Vorbemerkungen
Die Bezeichnung der westlichen Welt als „kapitalistisch", „imperialistisch", „monopolkapitalistisch" usw. gehört zu den ältesten und anscheinend unverzichtbaren Gewohnheiten marxistischer Ideologen. Daß dabei das Schwergewicht einmal auf dem einen, zu einer anderen Zeit auf einem anderen dieser und ähnlicher Worte liegt, tut wenig zur Sache und ist meist nur taktisch bedingt. Zum eisernen Sprachschatz neomarxistischer Dogmatiker und Ideologen gehört die Bezeichnung „imperialistisch" für die westliche Welt jedenfalls. In den angedeuteten Wortverbindungen verbirgt sich bei näherem Zusehen mehr als nur eine bloße Ansammlung von deklassierenden Schmähungen für den politischen Gegner: durchaus ernstzunehmende ökonomisch-soziale Entwicklungstheorien stehen hinter den Schlagworten vom „expansiven“, „monopolkapitalistischen", „friedensfeindlichen" westlichen Kapitalismus. Grund genug, sich hinter den Fassaden der Propagandaschlagworte mit einigen grundlegenden Thesen des Marxismus über den Imperialismus zu beschäftigen. Nicht nur die sowjetischen Ideologen, sondern auch weite Kreise der sowjetischen Bevölkerung sehen heute die westliche Welt durch die Brille einer vereinfachten „Imperialismustheorie“. Auch mancher Zug der sowjetischen Außenpolitik kann nur verstanden werden, wenn man die — meist sogar unbewußte — Einschätzung ihrer Imperialismusthesen durch die sowjetischen Ideologen kennt.
Freilich wollen wir dabei nicht in der national-ökonomischen Theoriengeschichte stehen bleiben sondern auch versuchen, einige wesentliche, auch für unsere politische Gegenwart und Zukunft entscheidende imperialistische Züge des militanten politischen Kommunismus aufzudecken. Denn so sehr die marxistisch-kommunistische Propaganda auch den Eindruck erwecken möchte, daß der Imperialismus ausschließlich eine Erscheinung der westlichen Welt sei, die notwendig in der Gesellschaftsordnung, wie sie die kommunistischen Marxisten anstreben, keinen Platz haben können, so sicher ist es doch, daß imperialistische Züge im außenpolitischen Handeln sich auch für die Sowjetunion und andere kommunistische Länder finden lassen. Es geschieht dies nicht in der Absicht, gleichsam imperialistische Sünden in Ost und West zu erkennen und gegeneinander aufzurechnen und einen möglichen Saldo mit einer wertenden Note versehen ins Buch der Weltgeschichte einzutragen. Es kommt uns vielmehr darauf an, zu zeigen, daß Imperialismus und imperialistische Absichten sich keinesfalls auf die westlichen Gesellschaftsordnungen der Vergangenheit beschränken lassen, wie es uns der wissenschaftliche Marxismus und die kommunistische Tagespropaganda immer wieder weismachen möchten. Auf den ersten Blick scheint es zwar immer wieder, als hätten die theoretischen Marxisten die Imperialismus-thesen und -deutungen gewissermaßen in Erbpacht genommen; aber wir dürfen nicht übersehen, daß allein schon viele Formulierungen im kommunistischen Manifest von 1848 und auch der Gedanke einer proletarischen Weltrevolution marxistischer Provenienz Grundformen imperialistischen Verhaltens verraten. Hinzu kommt, daß sich bis in die Sowjetunion eines Chruschtschow unserer Tage hinein panslawistische, altrussische und nationale — hier nicht näher zu charakterisierende — außenpolitische Expansionstendenzen gehalten und gestärkt haben, die schon beim ersten Blick mindestens in der Nähe imperialistischer Verhaltensweisen stehen. Wir verzichten bei der Erörterung dieser Zusammenhänge von vornherein darauf, gleichsam philologisch das Phänomen des Imperialismus zu deuten, wir wenden uns vielmehr im ersten Teil unserer Analyse den wichtigsten Imperialismustheorien zu, die wir aber nicht allein dogmengeschichtlich abhandeln, sondern die wir vielmehr möglichst stets im Zusammenhang mit konkreten politischen Ereignissen sehen wollen.
Wie wichtig neben der notwendigen Auseinandersetzung mit den marxistischen Imperialismusversionen eine Auseinandersetzung mit dem Imperialismus ist, beweist auch die Tatsache, daß im allgemeinen Sprachgebrauch wie auch zunehmend in populären wissenschaftlichen Enzyklopädien zum Beispiel die ganze Spanne zwischen Französischer Revolution und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges pauschal als das Zeitalter des Imperialismus bezeichnet wird, wobei häufig genug Begriffe wie Imperialismus und Kolonialismus syno3 nym gebraucht werden
Um erkennen zu können, welche Bedeutung das Imperialismusphänomen besonders im marxistischen Denken einnahm und einnimmt, empfiehlt es sich, sich zunächst mit drei verschiedenen Gruppen von Imperialismusdeutungen vertraut zu machen. Dadurch werden die marxistischen Versionen zusätzlich charakterisiert. Wir müssen dabei freilich anmerken, daß es sich hierbei lediglich um gewisse Schwerpunkte handelt und daß es verschieden gefärbte Übergänge zwischen einzelnen Theoriegruppen gibt.
Verschiedene theoretische Ansätze
Ehe wir die Frage beantworten können, ob und in welchem Maße sowie in welcher Gestalt in der Sowjetunion imperialistische Absichten nachweisbar sind und ob der Marxismus selbst auch imperialistische Züge trägt, muß die Vorfrage geklärt werden, was denn Imperialismus überhaupt ist
Die hier national-völkisch genannten Imperialismustheorien sehen die eigentlichen und stets epochal begrenzten Antriebskräfte des Imperialismus im Nationalen oder im Nationalismus
Dabei übersehen sie bei aller berechtigten Kritik an den ideologischen Elementen dieser Theorien, die eine Epoche zu ihrer Selbst-bestätigung mannigfach hervorbrachte, daß zweifellos gewisse sozialpsychische Komponenten bei expansiven nationalen politischen Strömungen nachweisbar sind. Rußland selbst bietet hierfür ein einprägsames, wenn auch noch nicht gänzlich geklärtes Beispiel. Der politische Drang der russischen Völker nach Westen ist ja keineswegs nur eine bolschewistische Erscheinung, sondern eine Leitmelodie der russischen Außenpolitik der vergangenen drei Jahrhunderte
sischen wie auch in der sowjetischen Außenpolitik nachweisen, ohne damit freilich schon eine komplette Geschichtstheorie russischer Außenpolitik abzugeben
So wenig die sowjetischen Marxisten derartige Erscheinungen in ihrem politischen Handeln anerkennen können, da diese den Grundgedanken ihrer materialistischen Geschichtsauffassung weitgehend widersprechen und zudem die Glaubwürdigkeit der marxistischen Gedankenwelt vor den Augen der übrigen Welt in Frage stellen würden, so wachsam sind sie doch stets gewesen, wenn es galt, rassisch-völkisch-nationale Triebkräfte des Imperialismus bei anderen, besonders bei ihren demokratischen Gegnern festzustellen.
Völlig zu Recht haben die russischen Marxisten verhältnismäßig früh erkannt, welche große Bedeutung das völlig irrationale Moment der nationalsozialistischen These vom Lebensraum im Osten Europas im Denken Hitlers spielte. Diese Irrationalität oder auch ideologische Verkleidung der expansiven militanten Ostpolitik unter Hitler wurde von diesem selbst mehrfach unterstrichen
Die jüngste Theorie eines nationalen deutschen Imperialismus stammt von George W. F. Hallgarten
auf solch einen kurzen Nenner bringen kann, dahingestellt auch, ob es sinnvoll ist, diese Politik des „Sowohl-als-Auch" als einzige Triebfeder deutscher imperialistischer Bestrebungen hinzustellen und sie überdies abhängig zu sehen ausschließlich von ökonomischen Tatsachen und Ursachen; für unseren Zusammenhang wichtig ist die Feststellung, daß mit Hallgartens erst vor kurzem erschienener Arbeit die lange Reihe von Imperialismusdeutungen sich fortsetzt, die letzten Endes im Nationalen den Kern imperialistischer Antriebe erkennen zu können meinen
Der Beitrag Schumpeters zur Imperialismusdebatte
Die zweite Gruppe von Imperialismustheorien, von denen wir hier nur die scharfsinnige Analyse Josef Schumpeters heranziehen wollen, sieht den Imperialismus nicht als zeitbedingt oder epochal begrenzt, sondern als einen Grundzug in der Geschichte der Völker an. Für Schumpeter ist Imperialismus die „objektlose Disposition eines Staates zu gewaltsamer Expansion ohne angebbare Grenzen“. Imperialismus ist für ihn ohne eigentlichen Anfang und ohne bestimmbares Ende. Er ist nicht auf das 19. Jahrhundert, das Zeitalter des Kolonialismus im engeren Sinne, beschränkt. Ganz im Gegensatz zur marxistischen Version des Imperialismus, die wir noch näher kennenlernen werden, ist Schumpeter der Auffassung, daß der „reine" Kapitalismus kein Nährboden für imperialistische Machtansprüche sein könne. Im Gegenteil: Die Verfälschungen des ursprünglichen, auf dem Konkurrenzprinzip aufbauenden Kapitalismus sind es nach Schumpeter, die imperialistische Triebe fördern, so etwa mangelnder internationaler Kapitalverkehr und eine mächtige Monopolbildung, vor allem im Exportgeschäft. Hingegen seien freie Konkurrenz und Freihandel von Grund auf antiimperialistische Kräfte. Auch die Schutzzölle des 19. Jahrhunderts haben nach Schumpeters Auffassung einen entscheidenden Anteil am Kolonial-Imperialismus der europäischen Industriemächte
Diesen sieht Schumpeter aber nicht als ausschließlich ökonomisch bedingte Erscheinung, womit er sich in offenen Gegensatz setzt zu den wichtigsten marxistischen Imperialismus-deutungen. Vielmehr greift Schumpeter noch in eine tiefere, metaökonomische Schicht der
Geschichte und glaubt nachweisen zu können, daß schon im Altertum ebenso wie in der neueren Geschichte immer wieder der Typ des „ewigen Kriegers“ aufgetreten sei, der den Kampf um des Kampfes willen geliebt habe, der eine stete Ausdehnung seiner Macht angestrebt habe, ohne daß dafür Notwendigkeit oder Anlaß gegeben wären. Die Verwandtschaft dieser Schumpeterschen Konstruktion des „ewigen Kriegers“ mit den Archetypen der jüngeren Psychoanalytik ist unverkennbar. Immer wieder, so meint Schumpeter, seien in der Geschichte Menschen hervorgetreten, die in mancherlei politischer Gestalt und vielerlei ideologischer Verkleidung jedenfalls eine territoriale Ausdehnung angestrebt hätten, die jenseits aller Rationalität liege. Da für Schumpeter der Kapitalismus zu Recht ein System höchster Rationalität ist, kann er nicht in diesem Sinne in seinem Kern imperialistisch sein. Gewiß sei es möglich, daß der Kapitalismus zugrunde gehe, aber dies geschähe nicht infolge einer von den Marxisten behaupteten inneren Zwangsläufigkeit des Systems, sondern infolge gewisser irrationaler Züge, die im Laufe der Zeit in das ursprünglich rationale kapitalistische System Eingang fänden. Dem Ansturm seiner Gegner, so meint Schumpeter, wird der Kapitalismus unterliegen, und seiner eigenen Irrationalität.
Wir werden noch sehen, daß die Schumpetersehe Version des Imperialismus in einem ganz anderen Bereich des kritischen politisch-soziologischen Denkens steht als die marxistische Auffassung.
Der Grund hierfür liegt vor allem darin, daß, gleichsam unter den einzelnen Epochen der Wirtschaftsund Sozialgeschichte liegend, noch ein zusätzlicher Grundzug der Geschichte angenommen wird, der als latentes, atavistisches, politisch bedeutungsvolles Gefühl auftritt. Die ebenso sozialwie individualpsychologisch wichtige Erscheinung des „ewigen Kriegers“ als eines immer wiederkehrenden Typus in der uns bekannten politischen Geschichte ist naturgemäß eine völlig andere Erklärung des Imperialismus als die durch die Marxisten, die allein die Dialektik und die Materialistik der Geschichte in der besonderen Form des privatwirtschaftlichen Kapitalismus für den Imperialismus verantwortlich ma-chen, wie wir noch sehen werden.
Daß die Marxisten dabei zwischen Imperialismus und Kolonialismus nicht näher unterscheiden, sei nur am Rande vermerkt; für sie ist es die gleiche Erscheinung, was freilich für Deutschland nicht zutrifft, wenn man etwa an die schon erwähnte sehr zögernde deutsche Kolonialpolitik unter Bismarck denkt, die sich eher wie ein Anpassungsprozeß an die außenpolitischen Gewohnheiten der übrigen europäischen Industriemächte des auslaufenden 19. Jahrhunderts ausnimmt und nicht wie eine eigenständige, starke, auf territoriale Expansion um jeden Preis bedachte Außenpolitik. Wenn sich am Ende des Ersten Weltkrieges die beiden entscheidenden Imperialismusdeutungen von Schumpeter und Lenin gegenüberstehen (wobei Lenin sehr stark auf mehreren Vorläufern fußte), so ist es gewiß richtig zu sagen, daß dies auch eine Gegenüberstellung zwischen ursprünglicher marxistischer Geschichtsauffassung und einer methodisch breiter angelegten Geschichtsbetrachtung Schumpeters ist. Schumpeter lehnt die materialistische Methode zwar nicht völlig ab, aber er dogmatisiert sie auch nicht. Er überwindet die Schwächen der nationalen deutschen Geschichtsschreibung, die im 19. Jahrhundert stark vom Erlebnis des preußischen Staates beeinflußt war (natürlich auch bei Hegel, dem Ausgangspunkt des Marx'schen Denkens), indem er den Blickwinkel weitet und jede vorschnelle Geschichtsdeutung an Hand nur äußerer Fakten ablehnt. Schumpeters Geschichtsschau steht außerdem der psychoanalytischen Welt eines Siegmund Freud nahe. Wir sehen hier, daß sich in einer scheinbar zunächst so speziellen Frage wie der nach dem Wesen und den Ursprüngen des Kapitalismus äußerst wichtige Unterschiede eines wissenschaftlichen Weltbildes verbergen. Nur die marxistisch-kommunistische Propagandaarbeit mit ihren vielen unsichtbaren Erfolgen in der stillen Übernahme von Schlagworten selbst durch die erklärten Gegner des Marxismus kann immer wieder Punkte für sich buchen, wenn sie die Menschen glauben machen will, daß Imperialismus eine eindeutig erklärbare Erscheinung nur einer bestimmten Epoche und einer bestimmten Gesellschaftsordnung, nämlich der bürgerlichprivatkapitalistischen, sei
Wir können jetzt sagen, daß die erste Gruppe der Imperialismustheorien nicht zuletzt auch zur Rechtfertigung des Imperialismus entworfen wurden, also ein Ergebnis der ökonomischgesellschaftlichen Basis sind, auf der sie erwuchsen. Natürlich muß man bei manchen Autoren Einschränkungen machen, aber für die Gruppe als Ganzes gesehen stimmt dies. Schumpeters Deutung ist überzeitlich und in ihrem Kern unmarxistisch, da sie eine betont psychologische Komponente herausstellt, nämlich den Typ des „ewigen Kriegers". Klarer noch wird uns diese Theorie, wenn wir uns nun der dritten Gruppe zuwenden, den eigentlichen marxistischen Imperialismustheorien, die wir hier aber nicht ihrer selbst wegen behandeln, sondern sofort im Zusammenhang mit bestimmten Erscheinungsformen der sowjetischen Außenpolitik und der Außenpolitik anderer Ostblockstaaten. Auf diese Weise können wir schon an dieser Stelle die rein gedanklich-theoretische Erörterung des Imperialismusphänomens beenden.
Die marxistische Imperialismusversion
Genau besehen, ist es eine grobe Vereinfachung, von der marxistischen Imperialismusdeutung zu sprechen
1. Es gibt verschiedene marxistische Imperialismustheorien,
2. Lenin ist nicht der eigentliche marxistische Theoretiker über den kapitalistischen Imperialismus, sondern lediglich ein wortgewandtes Sprachrohr marxistischer Dogmatik.
Prüfen wir beide Behauptungen näher nach, so wird nicht nur der Gang der bisherigen marxistischen Imperialismusdebatte deutlich, es zeigt sich darüber hinaus zudem, daß innerhalb des marxistischen Lagers zeitweise zum Teil erhebliche Meinungsverschiedenheiten herrschten. Ebenso wie eine genaue Erörterung der verschiedenen Imperialismusversionen marxistischer und nicht-marxistischer Denker grundlegende methodische Probleme der Geschichtsschreibung aufrollt, ebenso enthüllt eine nähere Analyse der marxistischen Imperialismusdebatte tiefgreifende Unterschiede im marxistischen Denken auch der jüngsten Vergangenheit. Die Beurteilung des Imperialismus ist noch heute geradezu ein Prüfstein für die Linientreue konservativer Marxisten, ebenso wie sie den Grad an politisch-ideologischer Abweichung erkennen läßt, deren sich ein marxistischer Denker schuldig machen kann
Für die kommenden Ausführungen müssen wir uns ständig vor Augen halten, daß die vorgebrachten Argumente wechselnd auf verschiedenen Ebenen stehen. Einmal nämlich geht es um die gedankliche Bewältigung imperialistischer Erscheinungen, die marxistisch oder nicht-marxistisch gedeutet werden können. Zum anderen geht es um die Frage, welche imperialistischen Züge in der jüngsten russischen und europäischen Geschichte sich nach Auffassung der einen wie der anderen theoretischen Imperialismusdeutung erkennen lassen. Darüber hinaus muß man verstehen, daß die Theorien über imperialistische Tendenzen im Leben der Völker jedenfalls auch ein Ergebnis der gesellschaftlich-ökonomischen Basis sind, auf denen sie stehen, mithin also immer nur einen historisch bezogenen Wert haben oder, wie es der Geisteswissenschaftler nennt, immanent urteilen können. Dabei wiederum braucht man nicht so weit zu gehen, wie es die Neomarxisten noch immer tun, und die Verbindung zwischen Gesellschaft und Gesellschaftstheorie als einen Bezirk des geisti-gen Lebens als jedenfalls und einseitig abhängig zu betrachten, wobei die technisch-industriellen Produktionsbedingungen allein die Bewußtseinsinhalte einer Epoche erfüllen. Wir sehen, die Frage nach der Klärung des Imperialismus in marxistischer Sicht führt jedenfalls auch heran an einige andere Fragen der marxistischen Philosophie. Die Imperialismustheorien der Marxisten sind immer auch Prüfsteine ihrer Philosophie gewesen und ohne den gesamten Unterbau der Marx'schen Ökonomie sind sie ohnehin nicht denkbar
Die tatsächliche Entwicklung der realen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verlief jedoch anders, als von Marx prophezeit, und zudem wandelte sich auch innerhalb der revolutionären Führerschaft der Arbeiterbewegung die Auffassung darüber, wann und in welcher Form sich der Zusammenbruch des Kapitalismus abspielen werde. Das erste Mißverhältnis erklärt die Existenz der marxistischen Imperialismustheorien schlechthin, das zweite erklärt die unterschiedlichen Auslegungen, die das Phänomen durch die marxistischen Denker erfuhr. Dahinter steht der bekannte Streit über die Bedeutung und das Primat einer revolutionären oder einer evolutionären historischen Entwicklung, was wir noch näher erläutern werden
Den Grundwiderspruch der kapitalistischen Wirtschaftsweise sah Marx im alles beherrschenden Gegensatz zwischen der Institution des Privateigentums, wie es durch die späte Aufklärung und die französische Gesellschaftsphilosophie sowie die Französische Revolution von 1789 gefordert und verwirklicht worden war, und dem gesellschaftlichen Vollzug einer arbeitsteiligen Produktion. Die Produktionsmittel sind privat verteilt, die Erzeugung der Güter muß aber notwendig in einer arbeitsteiligen Wirtschaft sich gesellschaftlich vollziehen, die eigentumslosen Industriearbeiter können nur ihre Arbeitskraft verkaufen, und sie erhalten dafür einen Gegenwert, der ge-ringer ist als ihr tatsächlicher produktiver Beitrag zur industriellen Gütererzeugung. Die Lehre vom Mehrwert, der dem Arbeiter nicht zuletzt auch auf Grund seiner schwachen marktpolitischen Situation vorenthalten wird, spielt eine sehr große Rolle in der Marx’schen ökonomischen Theorie. Hier genügt es, festzustellen, daß Marx aus der Existenz des Mehrwertes sowie der marktwirtschaftlichen Konkurrenz und dem technischen Fortschritt einen Zwang zur Kapitalakkumulation der Kapitalbesitzer ableitet, was wiederum dazu führt, daß das volkswirtschaftliche Kapital sich in immer wenigen Händen zusammenballt. Die-sen Teil der Marx’schen ökonomischen Theorie nennt man gemeinhin die Akkumulationsund Konzentrationstheorie. Die Konzentration ist der erste Schritt zum Untergange des bürgerlichen Kapitalismus. Tendenziell sinken nach Marx die Profitraten der Unternehmer, die Zahl der Arbeitslosen (die industrielle Reservearmee) nimmt ständig zu; selbst bei langsam sich bessernden Lebensbedingungen für die breite Arbeiterschaft verschlechtert sich jedenfalls ihre Situation im Verhältnis zu den Unternehmern. Diese aber sinken, wenn sie der Konkurrenz der Mächtigen erliegen, in die Gruppe der Lohnarbeiter zurück. Nur wenige kapitalkräftige Kapitalisten bleiben übrig, die sich in einen tödlichen Absatzkampf begeben. Die Herrschaft der Monopole beginnt, und der Umschlag von den bloß quantitativen Veränderungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Geschehen ins Qualitative bereitet sich vor: die Arbeiterschaft organisiert sich und die Produktion zur Bedürfnisbefriedigung aller kann sinnvoll nur noch sozialistisch vorgenommen werden. Der Sozialismus löst notwendig aus innerer geschichtlicher Gesetzmäßigkeit heraus den kapitalistischen Prozeß ab. Ebensowenig wie Marx einen Zeitplan für die Entwicklung des Kapitalismus bis zu seinem Untergange entwarf, ebensowenig malte er das Bild der sozialistischen Zukunftsgesellschaft voll aus. Hier liegen die Gründe, warum es später in den Reihen vornehmlich der deutschen Sozialdemokratie der Vorkriegszeit und auch innerhalb des parteikommunistischen Lagers verschiedene Auffassungen über Beginn und Gestalt der sozialistischen Gesellschaft gab
Lenin ist somit der Prototyp einer spezifisch epochalen Deutung des Imperialismus, während Schumpeter bemüht ist, eine überzeitliche Deutung zu geben, wobei er sich außer gewissen Methoden auch der materialistischen Geschichtsschau (die er selbst einmal ein „machtvolles Instrument der Analyse“ nannte), auch sehr moderner sozialpsychologischer Kategorien zur Erklärung des Imperialismus-phänomens bedient, für die die Marxisten auf Grund ihrer materiellen Philosophie kein Verständnis haben können. Immerhin darf man feststellen, daß es einen gemeinsamen Ursprung der liberalen und der marxistischen Imperialismusdeutungen insofern gibt, als die Vertreter beider Gruppen davon ausgehen, daß der Imperialismus jedenfalls eine Fehlentwicklung der industriellen Gesellschaft ist. Nur behaupten die liberalen Imperialismus-theoretiker, daß der ursprüngliche Kapitalismus, dessen Anfänge sie in die Zeit vor der industriellen Revolution zurückverlegen, jedenfalls lebensfähig sei und durch den Imperialismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen nur umgebogen und verzerrt werde, während die Marxisten der Auffassung sind, daß der Imperialismus die letzte Phase des Kapitalismus darstelle, unmittelbar vor seiner Agonie. Bei der Beweisführung darüber, wie der Imperialismus gewissermaßen . funktioniere“, gibt es zwischen den liberalen und den marxistischen Deutungen jedoch beträchtliche Unterschiede.
Zugang zur Kapitalismusforschung des Ostens
Ehe wir die verschiedenen marxistischen Imperialismusversionen im einzelnen betrachten, müssen wir noch einmal erwähnen, daß die Imperialismustheorie auch heute noch in der Sowjetunion, in den übrigen Ostblockländern sowie in China den eigentlichen Zugang bildet zum Verständnis der westlichen kapitalistischen Welt. Die Imperialismustheorie ist der Schlüssel zur Kapitalismusforschung des Ostens. Dies wäre nun freilich nur ein mehr formales und akademisches Prinzip und Problem, wenn es nicht sehr unmittelbare Zusammenhänge gäbe zwischen der marxistischen ökonomisch-gesellschaftlichen Theorie und dem politischen Verhalten des Ostens gegenüber der westlichen Welt. Auch die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking läßt sich auf eine unterschiedliche Auffassung über das Wesen des kapitalistischen Imperialismus reduzieren Interessant ist dabei, daß beide Parteien im kommunistischen Lager, sowohl die Chinesen als auch die Russen, sich gegenseitig der Abweichung von ursprünglichen marxistischen Imperialismusthesen bezichtigen und daß sie, mehr noch, sich gegenseitig als Imperialisten beschimpfen
Für die Marxisten des Ostens bedeutet unabhängig von internen Auseinandersetzungen im kommunistischen Lager die Imperialismus-theorie die Möglichkeit, Entwicklungsgang und Entwicklungsstand der westlichen Wirtschafts-und Gesellschaftssysteme zu deuten. Der Westen kann wiederum den Osten besser erkennen und verstehen, wenn er dessen Imperialismustheorie gründlich kennt. Aber noch aus einem anderen Grunde ist die Beschäftigung mit der marxistischen Imperialismustheorie für den Westen bedeutungsvoll, worauf zum Beispiel P. Knirsch hinweist
Sowjetunion seit der Oktoberrevolution betrachtet. Während Lenin wenigstens noch eklektisch und an verschiedene Vorläufer anknüpfend sich richtungweisend für die kommunistischen Ideologen mit der Imperialismus-theorie beschäftigte, stand bei Stalin die Nationalitätenfrage als ideologisches Problem Nummer eins im Vordergründe. Ihr ordnete er andere Fragen wie etwa die der Sprachwissenschaft und ihrer Stellung im materialistisch-dialektischen historischen Prozeß zu. Von Chruschtschow kennen wir keinen eigenen Beitrag zur Ideologie und Theorie des Marxismus, und es sieht nicht so aus, als ob wir ihn noch erwarten könnten. Er ist der Vertreter eines popularisierten Imperialismus-glaubens, der heute weitgehend die sowjetische Einstellung Moskaus gegenüber der westlichen Welt bestimmt, wie etwa in der Außenpolitik, in der Rüstungs-und Abrüstungsfrage, bei der Entwicklungshilfe und bei jedweder Diagnose des wirtschaftlichen Zustandes der westlichen Welt. Das alles unterstreicht noch einmal die hohe Bedeutung der marxistischen Imperialismustheorie für das Selbstverständnis der Sowjets und ihrer monotonen Deutungen der Welt des Kapitalismus. Man hat im Westen diese Situation immer wieder offen oder unausgesprochen bedauert, weil man sich offenbar gedanklich großzügigere und weitherzigere Gesprächspartner wünscht. Man ist immer wieder geneigt zu übersehen, daß zwar der Marxismus sowjetischer Interpretation eine bestimmte historische Entwicklung für den kapitalistischen Westen behauptet, daß er aber nur sehr mühsam infolge der engen Bindung an marxistische Dogmen sein Eigenverständnis erweitert. Allerdings sollte man auch erkennen, daß gerade in der Starrheit der sowjetisch-marxistischen Ideologie auch ein gewisser Sicherheitsfaktor für westliche außenpolitische und diplomatische Überlegungen liegt. Diese Situation wird man wohl letzten Endes darauf zurückführen dürfen, daß der Marxismus immer in erster Linie das war, was Karl Marx seinem drei-bändigen „Kapital" als Untertiel beigab: „Eine Kritik der politischen Ökonomie des Bürgertums“ und nicht eine praktische Lehre vom Aufbau der kommenden sozialistischen Gesellschaft. Die marxistische Imperialismustheorie stellt den Versuch dar, die Marx’sche These vom notwendigen inneren Zusammenbruch des Kapitalismus zu retten und zu erklären, warum der Kapitalismus nicht schon in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts allenthalben jene Zusammenbruchstendenzen aufwies, wie sie Marx behauptet hatte. Die von Marx prophezeite Konzentration der gesamten industriellen Wirtschaft in den Händen einzelner blieb ebenso aus wie die prophezeite allgemeine massenweise Verelendung der Industriearbeiterschaft und das schnelle und stetige Anwachsen der „industriellen Reservearmee". Aus der absoluten Verelendung wurde eine nur noch relative Verelendung, und keineswegs sank statistisch nachweisbar die Grenzprofitrate in allen Wirtschaftsbereichen, wie Marx es vorausgesagt hatte. In entscheidenden Punkten seiner Analyse des kapitalistischen Wachstumsprozesses hatte Marx jedenfalls die Bedeutung des technischen Fortschrittes und die mit ihm und anderen Ursachen (Bevölkerungswachstum, Mode, Werbung, steigende Realeinkommen usw.) verbundenen Einflüsse unterschätzt, die laufend strukturelle Wandlungen im kapitalistischindustriellen Wirtschaftskörper erzwangen. Da sich vor allem die These nicht halten ließ, daß die Arbeiterschaft ständig, nur von kurzen Scheinblüten unterbrochen, am Existenzminimum dahinvegetiere, mußten die Marxisten notwendig stets die Bedeutung des Einflusses veränderlicher Löhne auf das Wachstum der Wirtschaft verkennen. In ihrer komplizierten Gleichung des kapitalistischen Warenaustausches fehlte die Beziehung eines lang-sam steigenden Lebensstandards auch und gerade für die breiten Massen: Marx hatte lediglich eine glanzvolle Theorie der industriellen Frühzeit geliefert.
Einige Autoren, wie etwa Borkenau
Wie dem auch sei, als sicher darf gelten, daß spätestens seit der Jahrhundertwende die Marxisten sich vor der Notwendigkeit sahen, eine Zusatztheorie liefern zu müssen, die den Grundbestand der Marx’schen Ökonomie unangetastet ließ und das Marx'sche Entwicklungsschema auch für eine gewandelte kapitalistische Welt mit beginnendem Wohlstand (freilich auch mit weiteren beträchtlichen Wohlstandsunterschieden) gültig erscheinen ließ. Man versuchte, zu erklären, warum der Kapitalismus noch eine letzte Chance besäße, seinen eigenen Untergang noch einmal hinauszuschieben und am Leben zu bleiben. Hinzu kam, daß die revolutionäre Arbeiterbewegung in Europa, die sich auf Marx berief, nur begrenzte politische Erfolge für sich buchen durfte. Besonders in Deutschland waren ihr durch das Vorgehen Bismarcks, seine Sozialgesetzgebung und das gleichzeitige Sozia-listenverbot, erhoffte parlamentarische Erfolge versagt geblieben. Der Unterbau, die kapitalistisch-industrielle bürgerliche Gesellschaftsordnung mochte zwar auch den marxistischen Sozialismus als überbau hervorgebracht haben, es fehlte ihm jedoch an Möglichkeiten und Erfolgen bei der Durchsetzung seiner gesellschaftspolitischen Vorstellungen, also auch an Möglichkeiten der rückwirkenden Einflußnahme auf den Unterbau des Gesellschaftskörpers. So wurden paradoxerweise gerade die doktrinären Anhänger der Marx’schen Lehre in die Verlegenheit versetzt, ergänzende und aktuelle Theorien über den Fortbestand eines immer noch starken Kapitalismus zu liefern. Wie wir schon sahen, nahmen sie ihre Argumente zum Teil von liberalen Ökonomen, die ohne den langen Umweg über die komplizierten Wege der Marx’schen Ökonomie sich veranlaßt sahen, eine Kritik des zügellosen Privatkapitalismus und seiner weiteren Folgen zu entwerfen. Während die liberalen Imperialismustheoretiker mithin schädliche Randund Nebenbemerkungen eines grenzenlosen Laisser-faire kritisierten und dadurch ihre gesell-Schaftsund ordnungspolitische Grundhaltung demonstrierten, ging es den Marxisten darum, den Fortbestand des Kapitalismus zu deuten, nicht zuletzt um auch den Fortbestand der revolutionären Arbeiterbewegung zu garantieren.
Die marxistische Imperialismusdiskussion spiegelt einmal den Dogmatismus eines engstirnigen marxistischen ökonomiedenkens wider, dem Marx selbst, trotz aller Sehnsucht nach einem geschlossenen gedanklichen System zur Erklärung der Entwicklung des Kapitalismus, wahrscheinlich nicht verfallen wäre. Sie zeigt aber auch gewisse Grundzüge der politischen Arbeiterbewegung auf und macht verschiedene Spannungen und unterschiedliche Ansichten innerhalb dieser machtvollen politischen Bewegung sichtbar. Dies ist auch der Grund, weshalb man nicht einfach von einer marxistischen Imperialismusversion sprechen darf, denn es gibt deren mehrere, die zugleich eine gewisse fraktionelle Spaltung der marxistischen Arbeiterführer charakterisieren. Dabei ist der Grundgedanke der marxistischen Imperialismusversionen denkbar einfach. Er ergibt sich unmittelbar aus dem Marx’schen Entwicklungsschema selbst. Da der Zusammenbruch des kapitalistisch-industriellen Systems ausblieb und da sich offensichtlich dieses System als lebensfähiger erwies, als ursprünglich erwartet worden war, erklärte man, daß nur durch eine regionale Ausdehnung des Kapitalismus, durch gewaltsame Vorstöße in bis dahin akapitalistische Räume eben dieses Sy-stem weiter am Leben bleiben könne. An die Stelle der ausgebeuteten Lohnarbeiter in den Industrieländern träten die Sklaven und sklavenähnlich ausgebeuteten Eingeborenen in den Kolonien, deren Lebensstandard man nun bewußt niedrig halten könne. Hier verbindet sich die Deutung des Imperialismus mit einer Analyse des Kolonialismus, was unter anderem zu einer in vielen Industrieländern beobachtbaren Ablehnung kolonialer Eroberungen durch sozialistische Parteien im parlamentarischen und im außerparlamentarischen politischen Leben führte.
Da bei relativer Verelendung der „arbeitenden'Bevölkerung (ein Terminus, der nicht soziologisch, sondern nur mit einem Blick auf die enge Verbindung zwischen Marx’scher Wertlehre und der hoch bewerteten proletarischen Gesellschaftsgesinnung im Marx’schen sozialphilosophischen Schema verstanden werden kann
Die Ursachen der Entstehung und Verbreitung der marxistischen Imperialismustheorie liegen vornehmlich in den Unterschieden zwischen Marx scher kapitalistischer Entwicklungstheorie und der sozioökonomischen Wirklichkeit spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
Darüber hinaus wurde das Dogma von der geschichtsdeterminierten, das heißt vorherbestimmten Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft mit unterschiedlichem Gewicht vertreten. Daraus sowie in einigen Schlußfolgerungen für das praktische politische Verhalten der Kommunisten gegenüber dem Kapitalismus erklärt sich das eigenartige Nebeneinander verschiedener marxistischer Versionen des Imperialismusgedankens. Lenins Schrift hieß: „Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus', woraus später wurde „das höchste Stadium des Kapitalismus“, womit die geschichtsdeterministische These noch stärker ausgedrückt war
Zusätzliche marxistische Deutungen des Imperialismus
Nach Lenin haben verschiedene marxistische oder marxistisch gefärbte Ökonomen und politische Soziologen zusätzliche Deutungen des Imperialismusphänomens vorgelegt. So etwa Fritz Sternberg, Henry Grossmann, Rosa Luxemburg, Paul Sweezy oder Stefan Varga
Im Zeichen einer fortschreitenden westeuropäischen wirtschaftlichen und politischen Integration Institut für Weltwirtschaft das Moskauer und internationale Beziehungen 1957 ebenfalls eine düstere Prognose für die Zukunft der westlichen „kapitalistischen“ Welt gestellt
Wenn sich derartige Empfehlungen in neueren marxistischen Arbeiten über den Kapitalismus und Imperialismus auch nicht finden lassen, so zeigen doch die Untersuchungen vor allem von E. St. Varga, daß moderne Marxisten weiterhin an der hohen Bedeutung des Staates im Wirtschaftsleben der westlichen West festhalten und darin einen typischen Zug des neuzeitlichen Imperialismus sehen
Die Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Marxisten
Entscheidende Unterschiede zwischen einzelnen marxistischen Imperialismusdeutungen werden sichtbar, wenn man Lenins Schrift über den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" vergleicht mit den Überlegungen, die zum Beispiel Rosa Luxemburg zu diesem Thema angestellt hat. Die Autorin, die der Gruppe der sogenannten Austromarxi-sten angehörte, hatte 1915 in ihrem Buch über die „Akkumulation des Kapitals" eine eigene Analyse des Imperialismus vorgelegt, die im marxistischen Lager unerwarteterweise mit Befremden und Skepsis ausgenommen worden war. Auch sie war der Meinung, daß der Imperialismus eine notwendige Phase des Kapitalismus sei, der dem ökonomischen Fortschritt zuwiderlaufe und — darin lag die Besonderheit der Luxemburg’schen Deutung— Aktionen der Arbeiterklasse gegen die Herrschaft des Kapitals herausfordere.
Die Marx’sche Konzentrationslehre wurde von ihr als zwingendes Zusammenbruchsgesetz aufgefaßt und die von Marx immer wieder herausgestellten Gegentendenzen, die im kapitalistischen Prozeß retardierend wirksam werden können, wurden von ihr gering eingeschätzt oder sogar übersehen. Die Kapital-akkumulation stoße in einem „geschlossenen" kapitalistischen System an Grenzen und deshalb suche sich das System neue Expansionschancen, neue Märkte und neue Ausbeuterpositionen in bisher akapitalistischen Räumen. In der Eroberung der weltwirtschaftlichen Peripherie schaffe sich der Kapitalismus noch einmal eine Chance der Existenzverlängerung. Der Kapitalismus, bei dem es — nach Rosa Luxemburg — um die marktmäßige Realisierung des nicht von den Unternehmern und Kapitalisten konsumierten Teiles des Mehrwertes gehe, kann sich nicht unbegrenzt ausdehnen, weil er neue Gebiete wieder in sein System einbezieht und das alte Spiel der Ausbeutung und der im Vergleich zur Waren-produktion zu geringen Löhne von neuem beginne, wodurch der Kapitalismus seine weitere Expansion selbst behindere.
Es ist hier nicht der Ort, diese Theorie, die wir nur in ihren Grundzügen andeuten, weiter auszumalen. Wir unterlassen auch jegliche Kritik, da diese sofort die gesamte Marx'sche Ökonomie mit einbeziehen müßte. Wir beschränken uns auf die Feststellung, daß die Luxemburg’sche Imperialismustheorie, ähnlich der später von Sternberg entworfenen, ihre grundlegenden Fehler in der ökonomischen Kreislauftheorie Marx’scher Provenienz hat, zumal diese unglücklicherweise mit der ökonomischen Wertlehre verbunden wurde, die keine befriedigende Analyse des gesellschaftlichen Tauschprozesses zuläßt. Ebenso wie die ganze Marx'sche Ökonomie gehen auch sämtliche marxistische Imperialismusdeutungen von der Annahme aus, daß die Löhne der industriellen Arbeiterschaft stets in der Nähe des Existenzminimums verbleiben. Daß selbst langsam steigende Reallöhne der Arbeiter-schäft einen stimulierenden Effekt auf das weitere kapitalistische Wachstum ausüben können, ist den Marxisten ein völlig fremder Gedanke, wenigstens soweit es sich um die Analyse des kapitalistischen Systems handelt.
Für die Analyse und wirtschaftspolitische Steuerung ihrer eigenen Wirtschaftsordnung nehmen sie durchaus und bewußt Überlegungen über eine nachfragebeeinflußte wirtschaftliche Entwicklung hinein, wenn auch stets unter dem für sie typischen Blickwinkel eines volkswirtschaftlichen Gleichgewichts in Gestalt eines güterwirtschaftlichen Tauschprozesses. Rosa Luxemburg war bemüht, die Grenzen der kapitalistischen Expansion aufzuzeigen und sie tat es mit einer für marxistische Denker typischen Vorstellung quantitativer Veränderungen im kapitalistischen Prozeß, bis dieser sich auch qualitativ wandle.
Ihre Theorie fand entgegen ihren eigenen Erwartungen eine nur geteilte Aufnahme bei anderen Marxisten, und gerade darin zeigt sich auch ein lebendiges Abbild der Entwicklung in der deutschen Arbeiterbewegung bis in die ersten Revolutionsjahre in Rußland nach 1917. Sie fand viel Kritik, vor allem durch Otto Bauer sowie durch N. Bucharin, ohne daß wesentliche neue Aspekte zur formalen sowjetischen Imperialismustheorie beigesteuert worden wären
Die Schonzeit des Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase begünstige die Ausbreitung des Revisionismus, hat Sternberg später festgestellt. Ehe Lenins Theorie innerhalb des sowjetisch-doktrinären Marxismus zur verbindlichen Leitlinie der sowjetrussischen Kapitalismusanalyse wurde, gab es mithin eine ganze Reihe von marxistischen Imperialismus-deutungen, die sich im wesentlichen in der Frage der Intensität des Klassengegensatzes im Spätkapitalismus und — damit zusammenhängend — auch in der Legalitätsfrage unterschieden. Bis zur Anerkennung der Lenin’schen Theorie zum parteioffiziellen Dogma ging es innerhalb des marxistischen Lagers stets um die Frage, ob die kapitalistische Ordnung von selbst zusammenbrechen werde oder ob dieser Zusammenbruch und inwieweit er durch die politische Kraft der Arbeiterschaft herbeigeführt werden könne. Die Ereignisse in Ruß-land seit 1917 haben diese deutsche Diskussion dann schnell in den Schatten umwälzender weltpolitischer Ereignisse gestellt. Aber man sollte doch erkennen, daß auch in den amtlichen, inhaltlich in Nuancen und Schattierungen wechselnden sowjetrussischen Ansichten über den Imperialismus der westlichen Welt immer wieder einzelne Argumente aus der deutschen Diskussion aus der Zeit des Ersten Weltkrieges auftauchen.
Imperialismustheorie und Entwicklungshilfe
Das zeigt sich unter anderem auch bei näherem Zusehen der offiziellen Stellungnahmen der Sowjets zur westlichen Entwicklungshilfe
Abwechselnd wurden die notwendigen Widersprüche im kapitalistischen Lager oder die ausbeutenden Bedingungen der Entwicklungshilfe als Gegenargumente bei den Regierungen der Entwicklungsländer vorgebracht und vorgeführt. Die Sowjets hingegen, so hieß es stets in der umständlichen parteioffiziellen Sprache, böten einen Handel zum gegenseitigen Vorteil aller Beteiligten, eine Formulierung, die angesichts der ausschließlich bilateralen Verträge, die die Sowjetunion abschließt und häufig als Entwicklungshilfe ausgibt, etwas absonderlich klingt. Immerhin schätzen die Sowjets nach wie vor die politische und militärische Kraft des imperialistischen Westens offenbar derart stark ein, daß sie sich überhaupt auf die Ebene des Wettkampfes mit der westlichen Entwicklungshilfe gestellt haben. Möglicherweise sprechen hier freilich auch Völker-und sozialpsychische Faktoren mit, die Rußland zur Beteiligung an einem weltweiten ökonomischen Programm beteiligt sehen wollen. Für manche Betrachter liegt hier wohl mit Recht die Grenze, die eine ausschließlich ideologisch erklärbare Haltung der sowjetischen Marxisten trennt von ihrer nationalen russischen Einstellung. Daß darin einmal mehr das Gesicht des russischen Imperialismus selbst sichtbar wird, gehört gewiß zu den Delikatessen der derzeitigen weltpolitischen Analyse, die sich eben nicht auf die von den Marxisten angebotene marxistische Imperialismusdeutung beschränken darf. Ebenso wie bei der Beurteilung der westeuropäischen wirtschaftlichen Integration wird auch in der offiziellen Beurteilung der westlichen Entwicklungshilfe die neomarxistische Imperialismusversion gelegentlich stark strapaziert, da ja stets mindestens zweierlei gleichzeitig erklärt werden muß: der kapitalistische Expansionsdrang in Gestalt der Entwicklungshilfe als nach ihrer Auffassung historisch notwendige Erscheinung und das angebliche Unvermögen der westlichen Welt, sich gütlich über eine Koordination der Entwicklungshilfe zu einigen. Da es sich aber gerade in den letzten Jahren immer mehr zeigt, daß der Westen immer strengere Maßstäbe an Entwicklungsgesuche stellt und keineswegs um jeden Preis Kapital exportiert und andererseits die Koordination der westlichen Entwicklungshilfe immer mehr in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion in Westeuropa und den Vereinigten Staaten rückt, sehen sich die sowjetischen Ideologen immer wieder in der Verlegenheit, tagespolitische Gegensätze zu „grundlegenden Widersprüchen" im kapitalistischen Lager zu stempeln.
Ihre Haltung gegenüber der westlichen Entwicklungshilfe ist dabei noch schwieriger als ihre Einstellung gegenüber der geglückten Analyse der wirtschaftlichen Integrationsabsichten des Westens, weil ja bei der Entwicklungshilfe auch neutrale Staaten, also Dritte, beteiligt sind, die selbst zur Beurteilung der westlichen Entwicklungshilfe in der Weltöffentlichkeit beitragen. Die offizielle marxistische Imperialismusdeutung als gegenwärtig allgemein gültige Kapitalismusanalyse reicht selbst dann nicht aus, wenn die Schwerpunkte der Argumentation abwechselnd von dem einen auf das andere Argument verschoben werden. Hier zeigt sich deutlich, daß die Bindung der sowjetischen Außenpolitik an ein ideologisches Dogma sich auch als eine Beschränkung der außenpolitischen Elastizität der Sowjets erweist, wenn diese Elastizität bei der Persönlichkeitsstruktur Chruschtschows heute auch größer sein dürfte als zu Stalins Zeiten, der sich viel enger an dogmatische Imperialismusvorstellungen hielt. Dennoch sollte man nicht annehmen, daß Chruschtschow und die für die sowjetische Außenpolitik Verantwortlichen lediglich popularisierende Imperialismustheoretiker sind, die tagespolitische Absichten jedenfalls und ständig vor ihre eigene Ideologie stellen. Die Starrheit ihrer Ideologie zwingt sie vielmehr, zwischen begrenzten außenpolitischen Aktionen und einer Kaschie-B rung ihrer unverwandelten Imperialismusdeutung zu wählen, soweit es um ihr Verhältnis zur westlichen Welt geht. Gegenüber den chinesischen Kommunisten müssen sie andererseits fest auf dem Boden ihrer ökono-mischen Ideologie bleiben, wenn sie im kommunistischen Lager als ernsthafte Gesprächspartner anerkannt bleiben wollen. Der Situationswandel gegenüber der doktrinären Stalin-Ara ist unübersehbar.
Kritik und Problematik der marxistischen Imperialismusdeutung
Mehr als einmal waren die marxistischen Ideologen in den vergangenen 40 Jahren in der für sie fatalen Situation, ihre These vom notwendigen und allgegenwärtigen Imperialismus des westlichen, bürgerlichen Kapitalismus mit einer tagespolitischen Tarnfarbe zu überziehen. Im Grund
Eine Kritik der marxistischen Imperialismustheorie, gleichgültig, ob es sich um die Versionen der „deutschen Diskussion" im Ersten Weltkriege zwischen Rosa Luxemburg, Hilferding, Lenin, Bucharin, Otto Bauer oder, später, um Fritz Sternberg oder ob es sich um die parteioffizielle dogmatische, nach Lenin orientierte Version der Sowjets handelt, kann in unserem Zusammenhänge nicht gegeben werden. Eine vollständige Kritik der Marx'schen Arbeitswertlehre, der Theorie der sinkenden Profitrate, der Konzentrationstheorie, der Theorie der relativen und absoluten Verelendung, der industriellen Reservearmee sowie der gan-zen Zirkulations-, Absatz-und Konjunktur-und Entwicklungslehre von Karl Marx wäre hierzu erforderlich.
Wir müssen uns mit der Feststellung begnügen, daß die parteiamtliche Imperialismus-theorie der sowjetischen Marxisten weder für eine Analyse der generellen Entwicklung noch für einzelne Abschnitte der gegenwärtigen Entwicklung der von den Marxisten schematisch und typologisch undifferenziert verstandenen kapitalistischen Welt ausreicht 40). Dies liegt nun natürlich in der Hauptsache daran, daß die Marxisten den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozeß außerhalb ihres eigenen Lagers in idealtypischen Formen denken und nur auf diese Weise zu einer Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus kommen können, die aber selbst mit marxistischen Methoden und Denkprinzipien angezweifelt werden kann, geschweige denn von einem außerhalb der marxistischen Gedankenwelt bezogenen Standort anerkannt zu werden braucht. Diese allgemeinen Fragen einer generellen Marxismuskritik können wir hier nur insofern andeuten, als sie auch für eine kritische Beurteilung der Imperialismus-theorie als des eigentlichen Schlußstückes der marxistischen ökonomischen Theorie von Bedeutung sind.
Auch für die Beurteilung aktueller und zeit-bezogener wirtschafts-und gesellschaftspoli-tischer Entwicklung reicht die marxistische Imperialismusversion nicht aus, gleichgültig, welche Spielart man zugrunde legt. Die breite Verelendung blieb weiterhin ebenso aus wie eine generelle Konzentration der Wirtschaft. Steigende Reallöhne lassen sich seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts in allen europäischen und auch außereuropäischen Industrieländern nadiweisen, und vor allem die Zusammenschlußbewegungen innerhalb der westlichen Welt lassen sich mit Hilfe der marxistischen Theorie, selbst wenn man sie in ihren Grundzügen entgegen der historisch-sozialen Wirklichkeit anzuerkennen bereit ist, nicht hinreichend und befriedigend deuten. Zweifellos bedeutet die Unterlage einer unbefriedigenden ökonomischen Theorie zur Erklärung der wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeit eine hohe politische Gefahr für die freie Welt und die Weltpolitik überhaupt.
Spuren dieser Gefahren haben wir im Kalten Krieg kennengelernt und auch bei den europäischen Einigungsbemühungen der letzten anderthalb Jahrzehnte wurden die sowjetischen marxistischen Ideologen mehrfach in eine schwierige Situation gedrängt, die durch ihr starres Festhalten an ihrer Imperialismus-theorie gekennzeichnet ist und die für die übrige Welt äußerst gefährlich ist. So wurde die doppelte Blockbildung in Westeuropa in EFTA und EWG offensichtlich von Moskau zunächst mit unverhohlener Schadenfreude vermerkt, weil man darin eine Bestätigung der Auffassung von den wachsenden Widersprüchen im kapitalistischen Lager sah. Allerdings wandelte sich die offizielle Einschätzung mehrfach und schnell, nachdem es im Rahmen der EWG-Gespräche verschiedentlich zu Meinungsverschiedenheiten zwischen unterschiedlichen Teilnehmerstaaten kam und auch die Rolle Europas, der Bundesrepublik und Frankreichs zu den USA, sich innerhalb der Debatte über die zweckmäßigste Form einer europäischen Integration mehrfach änderte.
Die sowjetrussischen Marxisten betonten das Wiedererstarken der wirtschaftlichen Macht Westdeutschlands in der EWG, wenn es darum ging, vor den angeblichen Gefahren einer westdeutschen militärischen Bedrohung des östlichen Lagers zu warnen. Zu anderen Zeiten versuchten die Sowjets wiederum, Frankreich und die Vereinigten Staaten gegeneinander auszuspielen, weshalb offensichtlich Frankreich auch eine Anfrage um Weizen-lieferungen erhielt, von der von vorneherein feststand, daß sie im Vergleich zu den USA und Kanada gar nicht in dem erwünschten Maße erfüllbar war. Die Teilnahme Englands an der westeuropäischen Integration wird seit jeher unterschiedlich in der Sowjetunion betrachtet. Ein Beitritt Großbritanniens zu einer einzigen westeuropäischen wirtschaftlichen Allianz wird als Beweis für die steigende Zusammenballung wirtschaftlicher Macht angesehen, während ein Fernbleiben Englands von einem ökonomisch und auch politisch integrierten Westeuropa als Beweis für die unausrottbaren Widersprüche im kapitalistischen Lager zu gelten hat.
Chruschtschow, der die Möglichkeiten von Kriegen innerhalb des kapitalistischen Lagers offenbar gering einschätzt und mehr auf die Richtigkeit der These von der gewaltsamen Expansion in akapitalistische Räume und eine wachsende wirtschaftliche Konkurrenz innerhalb des Lagers seiner von ihm so verstandenen politischen und ideologischen Gegner überzeugt zu sein scheint, hat mehrfach und in wechselnder Richtung gegen den Gemeinsamen Markt polemisiert. Da die Sowjets von Zeit zu Zeit auch eine atlantische Wirtschaftsgemeinschaft im Sinne Kennedys für utopisch halten, offerieren sie der Weltöffentlichkeit ihre eigenen Vorschläge für überregionale wirtschaftliche Allianzen und eine Ausdehnung des internationalen Handels, an dem Sowjetrußland freilich nur mit einem recht geringen Anteil beteiligt ist Nicht zu übersehen ist freilich auch eine gewisse Furcht vor der künftigen wirtschaftlichen Stärke eines ökonomisch integrierten Europas. Hier taucht noch einmal das Motiv der schon aus Lenins Tagen und der Zeit seiner Hoffnungen auf eine gesamteuropäische proletarische Revolution bekannte Gefühl der Haßliebe der sowjetischen Marxisten und gewiß auch mancher Teile der russischen Bevölkerung gegenüber Westeuropa auf.
aller Nachahmung der vorgeschrittenen europäischen Industrialisierung vom Niveau der Jahre vor 1914 ist es den Sowjets bis heute nicht gelungen, mit diesem Gefühl fertigzuwerden. Wenn nicht alles täuscht, ist die Position Chruschtschows an der Spitze der Parteidiktatur und an der Spitze der Sowjetunion nicht ein bloßer Zufall und auch keineswegs nur ein Ergebnis interner Machtkämpfe und Ausdruck eines parteiinternen Machiavellismus. Es scheint vielmehr, als gelange nach der Herrschaft der Ideologen nunmehr wieder und verstärkt das völkische Element in die politische Haltung Rußlands zur europäischen Industrie-und Kulturwelt hinein. Gerade die europäische Integration strahlt eine starke Anziehung aus auf die betont russischen Marxisten. Sollte es sich etwa herausstellen, daß alle Versuche, die kapitalistische Welt auf wirtschaftlichem Felde zu schlagen, am Ende ergebnislos bleiben müssen? Diese Frage scheint bei einigen sowjetrussischen Führern untergründig bereits heranzureifen. Aber selbst wenn man, was viele Nationalökonomen mit sehr ernsthaften Argumenten bezweifeln, annimmt, daß die Sowjets die Vereinigten Staaten oder ein vereinigtes Europa (in geschichtlich absehbarer Zeit aber gewiß nicht beide zusammen) wirtschaftlich, das heißt durch eine materiell meßbare und vergleichbare Produktion einholen, selbst dann bliebe die kulturhistorische Entfernung zwischen Westeuropa und der Sowjetunion noch bestehen, und der Umweg der kommunistischen Industrialisierung würde diese Lücke nicht geringer werden lassen
Sowjetischer Imperialismus
Abschließend müssen wir noch zu der wichtigen Frage Stellung nehmen, ob und wie die sowjetischen Marxisten den unzweifelhaft vorhandenen russischen und sowjetischen Imperialismus sehen und wie die russischen und sowjetischen Imperialismustendenzen gedeutet werden können. Gegenüber imperialistischen Tendenzen der Zarenzeit nehmen die sowjetischen Marxisten eine ähnlich schwankende Haltung ein wie gegenüber ihrer gesamten Geschichte. Soweit sie ihnen Material liefert für die historische Beweisführung der Marx’schen Wirtschafts-und Gesellschaftstypologie sowie für die Marx'sche Entwicklungslehre und Ausbeutungstheorie, bedienen sich die sowjetischen Marxisten vorbehaltlos des Materials aus ihrer eigenen Geschichte. Das erfolgt nun freilich nicht immer mit einer gleichbleibenden Bereitschaft. In Zeiten, in denen der nationale Gedanke besonders gepflegt werden soll, ist man zurückhaltender. So traten z. B. während und nach dem Zweiten Weltkriege Hinweise auf zaristische imperialistische Tendenzen, vor allem auch gegenüber nicht-russischen Völkern, also den nationalen Minderheiten, erheblich zurück zugunsten einer allgemeinen Propaganda für den großen „Vaterländischen Krieg". Andererseits sind einige namhafte Marxisten durchaus bereit, russische Expansionstendenzen in der Geschichte der letzten 250 Jahre zuzugeben, wobei natürlich die Meerengenfrage eine besondere Rolle spielt. Daß die Russen sich dabei weniger auf ihre natürliche geographische Lage berufen, als vielmehr auf eine Gefährdung ihrer politischen und staatlichen Sicherheit durch andere europäische Mächte, von denen sie sich sowohl vor dem Ersten als auch vor dem Zweiten Weltkrieg eingekreist fühlten, steht auf einem besonderen Blatt. Es ändert dies nichts an der Tatsache eines russischen Imperialismus auch schon im 19. Jahrhundert, den bekanntlich Tocqueville bereits zum Ausgangspunkt seiner geopolitischen Weltenschau nahm
Der Kampf der Minderheit der Bolschewisten gegen ihre vielfachen Gegner im eigenen Lande unmittelbar nach der Revolution von 1917 trug zwar weithin sichtbar bürgerkriegsähnliche Züge, enthielt aber auch typische imperialistische Verhaltensweisen, die keineswegs an nationalen Grenzen haltmachten. Lenin und seine Anhänger hatten gehofft, die Oktoberrevolution würde auf das übrige industrialisierte Europa schnell überspringen, was sich alsbald als schwerer Irrtum herausstellte. Die imperialistische Internationale stieß damals an unübersteigbare Grenzen und ihr Wahlspruch „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch" wurde wohl weithin gehört, aber keineswegs überall befolgt.
Die Durchsetzung der sogenannten Stalin’sehen Verfassung von 1936 erfolgte vor allem auch mit dem Hinweis auf die zunehmende kapitalistische Einkreisung, der man einen starken Sowjetstaat gegenüber stellen müsse. Stalin selbst hat weiter durch seine theoretischen wie praktischen Beiträge zur ewig schwelenden Nationalitätenfrage innerhalb der Sowjetunion einen Beitrag zum russisch-marxistischen Imperialismus geliefert. Ausländische Beobachter schwanken freilich auch heute noch, ob sie von einem innerrussischen Imperialismus oder von Russifizierung sprechen sollen, was aber, genau besehen, kein eigentlicher Gegensatz ist, sondern das eine jeweils ein Deckmantel für das andere sein kann. Zwar sollte man nicht übersehen, daß die Ausbreitung der sowjetischen Macht-sphäre den nationalen Minderheiten im russischen Staatsgebiet auch materielle Vorteile und wirtschaftlichen Fortschritt brachte, was aber natürlich für den imperialen Kolonialismus der kapitalistischen Welt erst recht gilt. Wirtschaftliche, soziale und ethnische Unterschiede im eines Gefälles von Weiß-und Zentralrußland in Randbezirke der die UdSSR haben russisch imperialistische Tendenzen auch unter den Sowjets gewiß gefördert. Gewiß ist es auch interessant festzustellen, daß Stalin durch seine sprachwissenschaftliche Spätarbeit einen Beitrag zur Ideologie und Taktik des sowjetrussischen Imperialismus vor allem gegenüber den nationalen Minderheiten im eigenen Lande leistete. Man hat diese Schrift in der westlichen Welt lange Zeit nicht oder nicht richtig verstanden, weil man sich nicht vorstellen konnte, was Stalin zu Fragen der Sprache zu sagen hatte. Selbstverständlich lagen ihm philologische und etymologische Probleme auch recht wenig am Herzen. Vielmehr ging es ihm darum, die Sprache aus dem orthodoxen BasisÜberbau-Schema des doktrinären Marxismus auszuklammern und auf diese Weise die russische Sprache als ein neutrales Verständigungsmittel anzupreisen, das der allrussischen Völkerverständigung dienen könne, in Wahrheit natürlich aber auch den innerrussischen Imperialismus fördern kann
Verständlicherweise verwenden die sowjetischen Marxisten sehr viel Mühe darauf, anderen Ländern imperialistische Handlungen nachzuweisen und die eigenen zu übersehen. Die eigenen, über die nationalen Grenzen hinweggreifenden Bemühungen um territoriale Ausdehnung vor allem in Osteuropa werden in der offiziellen Sprache der Sowjets entweder als Siege des kämpferischen Proletariats in den Nachbarstaaten gefeiert oder als bloße Verwaltungsakte deklariert, sofern sie überhaupt in der offiziellen Geschichtsschreibung erscheinen. Selbstverständlich ist der Zugang zur Ostsee und zum Mittelmeer auch ein erklärtes Ziel der sowjetischen Außenpolitik, was unter anderem auch die Alliierten auf der Konferenz von Teheran sahen und was Winston Churchill veranlaßte, vorbeugend eine zweite Front von Südosteuropa zu fordern, um einem späteren russischen Eindringen nach Mitteleuropa die militärische Kraft und das politische Prestige der Westmächte entgegensetzen zu können. Offensichtlich erscheint gerade in der Meerengenfrage, die eine der klassischen Streitpunkte der Weltpolitik vor 1914 war, die marxistische Ideologie in den Händen der Sowjets als typisch „sekundäres System", das dazu dient, traditionelle Zielsetzungen der zaristischen Politik, ideologisch verkleidet, weiter zu verfolgen.
1939 im Herbst erhielt die Sowjetunion auf Grund des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt vom August des gleichen Jahres Ostpolen. Im Winterkrieg gegen Finnland annektierte Stalin Teile Finnlands und während des Jahres 1940 griff Stalin nach den drei Ostseestaaten sowie nach Bessarabien und die nördliche Bukowina. Bei diesen territorialen imperialistischen Eroberungen der Sowjets kam es zu Massendeportationen und Menschenvernichtungen großen Ausmaßes, was während des Zweiten Weltkrieges freilich weitgehend unbeachtet blieb. Auf der Konferenz von Jalta, Anfang 1945, meldete Stalin seine Ansprüche und den Verlauf der von ihm entworfenen Grenze an, die die östliche von der westlichen Einflußsphäre trennen sollte. Ostpreußen und die Karpato-Ukraine gelangten unter sowjetrussische Verwaltung. Der zunehmende politische, militärische und wirtschaftliche Einfluß auf die später so genannten Ostblockstaaten der fünfziger und sechziger Jahre ist so sehr eine auch für die politische europäische Gegenwart bestimmende Erscheinung, als daß sie an dieser Stelle noch einmal näher beschrieben werden müßte. Der Kranz der Volksdemokratien, der die Sowjetunion heute im Westen umgibt, kann durchaus als der bedeutsamste Erfolg des sowjetrussischen Imperialismus angesehen werden. Notwendigerweise zerbrach nach dem Kriege die Allianz der Alliierten; die Sowjets gingen aus dem Zweiten Weltkriege als Sieger mit dem bedeutsamsten Gebietsgewinn hervor
Es ist richtig, festzustellen, daß die Sowjets Japan erst in letzter Minute den Krieg erklärten, als die japanische Kapitulation bereits erwartet wurde. Ohne Zweifel hat Stalin diesen für ihn günstigen Zeitpunkt der Kriegserklärung an Japan für sich geschickt ausgenutzt. Man sollte aber doch wohl auch bereit sein, anzuerkennen, daß dahinter sich ein weiterer grundlegender Zug marxistischen Denkens verbirgt. Nicht grundsätzlich durch Kriege erhoffen sich die strenggläubigen Marxisten den Sieg des Proletariats in aller Welt, sondern durch die gesellschaftliche Revolution im Sinne ihrer spezifischen pessi-mistischen Prognose über den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems. Das mag kriegerische Verwicklungen nicht ausschließen, wie die Geschichte es ja auch beweist. Dennoch sollte man bereit sein, anzuerkennen, daß in der Reihenfolge und Rangordnung der Mittel zur Durchsetzung politischer marxistischer Ziele der Krieg nicht an erster Stelle steht. Das wiederum darf nicht daran hindern, zu sehen, daß die Anti-Kriegs-Propaganda der Sowjets bis an die Grenze der Rührseligkeit und logischen Unglaubwürdigkeit eine große Rolle in der politischen Ideologie der Marxisten spielt, ohne daß man sie in jeder Situation politisch ernst nehmen dürfte. Im Gegenteil, der Vorwurf des kriegerischen Imperialismus gehört innerhalb der Gedankenwelt der marxistischen Ideologen seit jeher zu den im Dauergebrauch befindlichen Waffen im Kampf gegen den politischen Gegner, wobei die Anti-Kriegs-Propaganda ein besonders festes Stück der ideologischen Decke ist, mit der der politische Marxismus sich und seine Absichten umhüllt.
Die Ausführungen der letzten Abschnitte lassen deutlich werden, daß der sowjetrussische Imperialismus unter dem ideologischen Deckmantel bisher territorial gleiche oder ähnliche Ziele verfolgte wie der zaristische Imperialismus früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte. Er läßt aber auch deutlich werden, daß es einer überepochalen Erklärung des Wesens des Imperialismus bedarf, um auch die russischen und sowjetrussischen Expansionsbestrebungen „ohne angebbare Grenzen" erklären zu können. Offenbar handelt es sich beim sowjetrussischen Imperialismus um eine Erscheinung, die mindestens zweischichtig ist und die man nur durch eine genaue Analyse der engen Verbindung zwischen nationalem Gedanken, nationalem Bewußtsein und ideologischer Verkleidung erfassen kann. Es mag durchaus sein, daß die Schumpeter’sche Imperialismusdeutung, der Typ des „ewigen Kriegers", im marxistischen Revolutionär sowjetischer Provenienz eine neue Auferstehung erlebte und sich ein archetypischer Atavismus, eine emotionelle, seit jeher in Rußland gegen den Westen Europas gerichtete expansive Regung hinter dem neueren sowjetrussischen Imperialismus verbirgt. Ebenso spricht einiges dafür, daß es das bekannte, völkerpsychologisch freilich noch nicht voll ausgelotete Minderwertigkeitsgefühl in der russischen Seele ist, dfe auch einen ideologisch-marxistisch und sozial-revolutionär gefärbten Imperialismus fördert. Vielleicht spielt auch das von Oswald Spengler für die großflächige russische Kultur als bedeutsam herausgestellte „Ebene-Denken", das notwendig zu Eroberung und Inbesitznahme verleitet, eine beträchtliche Rolle für die Erklärung auch des gegenwärtigen, expansiven territorialen Ausdehnungsstrebens der Sowjets, auch wenn diese Bewegung infolge verschiedener nationaler Sonder-entwicklungen im eigenen Lande auch scheinbar zur Ruhe gekommen ist.
Jedenfalls ist es ein Zusammentreffen von ethnisch-kulturellen und historisch-politischen Bestimmungsgründen, die im Gegensatz und in Ergänzung zur vergleichsweise einfachen und monokausalen marxistischen Imperialismustheorie (gleich welcher Schattierung) den russischen wie den sowjetischen Imperialismus erklären können. Wahrscheinlich wird es immer mehrere Deutungen dieses Phänomens geben. Die Verbindung eines auf Expansion bedachten nationalen Grundgefühls, gleich welche Wurzeln es besitzt, mit der Ideologie des Marxismus-Leninismus bedeutet jedenfalls eine zusätzliche Verstärkung der imperialistischen russischen Potenzen, was natürlich nicht zu bedeuten braucht, daß diese jedenfalls weiterhin zum Druchbruch kommen werden. Denn das nationale Element stellt, ähnlich wie in der Kriegs-, Revolutions-und Wirtschaftspolitik, für die sowjetischen Marxisten auch eine Bremse ihrer außenpolitischen Handlungen dar. Diese, sowie die nun weltöffentliche ideologische Auseinandersetzung mit den Chinesen auch über Wesen und Gestalt eines neurussischen Imperialismus lassen vermuten, daß der sowjetrussische Imperialismus wahrscheinlich in Zukunft nach neuen Wegen und nach neuen Formen expansiver politischer Einflußnahme suchen wird. Es ist gerade die eigenartige Vermischung von Marx'scher Sozialphilosophie und ihrer starken Betonung des Proletariers als der bewußt kämpferischen Gestalt gegen die überkommene Welt-und Gesellschaftsordnung mit traditionellen, auch im völkischen verankerten expansiven politischen Kräften in der Sowjetunion, die uns verpflichtet, den Imperialismus Moskaus weiterhin sorgfältig im Auge zu behalten, auch und vielleicht gerade dann, wenn man über die Schwerpunkte seiner analytischen Deutung noch weiterhin verschiedener Meinung sein wird.