings, das Reich werde mit dem Anschluß Österreichs anfangen.“
Wenn auch Frankreich seine Verteidigungskraft behalten oder sogar verstärkt oder — besser — nur an die Verstärkung geglaubt hatte, so verfügte es nach der deutschen Wiederbesetzung des Rheinlandes tatsächlich nicht mehr über die Mittel, die ihm bis dahin seine strategische Position gegenüber dem Ruhrgebiet gesichert hatte, und es besaß nicht mehr die Möglichkeit, die kollektiven Verpflichtungen des Paktes auszulösen.
Künftig besaß Frankreich mit seiner politischen Linie nicht mehr die Kennzeichen einer Großmacht. Es führte keine eigene Außenpolitik mehr und ließ sich willfährig von Großbritannien ins Schlepptau nehmen, auf das es sich für den Fall eines deutschen Angriffs in zunehmendem Maße verlassen mußte. Unterdessen ging Hitler, weil er seiner Sache sicher war, so rasch wie möglich zu Werke. Im Jahre 1938 erlangte das Reich eine beträchtliche Vergrößerung seines Staatsgebietes. Warum aber zeigte Hitler soviel Hast, wo er doch so schnell soviel erreicht hatte? Nach der tast ans Wunder grenzenden Besetzung des Sudetenlandes gönnte er sich keine Ruhepause, sondern drängte ohne Aufschub zur nächsten Unternehmung. Sechs Monate nach dem Münchener Abkommen waren die Besetzung Prags und die Annexion der „Tschechei“ für die Signatarmächte ein Schlag ins Gesicht Wie sollte man sich Hitlers ungeheuerliche Verblendung erklären, die an Wahnsinn grenzte? War alles mit dem Ziel geschehen, sich auch Polen einzu verleiben, das, wie Göring einmal Mussolini anvertraute, nur von zwei Fronten her angegriffen werden könnte?
Der strategische Vorteil, der aus der Annexion der Tschechei für das Reich entstanden war, wurde weitgehend schon durch den erschrekkenden Eindruck zunichte gemacht, den eine solche Tat in der Welt hervorrief Hitler hatte diese Reaktion der Weltöffentlichkeit nicht erwartet und schien wirklich überrascht zu sein. Hatte er sich von der Enttäuschung hinreißen lassen, daß Chamberlain ihn nun beim Wort nahm und er keinen netten Blumen-krieg mehr gegen die Tschechoslowakei hatte führen können? War er der Gefangene seiner typisch osterreichisch-pangermanischen Leidenschaften, in denen ein unversöhnlicher Nationalitätenkampf gegen die Tschechen eine wichtige Rolle spielte; gegen die Tschechen, die man haßte, verachtete und überdies als Objekte der deutschen Regierungsgewalt betrachtete? Konnte er wirklich nicht begreifen, daß die Unterwerfung der Tschechen eine ganz andere Sache war Politik des „Heimins-Reich"? die
Indem Hitler die Tschechoslowakei vollständig zerstörte, gedachte er seine Macht zu vermehren. Er hatte nicht der Versuchung widerstehen können, die Uneinigkeit Europas bis zum letzten für sich auszunutzen. Nachdem er hoch und heilig erklärt hatte, die Epoche seiner Überraschungen sei vorüber, hatte seine Gewaltpolitik nun jegliches Vertrauen zerstört. Im Dezember 1933 hatte die „Times" versichert, dieser Staatsmann sei bekannt dafür, daß er stets sein Wort gehalten habe. Die Welt hatte sich inzwischen daran gewöhnt, daß er Verträge, die die von seinen Vorgängern im Regierungsamt unterzeichnet waren, als ungültig betrachtete. Man gab aber seinen Versprechungen um so mehr Gewicht, als er sie in seinem eigenen Namen machte. Nun stellte sich heraus, daß Versprechungen für ihn nur von taktischem Wert für den Augenblick waren und daß in seinen Augen Verträge überhaupt nicht zählten. Die Enttäuschung darüber war katastrophal. Ohne utopischen Vorstellungen anzuhängen, wie gewisse seinei politischen Gegner, die zu gleicher Zeit die allgemeine Wehrpflicht ablehnten und eine kraftvolle Politik gegenüber den Diktaturen forderten, bewahrte Chamberlain zur gleichen Zeit die Illusion, daß ihm gegebene Versprechen gehalten würden und daß ein Vertrag ein Vertrag sei: „Man konnte Hitler vertrauen, wenn er einmal sein Wort gegeben hatte!"
Nach der Besetzung Prags allerdings machte sich Chamberlain zum Dolmetsch der nun entschiedenen und unnachgiebigen Meinung, die künftig in Großbritannen herrschte; er übernahm, ohne noch länger zu zögern, die Leitung aller diplomatischen Anstrengungen, die den Weg zu weiteren skrupellosen Eroberungen Hitlers sperren sollten. „Der Über-fall auf Prag hat alles geändert", erklärte Lord Halifax dem Botschafter des Reiches. „Wo wird Deutschland haltmachen, und wird es jemals haltmachen?" — Nur durch eindeutige Festigkeit konnten die Weltmächte einige Hoffnung haben, Hitler in Schranken zu halten.
Die Chancen der Verhandlungen, die Polen zu Konzessionen veranlassen oder es wenigstens von den Westmächten isolieren sollten, waren plötzlich durch die Prager Affäre -zu nichte geworden. Nun hatte Polen sowohl Frankreich als auch Großbritannien mit der brutalen Durchsetzung seiner Ansprüche auf Teschen verärgert, die es in München gegenüber der Tschechoslowakei angemeldet hatte. Wenn der Handstreich auf Prag nicht sogar während der Verhandlungen mit Warschau ausgeführt worden wäre, hätte es selbst bei den Westmächten nicht an Leuten gefehlt, die die Rückkehr Danzigs zum Reich nicht nur zugelassen, sondern als recht und billig erklärt hätten. Danzig war nämlich eine deutsche Stadt, die eine sehr umstrittene Klausel des Versailler Vertrags zu einer „Freien Stadt" erklärt hatte, weil sie als deutsche Stadt nicht polnisch werden durfte. Mit seinen 300 000 Einwohnern schien dieser Freistaat, der nicht Polen angegliedert wurde, gering gegenüber den 3, 5 Millionen Sudetendeutschen zu zählen, die man vom tschechoslowakischen Staat abgetrennt hatte. Bei Danzig handelte es sich nicht um Gebiete, die wie Österreich und das Sudetenland vorher nicht Teile Vorkriegsdeutschlands waren.
Hier ging es um unbestreitbar deutsches Gebiet, um jahrhundertealten preußischen Besitz, von dem man sagen konnte, nicht Hitler fordere es in seinem Ehrgeiz, sondern seine Bevölkerung selbst wolle wieder deutsch werden und folgte deshalb willig den Nationalsozialisten, denen Polen mit Bedacht alle Bewegungsfreiheit im Danziger Mikrokosmos gelassen hatte.
Die Fragen Danzigs und der exterritorialen Verkehrsverbindungen durch den Korridor waren erst drei Wochen nach der Konferenz von München aufgeworfen worden, und zwar in der freundschaftlichen Weise, wie es sich zwischen zwei Mächten gehört, die seit Januar 1934 durch einen Freundschaftspakt verbunden waren, dessen Dauer mit einer Garantie der deutsch-polnischen Grenzen auf 25 Jahre hätte erweitert werden können, wie Ribbentrop erklärte. Man sparte nicht mit Anstrengungen, um die Polen für sich zu gewinnen. Hitler, der den 33 Millionen Polen das Recht auf einen Zugang zum Meer zuerkannt hatte, verzichtete feierlich auf den „Korridor" und begnügte sich mit einer exterritorialen Autobahn und einem Schienenweg in einer Breite von 30 Metern durch wenigstens 50 Kilometer polnisches Gebiet. Wirtschaftlich sollte Danzig bei Polen bleiben. Wenn die Polen nur vernünftig wärenI Man sprach ihnen von der Ukraine, man blickte mit ihnen auf ferne Lösungen, wobei sie am Traum einer Expansion nach Osten teilhaben sollten! Aber die Ukraine war weder heute noch morgen für sie bestimmt. Obwohl die polnische Antwort auf die Vorschläge vom Oktober 1938 völlig negativ ausfiel, wurden die Besprechungen weitergeführt. Man blieb ruhig; man überstürzte nichts.
Im September 1938 war der Bogen bis zum Bersten gespannt: diesmal sollte er zerbrechen! Nach dem großen Handstreich auf Prag war kein Zweifel mehr, daß Polen standhaft blieb. „Wenn wir heute in einem einzigen Punkte nachgäben, würden automatisch andere Forderungen folgen," erklärte Szembek, der derzeitige Staatssekretär des Äußeren. Am 24. März vrersicherte ihm sein Minister, Oberst Beck: „Es gibt ein polnisches Bis-hierher-und-nicht-weiter. Es ist sehr einfach: Wir werden uns schlagen. Polen ist keiner der östlichen Staaten, die gestatten, daß man ihnen Gesetze diktiert. * — Deutschland hatte jedes Maß verloren: „Wenn es einer entschiedenen Haltung begegnet — was ihm noch niemals passiert ist —, wird es vielleicht das Maß wiederfinden.'
Hitler bildete sich ein, Warschau werde schließlich nachgeben, wenn es Angst bekomme. „Die Polen sind keine Tschechen", erklärte Szembek dem deutschen Botschafter. „Es ist ein Irrtum, zu glauben, sie gingen nicht weiter als die Tschechen. Die Polen sind keine vernünftigen Utilitaristen wie die Tschechen, die als überlegende, listige, aber niemals kühne Handwerker handeln. Die Polen besitzen ein Gran an Verrücktheit. Sie lieben den Ruhm, sie fürchten nicht die blutige Schlacht, sie halten nicht immer Maß. Um der Ehre willen entflammen sie leicht wie Schießpulver. Um Danzig Krieg zu führen, sind sie durchaus bereit. Sie werden der motorisierten Wucht der deutschen Armee die Gewandtheit und Tapferkeit ihrer Kavallerie entgegen werfen. Marschall Smygly-Rydz erklärte am 4. April, Deutschland sei nicht genügend für einen großen Krieg gerüstet. Oberst Beck stellte noch am 21. August die günstige militärische Situation Polens heraus. Man zweifelte in Warschau nicht daran, daß dem deutschen Angriff der allgemeine Krieg folgen werde.
Hitler glaubte, nach Osten marschieren zu können, ohne Großbritannien und Frankreich fürchten zu müssen. Im August 1939 äußerte er dem Grafen Ciano gegenüber seine Über-zeugung, daß die westlichen Demokratien auf keinen Fall in einen allgemeinen Krieg eintreten würden. Besonders nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Pakts glaubte er, daß sie es nicht wagten, zu intervenieren. Wenn sie sich trotzdem in den Krieg stürzten, wäre ihnen die Niederlage sicher.
Ohne die Sowjetunion und die USA, deren Gewicht fünf Jahre nach dem Zusammenbruch Frankreichs im Jahre 1945 so entscheidend den Krieg hat beenden helfen, waren die Streitkräfte der westlichen Demokratien tatsächlich nicht so furchterregend. Ihre Kriegsmarine war 1939 — wie Lord Strong bemerkt hat — kaum stärker als die Japans, Italiens und Deutschlands zusammengenommen, und ihr strategischer Nachteil gegenüber Japan war eklatant Die Luftwaffe Deutschlands und Italiens wai fast doppelt so stark wie die französische und englische.
Auf jeden Fall sollte Polen in einigen Wochen »liquidiert* werden, selbst wenn der Krieg nicht nur mit Polen, sondern auch mit den Westmächten begönne: wie könnten auch schon Frankreich und England Polen wirklich zu Hilfe kommen? Und dann, wenn das Schicksal Polens bereits besiegelt war, könnte es sich keineswegs auf einer Friedenskonferenz präsentieren.
In den letzten Friedenstagen konnte man bei Hitler immerhin ein gewisses Zaudern entdecken. ja selbst einige Verwirrung. Das seltsame Hin und Her seiner Politik Ende August 19. 39 ist wohl wesentlich durch seine Hoffnung zu erklären, Großbritannien könne durch diplomatische Mittel dazu gebracht werden, doch noch in dem Konflikt neutral zu bleiben.