Gedenktage bedeutender Ereignisse sind der Natur der Sache nach der Gefahr abstumpfender Routine ausgesetzt. Was die heutige Erinnerung an den 20. Juli solcher Gefahr enthebt oder entheben sollte, ist nicht nur der Abstand des „ 20 Jahre danach", der zu Besinnung und Bestandsaufnahme aufruft, sondern ist auch das Miteinander eines elementaren Bewußtseins und eines Grundempfindens, die durch den entschwindenden Zeitabschnitt und unsere besondere Lage nur haben verschärft werden können: Das Bewußtsein der Lücke, so tief schmerzlich in den persönlichsten Bereichen, aber ebenso einschneidend in denen des öffentlichen Lebens und zugleich — untrennbar damit verbunden — das Empfinden ehrfürchtigen Dankes dafür, daß es in dunkelsten Stunden Männer und Frauen gab, die bereit waren, nur der Stimme des Gewissens zu folgen und mit Einsatz ihres Lebens dem Unrecht zu widerstehen. Bei der Enthüllung einer Gedenktafel in der deutschen Botschaft in London, mit der drei ehemalige Angehörige, die zur Widerstandsgrupe der Wilhelmstraße gehört haben, geehrt wurden, hat der Engländer Sir Harold Nicolson von dem Mut gesprochen, der „fackelgleich durch die Finsternis und den Propagandanebel strahlt" Ein solches Fanal im Dunkeln ist für uns der 20. Juli. In ihm offenbarte sich am deutlichsten und sinnfälligsten das „andere Deutschland", das kein Privileg einer Partei, einer Klasse, einer Berufsgruppe ist, das hinter der nationalsozialistischen Fassade in allen Schichten des deutschen Volkes lebendig war, in vielfachem Martyrium bezeugt, lange vor wie nach dem 20. Juli, aber in der Tat von Stauffenberg erst recht sichtbar werdend, auch vor den Augen einer noch lange ungläubig bleibenden Welt.
Daß es den Verschworenen nicht zum wenigsten um diesen Nachweis oder — wesentlicher gefaßt — um die Reinigung des deutschen Namens, der für so Furchtbares mißbraucht worden war, ging, braucht nicht in die Ereignisse hinein-oder aus ihnen herausgelesen zu werden. Es sei an die Worte des Staatssekretär Erwin Planck erinnert: „Das Attentat muß versucht werden, allein schon um der moralischen Rehabilitierung Deutschlands willen ..." Auch einer der aktivsten unter den Militärs, der General v. Tresckow, schon lange zur Tat drängend, hat sich einige Tage vor dem 20. Juli mit aller Deutlichkeit zu dieser Sicht bekannt: „Das Attentat auf Hitler muß erfolgen um jeden Preis. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.“
Vor solchen Zeugnissen der Unbedingtheit, was immer die Chancen sein mochten, muß INHALT Hans Rothfels Zum 20. Jahrestag der Erhebung des 20. Juli 1944 .................................... S. 3 Walter Bußmann Betrachtungen zum militärischen Widerstand . . . S. 7 Walther Hofer Offiziere mit politischem Verantwortungsbewußtsein .... S. 15 Maurice Beaumont Erhebung einer Elite gegen Tyrannei . S. 20 Ludwig Jedlicka Osteneich und der 20. Juli 1944 . . . S. 24 Wilhelm Ritter von Schramm Zur außenpolitischen Konzeption Becks und Goerdelers........................... S. 29 Francis L Carsten Nationalrevolutionäre Offiziere gegen Hitler............................................. S. 46 Mario Bendiscioli Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1931— 1939 von außen gesehen................................ S. 51 das Geraune um das Vergebliche eines Versuchs verstummen, dem der Erfolg versagt blieb, erweist überhaupt die Kategorie des Erfolges sich als unzureichend und kurzschlüssig. Die Frage, warum alle Anschläge, unter denen der 20. Juli ja nur der letzte in einer Reihe ist, scheiterten, warum eine Summe meist trivialer Zufälle sich ihnen in den Weg legte — Zufälle, die nichts mit mangelnder Entschlossenheit zu tun hatten —, führt ins Spekulative, letzten Endes ins Theologische. Nicht wenige mochten darin — in sehr anderem Sinne als Hitler — die Hand der Vorse-B hung erblicken, der zufolge das Übel ausbrennen sollte und nicht durch Menschenhand abgewehrt werden konnte. Es gibt auch für diese Sicht sehr bewegende Zeugnisse. Sie belegen im Grunde erst recht, aus welcher inneren Notwendigkeit der Gewissensentscheidung, aus welcher Tiefe der seelischen Substanz heraus gehandelt wurde — weit über die Erwägungen des Möglichen und Erreichbaren hinaus.
Damit sei nicht gesagt, daß es Stauffenberg und seinen Verbündeten an handgreiflichen Nahzielen nationaler und verpflichtender Art gefehlt hätte. Es ging um den Sturz eines Regimes, unter dem ein menschenwürdiges Leben und mit dem Frieden nicht möglich war, um Beendigung des Krieges vor dem vollen Weißbluten und ehe das Chaos herein-brach, um die Erhaltung des Vaterlandes mindestens in den Grenzen von 1933. Versuche, darüber bei den westlichen Alliierten oder überhaupt über eine konstruktive Politik gegenüber einem nach-nationalsozialistischen Regime Sicherheit zu erlangen, waren gleichfalls vergeblich. Aber auch das konnte Männer von hohem sittlichen Verantwortungsbewußtsein nicht aus der Aufgabe entlassen, gegen eine Führung vorzugehen, die in den eigenen Untergang ein ganzes Volk mit hinabzureißen gedachte. Gewiß waren die zum Widerstand Entschlossenen in Heimatstäben wie in leitenden Kommandostellen die letzten, der opferreichen Kameradschaftsgesinnung und der Härte der Pflichterfüllung, wie sie an der Front geübt wurde, die Achtung zu versagen, die ihr gebührt. Aber sie selbst mußten eine schwerere Pflicht auf sich nehmen, die um der Erhaltung von Leib und Seele des eigenen Volkes willen zum Durchbruch durch traditionelle Loyalitäten zwang und den Vorwurf von Hochverrat, im extremen Fall auch von Landesverrat, ins Wesenlose zerrinnen läßt. Ja, im Grunde ging es um eine Zurechtrückung der Werte, bei der das nationale Interesse im üblichen Sinn nicht mehr an der Spitze der Rangordnung stehen konnte. Schon die Versuche, den Ausbruch des Krieges, auf den Hitler zutiieb, durch eine internationale Aktion, durch diplomatische Zusammenarbeit über Landesgrenzen hin zu verhindern, zielten nicht nur darauf, Deutschland vor der Katastrophe zu bewahren, sondern auch dem Verbrechen überhaupt ein Ende zu setzen und eine menschenwürdige Ordnung zwischen den Völkern wiederherzustellen.
Im Kriege mit seiner erst recht drängenden Forderung nach nationaler Solidarität steigerte sich das Dilemma der Pflichten und trieb damit um so mehr auf das Grundsätzliche, auf die ethische Unbedingtheit eines Widerstandes hin, bei dem es nicht mehr nur um die Interessen eines Volkes, nicht bloß um Kritik verfehlter Maßnahmen, um ressorthafte Opposition, sondern um Auflehnung gegen das Böse schlechthin, um die Bewahrung des Menschentums überhaupt sich handelte. Im Kirchenkampf beider Konfessionen war dieser Über-gang von einer Teilfront in eine Totalfront vorgebildet worden. Er hat sich unter erschütternden Erfahrungen für viele einzelne wiederholt, die über Klassen-und Parteigrenzen im Bekenntnis zumHumanum ihren Vereinigungspunkt fanden.
Vor diesem Vermächtnishaften wird vollends die Frage nach Ergebnis und Erfolg gegenstandslos oder, wenn anders wir sie ernsthaft nehmen, schlägt sie als Frage und Forderung auf die nachlebenden Generationen zurück. Im Gedenken an die Dahingegangenen und Hingerichteten hat einer der Familienangehörigen die nur zu berechtigte Frage gestellt; berechtigt lange vor der Mauer des 13. August und gewiß nicht nur im Hinblick darauf, was hinter ihr geschieht: „Wer wollte behaupten, daß die dämonische Macht, gegen die sie angetreten und von der sie verschlungen worden sind, uns heute nichts mehr zu schaffen mache, wenn auch ihre nationalsozialistische Inkarnation nicht mehr hervortritt?" So gesehen war der 20. Juli in dem, was über die einmalige Tat hinaus wirkt und hinauszielte, nur erst ein Anfang.
In der Tat wird ja die Rückbesinnung an diesem Gedenktag und aus jeweils drängenderen Erfahrungen heraus an dem schmerzlich Unvollendeten und Abgebrochenen nicht vorbeigehen dürfen. Wir mögen uns mit gewissem Recht darauf berufen, daß in der Überwindung eines engen Nationalismus und in der Förderung des europäischen Zusammenschlusses — trotz starker Rückschläge — das Gedankengut und die Entwürfe des deutschen Widerstands Nachfolge gefunden haben. Diese Entwürfe schlossen mit Selbstverständlichkeit ein wiederhergestelltes Polen und eine wiederhergestellte Tschechoslowakei in den Rahmen der geplanten europäischen Föderation ein, die ihrerseits integrierender Teil einer Weltföderation sein sollte. Die ganze Bemühung um übernationale Lösungen kreiste um das Problem des Friedens zwischen den Völkern als der einzigen gesunden Grundlage für den Frieden zwischen Staaten. Hier haben die Austreibungen und hat die Ver härtung der ideologischen und gesellschaftspolitischen Fronten einen scharfen Schnitt gezogen und den Abbau der auf den nationalsozialistischen Untaten beruhenden Hypotheken verzögert. Im gleichen schmerzlichen Zusammenhang eines unerfüllten Erbes erinnern wir uns der Worte, die Graf Moltke 1942 an einen englischen Freund schrieb: „Für uns ist Europa nach dem Krieg weniger ein Problem von Grenzen und Soldaten, von wasserkopfartigen Organisationen. Die eigentliche Frage, vor die Europa nach dem Krieg gestellt sein wird, ist die, wie das Bild des Menschen im Herzen unserer Mitbürger wiederhergestellt werden kann. Dies aber ist eine Frage der Religion und der Erziehung, der organischen Verbundenheit mit Beruf und Familie, des rechten Verhältnisses zwischen Verantwortung und Anspruch.“
In solchen Worten deuten sich Grundgedanken an, aus denen man personale Rechte und Pflichten der Freiheit herleiten mochte, Grundgedanken eines gesellschaftspolitischen Programms, wie es der Kreisauer Kreis fern aller Verwaschenheit in einer Verbindung christlicher, aristokratischer und sozialistischer Ethik veitrat, in einer Überwindung der Klassenschranken, die dem Menschlichen innerhalb des öffentlichen Raumes Geltung verschaffen, ja es zum Leitstern machen sollte. Man wird das mit dem Ausgleich in der Wohlfahrtsgesellschaft und der Hebung des Lebensstandes für die breiten Massen gewiß noch nicht verwirklicht und gegen die kollektive Wucht der Apparaturen gesichert sehen dürfen, übrigens war dies Sozialprogramm nui eines unter mehreren. Es bedurfte nicht erst der leichtfertigen, ja grob tendenziösen Veröffentlichung der Gestapoberichte zum 20. Juli, um uns über Gegensätze, personal-politische wie staats-und gesellschaftspolitische, in den Widerstandskreisen zu unterrichten. Aber man wird diese Differenzen, etwa zwischen Älteren und Jüngeren, auch nicht im Sinn einer Diskrepanz zwischen Erhaltung und Forschritt oder einer so oder so gearteten Monopolisierung des Vermächtnis-haften überschätzen dürfen. Sie verschwinden fast, verglichen mit der überzeugenden und ungewöhnlich breiten Gemeinsamkeit fast aller Kreise, in der Forderung nach einer auf Freiheit und Selbstverantwortung, auf Menschenrecht und Menschenwürde gegründeten Gesellschaft An dieser Stelle wird mit der Betonung der Gemeinsamkeit im heutigen Rückblick ein Wort der Abwehr in anderer Richtung vonnöten sein. Man findet insbesondere in jüngster Zeit in der historischen Literatur, die jenseits des Vorhangs erscheint, jetzt auch in der sowjetischen Literatur, die These vertreten, daß nur der Kommunismus, nur er überhaupt und nur er konsequent und durchgängig den Nationalsozialismus bekämpft habe. Nun wird gewiß niemand, dem es um die Wahrheit geht und der sich mit der deutschen Opposition ernsthaft beschäftigt hat, bestreiten wollen, daß an ihr kommunistische Gruppen einen nicht unerheblichen Anteil hatten — und dies trotz der Gemeinsamkeit im Totalitären, die zeitweise, insbesondere während des Stalin-Hitler-Paktes, auch ihre Rolle gespielt hat. Aber der Exklusivanspruch widerlegt sich nicht nur an der breiten geschichtlichen Wirklichkeit, er zwängt auch alle Erscheinungen des Widerstands, die höchst vielfältiger Art waren, in ein enges Schema des Klassenkampfes ein. Der Mensch, der leidet oder handelt, verschwindet zugunsten gesellschaftlicher angeblicher Gosetzmäßigkeiten. Recht und Unrecht, Loyalität gegenüber dem Vaterland oder ein Patriotismus, der zum Bruch der Loyalität um der ethischen Unbedingtheit willen bereit ist, Gewissenskampf und Gewissensentscheidung, das Menschliche im Protest gegen das Unmenschliche, solche Begriffe Sind im Sowjet-Bereich offenbar nicht statthaft, weil ihre Anerkennung fatale Konsequenzen antitotalitärer Art haben könnte.
So fällt denn aller bürgerliche und aristokratische, aller gewerkschaftliche und freiheitlich-sozialistische Widerstand im SchwarzWeiß-Gemälde des Klassenkampfes unter den Begriff des „Imperialismus" und der „Reaktion". Nur eine Ausnahme wird in jüngster Zeit gemacht mit einer offenbaren Spaltungstendenz: im heutigen Rückblick kann man an der so konzentriert für das Ganze stehenden und damit letzten Endes stellvertretenden Figur des Grafen Stauffenberg nicht vorbeigehen. Er wird anerkannt als glühender Patriot in dem Sinne wie sein Vorfahre Gneisenau, der ja auch zugleich als „Klassenkämpfer" reklamiert wird, als Mann, der den Werktätigen die Hand reichen wollte, als Freund nicht nur Rußlands, sondern der Sowjets. So soll denn die Stauffenberg-Gruppe sich nach Stalingrad unter dem Einfluß des „Nationalkomitees Freies Deutschland" gebildet haben, wofür ausgerechnet der „Völkische Beobachter“ als Zeuge angeführt wird.
Ein solcher Zusammenhang nun hat nachweislich in keiner Weise bestanden, und auch die Russenfreundschaft sieht sehr anders aus, als die Propaganda es wahrhaben will. Sie betätigte sich zunächst im humanen Sinne, indem Stauffenberg eine große Anzahl russischer Kriegsgefangener freisetzte, die Hitler zum Hungertod verurteilt hatte, und sie dann in militärischen Formationen zusammenfaßte, die nicht als deutsches Kanonenfutter, sondern als antisowjetische Befreiungsarmee dienen sollten. An bedeutsamen Ansätzen einer solchen Unternehmung hat es nicht gefehlt. So galt Stauffenbergs Denken und Planen der Befreiung aller Völker, die unter tyrannischer Herrschaft litten, und sicherlich nicht einer Ersetzung der Hitlerschen Diktatur durch die Stalins.
Hier wird eine Schlußbetrachtung anzuknüpfen sein, die uns an diesem Erinnerungstag besonders obliegt und die das „Fanal" des 20. Juli mit dem des 17. Juni verknüpft. Besteht nicht, so zwingt es sich uns auf, eine weit mehr als äußere Verbindung, jedenfalls in unserem heutigen Gedenken, zwischen dem 20. Juli und dem 17. Juni, zwischen der Erhebung, so könnte man formulieren, gegen einen pervertierten Nationalismus hier, einen pervertierten Sozialismus dort, also auch in der Zone gegen den totalen Anspruch auf den Menschen, wenn auch unter anderen Vorzeichen gestellt, aber bis heute und heute erst recht andauernd? Gewiß waren der unmittelbare Anlaß und die Ausdrucksformen beider Ereignisreihen, an die uns die beiden symbolischen Daten gemahnen, sehr verschiedener Art. Aber so sehr das Besondere und Unvergleichliche zu betonen ist, das der deutschen Opposition und dem Tag, an dem sie gipfelte, nach den Bedingungen ihrer Existenz und ihren Kampfes eignete, so sehr hat sie zugleich eine Vorhut gebildet in dem uns immer wieder aufgegebenen Ringen gegen die Anmaßung des Totalitären in allen seinen Farben, braun oder rot. Sie war gewiß auch in einem bestimmten Sinne nationale Unabhängigkeitsbewegung, aber mehr noch und prinzipiell auf Bewahrung und Wiederherstellung der Werte, der leitenden Maximen, der verbindlichen Postulate gerichtet, ohne die eine freie Welt nicht bestehen kann. Solche Forderungen, die um des Menschen und seiner Menschlichkeit willen gestellt werden, dürfen vor keinem Vorhang und keiner Mauer Halt machen. Das heißt aber, daß das Problem der Teilung unseres Landes uns nicht nur unter nationalem Vorzeichen angeht, dem der Ermöglichung der Wiedervereinigung, sondern ein universal menschliches ist, eines, das uns insbesondere deshalb zur Mitverantwortung aufruft, weil die Brüder und Schwestern drüben stellvertretend für uns das Opfer der Fremdherrschaft von außen und der Unfreiheit von innen geworden sind. Für die Erleichterung ihrer Lage, für die Wiedererringung ihrer Selbstbestimmung, welches soziale System immer sie wählen mögen, von unserer Seite jedes nur tragbare, das heißt nicht an die so schwer errungene eigene Selbstbestimmung und freiheitliche Ordnung rührende, Opfer zu bringen, auch dazu ruft uns das Gedenken an den 20 Jahrestag des 20. Juli auf.