Die deutsche Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus erschöpft sich nicht in der Tat des 20. Juli 1944 und seiner Vorgeschichte. Aber er ist insofern das wichtigste Ereignis in dieser geschichtlichen Entwicklung, als die Tat dieses Tages den am weitesten fortgeschrittenen Versuch darstellt, den unheilvoll abrollenden deutschen Dingen eine Wendung zum Besseren zu geben, und weil diese Tat der Welt erst offenkundig machte, daß es eine Widerstandsbewegung von einem Ausmaß gab, das es ihr erlaubte, eben diesen Versuch einer Beseitigung des verhängnisvollen Mannes und einer Übernahme der Macht mit Aussicht auf Erfolg zu wagen. Dieses Ergebnis läßt an effektiver Wirkung alles andere weit im Schatten, insbesondere auch den angeblich breiten antifaschistischen Klassenkampf unter Führung der KPD, den die manipulierte Geschichtsschreibung von jenseits der Mauer gern in das deutsche Geschichtsbewußtsein hineinschmuggeln möchte. Zugegeben: das unsichere Regime könnte diese geschichtliche Legitimation politisch sehr gut gebrauchen, aber wir können sie ihm leider aus wissenschaftlichen Gründen nicht zugestehen. Daß es kommunistischen Widerstand gegeben hat und daß zahllose Mitglieder der KPD unter dem Naziterror besonders zu leiden hatten, wird niemand bestreiten wollen. Zu behaupten, die deutsche Widerstandsbewegung gegen Hitler habe unter der Führung des ZK der KPD gestanden, ist eine jener Geschichtslügen, wie sie im Osten auf Befehl der Partei geradezu in Serie produziert werden.
Ein Angriff auf das Regime durch einen allgemeinen Volksaufstand, wie ihn die Führung der KPD in zahllosen Aufrufen an das Volk und — nach Kriegsbeginn — an die deutsche Armee propagierte, war deshalb illusorisch, weil die entscheidende Voraussetzung nicht gegeben war: das Volk, gerade auch große Teile der sogenannten Werktätigen wollten eben gar nicht revoltieren. Das Beispiel einer Beseitigung eines totalitären Regimes durch allgemeinen Volksaufstand sollte sich — welche Ironie des SchicksalsI — dann ausgerechnet im kommunistischen Machtbereich ereignen Was die inneren Verhältnisse im NS-Deutschland anbetraf, so war von vorneherein klar, daß dem totalitären Regime nur durch den bewaffneten Arm des Staates, durch die Wehrmacht, beizukommen war. Es ist infolgedessen ganz natürlich, daß den Offizieren, die sich für den Plan einer Beseitigung des Regimes durch die Wehrmacht gewinnen ließen, die besondere Aufmerksamkeit des Historikers gelten muß.
Daß es diesen Offizieren an nationalsozialistischer Überzeugung mangelte, ist durchaus richtig. Viele von ihnen, darunter auch Stauffenberg selbst, hatten sich zwar ursprünglich in ihrem jugendlichen Idealismus von manchen Ideen ansprechen lassen. Je mehr sie aber erkennen mußten, daß die angeblich hohen Ideale nur die ideologische Verhüllung für Machtrausch, Willkür und schließlich Unmenschlichkeit darstellten, desto stärker wandten sie sich von dem System ab bis zu dem entscheidenden Entschluß, Deutschland von ihm zu befreien, um es zu retten.
Dazu kommt ein weiteres, was für diese Offiziere charakteristisch ist und was sich dem Historiker als Erkenntnis aufdrängt, wenn er ihre Biographien studiert: sie waren keine einseitig militärisch orientierten Männer, sie waren keine „Militärköpfe“; sie waren keine „Nur-Soldaten“, sondern „denkende Soldaten", um eine Unterscheidung des Generals Speidel hier anzuwenden. Die meisten von ihnen verfügten über eine allgemeine Bildung, die es ihnen gestattete, die ideologischen Schranken des totalitären Systems mit ihrem Gedankenflug leicht zu überspringen. Viele von ihnen — und das unterschied sie grundlegend von ihrem „obersten Kriegsherrn" — kannten das Ausland und sprachen fremde Sprachen. Sie verfügten infolgedessen über die Voraussetzungen, um sich auch im hermetisch abgeschlossenen Dritten Reich einen gewissen Überblick über die Gesamtlage zu verschaffen, und diese Gesamtlage sah, je mehr der Krieg in die Jahre kam, desto schlimmer, düsterer und schließlich hoffnungslos aus. Und sie waren schließlich, und hier ist wohl der tiefste geistige Grund ihres Handelns zu suchen, ethisch, zum großen Teil religiös fundierte Persönlichkeiten. Dies letztere insbesondere bedeutet, daß der entscheidende Antrieb ihres Handelns keineswegs nur, bei manchen von ihnen nicht einmal vorwiegend, im Militärischen lag, sondern im Politischen und im Menschlichen, das heißt, sie lehnten nicht nur den Krieg ab, der nicht mehr zu gewinnen war, sondern auch das System, das diesen Krieg hervor-gebraucht hatte, ja sie hätten nicht einmal mehr wünschen können, daß dieses System den Krieg gewinnen würde. Nun, was dieses Herrschaftssystem war, zu was es sich immer stärker entwickelt hatte, das kann hier natürlich nicht im einzelnen dargestellt werden. Aus der vorliegenden Dokumentation geht ziemlich deutlich hervor, was den Verschwörern, Offizieren wie Zivilisten, dieses System so verabscheuungswürdig machte: die Negation jeglicher politischen und geistigen Freiheit, die faktische Rechtlosigkeit des Bürgers, der zum reinen Untertan geworden war, die Willkür einer schrankenlosen und unberechenbaren Gewaltherrschaft, das Fehlen jeglicher Rechtsgarantien. Aber es ging nicht nur um System im Innern. Immer stärker machte das anderer sich ein Aspekt als entscheidendes Motiv bemerkbar: die Isolierung Deutschlands in der europäisch-abendländischen Völkergemeinschaft, die Schändung des deutschen Namens durch die barbarische Besatzungspolitik und — besonders im Osten — auch Kriegführung. Es ist typisch für das Denken von Offizieren wie Tresdcow und Stauffenberg, daß der eine sich gegen die widerrechtlichen Führerbefehle im Rußlandfeldzug empörte und der andere die Behandlung der Fremdarbeiter in einer schriftlichen Eingabe aufs schärfste kritisierte und als Herausforderung des Ostens bezeichnete. Sie waren durchaus einverstanden mit den Mitgliedern der Studentengruppe „Weiße Rose", die in einem ihrer Flugblätter fragten: „Ist es nicht eine Tatsache, daß heute jeder anständige Deutsche sich seiner Regierung schämt?" Nur daß sie eben wußten, wie wenig Deutsche in dem Gefängnis, das das NS-Deutschland darstellte, noch über die notwendigen Einsichten verfügten. um die Verworfenheit des herrschenden Regimes zu erkennen.
Der Dichter Ernst Jünger, der im Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich einen guten Beobachtungsposten hatte, schrieb im Frühjahr 1944 über führende Offiziere und Zivilisten der Verschwörung in sein Tagebuch, man erkenne, „daß die moralische Substanz zum Zuge drängt, nicht die politische“. Es handelte sich nicht um politisierende Offiziere im Sinne des anderswo üblichen Pronunziamiento; sie waren weder ehrgeizig im politischen Sinne, noch erstrebten sie politische Machtpositionen. Sie waren aber auch nicht Anarchisten oder Desperados, so verzweifelt der Schritt des 20. Juli 1944 angesichts der hoffnungslosen Lage des Reiches schließlich auch anmuten muß. Sie wollten nicht einfach den verhaßten Diktator beseitigen und die Dinge dann treiben lassen. Es zeugt für ihr politisches und nationales Verantwortungsgefühl, daß sie, soweit menschenmöglich, alle Vorbereitungen trafen, um nach einer Beseitigung Hitlers und der Herrschaft von Partei und SS sowohl die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung wie die Erhaltung der Schlagkraft der Front — soweit von einer solchen noch gesprochen werden konnte — zu garantieren.
Es ging also nicht einfach um die immer zweifelhafte Einmischung der Militärs in die Politik. Die Frage, vor die sich die Offiziere gestellt sahen, war vielmehr die: ob es erlaubt nicht vielleicht gar sittlich gefordert war, gegen eine nach innen wie nach außen verbrecherische politische Führung einzuschreiten. Jede rein formalistische Betrachtung und Beurteilung der Tat vom 20. Juli 1944 im Sinne des unbedingten Primats der politischen über die militärische Gewalt führt deswegen in die Irre, weil es ja nicht darum ging, ein verfassungsmäßiges und rechtsstaatliches Regime durch eine Militärdiktatur zu ersetzen, sondern ganz im Gegenteil, ein Unrechtsregime zu beseitigen, dessen eigentliche „Verfassungsgrundlage" der dauernde zivile Ausnahmezustand war, und es durch eine Ordnung zu ersetzen, die Rechtssicherheit und Menschenrechte wiederherstellte. Mit einem Wort, es galt 1933 rückgängig zu machen, das heißt „Reichstagsbrand-Verordnung“ und „Ermächtigungsgesetz“, das heißt die Machtergreifung durch die Nazis. Hatte diese Machtergreifung Menschen-und Bürgerrechte außer Kraft gesetzt und mit ihnen auch die zentrale Idee des Rechtsstaates, nämlich den auf die Habeas-Corpus-Akte zurückgehenden Schutz vor willkürlicher Verhaftung und das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, so ging es den Verschwörern gerade darum, diese unabdingbaren Grundlagen einer freitheitlichrechtsstaatlichen Ordnung wiederherzustellen. Insofern gehört der 20. Juli 1944 in die Geschichte des vielhundertjährigen Ringens um Freiheit und Menschenrechte, in dem wir doch wohl den eigentlichen Sinn der Geschichte unserer europäisch-atlantischen Welt zu sehen haben.
Der Offizier, der innerhalb der Widerstandsbewegung wie kein anderer die denkerische Bewältigung dieser Problematik unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Politik und Kriegführung versucht hat, ist Generaloberst Ludwig Beck gewesen. Mindestens so bewunderungswürdig wie die Konsequenz seines Denkens ist es indessen, wie er die Gedanken in die Tat umzusetzen versuchte und, als er dabei keinen Erfolg bei den anderen Heerführern erzielte, für sich selbst die praktische Konsequenz zog: er trat von seinem hohen Posten im Jahre 1938 zurück, weil er nicht der Generalstabschef des Aggressors Hitler sein wollte. Welcher grundlegende Unterschied etwa zu der Haltung eines Admirals Raeder, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, der sein aus reinen Ressortgründen eingereichtes Rücktrittsgesuch sofort zurückzog, als der Krieg begann, obschon Hitler mit dieser Entfesselung des Krieges seine ausdrücklich gegebene Zusage, es werde nie zu einem Konflikt mit England kommen, gebrochen hatte. Der „Nur-Soldat" Raeder sah nur die persönliche Ehre und die militärische Pflicht im Spiel, wo andere erkannten, daß es um die Ehre der Nation, ja um den Bestand der Nation gehen würde. Typisch für Raeders Denken, daß er der unfertigen Marine die Aufgabe stellte, „kämpfend und in Ehren unterzugehen", wie er sich wörtlich ausdrückte. Aber auch in der Kriegsmarine gab es Männer, die zu analogen Schlüssen gelangten wie Beck; bezeichnenderweise standen sie an den wichtigsten Posten der Seekriegs-leitung, die in etwa dem Generalstab des Heeres entsprach.
Nur scheinbar stellten diese Offiziere den Vorrang der politischen Führung vor der militärischen in Frage, wenn sie es als Aufgabe des Soldaten dem Politiker gegenüber bezeichneten (wir zitieren aus einer Lagebetrachtung des ersten Operationsoffiziers der Seekriegsleitung vom Sommer 1938), „der politischen Führung die militärische Beurteilung auch der ungünstigen Lage darzulegen, damit die politische Führung die Größe ihrer Aufgabe kennt und ihre Entschlüsse nicht auf unvollständige Unterrichtung aufbaut". Das war genau im Sinne Becks gedacht. Dieser bekannte sich ausdrücklich zur Auffassung von Clausewitz, indem er Ludendorffs These vom Vorrang der militärischen Führung im Kriege ablehnte. Einen Monat nach seiner Entlassung schrieb er die Sätze nieder: „Der politische Zweck des Krieges muß klar liegen, und er muß auch den letzten Akt jedes Krieges, die Gewinnung des Friedens, in das Kalkül einbeziehen ... Dieses endliche Ziel des ganzen kriegerischen Aktes ist das wichtigste und erste, wonach der Stratege fragen muß." Das ist echter Clausewitz. Aber Beck schrieb diese Worte in dem klaren Bewußtsein nieder, daß Hitler in allen Punkten gegen sie verstieß: weder hatte er ein klares politisches Ziel, noch machte er sich Gedanken darüber, wie ein Frieden wiederherzustellen sein werde, wenn der Krieg einmal begonnen war. Die Maßlosigkeit, die Ziellosigkeit und die Grenzenlosigkeit des nationalsozialistischen Machtstrebens führten den Generalstabschef zu der klaren Erkenntnis, daß diesem verhängnisvollen Streben Halt geboten werden mußte, solange noch Zeit war, notfalls durch einen „Generalstreik der Generale". Dieser für einen „Nur-Soldaten" unfaßbare Gedanke — und die Wehrmachtführung bestand zum großen Teil aus „Nur-Soldaten" — war aber nichts weiter als die logische Folge eines mindestens so unfaßbaren Vorganges, den die meisten Generale nur noch nicht klar genug erkannt hatten: daß das auf seine moralische Festigkeit so stolze Heer aus der preußischen Tradition durch einen unbedingten Eid zum willenlosen Werkzeug in der Hand eines verantwortungslosen Verbrechers geworden war.
Diesen Tatbestand hatte Beck im Auge, als er, auf Kants Schrift „Vom ewigen Frieden" Bezug nehmend, forderte, „daß der Leiter der Politik ein moralischer Mensch sein müsse ..." Weil er erkannte, daß dem in Deutschland nicht so war, wurde er dazu gedrängt, als Soldat, aber auch als Staatsbürger in hoher militärischer Stellung, die politischen und moralischen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen, die er in den Verlautbarungen Hitlers vergeblich suchte. Nicht um den Vorrang der Politik vor der Kriegführung in Zweifel zu ziehen, nicht um die Militärgewalt über die Zivil-gewalt zu stellen, revoltierte Beck, zuerst legal, soweit dies unter den Bedingungen des totalen Staates möglich war, und dann illegal, sondern um einer maßlosen, abenteuerlichen und verbrecherischen Kriegsplanung und schließlich Kriegführung Einhalt zu gebieten — und zwar im Namen politischer und moralischer Prinzipien. Deswegen wurde der Generalstabschef des deutschen Heeres zum Haupt einer Verschwörung, die das herrschende System zu beseitigen trachtete. Solche Gedankengänge, solche Pläne waren ohne Beispiel in der deutschen Geschichte, wie die Verhältnisse es waren, auf die sich diese Gedanken und Pläne von so radikaler Konsequenz bezogen. Alle überlieferten Begriffe und Vorstellungen der preußisch-deutschen Tradition, ja des militärischen Lebens und Denkens überhaupt gerieten ins Wanken. Was konnte ein Eid noch gelten, nachdem man erkannt hatte, daß er an einen verantwortungslosen Abenteurer band? Was konnte Treue und unbedingte Gefolgschaft noch heißen, wenn der „oberste Kriegsherr“ offensichtlich die Interessen einer Partei oder einer Clique oder eines einzigen machtbesessenen Menschen vertrat und die wahren Interessen der Nation mit Füßen trat? Wenn die Interessen von Volk und Staat mit dem Verhalten Hitlers und seiner Partei nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen waren, konnte dann ein Eid an diese Person noch binden?
War dann nicht Entmachtung dieses für Volk und Staat so verhängnisvollen Mannes und seines Systems Pflicht eines jeden wahren Patrioten? Wurde dann nicht Hochverrat gegen das System zur Treue gegenüber der Nation?
Die Diskussionen, Polemiken und Prozesse, die sich nach 1945 um die Klärung der Probleme von Eid und Treue, von Hochverrat und Landesverrat, von Gehorsamspflicht und Widerstandsrecht drehten, führten im Grunde nur ein Gespräch weiter, das innerhalb der Widerstandsbewegung selbst immer wieder entfacht und mit großem Ernst, ja mit Leidenschaft geführt worden ist. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Tyrannenmordes — keineswegs alle vermochten sich zu dein Entschluß durchzuringen, Hitler Zu beseitigen. Entscheidend wurde schließlich die sozusagen rein praktische Erkenntnis, daß eine Beseitigung des Regimes ohne eine vorausgehende Beseitigung des mythische Verehrung genießenden Führers undenkbar war. Es war ein furchtbarer Gewissenskonflikt, eine tragische Pflichtenkollision, in die viele dieser Männer durch den Unrechtsstaat und den ungerechten Krieg Hitlers gestürzt wurden. Dabei hätten sie sich, wäre ihnen dieser Ausweg nicht zu bequem erschienen, sogar aüf Hitler selbst berufen können, der in „Mein Kampf" schrieb, daß die Rebellion nicht nur Recht, sondern Pflicht sei, falls ein Volk durch seine Regierung dem Untergang entgegengeführt werde. Zweifellos war Hitler im Begriff, genau dieses zu tun: ein ganzes Volk mit in seinen eigenen Untergang zu reißen. Oder wie es sein ehemaliger Rüstungsminister Speer nach Kriegsende formulierte, „daß er bei einem Verlust des Krieges sein Schicksal mit dem des deutschen Volkes verwechselte und daß er in seinem Ende auch das Ende des deutschen Volkes sah". Wenn irgendwo, dann kommt hier die frevelhafte Hybris dieses Mannes, seine geradezu blasphemische Ichbezogenheit in aller Nacktheit zum Vorschein.
Die genaue Vorbereitung des ganzen Umsturzplanes zeigt, wie sehr sich die Männer des 20. Juli ihrer großen Verantwortlichkeit vor Volk und Geschichte bewußt waren. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden, weder das Risiko eines Bürgerkrieges noch dasjenige einer auch nur vorübergehenden Schwächung der Front eingegangen werden. Es gehörte ja ursprünglich ganz zentral zum Umsturz-gedanken, die militärische Lage möglichst günstig zu halten, um bestmögliche Ausgangspositionen für politische Verhandlungen zu haben. Aber der militärische und politische Horizont verdüsterte sich immer mehr. Die Möglichkeiten politischer Verhandlungen waren im Grunde schon seit 1940 nicht mehr gegeben, vollends illusorisch seit dem Abschluß der großen Koalition zwischen den angelsächsischen Mächten und der Sowjetunion. Bis Frühjahr 1940 rechnete England mit der deutschen Opposition, danach kaum mehr. Das Zusammengehen Englands und dann auch Amerikas mit der Sowjetunion schloß praktisch alle Möglichkeiten von Sonderverhandlungen aus, lange bevor die Formel von der bedingungslosen Kapitulation verkündet wurde.
Dies alles bedeutet, daß es längst reine Illusion war, wenn man noch im Sommer 1944, nach gelungener Invasion im Westen, die Hoffnung hegte, im Westen kapitulieren und im Osten die Front halten zu können. (Ein solcher Bruch des Bündnisses mit der Sowjetunion war psychologisch unmöglich, ein solcher militärischer Frontwechsel wäre wohl auch praktisch nicht zu bewerkstelligen gewesen. Zugegeben: vom heutigen Standpunkt aus sieht alles etwas anders aus. Aber der Historiker darf nicht die Fronten des Kalten Krieges auf den Zweiten Weltkrieg zurück-projizieren.) Für die Männer des 20. Juli aber war eine solche Westlösung der letzte noch verbliebene Hoffnungsstrahl. Die Aktion hat angesichts der katastrophalen militärischen und politischen Lage etwas von einem Verzweiflungsschritt an sich. Aber selbst ohne Aussicht auf politische Vorteile sollte sie gewagt werden, nicht zuletzt um der Welt ein sichtbares Lebenszeichen von diesem innerdeutschen Kampf gegen das Nazisystem zu geben. Oder wie es General Tresckow formuliert hat: es komme jetzt nur noch darauf an, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt habe. Und so geschah es dann auch. Der Blutzoll, den die deutsche Opposition gegen das Hitlerregime zu entrichten hatte, war fürchterlich. Tausende wurden in Verfahren zum Tode verurteilt — falls es überhaupt Verfahren gab —, die jeder Beschreibung spotten. Unter Führung des Präsidenten des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, der zu Beginn des Regimes den neuen völkischen „Rechtsstaat" mit einer geballten Ladung verglichen hatte, erreichte die deutsche Rechtsprechung noch einmal einen nicht für möglich gehaltenen Tiefpunkt.
War dieses große Opfer, Opfer im reinsten Sinne des Wortes für viele der Teilnehmer, vergeblich, weil es nicht gelang, Deutschland mit eigenen Kräften aus dem eisernen Griff des totalitären Regimes zu befreien? War dieses Opfer, das eine wirkliche moralische und politische Elite des deutschen Volkes brachte, sinnlos, weil die Katastrophe nicht aufgehalten werden konnte? Die Antwort auf diese Frage kann keine wissenschaftliche sein, sondern nur eine politische — politisch im ursprünglichen Sinne des Wortes, das heißt, das bürgerliche Gemeinwesen betreffend, das Deutsche Bundesrepublik heißt. Das deutsche Volk selbst also ist zu dieser Antwort aufgerufen; es selbst beziehungsweise diejenigen, die sein Geschichtsbewußtsein formen, müssen sich entscheiden, welchen Platz die Männer und die Tat vom 20. Juli 1944 darin einzunehmen haben.
Das deutsche Volk, soweit es sich frei äußern kann, hat inzwischen längst wieder ein politisches Bekenntnis zur freiheitlich-rechtsstaatlichen Welt abgegeben, deren entscheidende ideelle und auch institutioneile Grundlage die unbedingte Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen ist. Sollte nicht zu einem integrierenden Bestandteil dieses politischen Bekenntnisses die geschichtliche Erkenntnis werden, daß die Männer des 20. Juli sich im Kampf für dieses hohe Ideal europäisch-abendländischer Gesinnung und Gesittung geopfert haben? Der große italienische Philosoph und Historiker Benedetto Croce hat auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte geantwortet, er liege darin, daß Geschichte Kampf um Freiheit sei. In diesem Kampf haben die Männer des 20. Juli in vorderster Front gestanden, und sie haben ihren Einsatz, wie das in vorderster Front oft geschieht, mit dem Leben bezahlt. Ihr Opfer ist dann nicht umsonst, wenn diese Erkenntnis in das Geschichtsbewußtsein des deutschen Volkes eingeht.