Die Berufung auf Vorläufer
Als im Oktober 1926 in Wien der erste Paneuropa-Kongreß tagte, blickten Porträts von Sully, Comenius, St. Pierre, Kant, Napoleon, Victor Hugo, Mazzini und Nietzsche von der Orgelbrüstung auf die Versammlung im großen Konzerthaussaal herab, und der damals zweiunddreißigjährige Graf Richard Couden-hove-Kalergi, der Initiator der Paneuropa-Bewegung, sagte am letzten Tag:
„Wir wollen unseren Kongreß mit einem Akt der Pietät schließen und dankbar der Männer und Frauen gedenken, die seit Jahrhunderten hoffnungslos für unser großes Ziel gearbeitet und gelitten haben, die gestorben sind, ohne auch nur das Morgengrauen der paneuropäischen Sonne zu erleben. Nehmen wir uns ein Beispiel an jenen großen Männern, von Bernhardin de St. Pierre bis Friedrich Nietzsche, die in dunklen Zeiten an das kommende Europa glaubten."
Heute klingen nicht nur die Verlautbarungen offizieller Stellen zur Europafrage, sondern auch die Äußerungen privater Befürworter des Europagedankens sehr viel nüchterner. Während früher das Pathos der Begeisterung und der pionierhafte Glaube an eine große Aufgabe die Europabewegungen oft in den Geruch des Sektierertums brachte, so daß man sie gern mit Esperanto-, Vegetarier-oder Freidenkervereinen in eine Reihe stellte, sprechen heute zumeist Spezialisten, die sich auf Außen-handelsbilanzen oder Militärpolitik besser verstehen als auf das Wecken irrationaler Gefühle. Aber die historischen Reminiszenzen sind geblieben. Selbst aktuelle Arbeiten über Probleme der gegenwärtigen Entwicklung werden gern mit zwei oder drei Absätzen einge-leitet, in denen die angeblich große und jahrhundertealte Vergangenheit des europäischen Einheitsgedankens beschworen und die Integrationspolitik sozusagen historisch untermauert wird. Da findet sich dann beispielsweise die Bemerkung, daß Europa eine uralte Einheit sei, daß schon Karl der Große oder Friedrich II. von Hohenstaufen ein einiges Europa schaffen wollten, daß schon Sully, der Minister Heinrichs IV. von Frankreich, einen „Ständigen Rat der europäischen Regierungen“ ins Leben rufen wollte, und so fort. Das „schon" deutet einen direkten Bezug zur heutigen Integrationspolitik an. Einzelheiten über diese Ahnherren des Europagedankens fehlen Anton Schlögel Haben die Genfer Rotkreuz-Abkommen noch eine Chance?
(Seite 25) so gut wie immer, so daß der Leser ohne detaillierte Geschichtskenntnisse diese Angaben hinnimmt und den Eindruck gewinnt, als arbeiteten wir heute endlich an der Verwirklichung einer Idee, die schon seit vielen Jahrhunderten die europäischen Menschen beseelte. Nun hat es tatsächlich eine ganze Anzahl von Vorschlägen für eine politische Organisation Europas gegeben. Aber läßt sich mit ihnen die gegenwärtige Entwicklung legitimieren? Ist die Berufung auf die Geschichte gerechtfertigt? Wie nimmt sich die europäische Einigung überhaupt im Licht der Geschichte aus?
Was ist Europa?
Wer sich mit der Geschichte der europäischen Einigungspolitik beschäftigt, muß sich zuerst die Frage stellen, was er unter Europa verstehen will. Da wir Europäer zur Introspektion neigen, wurden über diese Frage schon ganze Bibliotheken geschrieben, hauptsächlich von geistes-und kulturgeschichtlichem Standpunkt aus. Sie sind für die politische Geschichtsbetrachtung allerdings zu einem großen Teil irrelevant. Die Introspektion vermittelt in den seltensten Fällen ein wahres Bild, und ein Anflug von Behaviorismus ist auch bei dem Bemühen um Selbsterkenntnis nützlich. Mit anderen Worten: Es kommt nicht ausschließlich darauf an, wie wir selbst uns sehen. Wir sollten auch zur Kenntnis nehmen, was die übrige Welt unter „Europa“ versteht. Doch bleiben wir noch einen Augenblick bei der Introspektion.
Im 17 Jahrhundert schlug Christoph Cellarius vor, die von den Humanisten eingeführte Gliederung der Bildungsgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit auch auf die Universalgeschichte anzuwenden. Daß damals Universalgeschichte mit europäischer Geschichte gleichgesetzt wurde und die Geschichten der anderen Kulturen nur im Umkreis der europäischen existieren durften, braucht uns heute nicht mehr zu verdrießen, obwohl dieser Irrtum erst im 20 Jahrhundert korrigiert wurde Mit der offenkundigen Unmöglichkeit dieser Periodisierung an sich sind wir aber bis heute noch nicht zu Rande gekommen. Sie hat die Historiker zu immer neuen Differenzierungen gezwungen und Begriffe wie Früh-, Hoch-und Spätmittelalter, beginnende und mittlere Neuzeit und so weiter entstehen lassen, die über das Wesen der jeweiligen Epoche zunächst nichts aussagen und deren zeitliche Abgrenzungen so umstritten sind wie das ganze Epochengebäude Alle Differenzierungen und Untergruppen müssen eben unbefriedigend bleiben, wenn das Grundkonzept mangelhaft ist.
Doch es geht hier zunächst um etwas anderes: Altertum, Mittelalter und Neuzeit haben sich uns so sehr als ein Ganzes eingeprägt, daß wir heute noch, wenn im landläufigen Sinn von europäischer Geschichte die Rede ist, im Geist unwillkürlich den Zeitraum von der dorischen Wanderung bis zur jeweiligen Gegenwart als „unsere" Geschichte vor uns sehen, getreu den Schulbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Introspektion bemerkt, daß sich unsere Kultur seit der griechischen Antike trotz mehrerer scharfer Zäsuren einigermaßen kontinuierlich entfaltete und eine Society bildet, einen Geschichtskörper im Sinne Toynbees (der allerdings zwischen der „hellenischen" und der „westlichen" Gesellschaft unterscheidet; man kann darüber streiten). Ein großer Teil der europäischen Völker spricht lateinische Idiome Literatur, Philosophie, bildende Kunst, Staatskunst, selbst die Naturwissenschaften und moderne Disziplinen wie die Psychologie gehen direkt auf die Antike zurück. Außerdem trug natürlich der Name „Europa“ selbst zu dieser Sicht bei, der schon im 6. vorchristlichen Jahrhundert ein geläufiger geographischer Begriff war und ungefähr das gleiche Gebiet bezeichnete wie heute. Wegen dieses großen Zusammenhangs im Geistigen rückt die Introspektion das Kultur-und Geistesgeschichtliche in den Vordergrund. Die Steigerung der Naturwissenschaften zur Technik wird dabei als willkommener und verdienter, wenn auch Gefahren bergender Nebeneffekt der auf wesentlicheren Gebieten bereits erreichten Geisteshöhe betrachtet, und das Politische als leider notwendiges Übel. Alles, was an unserer Society einen irgendwie unheimlichen Zug hat — und die Entfaltung Europas ist uns unheimlich, wenn wir ehrlich denken —, wird zwar mit Eifer untersucht und dargestellt, auch gepriesen oder gescholten, aber doch in den großen, zwei-tausendjährigen Zusammenhang der „europäischen Geschichte" mit eingebaut, die von Homer bis zum heutigen Tag währte.
Für die übrige Welt ist Europa ein sehr viel engerer Begriff. Sie versteht darunter vorwiegend eben das unheimliche Europa, nämlich den Völkerkreis, der in ganz andere Kategorien hineingewachsen ist als sämtliche älteren societies, weil es ihm dank seiner geistigen, wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten gelungen ist, mehrere Jahrhunderte lang die Erde zu beherrschen und sie in dieser Zeit so gründlich umzuformen, daß nun auf der ganzen Erde europäische Normen gelten oder mindestens angestrebt werden, obwohl Europa inzwischen von der Bühne der Macht abgetreten ist. Und, so unangenehm es sein mag, für dieses Europa steht nicht stellvertretend das Pantheon unserer Größen von Aristoteles über Thomas von Aquin bis Kant, von Praxiteles über Tizian bis Cezanne, von Homer über Dante bis Goethe. Es dient den Nichteuropäern bestenfalls als Beweis dafür, daß diejenigen, die einst die Welt beherrschten, die den Buchdruck erfanden und das Wertpapier, den Bohrturm und das Maschinengewehr, das Völkerrecht und den Sozialismus, die Automation und das Flugzeug, den Sicherheitsrat und das Penicillin, daß diese Menschen auch irgendwelcher „außerdienstlicher" Regungen fähig sind.
Beide Bilder, das introspektive und das behavioristische. sind natürlich verzerrt. Aber nachdem Europa im letzten halben Jahrtausend in der Welt und auch bei uns der Inbegriff für etwas geworden ist, das sich mit älteren Gegebenheiten unserer Geschichte kaum vergleichen läßt, würde ich es nicht mehr wagen, die ganzen dreitausend Jahre Altertum, Mittel-alter und Neuzeit als „europäische Geschichte“ zu bezeichnen.
Diese Erwägungen könnten als ein reines Namensproblem erscheinen, das eine Sache der Übereinkunft wäre. Aber ich glaube, die Frage ist grundsätzlicher. Man mag dem Geschichtskörper, dem wir angehören, irgendeinen Namen geben. Man mag ihn sogar mit der Tradition „Europa" nennen oder mit Toynbee „westlich" oder einen dritten, besseren Namen finden, das ist tatsächlich von zweitrangiger Bedeutung. Wesentlicher ist, daß man den Zeitraum, in dem Europa das spezifisch Europäische leistete, schärfer sieht, sonst verschwimmt alles in nebelhaften Begriffen Denn während dieser Zeit hat Europa ja nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst geformt und die Realitäten geschaffen, mit denen wir es heute zu tun haben. Und diese Realitäten sind eben europäisch und Folgen des Europäischen. Sie sind so wenig mittelalterlich oder abendländisch wie antik.
Wo liegen nun die Grenzen des so verstandenen Europa? Mit der traditionellen Periodisie-rung ist die Antwort auf diese Frage kompliziert. Dieses Europa entstand im Spätmittelalter und endete, als die sogenannte „Zeitgeschichte“ schon begonnen hatte, die vorläufig letzte Periode, die man der Cellarius’-sehen Einteilung aus Verlegenheit angehängt hat. Man müßte also weitere Hilfskonstruktionen bauen, deren es schon so viele gibt und die alle nur belegen, daß mit Altertum, Mittelalter und Neuzeit in der politischen Geschichtsbetrachtung nichts anzufangen ist, auch wenn diese Bezeichnungen in der Bildungsgeschichte ihre Berechtigung haben mögen. Eine neue Gliederung der Geschichte ist ebenso mißlich wie jede alte; aber verschiedenerlei Periodi-sierungen schließen einander ja nicht aus. Sie hängen von der Fragestellung ab, sind relative Größen, keine Dogmen. Jede hat ihre Berechtigung, wenn sie für das einzelne Forschungsgebiet ihren Zweck erfüllt. Und die Bezeichnungen Altertum, Mittelalter und so weiter sind bereits derart in den Sprachgebrauch eingegangen, daß man ein extremer Purist sein müßte, wenn man fortan völlig auf sie verzichten wollte, weil man sie für verfehlt hält oder meint, eine passendere Periodisie-rung gefunden zu haben. Letztlich wird es sich immer um Geschichtsarchitektur handeln, um Arbeitshypothesen, die zwar notwendig sind, aber die Wirklichkeit ärgerlich schematisieren. Unter diesen Vorbehalten glaube ich, daß eine Gliederung der Geschichte unserer Society in vier andere Perioden der politischen Entwicklung eher gerecht würde als die traditionelle Einteilung und deutlicher hervortreten ließe, was Europa ist. Diese vier Perioden sind: 1. die Zeit der frühen sozialen und politischen Mikrogebilde, 2. die Periode der Weltreichs-idee, 3. das Zeitalter Europas und 4. die nach-europäische (europäistische) Gegenwart.
Die erste Periode sieht im mediterranen und (geographisch gesprochen) europäischen Raum eine Vielfalt mehr oder weniger autonomer Kleinformen, vom Nebeneinander einzelner Stämme bis zur Vielfalt der Poleis in Griechenland, zu einer Zeit, wo in Asien schon lange Großstaaten existierten.
In Griechenland wurden am Ende dieser Periode, als sich dort der Schwerpunkt der nord-mediterranen Kultur befand, die heute geläufigen politischen Ideen formuliert, und zwar im Rahmen der Philosophie. Die Stoa mit ihren kosmopolitischen Tendenzen und die Feldzüge Alexanders des Großen ließen dann gemeinsam die Weltreichsidee entstehen, die die zweite Periode beherrschte und in der ganzen Entwicklungskette, die zu Europa hinführte, konstant blieb. Sie wurde von Rom übernommen, lebte nach dem Untergang des Weströmischen Reichs in Byzanz weiter, während im Westen das universalistische Prinzip zwar in der politischen Wirklichkeit Einbußen erlitt, im religiösen Bereich dafür um so lebendiger war. Und als in dem inzwischen katholisch gewordenen Westen wieder eine ernst-zunehmende Politik betrieben wurde, beherrschte zunächst von neuem der Imperiums-gedanke die Gemüter, zuerst in der Zeit Karls des Großen (gegen dessen Willen und Konzept, wie es scheint), dann als „Heiliges Römisches Reich“ unter der Doppelführung der Universalgewalten Kaiser und Papst.
Während dieses zweiten Zeitraums vollzog sich der Übergang zum Christentum, der in den ersten Jahrhunderten nach Christus begann und um die Jahrtausendwende abgeschlossen war, als alle Völker des Kontinents einschließlich der Skandinavier im Norden und der Polen und Ungarn im Osten christianisiert waren.
Innerhalb dieser Zeit entstand der Begriff „Abendland" (Imperium occidentalis), der heute so gern mit „Europa" gleichgesetzt wird. Er kam nach der Teilung des Römischen Reichs (395 nach Christus) in Gebrauch und bezeichnete zunächst nur verwaltungstechnisch Westrom im Unterschied zur östlichen Reichs-hälfte. Doch als sich nach dem Untergang des Westreichs und während der vorübergehen-B den, nominellen Herrschaft von Byzanz über Rom der geistige Gegensatz zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil der Christenheit immer mehr vertiefte, wurde es zu einem ganz spezifischen Kulturbegriff, hauptsächlich zu verstehen als Gegenpol zu Byzanz. Das Abendland war die Fortsetzung des Römischen Reiches als Lehnsverband in dem romanisch-germanischen Völkerkreis, der von Rom aus missioniert wurde und nach dort ausgerichtet war. Als das Abendland auf seinem Höhepunkt stand, waren seine zentralen Begriffe das lateinisch-christliche Weltkaisertum und das universalistische Papsttum.
Der Wechsel auf religiösem Gebiet spielte zwar kulturell und geistig eine entscheidende Rolle. Aber in den politischen Prinzipien sehe ich durch ihn keine neue Epoche anbrechen. Wohl vereitelte das Chaos der Völkerwanderung ein politisches Leben, das den geltenden Prinzipien entsprochen hätte. Aber dieses Chaos stellte sich den Zeitgenossen nicht als Naturzustand dar wie später der europäische Partikularismus, es wurde niemals geistig verarbeitet oder gar akzeptiert. Das Universal-denken beherrschte das christliche Abendland ebenso wie das antike Rom. So wie in Rom die Römer das „Normalvolk" der Erde gewesen waren, so waren es im Abendland die katholischen Christen Zwar setzte sich das Universaldenken auch später in Europa verwandelt in der Form eines zivilisatorischen Uberlegenheitsgetühls fort, aber es widersprach in keiner Weise der staatlichen Vielfalt. während es im Abendland — auf den Glauben gegründet — das Prinzip des Wollens und Handelns war Da der Wechsel zum Christentum noch in römischer Zeit stattgefunden hatte, sah sich die Christenheit überdies in der direkten Nachfolge des Römischen Reichs, ja der Glanz dieses Reiches, in dem das Christentum entstanden war, diente sogar zu dessen Legitimierung Keines dieser beiden Normalvolker identifizierte sich irgendwie geographisch mit einem Erdteil (im Mittel-alter hatte man von Geographie ohnehin keine Vorstellung mehr) Rom war ein wirkliches, das Abendland ein frustriertes Weltreich.
Daß das Christentum — neben anderen Faktoren — unsere Society maßgeblich prägte, steht also außer Frage Aber unsere Society begann wiederum die Welt erst dann zu prägen, als die universalistische Idee zerbrochen war und das Abendland sich säkularisiert hatte.
Politisch bedeutsamer als der Übergang von den antiken Religionen zum Christentum, vielleicht bedeutsamer als die Katastrophe des Weströmischen Reichs war der Übergang vom Weltreichsprinzip zum staatlichen Partikularismus.der mit der Renaissance einsetzte und nach dem Dreißigjährigen Krieg voll ausgeprägt war. Aus dem Abendland, aus der ideologischen Einheit, die politisch nie ganz Wirklichkeit gewesen war, aber dem allgemeinen Denken zugrunde lag, ging die Vielfalt der Nationen hervor — Europa. Es ist zwecklos, mit der Vokabel „Europa" Wortklaubereien zu treiben, sie aus den Archiven zu ziehen und die Ausbeute nach Jahrhunderten zu ordnen. Es geht nicht um das Wort und seine Geschichte, sondern um ganz bestimmte Gegebenheiten, die wir in erster Linie „europäisch“ nennen. Wenn wir vom Maschinenzeitalter sprechen, brauchen wir nicht aus der alten Literatur das Wort „machina" herauszusuchen. Ebenso nutzlos ist es, „Europa" in der Antike aufzustöbern, wo es als geographischer Begriff sehr geläufig war, oder in der mittelalterlichen Literatur nach ihm zu fahnden, wo es hin und wieder vorkommt. Dagegen können wir die politische Welt des 14. und 15. Jahrhunderts durchaus als europäisch bezeichnen, obwohl das Wort selbst in dieser Zeit ungebräuchlich war und man meist von der Christenheit sprach.
Philipp der Schöne von Frankreich und Edward 1 von England (beide zu Beginn des 14. Jahrhunderts) waren die ersten Fürsten, die „keine Oberen anerkannten" — die damals übliche Umschreibung für den erst im 16 Jahrhundert von Jean Bodin geprägten Begriff „Souveränität" — und gegen Kaiser und Papst ihren eigenen, nationalen Willen durchsetzten Von nun an verlor die abendländische Idee immer mehr an Kraft, kaiserliche Macht und päpstlicher Einfluß auf weltliche Dinge gingen zurück, neue Staaten entstanden, die die Ansprüche der beiden Universalgewalten zurückdrängten An die Stelle des mittelalterlichen Lehensrechts trat im Innern der Staaten die ständische Ordnung, im zwischenstaatlichen Bereich allmählich das Völkerrecht. Die Unabhängigkeit und Gleichheit der souveränen Staaten war die Grundlage dieses Systems In allen Lebensbereichen machte sich nun das Unabhängigkeitsstreben breit. Unabhängig sein wollte der Kaiser vom Papst, der König von beiden, der Adel von den Königen, die Nationalkirchen von Rom, die Städte von den Lehensherren, die Wissenschaftler von der Kurie Partikulare Interessen bildeten sich, bekämpften einander, schlossen Koalitionen. Der Preis dieses Strebens war der Tumult. Aber in dieser dritten Periode, die nun begann, hob sich Europa über die anderen Kulturen hinaus und verwandelte die Erde.
Nun wurden sich die Christen auch bewußt, vor allem nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und dem Untergang des byzantinischen Reichs (1453), daß ihr Lebensraum ausschließlich Europa war. Papst Pius II. bürgerte das Wort „Europäer" wieder ein (wobei er bewußt den antiken geographischen Begriff neu belebte). Aber es war bei ihm noch ein Synonym für „Christ".
Rund sechzig Jahre später war der Europäer bei Machiavelli bereits völlig säkularisiert. Das Charakteristische an Europa war nicht mehr das alle seine Völker verbindende Christentum, sondern seine politische Vielgestaltigkeit. Für Machiavelli bestand der Vorzug Europas gerade darin, daß es in viele Staaten unterteilt war. „Wo viele Staaten sind, entstehen viele große Männer, und wo wenige Staaten sind, wenige."
Dies war das Ende des abendländischen Den-kens; das Urteil über jeden Universalismus war gesprochen. Seither wurde die Art Politik betrieben, mit der wir es bis zum Jahr 1945 und zum Teil noch heute zu tun haben.
Und Machiavelli schien zunächst mit seiner optimistischen Sicht des Partikularismus recht zu behalten. Die Dynamik beschränkte sich nicht auf die Politik und auf die Hervorbrin2) gung tapferer Männer. Der staatliche Partikularismus ist ja nur ein Ausdruck der Idee der freien Persönlichkeit, und diese trug nicht nur zur Gestaltung Europas bei, sondern war ihre Grundlage.
Die Entfaltung im Inneren Europas befähigte es auch zu seiner Expansion. Sie vollzog sich mit Großtaten und Scheußlichkeiten, aber die Welt wurde im Zuge dieser Expansion europäisiert. Die Einzelheiten dieser inneren und äußeren Entfaltung und ihre Ursachen wurden schon so oft geschildert, daß ich hier nichts davon wiederholen möchte. Wesentlich für unser Thema ist die Tatsache, daß ein durch und durch partikularistisches Europa diese Lei-stung vollbrachte.
Geschichtsperioden beginnen und enden nicht in einem bestimmten Jahr oder Jahrzehnt. Aber es steht fest, daß die Weltpolitik zwischen 1917 und 1945 aufhörte europazentrisch zu sein. Auch dies wurde oft konstatiert. 1917 traten die Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg ein, und Rußland löste sich durch die bolschewistische Revolution aus dem Kreis der europäischen Mächte, dem es mindestens seit der Aufklärung politisch angehört hatte. Damit traten neben Europa zwei andere Mächte, die in der Lage waren, Weltpolitik zu betreiben. Der Zweite Weltkrieg ließ nur die USA und Sowjetrußland als politisch handlungsfähige Mächte übrig. Europa erlebte eine Eklipse, zwar nur vorübergehend, aber das Zeitalter Europas war damit endgültig vorbei. Für unsere Society brach die vierte Periode an.
Ob man diese Periodeneinteilung nun akzeptiert oder nicht, es würde auf jeden Fall zur größeren Klarheit der Begriffe beitragen, wenn man unter Europa die Zeit des Partikularismus und der Vorherrschaft Europas über die Erde verstehen und etwas weniger mit dem Abendland operieren würde. Denn das Abendland verkörpert, auf eine kurze Formel gebracht, die Idee der auf den Glauben gegründeten Einheit. Europa aber verkörpert die Idee der auf die Persönlichkeit gegründeten Vielfalt. Beides hat positive und problematische Seiten. Wir berufen uns gern auf die positiven Seiten beider Epochen. Aber mit den problematischen Seiten der letzteren setzen wir uns auseinander, wenn wir Europa einigen wollen.
Geistige und politische Gemeinsamkeiten in Europa
Ein gewisses Maß an Einheitlichkeit blieb auch während des europäischen Zeitalters erhalten. Die Staaten Europas fanden in ihrem politischen Zusammenleben immer Formen der Gemeinsamkeit, so daß sie, selbst wenn sie Kriege gegeneinander führten, ein System bildeten.
Aus dem Abendland ging zunächst die soge-nannte „christliche Republik" hervor. Diese Bezeichnung ist in mehr als einer Hinsicht symptomatisch für die eingetretene Wandlung. Im ganzen Mittelalter war der Begriff „Republik" exotisch gewesen. Ihm haftete der Geruch des Heidentums an, und man hielt ihn wie die alten Religionen für eine der Verfehlungen der Antike. Die einzig denkbare Staatsform war die Monarchie beziehungsweise eine monarchische Hierarchie gewesen, an deren Spitze der Weltkaiser in Analogie zur Weltregierung Gottes stand. Nachdem sich nun aber immer mehr Fürsten gegen das Kaisertum auflehnten, konnte der Kaiser nicht mehr als Monarch der Monarchen gelten. Die souveränen Fürsten der christlichen Staaten und einige neuentstandene souveräne Republiken bildeten nun eine Gruppe, in der eine Art Gleichberechtigung herrschte. Es trat also eine Republikanisierung nicht für das Volk, aber für die Fürsten und Staatsoberhäupter ein. Diese christliche Republik lehnte alle Universalansprüche ebenso entschieden ab wie seit der Französischen Revolution die republikanisch gesonnenen Bürger die Monarchie. Jeder Kaiser und jeder Papst bekam das zu fühlen, und ebenso jede Macht, die nach der Vorherrschaft in Europa strebte. Der bisher anrüchige Begriff „Republik" bekam eine neue Qualität: Er betonte den Gegensatz zum Universalismus und — vor allem dem Orient gegenüber — zu jeder Despotie.
Die „Christliche Republik" war sozusagen defensiv nach innen. Während die äußere Bedrohung durch den Islam nur am Rande zur Kenntnis genommen wurde — die Kreuzzüge waren lange vorbei und lebten trotz vieler Bemühungen nicht wieder auf —, galt der Versuch, eine „Universalmonarchie" in Europa zu errichten, als ärgster Verstoß gegen die europäische Ordnung. Kriege wegen trivialer Erbstreitigkeiten wurden verziehen, weil sie den Bestand des Systems nicht gefährdeten. Aber schon politische Intrigen, die den Verdacht des Hegemoniestrebens erregen konnten, weckten heftige Reaktionen. Und wer sich offen zu die-sem Ziel bekannte oder sich dieserhalb gar zum Krieg anschickte, der hatte alsbald eine Koalition der anderen Mächte gegen sich. Dabei ging es nicht unbedingt nach der gegenseitigen Sympathie, sondern nur nach der politischen Notwendigkeit, einen Anwärter auf die Hegemonie in die Schranken zu weisen.
Als sich innerhalb der christlichen Republik einzelne Großmächte bildeten, entwickelte sich daraus das verfeinertere System des europäischen Gleichgewichts. Friedrich Gentz, der Vertraute Metternichs und Klassiker der Gleichgewichtspolitik, lieferte auch ihre klassische Definition: „Das, was man gewöhnlich politisches Gleichgewicht nennt, ist diejenige Verfassung nebeneinander bestehender und mehr oder weniger miteinander verbundener Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines anderen ohne wirksamen Widerstand von irgendeiner Seite und folglich ohne Gefahr für sich selbst beschädigen kann."
Die Kontrollfunktion sollte also nicht erst durch Versuch und Irrtum, das heißt durch den Koalitionskrieg wirksam werden, sondern die politischen Kräfte mußten nach Möglichkeit schon in Friedenszeiten durch ein kunstvolles Geflecht von Bündnissen so ausbalanciert werden, daß jeder Staat einen Angriffskrieg für aussichtslos halten mußte. Gentz nannte dies die „Föderativ-Verfassung" Europas
In der Praxis war die Friedenssicherung durch das Gleichgewichtssystem eine Illusion Es ist zwar schwer zu schätzen, wie viele Kriege dieses System verhindert hat, aber wir wissen, daß diejenigen Staaten, die ernstlich nach der Hegemonie strebten, nur dem Entscheid der Waffen glaubten. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts bedrohte die Vormachtstellung Spaniens die Selbständigkeit der anderen europäischen Staaten, und nachdem sie beseitigt war und Spanien im Pyrenäenfrieden von 1659 seinen Aspirationen abgeschworen hatte, mußte sich Europa bis 1815 der französischen Hegemonie erwehren. Dies allein waren zwei Fälle von Übergewicht, die die Kriegsgeschichte erheblich bereicherten. In gewisser Weise kann man auch noch das deutsche Vormachtstreben seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und sein Scheitern 1945 unter diesem Gesichtspunkt sehen, obgleich hier schon vieles mitspielte, was mit dem alten Europa, von dem hier die Rede ist, nichts mehr zu tun hatte. Fest steht aber, daß es keinem einzigen Staat jemals gelungen ist, für längere Zeit die Hegemonie in Europa auszuüben. Der Kampf gegen die Hegemonie und um das Gleichgewicht der Kräfte war das große Motiv der europäischen Politik.
Im 19. Jahrhundert, als das Bürgertum die Politik entdeckte und gegen die bisherige „Kabinettspolitik“ ganz neue Kräfte entfesselte, verdrängten die nationalen Ansprüche immer mehr die Erfordernisse der Gleichgewichtspolitik. Metternich und Gentz sahen mit der Beteiligung der Völker an der Politik das Ende jeder Politik gekommen, und dies, wenn man ihre Maßstäbe anlegt, mit Recht. Nicht als ob die Kabinettspolitik, die vorher unter Fürsten und Fachleuten der Diplomatie ausgehandelt wurde, das Nonplusultra an politischer Klugheit und Mäßigung gewesen wäre; aber das Unheil, das dabei passieren konnte, ging auf gewöhnlichen Irrtum, auf gewöhnlichen bösen Willen oder gewöhnliche Schachzüge zurück, also auf Elemente des menschlichen Handelns, die nicht nur im politischen Leben auftreten, mit denen man rechnet, die einkalkulierbar und rational sind. Kein damaliger Krieg führte zur Auslöschung des besiegten Staates, Friedensschlüsse zielten nicht darauf ab, den Gegner zu vernichten, sondern ihn „auf den rechten Weg" und damit in die europäische Gemeinschaft zurückzuführen. (Vom übelsten Auswuchs der Gleichgewichtspolitik, dem Teilungssystem, dem Polen zum Opfer fiel, sehe ich hier ab, denn es war nicht der Normalfall, sondern wurde gerade von Verfechtern des Gleichgewichts scharf verurteilt. Die Zeitgenossen sprachen von der „Todsünde Europas".) In Kriegen wurde die Zivilbevölkerung möglichst geschont, und es kamen keine Greueltaten vor. Diese waren den ungleich scheußlicheren Religionskriegen der vorangegangenen Zeit vorbehalten geblieben. Doch nun trat gerade in dieser Hinsicht ein Rückschlag ein. Durch das Aufkommen der Ideologien, vor allem des Nationalismus, bekam die Politik einen irrationalen Zug. Kriege im Zeichen des nationalistischen Wahns sind nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern Religionskriege. Diese Entwicklung bahnte sich im 19. Jahrhundert zwar nur langsam an und erreichte erst in unserer Zeit ihren Höhepunkt. Aber schon damals war das Gleichgewichts-system den neuen Kräften nicht gewachsen. Die nationalen Bestrebungen diktierten der Diplomatie eine andere Politik. Zwar schien nach der Einigung Italiens (1861) und Deutschlands (1871), als im klassischen Kerneuropa alle nationalen Ansprüche befriedigt waren, eine Art Stabilität einzutreten. Doch die Rivalitäten blieben bestehen, sie verlagerten sich nur auf den Kolonial-und Wirtschaftssektor, und in Osteuropa begann der Nationalismus jetzt erst richtig zu gären.
Vorübergehend fand Europa eine neue Art des internationalen Zusammenwirkens, das „Europäische Konzert" der Mächte des Wiener Kongresses, nämlich England, Österreich, Preußen und Rußland. Später kam noch Frankreich dazu, und von Fall zu Fall spielten außer-europäische Mächte — die Türkei, Japan und die Vereinigten Staaten — im Konzert mit. Schon hier zeichnete sich die Entwicklung zur Weltpolitik ab, wenn sie auch im großen ganzen noch europazentrisch blieb. Das Konzert trat bei Verhandlungen zur Schlichtung von Streitigkeiten und zur Beilegung von Krisen durch seine „guten Dienste" in Aktion. Einige Beispiele: Nach der Brüsseler Revolution von 1830 erkannten die Mächte die Unabhängigkeit Belgiens an und garantierten seine Neutralität; die Beendigung des Krimkriegs durch den Pariser Frieden von 1856 war das Werk des Konzerts; es wirkte bei den Friedensschlüssen nach dem Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark 1864 und nach dem Krieg Preußens gegen Österreich 1866 mit; es neutralisierte 1867 durch den Londoner Vertrag Luxemburg, um das sich Preußen und Frankreich gestritten hatten. So ließen sich noch ein Dutzend andere Fälle aufzählen. Das Europäische Konzert war keine Institution mit festen Satzungen, wirkte aber dennoch wie eine Art Sicherheitsrat oder Schiedsinstanz und garantierte die Durchsetzung seiner Beschlüsse.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts löste sich das Konzert allerdings langsam in Separat-bündnisse auf. 1879 wurde der Zweibund zwischen Österreich und Deutschland geschlossen und 1882 durch den Beitritt Italiens zum Drei-bund erweitert. Es folgte der russisch-französische Zweibund von 1891, das britisch-japanische Bündnis von 1902, die britisch-französische Entente cordiale von 1904, das britisch-B russische Bündnis von 1907. Allmählich zeichneten sich die Fronten ab, die dann im Ersten Weltkrieg aufeinanderprallen sollten. Dieser Krieg bedeutete sowohl das Ende des Konzerts als auch der letzten Reste des Gleichgewichtsdenkens. Im Versailler Vertrag wurde auf Balance-Erwägungen keine Rücksicht mehr genommen, und seither konnte man nur noch bedingt von einem „europäischen Staaten-system" sprechen. Zwar war der Völkerbund durch das Fernbleiben der Vereinigten Staaten und Rußlands praktisch noch ein intern europäischer Verband, aber die außereuropäischen Staaten konnten in der Politik nicht mehr ignoriert werden wie bisher, die Diplomatie wurde weltweit, und seither war Europa bis zur Jahrhundertmitte ohne ein europäisches politisches Konzept gewesen.
Doch inzwischen hatte sich ein Stockwerk unter der hohen Diplomatie und ganz unspektakulär ein neues Gebiet der internationalen Zusammenarbeit aufgetan. Ich meine damit die zahlreichen internationalen Institutionen, die durch die Notwendigkeit der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit infolge technischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen entstanden, wie der 1878 gegründete Weltpostverein, die auf dem Versailler Vertrag fußende Internationale Arbeitsorganisation oder die 1922 gebildete Internationale Luftfahrtkommission, um nur drei von den rund 1500 internationalen Institutionen zu nennen, die seit dem Wiener Kongreß ins Leben gerufen wurden. Es handelte sich dabei nicht um bloße Abkommen, sondern um regelrechte Organisationen mit ständigen Sekretariaten (sogenannte „internationale Bürokratie"), an die man nach 1945 zum Teil nur anzuknüpten brauchte. Auch sie gingen naturgemäß. wie die Politik, im Laufe der Zeit immer weiter über den europäischen Rahmen hinaus.
Diese kurze Übersicht, die nichts Neues enthält, sollte eines zeigen: Die europäischen Staaten bildeten seit ihrem Entstehen im 14 Jahrhundert eine Gemeinschaft, ein System, das sich im 20 Jahrhundert im gleichen Maße auflöste, wie das europäische Zeitalter, unsere dritte Periode, ausliet. Der Krieg von 1914 war noch ein europäischer Krieg. Der Frieden von 1918 aber beendete bereits einen Weltkrieg Die Autlösungszeit scheint eine Übergangsperiode gewesen zu sein, eine Zeit der Konzeptionslosigkeit und Ratlosigkeit angesichts der Ausdehnung der Politik ins Weltweite Und vor allem eine Zeit der Ignoranz, die nicht zur Kenntnis nahm, daß die Grundlagen der Politik sich gewandelt hatten. Doch davon später. Jedenfalls bildete Europa vom 14. bis zum 20. Jahrhundert einen Verband, in dem überall die gleichen Grundprinzipien der Diplomatie, des Völker-und Kriegsrechts und so weiter galten. Mit Integrationsgedanken hatte allerdings keine dieser Formen der Gemeinsamkeit etwas zu tun, weder die christliche Republik oder das europäische Gleichgewicht noch das Konzert der Mächte oder die internationale Bürokratie. Dies alles waren Ausdrucksformen der Gemeinsamkeit, aber der unantastbare Grundsatz war stets die uneingeschränkte Souveränität der Beteiligten, die das Recht einschloß, nach Belieben Kriege gegen andere Glieder des Systems zu führen. Es läßt sich also selbst dann, wenn wir Europa von der Seite der politischen Gemeinsamkeit her betrachten, mit keinem Argument die Tatsache verdecken, daß das System auf dem Pluralismus beruhte.
Einen ähnlich zwiespältigen Charakter hatte im geistigen Leben das europäische Gemeinschaftsgefühl, das man ebenfalls nicht mit Integrationswünschen verwechseln darf. Die berühmte „Einheit in der Vielfalt" durchzieht die politische und geistige Geschichte Europas und überhaupt unserer Society wie ein Leitmotiv. Bei einiger Phantasie und Deutungskunst läßt sich schon bei Hippokrates und Herodot eine Art „europäisches" Bewußtsein oder eher ein hellenisches Gemeinschaftsgefühl aufspüren, in das gelegentlich die anderen westlichen Völkerschaften großzügig mit einbezogen wurden, da der gemeinsame Gegensatz zu den Asiaten zu stark in die Augen stach. Im antiken Rom überdeckte die Zugehörigkeit zum Imperium die Bedeutung der Volkszugehörigkeit, im Abendland vereinte das Christentum die disparaten Völker, die die Wanderungen zusammengeführt hatten. Der Mangel an Kontakt zwischen diesen Völkern durch den Zerfall der Städte und das Einschlafen des Verkehrs etwa vom 6. bis zum 9. Jahrhundert ließ diese Problematik allerdings im Hintergrund. Die Einheit des Abendlandes war eigentlich nur für die geistliche und weltliche Oberschicht wahrnehmbar. Daher brachten die Kreuzzüge, bei denen die Christen einander endlich kennenlernten, manche Überraschung, wie es zum Beispiel der Fall war, als vorher nie gesehene, mit Fellen bekleidete Waldschrate aus dem Norden an der Küste der Normandie landeten und sich als Kreuzfahrer, nach Jerusalem unterwegs, herausstellten. Die Kreuzzüge vereinten die christlichen Völker im Kampf für den gemeinsamen Glauben. Gleichzeitig stellten sie bei dieser Gelegenheit aber auch fest, was sie trennte. Das waren zunächst triviale Dinge wie Trachten und Eßgewohnheiten oder Charaktereigenschaften wie Mut oder Vorsicht, Geiz oder Verschwenderei, Bescheidenheit oder Prahlsucht. Wir dürfen diese Gefühle nicht wegen ihrer Lächerlichkeit unterschätzen. Rivalitäten, ja Feindschaften entstanden, größerer oder geringerer Eifer im Kampf für das Kreuz wurde günstig oder übel vermerkt. Hier hat der Nationalismus eine seiner ältesten Wurzeln und, damit zusammenhängend, vor allem das französische Sendungsbewußtsein, das sich der „Gesta Dei per Francos“ rühmen konnte und in den Deutschen für lange Zeit einen Stachel hinterließ, weil sie sich nicht im gleichen Maß rühmlich hervorgetan hatten.
Das war ein Gemeinschaftsgefühl mit Widerhaken. Und bei diesem Gefühl der Verbundenheit im Großen trotz aller Verschiedenheit im Kleinen blieb es im Laufe der Jahrhunderte, auch als aus dem religiösen Gemeinschaftsgefühl ein zivilisatorisches wurde und es nicht mehi um die banalen Sittenunterschiede ging, sondern um geistige Haltungen oder Nuancen innerhalb der allen gemeinsamen Bildung. Der Humanismus kannte den gleichen Zwiespalt zwischen Weltbürgertum und Nationalgeist. Die italienischen Humanisten betrachteten sich als die authentischen Vertreter der klassisch-lateinischen Bildung, die sich die Humanisten der anderen, „barbarischen“ Völker nur mühsam aneigneten, was diese wiederum bewog, die alte Größe ihrer jeweiligen Nation herauszukehren, um ebenfalls auf eine Bildungstradition verweisen zu können (Beginn der nationalen Geschichtsschreibung). Allen gemeinsam aber war der Kosmopolitismus der Gebildeten — sie alle fühlten sich als Bürger der europäischen Gelehrtenrepublik.
Auch während der Aufklärung, in der die weltbürgerlichen Tendenzen einen Höhepunkt erreichten, war es nicht anders. Gerade erklärte Europäer sahen das Wesen Europas darin, daß es sich aut die vielfältigste Weise äußerte. Voltaire nannte Europa einerseits „eine Art große Republik, die in mehrere Staaten geteilt ist"
Das sprach ein überzeugter Europäer, für den der Gedanke an einen engeren Zusammenschluß Europas ein unmögliches Schreckgespenst gewesen wäre, ein Alpdruck, den man nach dem Erwachen lächerlich findet.
Sogar Ernst Moritz Arndt, um ein extremes Beispiel zu nennen, schwang sich in einem ansonsten unversöhnlichen Pamphlet, in dem er den Deutschen den Haß auf die Franzosen als religiöse Pflicht vorschrieb, nach vielen unerträglichen Seiten zu folgenden Höhen des Gemeinschaftsgefühls auf: „Was durch Tugend, Wissenschaft und Kunst bei dem einen Volke in seiner Art vortrefflich ist, das Große und Menschliche, was die erhabene Einheit und Göttlichkeit der Welt ausmacht, wird darum auch dem anderen Volke angehören und als Gemeingut der Menschheit von ihm angenommen und geehrt werden .. . Auf dieser Höhe hört der Volkshaß auf; da beginnt die große Gemeinschaft der Völker.“
Aber man braucht sich nicht einmal auf das Niveau eines Arndt zu begeben. Es ließen sich schier endlose Zitate anführen, in denen bekannte Nationalisten das Europäertum verherrlichen, oder in denen umgekehrt gute Europäer die Unantastbarkeit der Nation und die Staatenvielfalt preisen. Europäisches Gemeinschaftsgefühl schloß die Rivalität nicht aus, nicht einmal den Krieg Die überwiegende Mehrzahl der Menschen war mit den Grundlagen des europäischen Staatensystems durch-7) aus einverstanden. An politische Konsequenzen aus dem europäischen Gemeinschaftsgefühl dachten wenige. Der Pluralismus Europas wurde als natur-und gottgewollt und als eine Quelle des geistigen Reichtums angesehen, ebenso die Souveränität der Fürsten, die von Gottes Gnaden regierten. Die wenigen Unzufriedenen flüchteten sich in Utopien und bauten ideale Phantasiestaaten auf. Wenn konkrete Verhältnisse angegriffen wurden, dann war es selten das System an sich, sondern meist nur der Krieg, für den aber nicht der europäische Pluralismus verantwortlich gemacht wurde, sondern menschliche Unvollkommenheit, Verworfenheit und Habgier der Fürsten. So entstand im Laufe der Jahrhunderte — außerhalb des Integrationsdenkens — eine umfangreiche Friedensliteratur. Unter den Verfassern finden wir neben den Großen der europäischen Geistesgeschichte auch viele Sonderlinge und notorische Menschheitsbeglücker. Ihre Motive waren vielfältig, sie reichten von religiösen über national-natur-rechtliche bis zu rein humanitären Erwägungen und hatten mit Europäertum oft nichts zu tun. Meist waren es ganz unpolitische Gemüter wie etwa Erasmus von Rotterdam. Er beklagte es, daß die Christen untereinander nicht in Frieden leben konnten und schlug als Abhilfe vor, die Fürsten sollten sich ein für alle Mal auf irgendeinen Status quo einigen und an ihm festhalten. Vom Humanismus bis zur Aufklärung Überboten sich die
Autoren darin, die Schrecken des Krieges und die Vorzüge des Friedens leuchtend auszumalen, da sie meinten, schon die Gegenüberstellung beider Zustände müsse die Menschheit zur Vernunft aufrütteln oder wenigstens an ihre christliche Liebespflicht erinnern.
Allmählich gesellten sich juristische Vorschläge dazu. Freiwillige oder obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit und internationale Konferenzen sollten zur Friedenssicherung beitragen. Diese Hoffnung, die sich auf die gegebenen Verhältnisse stützte, scheint zunächst realistischer zu sein als die, durch politische Umwälzungen die Struktur Europas zu ändern. Doch unsere weiteren Erfahrungen auf diesem Gebiet sind trotz einiger Teilerfolge deprimierend. Die Bemühungen der Friedensbewegung führten 1899 zur Bildung des Ständigen Schiedshofs im Haag. Fünfzehn Jahre später brach der Erste Weltkrieg aus. 1919 wurde der Völkerbund gegründet, zwanzig Jahre später brach der Zweite Weltkrieg aus. Und die Erfahrungen, die wir seither auf diesem Sektor mit der UN gemacht haben, in Korea, im Kongo, im Südostasien, sind nicht gerade ermutigend.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sowohl das europäische Gemeinschaftsgefühl als auch die Friedensbewegung den Pluralismus im großen und ganzen hinnahmen und eine europäische Einigung, die sich irgendwie verfassungsrechtlich ausgedrückt hätte, nicht in Erwägung zogen.
Die Bedeutung der alten Europapläne
Betrachten wir nun die europäischen Einigungspläne, deren Autoren sich nicht mit dem bloßen Gemeinschaftsgefühl begnügten oder auf Friedensforderungen beschränkten, sondern Änderungen der „Verfassung" des europäischen Staatensystems verlangten.
Ich muß vorausschicken, daß es unmöglich ist, hier auch nur annähernd einen Begriff von den Einzelheiten der Pläne zu geben, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden. Dazu sind sie und ihre Geschichte zu vielgestaltig. Fast keiner der alten Europapläne ist allein vom überlieferten Text her verständlich, sondern man muß meist ein abenteuerlich kompliziertes Geflecht von Voraussetzungen mit berücksichtigen auf deren Schilderung wir zugunsten der großen Linie verzichten. Wir beschränken uns auf einige typische Beispiele, die stellvertretend für andere Projekte stehen müssen, und wollen statt einer Vielzahl von Details — vor allem der oft frappierenden verfassungsrechtlichen Details — die Motive freilegen, und zwar im Hinblick auf ihre Vergleichbarkeit mit den Motiven der heutigen Integrationspolitik
Glücklicherweise lassen sich trotz der Fülle des Einzelmaterials solche großen Linien aufzeigen, ohne daß man die Dinge unzulässig vereinfacht; denn wenn wir von einigen grotesken Produkten mancher Sonderlinge absehen, die es immer gab und die wir nicht ernster zu nehmen brauchen als es ihre Mitwelt tat, dann waren die europäischen Einigungspläne zum größten Teil alles andere als Utopien. Auch wenn sie den Zeitgenossen immer utopisch und höchst abwegig erschienen, standen sie keineswegs im luftleeren Raum, sondern fügten sich meist genau in die jeweiligen politischen Gegebenheiten ein.
In der Frühzeit Europas, das heißt im 14. rnd 15. Jahrhundert, waren die Einigungspläne Finten im Dienst der neuerwachten nationalen Interessen. Der erste dieser Pläne stammt von dem französischen Juristen Pierre Dubois, der 1306 in einem Traktat „über die Wiedergewinnung des heiligen Landes" seinen Zeitgenossen ein enormes Paket von Vorschlägen zur Reform der Christenheit unterbreitete, die er zu dem im Titel angegebenen Zweck für notwendig ausgab. Er wollte das gesamte öffentliche Leben umgestalten — das Rechtswesen, das Militär, das Erziehungswesen, die Kirche, die Staatsverwaltung —, wobei er viele teils vorzügliche, teils unsinnige Einfälle vortrug. Sein Traktat enthält einige Absätze, in denen er meint, die Christenheit müsse sich „gleichsam zu einem einzigen Staat zusammenschheBen", so daß sie durch nichts mehr getrennt werden könnte
Dieser Plan klingt heute plausibel und prophetisch. Damals nahm er sich folgendermaßen aus: Die abendländische Ordnung war in Auflösung begriffen. Das Kaisertum war schon geraume Zeit vorher am Papsttum gescheitert, und im politischen Leben dominierten seither der Papst und die Kirchenkonzilien. Die Zeiten des Investiturstreits waren schon so lange vorbei, daß nach der Rolle des Kaisers praktisch niemand mehr fragte. Die Diskussion ging nur noch darum, ob der Papst oder die Kirchenkonzilien die höchste Autorität innerhalb der Christenheit darstellten. Auch in der Geistlichkeit gab es mächtige Strömungen, die mit der Stärkung der Konzilsidee dem Universalismus entgegenwirken wollten, wenigstens soweit er in der Person des Papstes konzentriert war, und die weltlichen nationalen Kräfte waren ausnahmslos konziliar gesinnt.
Aber auch das Papsttum hatte nun in der „babylonischen" (sprich französischen) „Gefangenschaft" vorübergehend einen Tiefpunkt erreicht. Beide Universalgewalten des Abendlandes waren ramponiert, und sowohl die alten abendländischen als auch die modernen nationalen Kräfte versuchten mit allerlei Re9) formvorschlägen, das entstandene Obrigkeits-Vakuum in ihrem Sinne auszufüllen.
Dubois vertrat den neuen, antiklerikalen und nationalen Geist. Aber er knüpfte an die alte Konzilsidee an: Er wollte das Kirchenkonzil durch ein Konzil weltlicher Fürsten ersetzt sehen. Sein Ziel war also im Grunde die Wiederherstellung der alten Ordnung in einer neuen Form, die die Rolle der Nationalstaaten berücksichtigte, indem an die Stelle der einen Universalgewalt nun die Gemeinschaft der souveränen Fürsten getreten wäre (eine Entwicklung, die dann von selbst eintrat, ohne daß sein Projekt verwirklicht wurde). Das Ansehen des Papstes war immerhin noch so groß, daß er als Vorsitzender des Konzils und übrigens auch als Berufungsinstanz gegen Entscheidungen des Schiedsgerichts fungieren sollte Allerdings zielte der ganze übrige Plan darauf ab, den Papst zur Marionette des französischen Staates zu machen und überdies einen großen Teil Europas direkt oder durch Familienbande unter den Einfluß des französischen Königs zu bringen, der somit der eigentliche Souverän Europas geworden wäre.
Ging es Dubois um die Zurückweisung der weltlichen Herrschaftsansprüche der Kurie, so wollte der zweite Europaplan, der anderthalb Jahrhunderte später entstand und in den Jahren 1462 bis 1464 an den europäischen Höfen kursierte, auch die geistliche Autorität des Papstes untergraben. Der Böhmenkönig Georg von Podiebrad bemühte sich jahrelang vergeblich darum, daß das böhmische Hussiten-tum von Rom als rechtgläubig anerkannt wurde. Als dies nicht gelang, versuchte er einen anderen Weg. Sein Ratgeber Antonio Marini, ein französischer Industrieller, der vielleicht den Plan Dubois'kannte, arbeitete eine Bundesverfassung unter dem Vorwand aus
überflüssig zu bemerken, daß beide Entwürfe scheiterten. Dubois’ Plan wurde niemals erwogen, da sein Verfasser ein einflußloser Provinzjurist war (er wird in einem der besten modernen Handbücher über Völkerrecht fälschlich als Kardinal und Berater des französicben Hofes und als einer der Väter der Friedensbewegung bezeichnet). Marinis beziehungsweise Podiebrads Plan dagegen war jahrelang Gegenstand ernsthafter diplomatischer Verhandlungen und hatte von sämtlichen mir bekannten Projekten die meisten Aussichten, verwirklicht zu werden. Er scheiterte hauptsächlich an der größeren diplomatischen Kunst der Kurie. Auf einem anderen Blatt steht, ob sich der Fürstenbund in der Praxis bewährt hätte.
Die Entwürfe von Dubois und Podiebrad gaben in ihren Titeln vor, dem Kampf gegen den Islam zu dienen. Dieses nach außen erklärte Ziel, die christlichen Völker vor dem drohenden Untergang zu retten oder jene zu befreien, die bereits unter die Türkenherrschatt gefallen waren, diente jedoch nur als Vorwand, als „Aufhänger", der so unpopuläre Pläne den Zeitgenossen schmackhaft machen und vor allem die Kurie an zu strengen Gegenmaßnahmen hindern sollte, was eine illusionäre Hoffnung war. Dubois mag noch tatsächlich an einen Kreuzzug gedacht haben, weil er sich von der Beherrschung des Orients einige zusätzliche Vorteile für die Christenheit und das französische Königshaus versprach, aber Podiebrad dachte nicht im entferntesten an einen Türkenkrieg, und im Grunde ging es bei beiden Plänen um rein innereuropäische Fländel Das Kreuzzugsmotiv gehörte noch bis ins 18 Jahrhundeit zum Repertoire der Einigungs-p! ine Darunter waren einige weltfremde Pro-jekie ehrlich gemeint, aber der Wunsch, die Türken zu besiegen, war in den allermeisten Fällen nur rhetorisch und erweist sich bei näherem Zusehen ebenso als Vorwand wie bei Podiebrad So antichambrierte Leibniz im Jahr 1672 bei Ludwig XIV mit einem Kreuzzugsplan gegen Ägypten, der ihm im Orient hohen Ruhm versprach und ihn von europäischen Kriegszielen ablenken sollte Oft hatte das Kreuzzugsmotiv auch den relativ edlen Hintergedanken. daß nur eine gemeinsame Aulgabe die christlichen Staaten daran hindern könne, ständig übereinander herzufallen. Hier war das eigentliche Anliegen nicht so sehr, einen bestimmten Staat von seinen Nachbarn abzulenken, sondern die chronische Kriegslust aller nach außen zu richten. Beispiele dafür ließen sich viele nennen. Papst Leo X. bemühte sich in den Jahren 1517 und 1518 um einen solchen „Kreuzzug", und noch 1735 veröffentlichte der Kardinal Alberoni ein derartiges Projekt, verbunden mit dem Plan eines europäischen „Reichstags" mit angegliedertem Obersten Gerichtshof.
Ungefähr vom Beginn des 17. Jahrhunderts an traten zwei neue Motive auf: die religiöse Toleranz nach dem Schock der Religionskriege und das durch die Machtkämpfe zwischen Frankreich und dem Hause Habsburg an Bedeutung und Ansehen gewinnnende Gleichgewichtsdenken. Beide Motive sind vereint in dem berühmten Projekt des Herzogs von Sully, das unter dem Namen „Der Große Plan Heinrichs IV." Generationen bewegte und erregte, obwohl es nur eine Legende war und nicht, wie man meinte, dem französischen Hegemoniestreben dienen sollte, das andere Mittel und Wege wußte.
Sully war Minister König Heinrichs IV. von Frankreich gewesen, dessen Ermordung im Jahr 1610 auch Sullys Karriere beendete. Lange nach dem Tode des Königs flocht Sully an vielen Stellen seiner Memoiren, die 1638 zum erstenmal erschienen, Andeutungen über einen angeblichen Plan Heinrich IV.
Das religiöse Motiv blieb im 17 Jahrhundert dominierend Von der Toleranz zwischen den Konfessionen gelangte man zur Toleranz gegenüber den anderen Religionen Die Andersgläubigen wurden sogar in die geplanten Friedenssysteme einbezogen wie bei dem französischen Mönch Emeric Cruce, der 1623 in seinem „Nouveau Cyne" vorschlug, alle Herrscher der Erde sollten ihre Botschafter in eine bestimmte Stadt entsenden, wo sie eine ständige Versammlung bilden und gemeinsam über Streitigkeiten zwischen den einzelnen Ländern entscheiden sollten In der Versammlung sollte der Papst den Vorrang haben, die zweite Stelle der Sultan einnehmen
Ein starker Impuls für die Richtung, die die christliche Nächstenliebe in die Politik übertragen wollte, ging von England aus, zumal von den Quäkern, die den Kriegsdienst ablehnten und hauptsächlich für die Friedensbewegung wichtig wurden Einer ihrer Hauptvertreter, William Penn, veröffentlichte 1692 einen „Essay Toward the Present and Future Peace of Europe, by the Establishment of an European Dyet, Parliament, or Estates". worin er bereits die Geschäftsordnung dieses europäischen Parlaments aufs genaueste regelte ” 1 Auch bei ihm sollte der Zar und der Sultan im Parlament vertreten sein Von der religiösen Toleranz bis zum Huma nitätsbegriff der Aufklärung war es dann nur noch ein Schritt. Im 17. und 18. Jahrhundert entstanden rund zwei Dutzend Patentrezepte, die den ewigen Frieden auf Grund einer europäischen oder auch weltweiten politischen Ordnung garantieren sollten (weltweit allerdings nur in dem Sinn, daß Europa der Mittelpunkt der Welt war
Das Grundanliegen aller dieser Pläne war das gleiche: Der Frieden innerhalb Europas sollte gesichert werden Gemeinsam war allen die-sen Vorschlägen für eine politische Einigung außerdem, daß sie die Souveränität und die Staatenvielfalt als gegeben hinnahmen Nie wurde ein europäischer Einheitsstaat mit einer Zentralregierung empfohlen, sondern immer eine Generalversammlung, ein Parlament, ein Senat, oder wie immer die Autoren es nannten, wo die Staatsoberhäupter oder ihre Vertreter die internationalen Streitfragen regeln sollten Die Unterschiede in den Details der einzelnen Pläne waren nur Varianten dieses Grundkonzepts. Andere Gesichtspunkte, zum Beispiel positive wirtschaftliche Auswirkungen der Integration, wurden am Rande als zusätzliche Vorteile erwähnt. Die Souveränität der Fürsten und Staaten aber wurde unweigerlich an prominenter Stelle der Entwürfe betont Artikel 2 des Projekts von St. Pierre lautete: „Der europäische Bund mischt sich nicht in die Regierung der einzelnen Staaten. Er sorgt nur für die Erhaltung der Verfassung im Ganzen und leistet den Herrschern und den Behörden der Freistaaten Beistand gegen Aufruhr und Umwälzung.
Häufig wurde das Deutsche Reich als Muster eines europäischen Staatenbundes genannt. Nach dem Westfälischen Frieden gab es in Deutschland 253 Staaten, die durch den Ewigen Landfrieden genötigt waren, untereinander Frieden zu halten, worüber das Reichskammergericht wachte. Im übrigen waren sie so gut wie souverän. Jeder deutsche Teilstaat konnte eigenmächtig nach außen Verträge abschließen oder Kriege führen, wenn er sich stark genug fühlte. Er besaß die Münzund Militärhoheit und seine eigene Gerichtsbarkeit, denn das Reichskammergericht konnte nur in Fällen in Aktion treten, die das Reich betrafen. Immerhin — der innere Frieden blieb gewahrt. Das Deutsche Reich galt als eine Art Muster-Europa im Kleinen, ein Vorbild für ein System, in dem beliebig viele Souveränitäten bestehen und trotzdem Frieden herrschen konnte.
Durch die Französische Revolution kam ein ganz neuer Ton in die Einigungspläne. Die demokratischen Kräfte der Revolution, die zunächst für die ganze Menschheit gesprochen hatten, sprachen zwar bald für einen französischen Nationalismus, der genau wie vorher die Revolution in Europa ein mächtiges Echo auslöste. Aber auch der Nationalismus hatte seine europäische Komponente. Ein Musterbeispiel dafür, wie das Nationalstreben auf die europäische Ebene überging, ist die Bewegung des italienischen Revolutionärs Mazzini, der zunächst die Gesellschaft „Junges Italien" gründete, die das in winzige Teilstaaten zersplitterte, teils unter einheimischen, teils unter fremden Despoten stehende Italien einigen wollte Bald bildeten sich Tochterverbände in anderen Ländern — ein „Junges Deutschland", ein „Junges Polen" entstand. Da diese Völker sich gegen die herrschenden Systeme der Restaurationszeit auflehnten und zu einigen versuchten, waren für sie die Begriffe Zersplitterung, Unterdrückung und Fürstenherrschaft ein Gesamtkomplex, dem der andere Komplex Einheit, Freiheit und Demokratie gegenüberstand. Der Gedanke, daß ein Europa der freien, republikanischen Völker brüderlich zusammenarbeiten könne, führte dann zur Gründung der Gesellschaft „Junges Europa". Europa galt als das Vaterland der Vaterländer, als die Über-Nation, als das letzte eigentliche Ziel allen nationalen Einheitsstrebens. In diesem Sinne nannte Victor Hugo im Jahr 1867 Europa die Nation des 20. Jahrhunderts
Dieses Freiheits-und zugleich Einheitsstreben war nur eine Variante oder Fortsetzung des Nationalstrebens innerhalb der einzelnen Völker. Zwischen den nationalen und den europäischen Einigungsbestrebungen bestand wesensmäßig kein Unterschied, auch wenn sich Nationalisten und Europäer wechselseitig als vaterlandslos beziehungsweise reaktionär bezeichneten. Trotzdem standen beide auf dem gleichen Boden, nämlich der Annahme, daß es eine zwangsläufige oder mindestens erstrebenswerte Höherentwicklung von partikularen Stämmen und Gauen zu Völkern gäbe, die sich logisch in der europäischen Einheit fortsetze.
Das Freiheitsstreben hatte teils sehr reale Gründe, wo die Fürsten despotisch regierten oder wo Kleinstaaten unter Fremdherrschaft standen wie in Italien und Polen. Aber es handelte sich eben doch um eine Ideologie, und daher spielten auch irrationale Gefühle mit. Es ist kein Wunder, daß aus dieser Richtung des europäischen Einheitsdenkens keine definitiven Projekte hervorgingen, das heißt keine Verfassungsentwürfe, die irgendwie juristisch Hand und Fuß gehabt hätten, sondern nur flammende, aber vage Manifeste, in denen Worte vorherrschten wie Gott, Kampf, Verbrüderung, höchste Güter, Sonne, Freiheit, Vaterland, Sieg. Damit ließ sich zwar Revolution machen, aber nicht Europa.
Neben dieser „national-europäischen“ Richtung müßte man auch alle jene geistigen und politischen Strömungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts berücksichtigen, den Liberalismus, die Romantik mit ihren vielen Schattierungen, den Frühsozialismus und so weiter. Dieses riesige Kapitel der Geistesgeschichte ist auch ein riesiges Terrain des Europadenkens, und es gab kaum eine dieser Richtungen, die nicht außer ihrem ganz speziellen Europabegriff auch ihre — immer noch europazentrischen — politischen Einigungspläne hervorgebracht hätte. Häufig standen bereits wirtschaftliche Gesichtspunkte im Vordergrund. Auch die Gedanken von Staatsrechtlern, wie Kaspar Bluntschli und Konstantin Frantz, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts außerhalb jeder Ideologie die Lehre vom Föderalismus ausbauten, dürften an sich nicht übergangen werden. Aber wichtiger als sie alle erscheinen mir ein paar Einzelgänger mit politischem Weitblick, die damals den Wandel von europäischer Politik zur Weltpolitik vor aussahen. Ausgelöst wurden solche Visionen durch die ungeheure Faszination, die die Vereinigten Staaten auf viele Europäer ausübten. Schon vor Alexis de Tocqueville äußerte der deutsch-dänische Etatrat Carl Friedrich von Schmidl-Phiseldek in seinen Büchern „Europa und Amerika oder die künftigen Verhältnisse der civilisierten Welt" (1820) und „Der Europäische Bund" (1821) ganz ähnliche Gedanken wie dieser
„Soll das große Problem einer Verfassung für die europäische Staatengemeinschaft gelöst werden, so ist die unerläßliche Grundbedingung dieser Lösung die sorgfältige Wahrung der Selbständigkeit und Freiheit der verbündeten Staaten."
Einen nennenswerten Einfluß übten weder die ideologisch geprägten noch die visionären oder rein rechtlichen Gedanken aus. Befürworter der europäischen Einigung waren und blieben in der hilflosen Minderheit. Erst nachdem der pervertierte Nationalismus zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt hatte, entstand eine stärkere europäische Bewegung. Schon während des Krieges erschienen im neutralen Teil Europas, vor allem in der Schweiz, beschwörende Flugschriften, die die kriegsführenden Mächte zur Vernunft ermahnten, darunter viele Entwürfe europäischer Bundesverfassungen, anfangs vorwiegend noch als Mittel gedacht, Europa vor der Selbst-zerstörung durch weitere innere Kriege zu bewahren, später auch in der Erkenntnis, daß sich das vor seinen Ruinen stehende Europa nur so gegenüber der übrigen Welt würde behaupten können.
Nach dem Krieg blieb die Initiative zunächst privaten Organisationen vorbehalten. Die Pan-europa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi und andere Europagesellschaften fanden einen ungeheuren Widerhall in der Öffentlichkeit. Allein in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erschienen Hunderte von Veröffentlichungen über das Einigungsproblem, und die Motivierungen waren entsprechend vielfältig. Aber im Hintergrund stand doch in erster Linie das Spenglersche Schlagwort; im Vordergrund die Weltwirtschaftskrise. Der Grundton war jedenfalls ziemlich einhellig der: Wenn Europa nicht zugrunde gehen wolle, müsse es sich in irgendeiner Form zusammenschließen. Die damalige Lage ähnelte bereits der Situation Europas nach 1945, nur war sie nicht ganz so katastrophal, weil keine militärische Bedrohung von außen bestand. Einzelne Politiker wie Herriot, Briand und Stresemann versuchten zwar, im Rahmen des Völkerbundes eine lockere europäische Föderation zu schaffen, aber sie waren den Kräften, die noch einmal die europäische Vergangenheit aufleben ließen, um sie noch gründlicher zu besiegeln, als es der Erste Weltkrieg vermocht hatte, nicht gewachsen.
Fassen wir zusammen: Die Vorschläge für eine politische Einigung Europas knüpften zunächst — im 14. und 15. Jahrhundert — an die abend-ländische Einheit an, wollten aber den alten Universalismus überwinden. Damals erwuchs aus der Konzilsidee die noch heute aktuelle Idee des Staatenbundes, von dem man sich versprach, daß er die neuentstandene Vielfalt souveräner Nationen erhalten und zugleich den Frieden wahren konnte Nach den Religionskriegen und Hegemoniekämpten des 16 lahrhunderts wollten die Einigungspläne den inner-europäischen Frieden gemäß den Geboten des Christentums, der Humanität und der Vernunft erreichen. Bis dahin ging es im unrühmlichen Fall um innereuropäische oder persönliche Intrige, im positiven Fall um den Versuch bewaffnete Auseinandersetzungen innerhalb Europas unmöglich zu machen Mit dem Aufkommen des Nationalismus galt Europa ideologisch als das Endziel des Nationalstrebens Im Laufe des letzten Jahrhunderts schlugen sich dann vereinzelt diejenigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in den Einigungsplänen nieder, die direkt zur Gegenwart hinführten. Welche Wandlungen das weitere Geschehen auch in dieser Hinsicht bringen würde, konnte allerdings niemand voraussehen Es ist nicht notwendig, hier darzulegen, inwiefern sich im einzelnen die Voraussetzungen der Politik in unserem Jahrhundert gewandelt haben. Man müßte dabei außer dem Machtverlust Europas auch den langen Katalog neuer Gegebenheiten unserer Zeit berücksichtigen, obwohl wir ihre Wirkung und Bedeutung noch keineswegs überblicken und wahrscheinlich viele Akzente falsch setzen, manches überbewerten, manches unterschätzen: Die Existenz der Weltanschauungsparteien und Ideologien, die die Nationalstaaten und sogar die Blöcke überlagern, der Totalitarismus in seinen verschiedenen neuen Erscheinungsformen, die Massenmedien, die es breiten Schichten ermöglichen, ihre politischen Führer quasi persönlich zu kennen und Politik aus eigener Anschauung zu erleben, die sozialen Probleme, die an die Stelle der nationalen treten, die sogenannten jungen Völker, die nicht nur ihr Dasein, sondern auch ihre Geschichte in unser Blickfeld stellen, die zunehmende Spezialisierung der Wissenschaften — einschließlich der Politik — und zugleich ihre wachsende gegenseitige Abhängigkeit; dann die diffizilen Probleme wie der Übergang vom Partikularismus zum Pluralismus und Polyzentrismus. Dies alles erfordert andere Mittel und Wege der Politik als sie früher bekannt waren Die Idee der politischen Einigung ist also so alt wie das europäische Zeitalter Die Verfasser der Europapläne schwammen zwar immer gegen den Strom, aber doch im Strom der Geschichte, und so spiegelt sich in ihren Entwürfen getreu das politische Bild Europas.
Aber es ist eben das Bild des vergangenen Europa Die Autoren der alten Pläne stellten sich unter Europa etwas vor, mit dem die heutigen Verhältnisse nichts mehr zu tun haben Sie gingen von anderen Voraussetzungen aus als wir, und es handelte sich während des längeren Teils der europäischen Geschichte ausschließlich um Versuche, Europa mit sich selbst fertigwerden zu lassen, nicht um Mittel in der Auseinandersetzung mit der übrigen Welt.
Ich glaube, schon die kurze Skizze, die ich in diesem Rahmen zeichnen konnte, hat die eine Frage beantwortet, die wir uns zu Beginn stellten Die alten Europapläne bilden ein bisher vernachlässigtes, aber wichtiges Kapitel der europäischen Geschichte — und eines der interessantesten, weil sich in ihm das politische und geistige Gesicht des europäischen Zeitalters vielleicht am deutlichsten offenbart, ganz abgesehen davon, daß die Vorläufer unserer eigenen Bestrebungen naturgemäß unsere Aufmerksamkeit erregen, auch wenn sie ein anderes Europa wollten als wir Aber die Berufung auf diese Vorläufer im Hinblick auf die europäische Einheit. die wir anstreben, und die Aufforderung, ihre Träume jetzt zu verwirklichen, ist feuille-tonistisch und romantisch.
Die zu Beginn erwähnte Art der historischen Legitimation ist aber noch aus einem triftigeren Grund problematisch als dem, daß die Motive und Ziele der alten Einigungspläne heute nicht mehr aktuell sind Sie rückt sowohl die europäische Geschichte als auch die heutigen Bemühungen um die politische Einigung in ein schiefes Licht. Denn sie besagt im Grunde, daß die ganze politische Entwicklung Europas eine Fehlleistung gewesen sei, die es heute zu korrigieren gälte, nachdem es in den vergangenen Jahrhunderten nicht gelungen ist, so eng miteinander verbundene Völker wie die europäischen zur Eintracht zu bewegen Ich glaube, dabei verkennt man den Charakter Europas und die Bedingungen seiner Entfaltung ebensosehr wie die heutigen Erfordernisse Der Partikularismus hat zahlreiche üble Seilen Aber man muß sich auch fragen, was aus Europa geworden wäre wenn es sich frühzeitig geeint hätte oder wenn es von einem Hegemon geeint worden wäre. Manche, Krieg hätte nicht stattgelunden, und gewiß wäre kein Übel, das ein solcher Zusammenschluß mit sich gebracht hätte, so groß gewesen wie das der Kriege unserer Geschichte. Aber Europa ließ sich nicht einigen, nicht weil es an der Vernunft gefehlt hätte, sondern weil dies seinem innersten Wesen widersprochen hätte Keine Hegemonialmacht war stark genug, um dieses Grundprinzip, aus dem Europa lebte, zu überwinden. Die Einigungsprojekte waren es erst recht nicht. Und es ist schwer vorstellbar, daß Europa als politische Einheit, das heißt seiner inneren Dynamik beraubt, die Welt nach seinem Bild hätte formen können.
Nun mag es Gründe geben, die Dinge weniger positiv zu sehen. Die beiden Kriege dieses Jahrhunderts scheinen zu zeigen, daß der Partikularismus letztlich zum Niedergang führt, und in diesem Sinn läßt sich das Urteil über die europäische Geschichte leicht sprechen. „Wo viele Staaten sind", so könnte man Machiavelli abwandeln, „ entstehen viele Kriege, und wo wenige Staaten sind, wenige." Und Machiavelli selbst hätte dem als einer Selbstverständlichkeit zugestimmt. Er hätte diese Tatsache vom menschlichen Standpunkt aus bedauert, in der historischen Sicht aber nichts Negatives daran gesehen. Wobei man freilich hinzufügen muß, daß er nicht wußte, wohin die politische Entfaltung Europas und die Technik einmal führen würden. Und das ist der entscheidende Unterschied. Europa ist kaum an seinem Partikularismus gescheitert, wenn man überhaupt von Scheitern sprechen kann. Man müßte wohl eher von einem erzwungenen Platzmachen Europas sprechen, das letzlieh daher rührt, daß Europa ins Weltweite gewachsen ist. Gerade die Ideen und Techniken, die Europa in der ganzen Welt verbreitete, machten Europas Weltherrschaft auf die Dauer unmöglich. Doch wenn wir heute vor neuen Gegebenheiten stehen, von denen Machiavelli und das ganze europäische Zeitalter nichts ahnen konnten, dann brauchen sie doch die alten europäischen Gegebenheiten, darunter den alten Partikularismus, in der Rückschau nicht zu entwerten.
Die heutige Integrationspolitik im Lichte der Geschichte
Abschließend möchte ich noch, unabhängig von den historischen Plänen, die Bedeutung der Geschichte selbst für die europäische Einigung betrachten.
Was eben über die positiven Seiten des Partikularismus gesagt wurde, ändert nichts daran, daß er dem europäischen Zeitalter angehörte und jetzt gefährlich geworden ist. Wahrscheinlich ist er nicht mehr unmittelbar lebensgefährlich wie noch vor fünfzehn Jahren, aber er ist so unheilvoll und für die Rache der weiteren Entwicklung anfällig wie jeder Anachronismus.
Der Partikularismus ist von der europäischen Geschichte, vom europäischen Wesen, das diese Geschichte bestimmte, nicht zu trennen. Die Auseinandersetzung mit ihm ist deshalb eines der dringendsten Probleme des heutigen Europa. Denn der europäischen Einigung stehen nicht so sehr Streitfragen um Zollkontingente und Getreidepreise entgegen, sondern die sechshundertjährige Geschichte Europas, und die Haltung der heute und morgen Verantwortlichen gegenüber der Geschichte wird letztlich darüber entscheiden, ob Europa fest integriert oder nur auf Widerruf koordiniert werden wird, ob wir einen europäischen Bundesstaat oder ein Europa der Vaterländer haben werden. Dies wird weitgehend von irrationalen, historisch geprägten Erwägungen mitbestimmt, und die Geschichte lehrt uns, daß Ideologien so stark sein können wie jede militärische, wirtschaftliche oder technische Notwendigkeit Der Ausgang ist also völlig offen.
Daß sich die europäische Mentalität nicht von einem Jahrzehnt auf das andere wandeln kann, ist selbstverständlich. Der Begriff der Nation ist mit so vielen Gefühlswerten beladen, mit so vielen Erinnerungen an Größe und Ruhm, daß er sich nicht einfach ignorieren läßt. Und die Verabsolutierung des Staates hat eine so große philosophische und politische Tradition, daß man sich schwer von den Vorstellungen vom Staat lösen kann, die Machiavelli, Bodin, Hobbes, Locke, Montesquieu, Rousseau und viele andere geprägt haben. Die Geschichte übt einen Druck auf uns aus, der den realen Erfordernissen mindestens die Waage hält, und er nimmt immer mehr zu, je weiter wir uns von der Nachkriegssituation entfernen.
Drei Momente brachten nach dem Zweiten Weltkrieg die Integration in Gang: die Bedrohung durch die Sowjetunion, die katastrophale wirtschaftliche Lage und der Wunsch einer Wiederaufrüstung Deutschlands vorzubeugen. Die sowjetische Bedrohung, die zur Gründung der NATO führte, überragte die beiden anderen Motive bei weitem an Bedeutung und integrierender Kraft, und sie trug dazu bei, auch die beiden anderen Probleme auf unkonventionelle Weise zu lösen — das wirtschaftliche durch die Gründung der OEEC, die die Marshallplanhilfe koordinierte, das deutsche durch die Gründung der Montanunion. Die beiden Nebenmotive sind heute hinfällig. Sie sind bereits Geschichte geworden. Die Institutionen aber wurden weiter entwik-kelt und bestehen noch.
Europa war also zur Integration geneigt, als es zum erstenmal in seiner Geschichte einer unmittelbaren und für alle sichtbaren Existenz-bedrohung gegenüberstand. Die Tatsache, daß gemeinsames Bedrohtsein gemeinsames Handeln auslöst, ist keine typisch europäische Erscheinung, sondern gehört in den Bereich der Psychologie und der Anthropologie. Der starke Antrieb, den die europäische Sache damals erhielt, braucht deshalb nicht einmal sehr ermutigend zu sein. Es war eher die ganz natürliche Folge der Augenblickssituation, daß die Vorschläge von Männern wie Jean Monnet und Robert Schuman Wirklichkeit wurden. Der Antrieb zur Einigung ließ aber sofort nach, sobald das Gefühl der Sicherheit wuchs, und im gleichen Maß machte die Geschichte ihre Rechte wieder geltend — die Geschichte in Gestalt des Partikularismus.
Das Zentralproblem, das die Geschichte uns hinterlassen hat, ist die Frage der staatlichen Souveränität Die Souveränität der Staaten entstand, wie wir gesehen haben, im Dienst der Nationalstaaten, die sich von der Autorität der abendländischen Universalgewalten lösten Sie wurde voll ausgeprägt im Dienst der absolutistischen Fürstenherrschaft und bildete die Grundlage des europäischen Staaten-systems Dabei blieb es auch, als im 18 und 19 Jahrhundert der Begriff „Volkssouveräni-tät" aufkam und die Souveränität von den Fürsten auf die Völker bzw Staaten übertragen wurde Das alte europäische Staatensystem beruhte auf der Selbständigkeit aller Einzelstaaten und auf dem Denken in Konflikten. Es benötigte die absolute Souveränität, die sich die letzte Entscheidungsbefugnis in allen den Staat betreffenden internationalen Fragen vorbehielt, als Mittel der Selbstbehauptung der Staaten bei Interessenkollisionen. Die Souveränität war deshalb auch die Grundlage des Völkerrechts, das niemals über dem Recht der Einzelstaaten stand.
Heinrich von Treitschke begründete die Souveränität in seiner Lieblingsvorlesung „Der Staat im Verkehr der Völker", die er in den Jahren 1863 bis 1894 dreiundzwanzigmal hielt, folgendermaßen: „Es kann nie eine Forderung an den Staat vernünftig sein, die ihn zum Selbstmord zwingt. Jeder Staat muß auch in der Staatengesellschaft souverän bleiben, die Wahrung der Souveränität ist seine höchste Pflicht auch im Völkerverkehr. Die festen Sätze des Völkerrechts finden wir da, wo die Souveränität nicht berührt wird, auf dem Gebiet des Zeremoniells und im internationalen Privatrecht. In ruhigen Zeiten kommen Verletzungen dieser Rechte kaum vor, und wenn es geschieht, dann werden sie augenblicklich gesühnt. Wer die Ehre eines Staates auch nur äußerlich antastet, zweifelt damit das Wesen des Staates an . . Ist seine Flagge verletzt, so ist es seine Pflicht, Genugtuung zu fordern, und wenn sie nicht erfolgt, den Krieg zu erklären, mag der Anlaß noch so kleinlich erscheinen; denn er muß unbedingt darauf halten, die Achtung, die er in der Staatengesellschaft besitzt, sich auch zu bewahren
Es folgt weiter hieraus, daß alle die Beschränkungen, welche sich die Staaten durch Verträge auferlegen, freiwillig sind, und daß alle Verträge geschlossen werden unter dem stillschweigenden Vorbehalt: Rebus sic stantibus.
Es hat keinen Staat gegeben und wird keinen Staat geben, der bei dem Abschluß eines Vertrages wirklich gewillt ist, ihn auch auf ewig zu halten Stets behält er sich vor, diesen Vertrag wieder aufzugeben, er gilt nur, solange die gegenwärtigen Zustände sich nicht gänzlich verändert haben."
Diese Haltung ließ sich in der Zeit der miteinander konkurrierenden Machtstaaten vertreten, von denen sich jeder bemühte, auf Kosten der anderen Zuwachs an Stärke, Ansehen, Territorium usw zu erlangen und andere an diesem gleichen Bemühen zu hindern, wo also ein Wettbewerb zwischen selbständigen, für sich allein existenzfähigen Mächten stattfand. Von keinem Staat war damals billigerweise zu fordern, daß er Teile seiner Souveränität hergab. Heute aber stehen die Staaten des Westens nicht mehr miteinander im Wettbewerb. Sie sind durch den Zwang der Verhältnisse ein Kollektiv geworden. Kein Staat käme auf die Idee, einem anderen irgendeine Forderung zu stellen, . die ihn zum Selbstmord zwingt" (sofern man nicht die Schädigung der nationalistischen Ideologie durch die Integration als eine Art höheren geistigen Selbstmord bezeichnet, was absurd wäre). Kein Staat hat von einem anderen westlichen Staat zu erwarten, daß er „seine Flagge verletzt“ oder „Genugtuung fordert". Dergleichen fehlt längst in unserem Vokabular. Es gibt noch „unterschiedliche Auffassungen", und man bemüht sich in Konferenzen um einen „gemeinsamen Nenner". Wird der gemeinsame Nenner nicht gefunden, so streicht man den betreffenden Punkt von der Tagesordnung und hofft auf eine günstigere Stunde. Dieser Wandel, der sich seit dem Zweiten Weltkrieg vollzogen hat, ist nicht nur eine Frage der Terminologie, sondern der Grundeinstellung in den internationalen Beziehungen.
Aber zwei Jahrzehnte einer neuen Epoche sind keine lange Zeit. Daran gemessen ist es sogar erstaunlich, wie viele Souveränitätsrechte bereits aufgegeben wurden in der Auseinandersetzung zwischen der Vernunft, die die Realitäten erwägt, und dem Nationalgefühl, das auf viele hundert erhebende Jahre zurückblickt. Denn wenn ein Europäer an die Geschichte seiner jeweiligen Nation denkt, wird ihm in irgendeinem tiefen Winkel seiner Seele der Gedanke widerstreben, er hätte sich einem Mehrheitsbeschluß seiner Partner zu fügen, weil er einen Teil seiner Rechte hergegeben hat, oder er würde eine von ihm für richtig gehaltene Politik nicht verfolgen können, weil die anderen ihn mit Mehrheitsbeschluß daran hindern. In den wirtschaftlichen und technischen Fragen wird die Einsicht in die realen Notwendigkeiten mit diesen Gefühlen meist fertig. Wenn es aber um die politische Integration geht, die das Wesen des Staates selbst betrifft, dann schiebt die Geschichte einen Riege) vor. Zwanzig Jahre nach dem Untergang des alten europäischen Staatensystems gilt im stillen immer noch der Vorbehalt: „ solange die gegenwärtigen Zustände sich nicht gänzlich verändert haben."
Obwohl also aus dem Konfliktsdenken, in dem die Politik des europäischen Zeitalters wurzelte, inzwischen ein Partnerschaftsdenken geworden ist, mochte man die Schlußfolgerungen nicht autgeben, zu denen das Konfliktsdenken kam. Staatspräsident de Gaulle sagte in seiner berühmten Pressekonferenz vom 5. September 1960: „Welches sind die Realitäten und die Eckpfeiler, auf denen man weiterbauen könnte? In Wirklichkeit sind es die Staaten. Staaten, die gewiß sehr verschieden sind, von denen jeder seine eigene Seele, seine Geschichte und seine Sprache, seine Mißgeschicke, seinen Ruhm und seinen Ehrgeiz hat, doch es sind Staaten, die jeder für sich eine Einheit bilden mit dem Recht, Gesetze zu verabschieden, und mit dem Anspruch auf Gehorsam. Es ist eine Schimäre zu glauben, man könnte etwas Wirksames schaffen und daß die Völker etwas billigen, was außerhalb oder über dem Staat stehen würde. Gewiß trifft es zu, daß, bevor man das Europa-Problem in seiner Gesamtheit behandelt hat, gewisse mehr oder weniger supranationale Einrichtungen geschaffen werden konnten. Diese Einrichtungen haben ihren technischen Wert, aber sie haben und können keine Autorität und politische Wirksamkeit besitzen. Solange nichts Ernstliches geschieht, funktionieren sie ohne viel Komplikationen, doch sobald ein dramatischer Umstand eintritt oder ein großes Problem zu lösen ist, stellt man fest, daß diese oder jene hohe Behörde auf die verschiedenen Nationen ohne Autorität ist und daß nur die Staaten über eine solche verfügen...“
Ich möchte nicht auf die lange Diskussion um Supranationalität oder Bündnis alten Stils näher eingehen, die seither im Gang ist. Die Gegenüberstellung der beiden Zitate soll nur zeigen, wie sehr wir noch mit unserer europäischen Geschichte und ihren Begriffen konfrontiert sind. Präsident de Gaulle ist zwar der exponierteste Verfechter des „historischen Europa“, wie ich es einmal nennen möchte, und er gewinnt infolge seines eigenwilligen und nicht ganz durchsichtigen Konzepts außerhalb Frankreichs nur wenig Anhängerschaft. Aber in seinem Festhalten am Staat als absoluter letzter Entscheidungsinstanz steht er keineswegs allein. Dieses Erbe der Geschichte ist in allen europäischen Ländern anzutreffen.
Damit soll nicht gesagt sein, daß diese Richtung blind für die neuen Gegebenheiten sei. Sowohl de Gaulle als auch die anderen Politiker, die ihr Beharren auf der Souveränität nicht mit visionären Ideen verbinden, ziehen die neue Lage durchaus in Rechnung. Aus ihrer Haltung spricht kein primitiver Nationalismus, über den man kein Wort zu verlieren brauchte.
Aber es ist eine vertrackte Art der Restaura-tion, deshalb vertrackt, weil sie sich nach einer Periode der Integration jetzt auf politische Wandlungen berufen kann, die angeblich ein neues politisches Konzept für Europa fordern, korrekter gesagt: das alte europäische Konzept wieder ermöglichen. Daß die Vorstellungen von der Integration, die man in den fünfziger Jahren hatte, als überholt oder mindestens modifizierbar erscheinen, wird nicht mit nationalen Ideologien, sondern mit offenkundigen Tatsachen begründet, hauptsächlich mit der wirtschaftlichen Gesundung Europas und den Aufweichungserscheinungen im Ostblock. Fast ist es denkbar, daß ein Augenblick kommt, wo das Verlangen nach politischer Integration unaktuell wird — so überholt wie die bürgerliche Revolution im euphorischen Jahr der Heiligen Allianz! Es gehört zum Wesen der Restauration, daß sie sich selbst für diejenige Richtung hält, die die Realität und die Vernunft vertritt gegenüber neuen, noch „unreifen" Kräften, deren Wirksamkeit erst die „historische Entwicklung" erweisen soll, als wäre die historische Entwicklung das Werk eines unpersönlich wirkenden Welt-geistes und nicht die Summe der Entscheidungen und Handlungen der jeweils verantwortlichen Menschen.
Nun leben wir tatsächlich nicht mehr in den Verhältnissen, die den Anstoß zur Integration gegeben haben. Die Kriegsdrohung hat inzwischen offenbar aufgehört. Das große Anliegen, das hinter fast allen früheren Einigungsplänen stand, nämlich der Wunsch nach einer funktionierenden Friedenssicherung, ist uns nach menschlichem Ermessen erfüllt worden. Das ursprüngliche Ziel der Montanunion, „daß jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich wird"
Sollte nun, nachdem die alten Motive der Einigung wegfallen, das Einigungsbestreben überhaupt zur Ideologie, zur fixen Idee geworden sein? Die unmittelbare Existenzbedrohung besteht nicht mehr, der Krieg ist unmöglich geworden, und Wirtschaftsprobleme lassen sich durch die Wirtschaftsunion lösen, wie wir trotz aller Schwierigkeiten gesehen haben.
Wozu noch weitere politische Integration, da wir uns doch offensichtlich auch ohne sie wohl befinden?
Wir müssen nüchtern genug sein, drei Dinge ohne Illusion zu begreifen:
Erstens sind wir nicht mehr im Vollbesitz der Souveränität, ganz gleichgültig, ob wir sie nun verfechten oder nicht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die nationale Souveränität etwa im gleichen Sinn zur Fiktion geworden wie im 14 Jahrhundert das Kaisertum als Universalidee Es bestand zwar offiziell bis zum Jahre 1806 ununterbrochen weiter und brachte so eindrucksvolle Gestalten wie Karl V. hervor, dessen Schicksal aber bewies, wie anachronistisch sein mittelalterlicher Anspruch auf die Weltherrschaft war. Ebenso ist jetzt in Europa die Souveränität teilweise zur Fiktion geworden, auch wenn sie offiziell noch anerkannt wird. Die wesentlichen Bestandteile der Souveränität, wie Jean Bodin sie im 16. Jahrhundert definierte, waren innenpolitisch die unbeschränkte gesetzgebende Gewalt, außenpolitisch das Recht und die Fähigkeit, eine völlig eigenständige Politik zu betreiben und ihr gegebenenfalls mit Waffengewalt Geltung zu verschaffen. Jedermann weiß, daß dieses zweite Kriterium erhebliche Einbußen erlitten hat, und das ist gerade der Umstand, der die Restauration tätig werden läßt, auch wenn natürlich niemand mehr daran denkt, souveräne Außenpolitik notfalls mit kriegerischen Mitteln tortzusetzen Die innenpolitische Souveränität ist noch leidlich intakt, soweit sie wirklich rein innenpolitische Angelegenheiten betrifft. Aber im wirtschaftlichen und im militärischen Bereich verwischen sich bereits die Grenzen von Innen-und Außenpolitik. Innerhalb der EWG sind die Staaten wirtschaftspolitisch nicht mehr voll souverän, innerhalb der NATO gilt auf militärpolitischem Gebiet das gleiche Es hat etwas Paradoxes und Rührendes, wie sehr gerade in der NATO die volle Souveränität der Mitglied-Staaten betont wird, während doch jeder bereits Dinge akzeptiert hat, die früher ein Hohn auf jeden Souveränitätsbegriff gewesen wären: Jeder Bündnispartner hat die Verfügungsgewalt über einen Teil seiner Streitkräfte abgetreten; er hat militärische Anlagen der Gemeinschaft unterstellt; er stationiert ausländische Truppen auf seinem Territorium; er ist nicht frei in der Wahl seiner Waffen. Selbstverständlich schafft dies auch Differenzen, und das Prinzip der Einstimmigkeit im NATO-Rat bewahrt einen jeden davor, Dinge hinnehmen zu müssen, die er für unerträglich halten würde. Aber jeder hat schon so viel von seinen Souveränitätsrechten hergegeben, daß der Rest nicht mehr dazu ausreicht, allein einen Krieg zu führen oder sich allein zu verteidigen. Und das Bemerkenswerteste daran ist, daß die Reste der Souveränität es mindestens den WEU-Staaten, also allen EWG-Ländern plus Großbritannien, kaum mehr gestatten, von diesen einmal getroffenen freiwilligen Vereinbarungen wieder abzugehen. Man mag in ruhigen Zeiten von einem Ausscheren aus dem Bündnis sprechen, aber sogar eventuelle souveräne Taten in dieser Hinsicht wären nur Gesten. Ein Austritt aus der NATO allein würde den betreffenden Staat zwar von seinen militärischen Bindungen an die Vereinigten Staaten lösen, aber mit dem Verlassen der NATO müßte dann auch ein Austritt aus der WEU verbunden sein, der vor 1998 nicht möglich ist, und auch die weitere Mitgliedschaft in der EWG und in der OECD wäre dann mehr als problematisch. Noch schwerwiegender als diese Komplikationen wären aber die militärischen und strategischen Konsequenzen. Jedes westeuropäische Land ist mit seinem Luftwarnsystem, mit seiner Treibstoffversorgung und mit vielem anderem so sehr auf die Mitwirkung seiner Partner angewiesen, daß eine einzelstaatliche Verteidigungspolitik unmöglich scheint. Es ist nicht mehr so, wie Treitschke meinte, daß die Hergabe von Souveränitätsrechten die Möglichkeit des Selbstmords mit sich bringt. Im Gegenteil: Gerade souveräne Akte bergen diese Gefahr. Im Verteidigungsfall gibt es für den einzelnen Staat schon allein aus strategischen Gründen keine Handlungsfreiheit mehr.
Zweitens, und das hängt mit dem eben Gesagten zusammen, hat die sowjetische Bedrohung keineswegs aufgehört. Auch wenn kein Krieg mehr stattfinden wird und die Begriffe „Verteidigung" und „Abschreckung" und nicht der Begriff „Offensive" das militärische Denken beherrschen (im Osten vermutlich ebenso wie im Westen), bleibt es das Ziel der Kommunisten, diejenige Lebensform, die wir demokratisch nennen, auszulöschen. Dies mag ohne Krieg angestrebt werden, durch „wirtschaftlichen Wettbewerb“ oder Subversion oder über die blockfreie Welt — das Ziel ist das gleiche. Keine noch so große Vision kann die Tatsache außer Kraft setzen, daß die westlichen Völker ein Kollektiv geworden sind mit dem gemeinsamen Interesse, nach ihrer Fasson leben zu können.
Drittens besteht ganz unabhängig von dieser Bedrohung rein technisch die Notwendigkeit, die noch vorhandenen Souveränitäten weiter abzubauen. Man kann nicht mit den politischen Begriffen des 18. und 19. Jahrhunderts die technischen Erfordernisse des 20. und 21. Jahrhunderts erfüllen. In einer Welt, in der viele Probleme, die das persönliche Leben jedes einzelnen betreffen, nur noch mit Computern zu bewältigen sind, versagt die Logik der Souveränität, zumal innerhalb eines Kollektivs, dessen einzelne Glieder ohnehin dermaßen voneinander abhängig sind, daß jede Eigenmächtigkeit dem Ganzen und damit auch dem Eigenmächtigen selbst schadet. Schon gegenüber den heutigen wirtschaftlichen und technischen Erfordernissen wirken die politischen Begriffe „Nation" und „Souveränität“ wie aus einem Bilderbuch vergangener Zeiten. Die Genesung Europas und die Aufweichungserscheinungen im Ostblock geben zweifellos den neuerdings oft genannten Spielraum für eine eigene europäische Politik und eigene Zukunftsvisionen, nachdem Europa bisher stark an die Politik der Vereinigten Staaten gebunden war (die logische Folge davon, daß die europäischen Staaten ihre Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg und ihren Wieder-aufstieg allein den USA verdanken). Aber es wäre fatal, wenn die nationalen Kräfte den besagten Spielraum nun für die Wiederbelebung des alten europäischen Staatensystems nützen Würden. Wenn Europa das Fundament wieder aufbaut, auf dem das europäische Zeitalter ruhte, wird das auf ihm errichtete Bauwerk ein Relikt der Geschichte sein, und wenn es noch so visionär modern wirkt. Statt eines wieder eigenständigen und mitverantwortlichen Partners der USA, wie es John F. Kennedy vorschwebte, wäre Europa ein Konglomerat aus fünfzehn oder zwanzig souveränen Staaten, die auf ihrem Spielraum für eine je eigene Außenpolitik und für Interessen-konflikte beharren. Dann bliebe den östlichen Regimen auch Spielraum für allerlei Hoffnungen, und den Völkern im kommunistischen Machtbereich wäre die Hoffnung auf eine geordnete Welt genommen.
Wir kommen zu dem Ergebnis, daß sich heute weder die nationale noch die europäische Haltung mit der Geschichte legitimieren läßt. Aber während die Berufung auf die Vorläufer der Einigungsbestrebungen zumeist eine Arabeske ist, die das politische Handeln nicht beeinflußt, birgt die Berufung auf die alte Nationenwelt und ihre Normen eine aktuelle Gefahr. Optimisten halten die Entwicklung zum wirtschaftlichen und politischen Großraum zwar gern für zwangsläufig. Aber das ist nicht nur optimistisch, sondern auch fatalistisch gedacht. Die Integration ist nicht die Folge eines geschichtlichen Gesetzes, das Unterwerfung verlang, sie ist nur eine Chance, Europa die Konsequenz aus dem Verlauf seiner Geschichte und den Erfordernissen von Gegenwart und Zukunft ziehen zu lassen. Die Geschichte selbst kann uns Lehren erteilen, aber keine Maßstäbe des Handelns mehr setzen. Während für den Marxisten-Leninisten eine Fehlleistung oder falsche Beurteilung der Gegenwart immer nur als taktische Panne gilt, die den angeblich zwangsläufigen Gang der Geschichte nicht ändern kann, glauben wir, daß die verantwortlichen Politiker die Geschicke der Zukunft in der Hand haben und sehr wohl bestimmen, ob wir künftig in einer kommunistischen oder einer freien Welt leben, und — auf europäische Verhältnisse übertragen — ob wir in einem existenzfähigen Europa leben werden, in dem jede Einbuße an nationalstaatlicher Handlungsfreiheit durch einen Gewinn an gesamteuropäischer Handlungsfähigkeit reichlich ausgewogen wird, oder in einem System aus Nationalstaaten, das den neuen Aufgaben, die die weitere Entwicklung stellen wird, immer weniger gewachsen ist. Das Festhalten an den Normen des alten Europa ist nicht mehr Bewahrung lebendiger Werte, sondern Erstarrung. Bleibt es dabei, so wird man vielleicht einmal im Verpassen dieser Chance den Beweis dafür sehen, daß die wirkliche Dynamik Europas tatsächlich erloschen war. Wenn man versucht, die alten Normen zu erhalten, ist das der beste Weg, Europa endgültig zu verlieren. Das wäre die Kapitulation vor der Geschichte.