Das für die sowjetische Wissenschaft charakteristische Prinzip der „Parteilichkeit" hat zur Folge, daß — trotz größerer Sachlichkeit und stärkerer Berücksichtigung der Quellen — in der nachstalinistischen Geschichtsforschung und -darstellung gewisse Bereiche nach wie vor dem Diktat der Partei streng unterworfen sind. Dazu gehören alle jene Abschnitte der Geschichte Rußlands und der Sowjetunion, die der Partei für ihre ideologischen und erzieherischen Manipulationen besonders wichtig erscheinen. Nachstehend soll ein solches Gebiet herausgegriffen und näher beleuchtet werden: die Interpretation des Imperialismus des zaristischen Rußland durch die sowjetischen Kommunisten. Die diesbezüglichen Wandlungen sind für die gesamte Entwicklung des Sowjetkommunismus symptomatisch. Einer genaueren Darlegung der gegenwärtigen Einstellung und der seit dem Tode Stalins stattgefundenenBeurteilungsschwankungen sei dieser Beitrag gewidmet.
Im Laufe von fünf Jahrhunderten hat sich die Fläche des russischen Imperiums um das Achtzigfache vergrößert. Während das Moskauer Fürstentum im Jahre 1425 nur 426 400 qkm bedeckte, umfaßte Rußland 1914 24 518 000 qkm. Die Bevölkerung wuchs von ca. 14 Millionen im Jahre 1725 auf 179 Millionen im Jahre 1914 an. Einige Historiker haben berechnet, daß Rußland im 18. und 19. Jahrhundert 136 Jahre lang in Annexionskriege verwickelt war: vier Kriege gegen Polen (8 Vs Jahre), sechs gegen die Türkei (11 1/2 Jahre), drei gegen Schweden (25 Jahre), fünf gegen Persien (mehr als 25 Jahre), vier Kriege gegen Mittelasien (über 30 Jahre). Die Unterwerfung des Kaukasus und die Kämpfe des zaristischen Rußland gegen kaukasische Volksstämme zogen sich ununterbrochen 64 Jahre lang hin. In diesem Zeitraum vernichteten die zaristischen Eroberungsarmeen ungezählte blühende Städte und dem Moskauer Fürstentum zahlenmäßig sowie kulturell überlegene Völker.
In der großen Diskussion über den Charakter des russischen Imperialismus und die Geschichte der zaristischen Annexionen gab nach der Oktoberrevolution die erste marxistische Historikerschule in der Sowjetunion um M. N. Pokrowskij den Ton an.
Bereits während der I. Unionskonferenz der Marxistischen Geschichtsforschung, die vom 28. 12. 1928 bis 4.
die davon betroffenen Völker bezeichnet.
Keiner der anwesenden sowjetischen Historiker, die sich zum Marxismus bekannten, wagte es, den Sowjestaat mit den Traditionen des Zarenimperiums zu verknüpfen.
Die Oktoberrevolution und das Entstehen der Sowjetunion bildeten ihrer Meinung nach vielmehr einen Wendepunkt im Verlauf der russischen Geschichte und leiteten auch in den Beziehungen zwischen den einzelnen Sowjetvölkern ein vollkommen neues Stadium ein.
Dabei betonen sie, daß „jedes Volk der UdSSR nicht erst mit dem Moment seiner Eingliederung in das Leibeigenschaftssytem des russischen Staates durch die Gewaltmaßnahmen und Annexionen der zaristischen Kolonialpolitik an diesem Prozeß teilnahm, sondern von Anbeginn seiner eigenen Geschichte" 1). Unter dem Einfluß von M. N. Pokrowskij verurteilten die marxistischen Theoretiker jegliche Versuche, die Geschichte des zaristischen Rußland als einheitlichen Prozeß hinzustellen, in dem das „Russische Volk" die entscheidende Rolle gespielt habe. Diese diene einzig dem Ziel, die Bedeutung der nichtrussisehen Völker zu ignorieren und die zaristische Koloniaipolitik zu rechtfertigen. Während der Konferenz'von 1928/29 wurde ein neues Schema für die Geschichtsdarstellung der Sowjetvölker entwickelt. Es sollte der Tatsache Rechnung tragen, daß eine Reihe von Nationen, wie die Tataren, die kaukasischen und mittelasiatischen Völker, bereits hochentwickelte Zivilisations-und Staatsformen aufwiesen, als das russische Imperium noch nicht bestand.
Lange bevor sich der „Personenkult" um Stalin in der Sowjetunion durchgesetzt hatte, bildeten sich zwischen Stalin und der Historikerschule um Pokrowskij harte Gegensätze heraus. Bereits 1925 charakterisierte Stalin in seiner Arbeit über die „Grundlagen des Leninismus“ das zaristische Rußland als „Reserve des westlichen Imperialismus“. In den dreißiger Jahren, nachdem Pokrowskij post mortem als Vertreter einer „dem Kommunismus feindlichen Geschichtskonzeption" gebrandmarkt worden war, kam Stalin in verschiedenen Arbeiten und Briefen mehrfach nachdrücklich auf diese Behauptung zurück. Den Gipfel seiner Bemühungen, das zaristische Rußland als eine „Halbkolonie" hinzustellen, bildete jedoch sein Artikel im theoretischen Parteiorgan „Bolschewik"
Der Schule Pokrowskijs, die den zaristischen Kolonialismus als „absolutes Übel" bezeichnete, setzten die der stalinistischen Auffassung folgenden Historiker der dreißiger Jahre die These vom „kleineren Übel“ entgegen. Die bekannte Geschichtsprofessorin Netschkina versuchte den russischen Kolonialismus möglichst klar von jenen positiven Prozessen abzugrenzen, die als Folge des Befreiungskampfes der nichtrussischen Völker gegen das Zarenreich entstanden. Erstmalig tauchte der Gedanke auf, daß die Gesellschaftsentwicklung, die schließlich zur Oktoberrevolution führte, doch im Schoße des zaristischen Systems gekeimt hätte. In der Endphase des Stalinismus wurde aber auch diese Theorie als falsch verworfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg. besonders in der Zeit der „Shdanowschtschina“, setzte ein chauvinistischer Standpunkt die Verbannung der Bezeichnung „Annexionen des zaristischen Rußland“ aus der sowjetischen Historiographie und die Einbürgerung des Terminus „freiwillige Vereinigung“ mit Rußland durch. Alle marxistischen Untersuchungen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre verschwanden in der Versenkung, und nicht nur die These Pokrowskijs vom „asoluten Übel", sondern auch die Theorie des „kleineren Übels" wurden als apatriotisch, kosmopolitisch, nihilistisch und deswegen dem „Marxismus-Leninismus“ feindlich abgestempelt.
Diese Kehrtwendung bedeutete eine Verdrehung der Geschichte sowohl der russischen Nation als auch der nichtrussischen Völker. Dadurch daß jede gegen den zaristischen Imperalismus gerichtete Befreiungsbewegung nun als reaktionär verdammt wurde, beraubte man die Geschichte der Sowjetvölker ihrer stark heroischen Züge. Die vom I. Historikerkongreß (1928/29) als Rudiment chauvinistischen Denkens verurteilte Wertung avancierte jetzt zur Richtschnur der sowjetischen Geschichtsschreibung. Die beschämende Situation, in welche die marxistischen Historiker durch die von Stalin vorgenommene Ausrichtung der Geschichtswissenschaft geraten waren, erklärt, weshalb gerade von ihrer Seite nach seinem Tode starke Revisionsbestrebungen ausgingen Bereits 1954 waren sich führende sowjetische Historiker darüber einig, daß die Verherrlichung einzelner Persönlichkeiten der Ver-gangenheit Rußlands mit dem Marxismus unvereinbar sei, so zum Beispiel die von Stalin betriebene Idealisierung Iwans des Schrecklichen und Peters des Großen. Auf einer 1954 tagenden Konferenz sowjetischer Historiker wurde empfohlen, dem Kult um den zaristischen Feldherrn Suworow Einhalt zu gebieten. Unter Stalin waren die sowjetischen Geschichtsfälscher soweit gegangen, Suworow, der die nationale Befreiungbewegung in Rußland und Polen vernichtet hatte, als „Demokraten und Republikaner" zu feiern. Nun warnte der russische Historiker Kotschetkow: „Die Idealisierung der Tätigkeit von A. W. Suworow führt unmittelbar zur Verherrlichung der Politik der russischen Sklavenmonarchie, deren Verteidigung sein ganzes Wirken gewidmet war."
Am Vorabend des XX. Parteitages (1956) hielt die Redaktion von Woprosy istorii. die zu diesem Zeitpunkt Sammelbecken der fortschrittlichen Historiker war, eine Leserkonferenz ab. Im Westen wurde die Bedeutung dieser Veranstaltung verkannt, die im Kampf der kommunistischen Führung, das Gesicht des XX. Parteitages vorauszuprägen, eine so wichtige Rolle spielte. Die Historiker demonstrierten hier ihre Absicht, mit dem Stalinismus in der Historiographie konsequent zu brechen. Frau A. M. Pankratowa, die unter Stalin selbst mitgeholfen hatte, die damalige Richtung festzulegen, war zusammen mit dem stellvertretenden Chefredakteur der Woprosy istorii, E. N. Burdshalow, Hauptinspirator der neuen Welle. Insbesondere wurde gegen die Verherrlichung des „Völkergefängnisses“ des zaristischen Rußlands nachdrücklich protestiert und eine wahrheitsgetreue Schilderung und Wertung der Oktoberrevolution verlangt. Eindringliche Warnungen galten einer nihilistischen Einstellung gegenüber den Vorgängen im Westen. Es sind Beweise dafür vorhanden, daß der Einfluß der fortschrittlichen Historiker auf die kommunistische Führungsspitze damals seinen Höhepunkt erreichte. Vergleicht man zum Beispiel die Ausführungen Burdshalows auf dieser Konferenz zur Fälschung der Parteigeschichte mit den Äußerungen Mikojans auf dem XX. Parteitag, so fällt die fast wortgetreue Übereinstimmung auf!
Nach dem XX. Parteitag entwickelten die Ereignisse mit jedem Tag größere Dynamik. Eine Rehabilitierung der Schule um N. M. Pokrowskij konnte nicht länger hinausgezögert werden. Besonders markant war der Umstand, daß sich eine starke Gruppe russischer Historiker der chauvinistischen Deutung der russischen Geschichte ablehnend verhielt. Die Situation spitzte sich vor allem in den Unionsrepubliken zu, in denen führende Parteifunktionäre die Rehabilitierung der nationalen Befreiungsbewegungen in wachsendem Maße unterstützten. Auf einer Tagung der Intelligenz Usbekistans erklärte der inzwischen abgesetzte Spitzenfunktionär der KPdSU, der Usbeke N. A. Muchitdinow: „Die Historiker, die den Ereignissen der zweiten Hälfte des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Charakter einer nationalen Befreiung abzusprechen suchen, sollen nicht vergessen, daß die gesamte Geschichte der Völker Asiens vom Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit erfüllt ist."
Im Kaukasusraum kam dem Sturz und der späteren Erschießung (1956) des Günstlings Stalins, des Aserbeidschaners Bagirow besondere Bedeutung zu. Stalin hatte ihn als geeigneten Mann ausgewählt, um der These vom „fortschrittlichen Charakter* der Vereinigung des Kaukasus mit Rußland Gehör zu verschaffen
Vor diesem Hintergrund ging ein Teil der sowjetischen Parteibürokratie im Verein mit den Chauvinisten zur Offensive über. Im März 1957 fühlte sich das ZK der KPdSU bemüßigt, die Historiker an die Kandare zu nehmen. Ein Sonderbeschluß des ZK befaßte sich mit der Zeitschrift Woprosy istorii, Frau Pankratowa wurde ein Verweis erteilt und ihr Stellvertreter Burdshalow aus der Redaktion entfernt und mundtot gemadt. In allen Republiken wurden unter den Parteifunktionären bzw. unter der nationalen Intelligenz Säuberungen eingeleitet, denen aufs neue „bürgerlicher Nationalismus" vorgeworfen wurde. Die sowjetische Bürokratie geriet in eine Zwickmühle, mußte sie doch zwischen der marxistisch-leninistischen Schule um Pokrowskij mit ihrer Verurteilung des russischen Kolonialismus und der Annexionen und der These Stalins über den „fortschrittlichen Charakter" des russischen Kolonialismus und den von ihm geprägten Denkkategorien einer ganzen sowjetischen Generation andererseits wählen. Anstelle einer eindeutigen Entscheidung für eine der beiden Aternativen schlug die Parteibürokratie einen „Mittelweg" ein, der es ihr ermöglichen sollte, sich zwar von der chauvinistischen Ungerechtigkeit der Stalinzeit zu distanzieren, gleichzeitig aber auch die These von der Fortschrittlichkeit der Vereinigung der nichtrussischen Völker mit dem zaristischen Rußland hinüberzuretten. Ein zusammenfassender Überblick über die Maßnahmen, die diesem Ziel dienen sollten, gibt einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Chruschtschow-Ära in die Hand.
„Wissenschaftliche“ Untermauerung der „patriotischen“ Haltung der Partei
Auf Ereignisse in Mittelasien reagiert Moskau traditionsgemäß besonders empfindlich. Es ist deswegen kein Zufall, daß die Partei diesen Raum zur ideologischen „Rückgratstärkung" und Klärung der Parteilinie in der Frage der zaristischen Annexionen auswählte. Vom 7. bis 11. Mai 1957 fand in Alma-Ata, der Hauptstadt Kasachstans, eine wissenschaftliche Konferenz statt, die sich ausschließlich mit Geschichtsfragen Sowjet-Mittelasiens und -Kasachstans befaßte. Ihre Aufgabe bestand darin, zu zeigen, daß sich einerseits die Geschichtsschreibung über Sowjet-Asien von der Fessel des Personenkults um Stalin befreit habe, zum anderen aber die generelle Linie dieser Entwicklung nicht in Widerspruch zum „Marxismus-Leninismus" stehe. Aus dem über die großangelegte Veranstaltung veröffentlichten Material läßt sich ein eindeutiges Bild gewinnen, was die Partei zu dieser Zeit von den Historikern hinsichtlich der mittelasiatischen Probleme verlangte. Heute würden die Parteiführer wahrscheinlich selbst zugeben, daß die Methoden, derer sie sich gegenüber den fortschrittlich eingestellten Historikern bedienten, primitiv waren und eine plumpe Verherrlichung des Stalinismus bezweckten. Ausgelöst wurde dieses Verhalten vor allem, weil die Veranstaltung in Alma-Ata in Wirklichkeit ganz im Schatten der ersten sowjetischen Historikerschule um Pokrowskij stand. Alle ihre wissenschaftlichen Werke der zwanziger Jahre quollen geradezu von Beweisen über, daß der russische Kolonialismus für die asiatischen Völker verheerende Folgen zeigte. Die Situation war 1957 für die Parteibürokratie auch deswegen heikel, weil die nationale Intelligenz in Mittelasien — mit offener oder geheimer Unterstützung durch einen Teil der Parteifunktionäre — die Rehabilitierung der durch den Stalinterror vernichteten Kommunistenführer der mittelasiatischen Völker (zum Beispiel Ryskulows) verlangte. Zahlreiche Gründe waren für die Liquidierung dieser Generation von Revolutionären maßgebend gewesen; den Kernpunkt ihres Konfliktes mit den Stalinisten bildeten jedoch ihre Forderungen, den Beziehungen Rußlands zu den anderen Nationen innerhalb des sozialistischen Systems die Gleichberechtigung zugrunde zu legen. G. Safarow, Gefährte Lenins und Opfer des Stalinterrors der dreißiger Jahre, schilderte die wahre Situation in Mittelasien zur Zeit der Oktoberrevolution mit folgenden Worten: „Alles was hier russisch war, lebte und war in dem Bewußtsein erzogen, daß die Urbevölkerung Turkestans keine Menschen seien, sondern Arbeitsvieh, das man schlagen, plündern und vergewaltigen sollte.“
Mit der Bilanz dieser Sitzung war die Partei anscheinend nicht zufrieden. Deshalb fand im Mai 1959 in Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, eine neuerliche Veranstaltung, dies-mal zu dem festumrissenen Thema „Der fortschrittliche Charakter der Vereinigung Mittelasiens mit Rußland“, statt. Während dieser Konferenz erzielte die chauvinistisch eingestellte Parteibürokratie einen unglaublichen Erfolg. Für Prokrowskij wurde zwar ein Lippenbekenntnis abgegeben, jedoch ihm und seiner Schule gleichzeitig vorgeworfen, „die Vereinigung der Grenzgebiete mit Rußland zu Unrecht als . absolutes Übel’ verurteilt zu haben. Esst in Arbeiten, die zwischen 1945 und 1950 in der Sowjetunion erschienen, lan-den einige Aspekte der Vereinigung Turkestans mit Rußland ihre richtige Wertung.“
Der Taschkenter Sitzung eignete nicht Wissenschaftlichkeit, sondern sie war eine politische Manifestation, die der führende sowjetische Historiker E. M. Shukow so charakterisierte:
„Die Session lief unter dem Banner des sozialistischen Internationalismus und sowjetischen Patriotismus. Sie war eine leuchtende Demonstration der lebendigen Kraft der Freundschaft der Sowjetvölker, des Sieges der Leninschen Nationalitätenpolitik."
Die Taschkenter Konferenz machte die Strategie der Parteifunktionäre und ihrer Sprecher unter den sowjetischen Historikern deutlich.
Der Kolonialismus des zaristischen Rußland und seine vernichtenden Folgen für verschiedene mittelasiatische Völker wurden auf sonderbare Weise in rosigem Licht dargestellt:
So schlimm die Vergangenheit auch gewesen sein mag, so ist das heutige Aufblühen der „sozialistischen Nationen" in Sowjet-Asien der beste Beweis für die progressive Bedeutung der zaristischen Annexionen. Die marxistischen Historiker der zwanziger Jahre in Rußland betrachteten die Oktober-Revolution und die Vernichtung der Selbstherrschaft der Zaren als Stichtag einer neuen Phase in der Entwicklung dieser Völker. Auch die Kommunisten halten in der Chruschtschow-Ära daran fest, die Eroberungen des zaristischen Rußland als den Beginn eines sich bis heute kontinuierlich fortsetzenden historischen Prozesses zu werten.
Die Erklärungen der Taschkenter Konferenz klangen sehr zuversichtlich und erweckten den Anschein, als hätte die Partei auf einmal den ganzen Problemkomplex gelöst. Jedoch zeigte bereits die Entwicklung der nächsten Monate, daß die Dinge in Wirklichkeit völlig anders lagen. In der Sowjetunion, besonders in den Republiken, kam die Diskussion über den Charakter und die historische Rolle des zaristischen Imperiums nicht zum Stillstand. Unter den Historikern wie auch unter den Vertretern der nationalen Intelligenz kristallisierten sich in dieser Frage verschiedene Fronten heraus. Als erfreulich ist festzustellen, daß sich den antichauvinistischen Stimmen auch mehrere russische Historiker und Wissenschaftler gesellten. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung wie auch im Verfolg gewisser strategischer Winkelzüge, hauptsächlich in Zusammenhang mit der Zuspitzung des Konfliktes zwischen Moskau und Peking, entschloß sich i e Partei zu einer weitgesteckteren Rehabilitierung von Pokrowskij und seiner Schule. Während des XXII. Parteitages der KPdSU äußerte sich der damalige Leiter der ZK-Abteilung für Propaganda und Agitation, Iljitschew, zu dieser Frage eindeutig: „Hat die Leninsche Einschätzung irgend etwas mit den schweren Beschuldigungen gemein, die in der Zeit des Personenkults gegen M. N. Pokrowskij erhoben wurden? Man hat ihn bekanntlich zum Haupt der antimarxistischen Schule in der Geschichtswissenschaft gestempelt und alle seine Werke als Äußerung der vulgären Soziologie, des Ökonomistischen Materialismus und der bürgerlichen Geschichtsschreibung verdammt."
Von einer echten, vorbehaltlosen Rehabilitierung Pokrowskijs konnte jedoch keine Rede sein. Die vom Verlag „Mysl" angekündigte vierbändige Herausgabe seiner Werke stellte zwar — nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch politischer Hinsicht — ein großes Ereignis dar, das in seiner Bedeutung jedoch durch den gleichzeitigen Hinweis der partei-treuen Historiker eingeschränkt wurde, daß alle Arbeiten einer entsprechenden Kommentierung bedürfen. Immerhin bedeuteten diese Ereignisse um Pokrowskij in der Sowjetunion eine große Unterstützung der fortschrittlichen, antichauvinistischen Kreise und vermittelten der Diskussion über den Charakter der Kolonialpolitik des zaristischen Rußland neue Impulse. Der Taschkenter Konferenz folgten weitere Veranstaltungen. Unter der Sachlichkeit Aspekt war eine Redaktionskonferenz der Woprosy istorii, die im zweiten Halbjahr 1963 stattfand, am bedeutsamsten. Das Hauptreferat zum Thema „Die Leninsche Konzeption der Kolonialpolitik des Zarismus" hielt der wissenschaftliche Mitarbeiter des Institutes für Geschichte. Archäologie und Ethnographie bei der Akademie der Wissenschaften der Kasachischen SSR, P. G. Galuso. Er stützte sich in erster Linie auf Dokumente Lenins und Daten der ökonomischen Entwicklung in Mittelasien zur Zeit des Zarismus. Als Ergebnis seiner Untersuchung kam die These zustande, daß „in Zusammenhang mit der reaktionären Politik des Zarismus der objektive Gang der Wirtschaftsentwicklung der Rußland angegliederten nationalen Territorien nicht eine stufenweise fortschrittliche Entwicklung der Kolonien hervorgerufen hat ... Der Zarismus versklavte die Völker nicht nur politisch, sondern ökonomisch, der . kapitalistische'Imperialismus bremste die ökonomische Entwicklung der Kolonien, konservierte bei ihnen die Feudalverhältnisse."
Die durch den Vortrag Gaiusos ausgelöste Diskussion macht deutlich, gegen welche Schwierigkeiten eine wahrhaft wissenschaftliche Untersuchung der Politik des zaristischen Rußland zu kämpfen hat. Der russische Historiker A. A. Fadejew erklärte zum Beispiel, daß eine Betrachtung der historischen Ereignisse unter Berücksichtigung des Wirkens der zaristischen Kolonisatoren die Vereinigung eindeutig als Annexion und Versklavung entlarve. „Aber eine solche einseitige Haltung bei der Entscheidung dieser Frage müßte zur Bestätigung der uns feindlichen nationalistischen Konzeption in der Geschichtswissenschaft führen . .. Die objektiv fortschrittlichen Folgen der Vereinigung Rußlands zu verschweigen, ist nicht minder schädlich als die Vertuschung des räuberischen Charakters des russischen Imperialismus."
Jahrestag der zaristischen Annexion — Anlaß zu kommunistischen Großfeierlichkeiten
Der chauvinistische Kurs der Partei beschränkt sich nicht allein auf die entsprechenden Abschnitte der Geschichtsschreibung, sondern drückt sich auch in einer Reihe praktischer Maßnahmen aus und prägt in Wirklichkeit die gesamte sowjetische Nationalitätenpolitik.
Jeder Jahrestag zaristischer Eroberungen wird von den Kommunisten zum Anlaß großer Feierlichkeiten genommen. Nicht ohne Ironie ist festzustellen, daß — wie die vorhandene Dokumentation beweist — die „freiwilligen Vereinigungen" der Völker mit dem zaristischen Rußland mit weit größerem Aufwand gefeiert werden als zum Beispiel die Jubiläen der Errichtung der Sowjetmacht in dieser oder jener Republik. Aus der langen Liste solcher Feierlichkeiten ragen folgende als besonders markant hervor:
Mai 1954 300jährige Annexion der Ukraine Juni/Juli 1957 400jährige Annexion der Kabardiner Juli 1957 400jährige Annexion Baschkiriens September 1957 400jährige Annexion der Karatschajer und Tscherkessen Oktober 1957 320jährige Annexion Jakutiens Juni 1958 400jährige Annexion Udmurtiens Juli 1959 300jährige Annexion der Burjaten August 1959 350jährige Annexion der Kalmücken Oktober 1963 100jährige Annexion Kirgisiens Mai 1964 150jährige Annexion Aserbeidschans Allen diesen Feierlichkeiten lag ein bestimmtes Ritual zugrunde. Gewöhnlich veröffentlichten die Parteiorgane der jeweiligen Republiken eine prinzipielle Erklärung, in der, nach Punkten geordnet, die Bedeutung der „freiwilligen Vereinigung" hervorgehoben wird. Nur am Rande werden die nationale Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung der nichtrussischen Völker durch das zaristische Imperium erwähnt. Die geschichtlichen Tatsachen werden skrupellos verdreht, der Befreiungskampf der Völker gegen das zaristische Rußland entweder verschwiegen oder als „reaktionär" abgetan. Am Vorabend der Feiertage brachten die Lokalzeitungen eine gemeinsame Grußbotschaft des ZK der KPdSU, des Ministerrates, des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR an das jeweilige Volk. Am Jahrestag der „Vereinigung" selbst wurden in den Republiken beziehungsweise Autonomen Republiken Jubiläumssessionen des Obersten Sowjet abgehalten, an denen prominente Vertreter des Präsidiums des ZK der KPdSU und Delegationen aus anderen Republiken und Autonomen Republiken teilnahmen. Während der Feierlichkeiten hielten örtliche Parteifunktionäre Reden, in denen sie das „großrussische Volk" priesen und ihm Dank sagten, daß es vor soundsoviel hundert Jahren die Existenz ihres Volkes gerettet habe. Selbstverständlich fiel kein Wort über „Annexion" und wurde nur von „freiwilliger Vereinigung“ gesprochen.
Es scheint unerläßlich, an die Position der Sowjetkommunisten der zwanziger Jahre in der Frage dieser „freiwilligen Vereinigung“ zu erinnern, um deutlich zu machen, welche qualitativen Veränderungen in der Führungsschicht der Sowjetunion in der Stalin-Ära stattgefunden haben und wieweit die Denkkategorien aus dieser Zeit immer noch die Mentalität der gegenwärtigen sowjetischen Parteibürokratie beherrschen. Aus technischen Gründen wird im folgenden nur auf einige Fälle näher eingegangen, und es werden nicht spezifische Einzeldarstellungen, sondern populäre Nachschlagewerke der zwanziger Jahre als Material herangezogen.
Zu Beginn soll ein Blick auf die Interpretation der Geschichte Sibiriens und einiger Volksgruppen der Russischen SFSR geworfen werden. Die dortigen Ereignisse sind besonders wichtig, da die Diskussion über ihre Vergangenheit für die gegenwärtige Position dieser Völker viel bedeutsamer ist als im Fall der Unionsrepubliken, die den Russifizierungsmaßnahmen heftigen Widerstand entgegensetzen. Das beweist zum Beispiel die Durchführung der Schulreform von 1958, gemäß der unter anderem die Wahl der Unterrichtssprache der „Entscheidung der Eltern" überlassen wurde. Während es in den Unionsrepubliken den republikanischen Behörden mit wenigen Ausnahmen (zum Beispiel Belorußland) gelang, die Position der nationalen Sprache in der Schule weitgehend zu behaupten, ist die Situation in den Autonomen Republiken der RSFSR eine völlig andere. Nur ein verschwindender Prozentsatz der sogenannten nationalen Schulen bedient sich der Nationalsprache als Unterrichtssprache. In den höheren Schulen erfolgte der fast ausschließliche Übergang zum Russischen. Die Muttersprache blieb lediglich Wahlfach. Deswegen kann an der Wirksamkeit der Manipulationen der chauvinistischen Parteibürokratie, bei den Völkern der Russischen Föderation Geschichtsklitterung vorzunehmen, kein Zweifel bestehen Die Sibirische Filiale der Akademie der Wissensdiallen der UdSSR in Nowosibirsk arbeitet intensiv an der Herausgabe einer „Geschichte Sibiriens". Aus einigen Publikationen der sowjetischen Fachliteratur geht deutlich hervor, nach welchen Richtlinien die Vorbereitungen zu dieser Arbeit verlaufen
In den Nachschlagewerken, die noch vor dem endgültigen Sieg des Stalinismus in der Sowjetunion erschienen, behandelten die Historiker die Befreiungskämpfe der sibirischen Völker. Aus diesen Berichten geht hervor, daß im 18. und teilweise auch im
In den zwanziger und dreißiger Jahren erlaubte sich kein sowjetischer Historiker, von einem „freiwilligen Anschluß" Baschkiriens zu sprechen. Die Eroberung dieses Gebietes war in Zusammenhang mit der Zerschlagung des Khanats Kasan, das nach dem Zerfall der Goldenen Horde im 15. Jahrhundert im Siedlungsraum der Wolgabulgaren entstanden war, erfolgt. Russische Historiker der Pokrowskij-Schule berichteten von einem hohen Niveau von Landwirtschaft und Handel des Khanats. Obwohl es sich um einen typischen Feudalstaat handelte, wiesen sie darauf hin, daß auch Zivilisation und Kultur im Khanat Kasan ohne Zweifel höher entwickelt waren als im damaligen Moskauer Fürstentum. So ist in einem sowjetischen Nachschlagewerk der zwanziger Jahre zu lesen: „Die relativ hohe Kultur des Khanats Kasan hat auf den Moskauer Staat Einfluß ausgeübt.“ Das Motiv für Moskau, Kasan zu zerschlagen, bildete, wie in dieser Quelle genau definiert wird, „der dringende Bedarf der russischen adeligen Großgrundbesitzer an Boden, und ihr Bestreben, sich der Wolga zu bemächtigen." Die Zerschlagung Kasans war von der „grausamen Abrechnung" der Russen mit den Tataren und anderen nationalen Minderheiten begleitet
Sowjetische Historiker der zwanziger Jahre würdigten in ihren Untersuchungen die Aufstände der baschkirischen Bevölkerung gegen die zaristische Selbstherrschaft als Befreiungskampf und sahen hierin eine traditionelle Verbundenheit mit dem Sowjetstaat und der Geschichte der Völker der Sowjetunion. Gegenstand zahlreicher Studien war vor allem der Aufstand der Baschkiren von 1705— 1709. Vergleicht man dieses Material mit der späteren These von der „freiwilligen Vereinigung" Baschkiriens mit Rußland, so muß man über die Unverfrorenheit der gegenwärtigen sowjetischen Historiker staunen. Aus den veröffentlichten Materialien geht hervor, daß Zar Peter I.den zur Unterdrückung des Aufstandes beorderten Einheiten befohlen hatte, Hab und Gut der Bewohner zu requirieren und als ihr Eigentum zu betrachten und die Bevölkerung zu vernichten. Diesem Befehl kamen 30 000 zaristische Soldaten unter dem Kommando von General Bachmetjew nach. Sie brannten die Dörfer der Baschkiren, Syrjanen, Botjaken, Tschuwaschen und Tataren nieder, beschlagnahmten die Viehbestände und „mordeten Männer und Frauen drei Jahre lang.“
1957 wurde während der erwähnten wissenschaftlichen Konferenz in Ufa debattiert, ob die Befreiungskämpfe Baschkiriens im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als fortschrittlich zu bezeichnen seien. Eine Gruppe sowjetischer Historiker versuchte unter Verdrehung der Tatsachen zu beweisen, daß es sich nicht um Massenaufstände der „Inorod-zen“, sondern um den reaktionären Kampf feudaler Cliquen gehandelt habe. N. W. Ustjugow, Kandidat der Geschichtswissenschaft, behauptete zum Beispiel, daß die baschkirischen Bauern nur unter dem Druck des von den Feudalherren ausgeübten Terrors gegen die Russen gekämpft hätten. Die nichtbaschkirische Bevölkerung habe sich an den Aufständen nicht beteiligt. Den Höhepunkt des Zynismus stellt die Huldigung des erwähnten Wissenschaftlers an jene Baschkiren dar, die angeblich das „reaktionäre Wesen“ der Politik der Feudalen erkannt und sich gegen die Aufständischen gestellt hätten. Eine solche Darstellung bildet aber noch keineswegs den Gipfel der chauvinistischen Auswüchse, welche die Haltung jener Gruppe parteitreuer Historiker zeigte. Bei den Feierlichkeiten anläßlich der 400jährigen Vereinigung Baschkiriens mit Rußland wurden nicht etwa die Baschkiren gewürdigt, die für die Befreiung gekämpft hatten, sondern vielmehr jene, die vom zaristischen Regime gezwungen worden waren, in der zaristischen Armee zu dienen und sich an den kolonialen Eroberungszügen im 17. Jahrhundert zu beteiligen. Während der wissenschaftlichen Session in Ufa pries der Historiker A. N. Usmanow die „patriotischen Taten" der in der zaristischen Armee dienenden baschkirischen Soldaten. Eine Version, welche die marxistischen Historiker der zwanziger Jahre, hätten sie sie vernehmen können, in Schrecken versetzt haben müßte. Seinen ganzen Bericht widmete der Karrierist Usmanow den militärischen Verdiensten der Baschkiren „bei der Verteidigung der Südwestgrenzen des russischen Staates im 16. — 19. Jahrhundert, der Beteiligung der baschkirischen irregulären Einheiten an den Kampfhandlungen der russischen Armee gegen die Intervention zu Beginn des 17. Jahrhunderts, an den Feldzügen auf der Krim und nach Asow im 17. Jahrhundert, am Nordischen und Siebenjährigen Krieg des 18. Jahrhunderts und am Vaterländischen Krieg von 1812.“ 23)
Ein anderer russischer Historiker, W. A. Rybakow, vertrat die These, daß man e
Ein anderer russischer Historiker, W. A. Rybakow, vertrat die These, daß man eine Bewegung nicht blindlings als fortschrittlich bezeichnen könne, nur weil sie gegen den Zarismus gerichtet war. Darin stimmte er völlig mit der Forderung der chauvinistisch denkenden Parteibürokratie und jenes Teils der sowjetischen Historiker überein, die zu ihrem blinden Werkzeug geworden waren, daß die Bewertung einer gegen das zaristische Rußland gerichteten Befreiungsbewegung als „fortschrittlich" oder „reaktionär" in erster Linie durch ihren „antifeudalen“
Inhalt bestimmt werde. Diese These, die nicht nur für die marxistische, sondern für jede wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung untragbar ist, versuchte die sowjetische Parteibürokratie der Untersuchung der Befreiungskämpfe in der Ukraine, im Kaukasus und besonders in Mittelasien zugrunde zu legen. Nur aus Respekt vor den politischen Gegebenheiten vermeiden die sowjetischen Historiker heute, diese Methode auch in bezug auf den Befreiungskampf Polens, Rumäniens und 24) des Baltikums anzuwenden. Während der Stalinzeit scheute man selbst davor nicht zurück. Ein weiteres Beispiel für derartige Praktiken bildet Jakutien. Im Oktober 1957 wurde die 320jährige „freiwillige Vereinigung" dieses Gebietes mit Rußland feierlich begangen. Sowjetische Nachschlagwerke der zwanziger Jahre enthalten detaillierte Informationen, wie sich der Zusammenschluß seinerzeit abgespielt hat. Jakutien reizte das zaristische Rußland als Hauptlieferant wertvoller Rauchwaren. Als es im 17. Jahrhundert von zaristischen Kosakeneinheiten besetzt wurde, bauten sie ein kompliziertes Ausbeutungssystem auf, um vor al-lem mit Hilfe des Umtausches gegen wertlose Gegenstände und der Ausbreitung des Alkoholismus unter der Bevölkerung in den Besitz der Pelze zu gelangen. „Die koloniale Ausplünderung war sowohl von Seiten der Wojewoden wie der Kosaken von bestialischen Grausamkeiten begleitet. Neben Mord und Vergewaltigung praktizierten die Eroberer die Sklaverei, und die Stadt Jakutsk war noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Zentrum des Sklavenhandels für ganz Sibirien." 25) Die gleiche Quelle berichtet, ebenso wie viele wissenschaftliche Studien über Jakutien, daß die Kolonialpolitik und nationale Unterdrückung seitens des zaristischen Rußland zahlreiche Aufstände der jakutischen Bevölkerung verursachte, die mit brutalen Mitteln niedergeworfen wurden. Von 1634 bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts haben mehrere solcher Aufstände stattgefunden, und erst danach konnte Moskau in Jakutien festen Fuß fassen.
Es ist erwiesen, daß der Chauvinismus eines Teils der Historiker von der forschrittlich denkenden sowjetischen Intelligenz mit Abscheu betrachtet wird. Beweise liegen vor, daß nach 1957 Versuche unternommen wurden, die Angliederungen den historischen Tatsachen ent-sprechend darzustellen. In einer literarischen Zeitschrift schrieb zum Beispiel der bekannte armenische Literaturkritiker Petrosjan folgendes: „Die jakutischen Schriftsteller sollen ihre Vorstellung vom großrussischen Volk, von den scheußlichen kolonisatorischen Plänen Stolypins trennen, die dahin zielten, die Jakuten in die Sphäre des ewigen Eises zurüdezudrängen und ihren Boden für zwei Millionen Umsiedler aus Zentralrußland freizumachen.“
Was sich in dieser Hinsicht bezüglich der Republiken in der letzten Zeit abgespielt hat, soll am Beispiel der Kirgisischen SSR erläutert werden, deren 100jährige „freiwillige Vereinigung" mit Rußland 1963 in Frunse mit großem Pomp begangen wurde. Ein Vergleich zwischen einem Dokument des Jahres 1936 und einem von 1963 vermag besser als jeder Kommentar den Vormarsch des Chauvinismus zu illustrieren.
Anno 1936 „Die Kolonisation Kirgisiens durch das Zarenreich begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Kolonisierungspolitik des zaristischen Rußland führte zur Verarmung und zum Aussterben der kirgisischen Bevölkerung, deren Zahl sich innerhalb von zehn Jahren (1903— 1913) um 7— 10 °/o verringerte. Die Kirgisen wurden in die kahlen Gebiete zurückgedrängt . . Die Kolonisationspolitik der russischen Selbstherrschaft bremste auf Jahre hinaus die Entwicklung der Produktivkräfte . .. Sie rief maßlose Unzufriedenheit und eine Reihe von Erhebungen des kirgisischen Volkes hervor So entflammte am 18 5. 1898 im Ujesd Andishan ein Aufstand gegen das russische Zarenreich. 1916, während des imperialistischen Krieges, erhob sich ein Aufstand, der große Ausmaße annahm und den Charakter einer nationalen Befreiungsbewegung des kirgisischen Volkes gegen den Zarismus trug Für die Unterdrückung des Aufstandes wurden einige Regimenter Infanterie, Artillerie, Pioniere usw beordert General Kuropatkin gab den Befehl: . Nicht mit Patronen sparens'Infolge der Unterdrückung des Aufstandes verringerte sich die kirgisische Bevölkerung um 30— 40 °/o, während die Viehverluste 60— 70 0/o betrugen. Ein Teil der Aufständischen wurde vernichtet, die übrigen flohen nach China."
Anno 1963: „Der freiwillige Anschluß Kirgisiens an Rußland war vom Gang der geschichtlichen Entwicklung vorbereitet und drückte die früheren flammenden Bestrebungen des kirgisischen Volkes um die Freundschaft mit dem großen russischen Volk aus ...
Was war Kirgisien vor 100 Jahren? Ein wildes Land, in dem ein feudales Stammessystem herrschte . . . Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden auf kirgisischem Territorium die ersten Bauernhöfe russischer Umsiedler, unter deren Einfluß die Kirgisen den Ackerbau zu erweitern und zur Seßhaftigkeit überzugehen begannen. Es setzte die Entwicklung der Industrie ein. Man kann sich leicht vorstellen, was heute mit Kirgisien geschehen würde, wenn es nicht unter dem hoffnungsvollen Schutz des starken russischen Staates stünde.“ ’
Ein weiteres Beispiel stellt die 150jährige Vereinigung Aserbeidschans mit dem zaristischen Rußland dar, die als ein historisches Ereignis von großer Bedeutung kürzlich gefeiert wurde und in die Gesamtkonzeption von der fortschrittlichen Bedeutung des russischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts paßt. Kein einziges Dokument über diese Feier und keine einzige Rede erwähnte die Kriege, die das zaristische Rußland gegen den Kaukasus geführt hat und die schließlich zum Anschluß Aserbeidschans an Rußland führten. In den Nachschlagwerken aus der vor-stalinistischen Zeit war der Vormarsch des zaristischen Rußland in Richtung des Kaukasus genau geschildert worden: „Die gesamte Geschichte der Unterwerfung und . Befriedung'des Kaukasus ist die Geschichte kolonialer Ausraubung, von Grausamkeiten, Mord und Zugrunderichtung der kaukasischen Bevölkerung." Als das zaristische Rußland den Kaukasus eroberte, „wurden ganze kaukasische Stämme nach Sibirien ausgesiedelt oder gezwungen, in die Türkei auszuwandern. Der von ihnen konfiszierte Boden wurde an Kosaken, russische Adelige, Generäle und Offiziere, die an der Unterwerfung des Kaukasus teilgenommen hatten, vergeben. Die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorgenommene . Befreiung der Bauern im Kaukasus kam einer vollständigen Beraubung gleich. Eine Reihe feudaler Verpflichtungen, die ein Überbleibsel des Leibeigenschaftssystems waren, belastete die Bauern schwer." Sie erhielten sehr wenig Boden zugeteilt, durchschnittlich ca. 11/2 ha je Hof. Nach der Beendigung der Kriege war in den sechziger Jahren ein stän-diger Zustrom russischer und ukrainischer Landbevölkerung in den Kaukasus festzustellen
Ähnlich gegensätzliche Beurteilungen wurden in bezug auf die Geschichte der Ukraine geäußert. Als 1954 das 300jährige Jubiläum ihrer Vereinigung mit Rußland gefeiert wurde, standen diese pompösen Veranstaltungen nicht nur unter der Parole „Vereinigung für ewige Zeiten", sondern wurden auch zum Anlaß genommen, hervorzuheben, daß die Vereinigung die Substanz des ukrainischen Volkes gerettet habe. Diese Behauptung weicht vollkommen von den Anschauungen der sowjetischen, darunter auch russischen Historiker der ersten nachrevolutionären Schule ab. In einem Nachschlagwerk dieser Zeit ist zum Beispiel folgendes zu lesen: „Die großstaatliche chauvinistische Historiographie betrachtet den . Anschluß" der Ukraine an Rußland im Jahre 1654 als . Vereinigung" von zwei Teilen einheitlicher . russischer" Nationalität (W. P. Kljutschewskij u. a.) und verneinte die Selbständigkeit des historischen Entwicklungsprozesses der Ukraine. Im Grunde genommen war der . Anschluß'der Ukraine das Resultat des Verrates der Interessen der ukrainischen Volksmassen durch die kosakische Oberschicht, die aus persönlicher Berechnung eine Vereinigung mit Moskau einging: mit seiner Hilfe wurden in der Ukraine die bereits durch die Revolution von 1648— 54 annullierten Leibeigenschattsverhältnisse wiederhergestellt, die lür die kosakische Großgrundbesitzerschicht bei ihrem großen Bedarf an Arbeitskräften sehr vorteilhaft waren."
Was die baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland anbelangt, so lassen die sowjetischen Parteimanager und ihre Helfershelfer auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft hier große Vorsicht walten. Die „Vereinigung" dieser Völker mit dem zaristischen Rußland als kommunistische Feiertage zu begehen, wird wohlweislich unterlassen. Es wäre jedoch irrig anzunehmen, daß die Bemühungen der Partei davor Halt machten, auch die Geschichte dieser Nationen in den Rahmen der These vom „fortschrittlichen Charakter“ der Annexionen des zaristischen Rußland einzupassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im baltischen Raum noch unter Stalin mehrere pseudowissenschaftliche Konferenzen organisiert, die den Beweis erbringen sollten, daß diese Länder von der Annexion durch Ruß-land nur profitiert hätten. Eine derartige Sitzung befaßte sich im November 1951 in Riga (Lettland) mit der Geschichte des Feudalismus im Baltikum. Eine ähnliche Konferenz im März 1953 stand im Zeichen der Untersuchung der kapitalistischen Periode. Von allen Veranstaltungen dieser Art bewies — wie die vorhandene Dokumentation ergibt — eine Konferenz, die 1954 abgehalten wurde, am meisten Sachlichkeit bei der Beurteilung der historischen Ereignisse. Sie fand in der kurzen Periode nach Stalins Tod statt, in der vieles noch im Fließen war und in der Sowjetunion auch unter den russischen Kommunisten starke Kräfte entschieden die Beseitigung des Stalinismus und Chauvinismus forderten. Unter der Parole „Zurück zu den Leninschen Prinzipien" wurden heftige Angriffe gegen Chauvinismus und großstaatlichen Patriotismus geführt und die stereotype Betonung des „segensreichen Einflusses des zaristischen Rußland" auf die Völker des Baltikums aufgegeben. In diesem Sinne ist der baltische Raum bis heute in größerem Ausmaß als die übrigen Teile der Sowjetunion vom massiven Druck der Chauvinisten verschont geblieben.
Konflikt mit Peking hemmt chauvinistische Ausrichtung
In den letzten Monaten zeichneten sich in der Sowjetunion gewisse Tendenzen ab, den im 20. Jahrhundert beschämenden chauvinistischen Kurs abzumildern. Allerdings sind die Gründe dafür außerhalb der Sowjetunion zu suchen. Die Partei lockert ihre Allianz mit dem Chauvinismus unter dem Druck der Ereignisse innerhalb des Weltkommunismus. So griff der Konflikt zwischen Moskau und Peking bereits 1963 auf neue Gebiete über, die mit der Geschichte des zaristischen Imperiums in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Zwischen sowjetischen und chinesischen Kommunisten entspann sich eine scharfe Polemik bezüglich der beiderseitigen Nationalitätenpolitik, wozu der Unionskongreß sowjetischer Soziologen in Frunse Ende 1963 unmittelbaren Anlaß gegeben hatte. Die Explosivität des ganzen Fragenkomplexes wurde erhöht, indem die Chinesen ihre Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen sowjetisch-chinesischen Grenzverlauf zu verstehen gaben. Die sowjetische Seite legte der chinesischen die sich ständig häufenden, teilweise sehr ernst zu nehmenden Grenzzwischenfälle zur Last. Erst 1963 wurde bekannt, daß die sowjetisch-chinesische Grenze von Peking gleich nach dem Tode Stalins zum Gegenstand interner Gespräche mit Moskau gemacht worden war. Ein 1954 in Peking erschienenes Lehrbuch hatte unter dem Titel „Imperialistische Eroberungen von 1840— 1919" die „neunzehn Verluste'an chinesischem Territorium kartographisch dargestellt und als echte und gerechtfertigte Grenze Chinas zur Sowjetunion diejenige von 1840 eingezeichnet. Damit wurden nicht nur die Gebiete der heutigen Volksrepublik Mongolei, sondern auch ein beträchtlicher Teil Sowjet-Mittelasiens dem chinesischen Staatsgebiet zugeordnet.
Die Sowjetunion sah sich vor eine sehr heikle Situation gestellt, die auch für unser Thema von großer Bedeutung ist. Die chauvinistische Parteibürokratie hatte sich auf Grund der Ereignisse in Polen nach Stalins Tod gezwungen gesehen, im Westen die Grenze genau abzustecken, bis zu der die zaristischen Annexionen als „segensreich* zu charakterisieren seien. Aus taktischen Gründen waren die sowjetischen Geschichtswissenschaftler schon zu Stalins Zeiten in dieser Frage sehr behutsam vorgegangen. Die Bedeutung des Konfliktes mit China für die Geschichtswissenschaft liegt darin, daß dadurch auch die russischen Annexionen im Osten in den Mit-telpunkt des Interesses gerückt sind. Auch hier wird die anfechtbare These vertreten, daß die Scheidelinie zwischen den „progressiv* und „reaktionär* zu wertenden Annexionen des zaristischen Rußland gerade entlang der gegenwärtigen sowjetisch-chinesischen Grenze verlaufe. Diese Behauptung ist natürlich dem fortgesetzten Beschuß durch die Volksrepublik China ausgesetzt.
Der Druck dieser sowjetisch-chinesischen Differenzen löste in der Sowjetunion einige recht interessante und widerspruchsvolle Prozesse aus. Die Schule von Pokrowskij ist nach Stalins Tod zwar rehabilitiert worden, jedoch handelte es sich nur um eine Scheinrehabilitierung, durch welche die sowjetische Geschichtswissenschaft und -forschung um den Namen eines großen Gelehrten bereichert wurde. Die überwiegende Zahl seiner Arbeiten steht aber nach wie vor auf der schwarzen Liste, und in bedeutenden Fachzeitschriften wurde Pokrowskij, was die nationalen Fragen anbetraf, sogar als Nihilist verurteilt. Nicht nur ihm, sondern auch der gesamten sowjetischen Historiographie nach der Oktoberrevolution wurden weiterhin schwerwiegende „Fehler* vorgeworfen. Chauvinistisch eingestellte Historiker taten Pokrowskij als überholt ab und erklärten, es wäre „sonderbar* auf ein Niveau, Schwächen und Fehler zurückzufallen, die die Geschichtswissenschaft bereits überwunden habe. „Pokrowskij hat die Bedeutung der nationalen Traditionen nicht immer richtig aufgedeckt und in diesem Sinne unrichtige Einschätzungen vorgenommen "
Zwei führende sowjetische Wissenschaftler, der Philosoph P. Fedossejew und der Soziologe J. Franzew, entdeckten jetzt aber, daß sich die „Mängel* Pokrowskijs sehr gut als Geschütz gegen die chinesischen Chauvinisten und Nationalisten einsetzen ließen. Als wichtigstes Verdienst Pokrowskijs bezeichnen sie sein kompromißloses Auftreten gegen die „zaristische Ideologie" (notabene ein Begriff, den er niemals verwendet hat; der Russe Pokrowskij zog ausdrücklich gegen den russischen Chauvinismus und Nationalismus zu Felde). Nach dieser Feststellung kommen die beiden Parteitheoretiker zu folgendem Schluß: „Die Tatsachen zeigen, daß in einer Reihe von Ländern das Echo dieser Ideologie bis heute wider-hallt. Es gibt noch Geschichtswissenschaftler, die sich als Marxisten bezeichnen und sich mit einer Apologie Dschingis Khans und seiner räuberischen Plünderungsfeldzüge befassen. Deswegen ist die Frage der Bekämpfung des Personenkultes in der Geschichtswissenschaft mit der zaristischen Ideologie noch lange nicht von der Tagesordnung gestrichen."
Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, daß sogar die sowjetische Führung und die verantwortlichen Parteifunktionäre zu begreifen beginnen, wie sehr die chauvinistische These von der „fortschrittlichen Bedeutung" des russischen Kolonialismus dem Ansehen der Sowjet-kommunisten schadet und einer Korrektur bedarf. Ende 1963 veröffentlichte die Akademie der Wissenschaften der UdSSR den ersten Band der „Kratkaja istorija SSR" (Kurze Geschichte der UdSSR). Im theoretischen Parteiorgan „Kommunist", Nr. 7/Mai 1964, wurde diese Arbeit von drei Historikern, N. Drushinin, K. Tarnowskij und L. Tscherepnin, besprochen. Sie machen dem Lehrbuch zum Vorwurf, keine klaren Richtlinien fixiert zu haben, aufgrund deren zwischen Patriotismus und Internationalismus eindeutig unterschieden werden könne. Während sie die These des Werkes, daß das Entstehen des russischen zentralistischen Staates als fortschrittliches historisches Ereignis zu werten sei, unterstützen, beschuldigen die Rezensenten die Verfasser des Lehrbuches jedoch, zu wenig hervorgehoben zu haben, daß „der komplizierte Prozeß der staatlichen Vereinigung” eng mit der Entwicklung des Leibeigenschaltssystems und feudaler Unterdrükkung verknüpft war. Ihr Versuch, die bisher geltende chauvinistische These zu korrigieren, kommt in folgender Äußerung zum Ausdruck: „Nicht immer werden die Folgen der Eingliederung der nicht-russischen Völker in den russischen Staat vollständig und umfassend eingeschätzt “ Sie fechten die These der chau-vinistischen Historiker an, die auch von der „Kratkaja istorija" vertreten wird, daß die Aufstände der Tataren reaktionären Charakter getragen hätten: „ ... man kann nicht akzeptieren, daß die führende Kraft der Volksaufstände im Wolgagebiet nach der Eroberung von Kasan allein die Feudalherren waren." Noch stärker kommt der durch die allgemeine Situation im Weltkommunismus erzwungene frische Wind in den Versuchen der Rezensenten zum Ausdruck, neue Relationen zwischen „positiven“ und „negativen" Folgen der Eingliederung in das zaristische Rußland zu schaffen. Positiv war ihrer Meinung nach der Wirtschaftsauftrieb, negativ dagegen die national-kulturelle Unterdrückung.
Ein sehr interessanter Standpunkt wird im „Kommunist" -Artikel bezüglich der Verantwortung des zaristischen Rußland für die Teilung Polens vertreten. Die Initiative dazu sei vom preußischen Staat ausgegangen, eine Mit-verantwortung für diesen Schritt des zaristischen Rußland lasse sich dennoch nicht leugnen. Diese Feststellung gründen die Autoren auf folgende Argumente: Die traditionelle Politik der russischen Zaren beschränkte sich auf die „Wiedervereinigung" des altrussischen Bodens — der Ukraine und Belorußland — mit dem russischen Staat. Die Vernichtung des polnischen Staatsgefüges entsprach also weder der üblichen russischen Politik noch den nationalen Interessen Rußlands. Mit anderen Worten war demnach die Expansion des Moskauer Fürstentums und später des zaristischen Ruß-land in Richtung der Ukraine und Belorußland (die Expansion nach Asien, wie auch die Eroberung deS Kaukasus werden im „Kommunist“ verschwiegen) traditionell und lag im Interesse des russischen Volkes.
Wie aus einigen Fachzeitschriften hervorgeht, bereitet die Akademie der Wissenschaften der UdSSR den 5. Band der „Frühgeschichte der UdSSR" vor. Es handelt sich um ein großes Projekt das dem 50jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution gewidmet ist. Ein Kapitel dieses Bandes „Die nationalen Befreiungsbewegungen in Rußland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts" ist kürzlich zur Diskussion gestellt worden
Die Tendenzen, unbedeutende Kleinigkeiten weitschweifig auszuführen, kommt in Wirklichkeit einer Verteidigung bestimmter zaristischer Maßnahmen gleich. Bei der Behandlung eines 1892 in Taschkent ausgebrochenen Aufstandes konzentrieren sich die Chronisten z. B. allein auf den unmittelbaren Anlaß der Unruhen, den Ausbruch der Cholera in Taschkent und die zur Verhütung der Seuche von der zaristischen Verwaltung getroffenen strengen Maßnahmen. Sie räumen ein, daß diese mit Hilfe „groben administrativen Druckes unter vollständiger Verachtung der alten muselmanischen Sitten" durchgeführt wurden. Also: die Maßnahmen als solche seien jedoch gut gemeint gewesen, und das zaristische Regime hätte nicht die muselmanische Bevölkerung, sondern lediglich die Cholera zu bekämpfen gesucht. Ein solches Verfahren der sowjetischen Historiker ist nicht zufällig, sondern entspricht ihrer völligen Unfähigkeit, auf dem Sektor der Historiographie mit dem Chauvinismus konsequent zu brechen. Die mildernde Wirkung, die vom sowjetisch-chinesischen Konflikt ausgeht, macht sich trotzdem auch hier bemerkbar. Einige Auswüchse der Vergangenheit sind beseitigt worden und auch die jüngsten Bemühungen, sich die Maske der Objektivität vorzuhalten, sind nicht gänzlich bedeutungslos.
Zusammenfassende Bemerkungen
Ein Überblick über die Wandlung des chauvinistischen Kurses in der Etappe nach Stalins Tod bestätigt die eingangs getroffene Feststellung, daß es sich hier nicht um eine organische Entwicklung der Geschichtsschreibung handelt, sondern um einen voluntaristischen Richtungswechsel der Partei. In den letzten elf Jahren lassen sich drei Phasen voneinander abgrenzen. Deren erste stand im Zeichen eines liberalen Kurses. Zahlreiche außer-parteiliche Kräfte verlangten nach Stalins Ab-leben eine Beseitigung der gröbsten Auswüchse, hauptsächlich jener aus der Zeit der Shdanowschtschina. Eine Reihe Theoretiker und Wissenschaftler distanzierte sich vom chauvinistischen Kurs und wollte direkt an die Traditionen der ersten marxistischen Schule um M. N. Pokrowskij anknüpfen. Wenn sie dieser Schule aus verständlichen Gründen auch kritisch gegenüberstanden, suchten sie sich doch ihres seriösen wissenschaftlichen Instrumentariums zu bedienen und die blindlings „patriotische Einstellung" weitgehend aus der Historiographie ausschalten. Die zweite Phase brachte eine Offensive der Parteibürokratie in Allianz mit den chauvinistischen Elementen. Es setzte sich erneut die These von der „progressiven Rolle" der zaristischen Annexionen durch. Auf den ersten Blick unverständliche Motive veranlaßten diese Parteikreise mit Hilfe unterschiedlicher Maßnahmen, hauptsächlich aber der erwähnten Feierlichkeiten, aut eine Intensivierung des Kultes der „freiwilligen Vereinigungen" hinzuwirken. Die Gründe dafür sind in den Bemühungen der Sowjetführung zu suchen, die sich infolge der Modernisierung zwangsläufig immer mehr differenzierende Gesellschaft einer strengeren Kontrolle zu unterwerfen. Man muß sich stets vor Augen halten, welche Rolle in solchen Systemen die „kollektiven Mechanismen", darunter als ausschlaggebender, der Patriotismus, spielen. Die verstärkte Einschaltung des Utopischen, die im neuen Parteiprogramm so auffällig ist (in zwanzig Jahren soll in der Sowjetunion der Kommunismus verwirklicht sein!), hängt eng mit den „kollektiven Mechanismen* zusammen. Hinzu kommt die traditionelle Einstellung der kommunistischen Partei-bürokratie, in der russischen Führungsschicht das zuverlässigste, staatstragende Element zu sehen.
Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß angesichts der Weltsituation die chauvinistische Haltung der Parteibürokratie und ihrer Helfershelfer, auch von einem bestimmten innersowjetischen Standpunkt gesehen, keine allzu großen Zukunftschancen hat. Die stete Überbetonung der nationalen Besonderheiten, die Verbindung von Patriotismus mit „ruhmreicher Vergangenheit", ohne Rücksicht darauf, daß dies auf Kosten der anderen Völker geschieht, muß auch in den Augen eines modernen Russen eher als Rudiment einer zu Ende gehenden Epoche erscheinen als eine auf die Zukunft gerichtete Konzeption. Die kommunistische Parteibürokratie, insbesondere ihre modern denkenden Elemente, die auf Grund der wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Veränderungen immer mehr Verbündete finden, erkennen in wachsender Schärfe, daß die Wirksamkeit des „Patriotismus" auf die ideologisch-erzieherische Arbeit beschränkt ist. So ist zu erklären, daß sich unter den Gegnern des chauvinistischen Kurses in der Sowjetunion auch mehrere Vertreter der russischen Intelligenz befinden, die sich zu einem echten Internationalismus bekennen und in „supranationalen* Kategorien denken. Die Parteibürokratie wendet sich jedoch gegen diese Neigung mit der Behauptung, daß die Sowjetunion das erste Land der Welf sein werde, das mit der Verwirklichung des Kommunismus die höchste Entwicklungsstufe der Menschheit erreicht.