Ist eine Revision des Nürnberger Urteils erforderlich?
Wer der Geschichtswissenschaft die Frage stellt, ob ihr Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkriegs heute wieder als Forschungsprobleme gelten, der stellt damit die konkrete Frage, ob wir neuerdings Veranlassung haben, den Anteil Adolf Hitlers am Ausbruch des Krieges anders zu sehen als bisher. Sind nicht — diese Vermutung wird oft geäußert — im Laufe der Jahre Dokumente und Zeugnisse zugänglich geworden, wurden nicht zunächst verborgene oder übersehene außenpolitische Zusammenhänge erkennbar, die der anfänglichen und etwa durch das Urteil des Nürnberger Gerichts symbolisierten Gewißheit von der Allein-oder doch Hauptschuld Hitlers mittlerweile den Boden entzogen haben? Hat die Wissenschaft jetzt Möglichkeiten und mit den Möglichkeiten natürlich auch die Pflicht, gewissermaßen als Berufungsinstanz des Nürnberger Gerichts zu fungieren und das damalige Urteil zu revidieren?
Die Frage ist verständlich und ernst zu nehmen. Als Organ der Siegermächte stand und steht der Nürnberger Gerichtshof unvermeidlich im Zwielicht, und der Verdacht, sein Verfahren habe lediglich die nach Nürnberg führende und die zur Zeit der Nürnberger Prozesse verfolgte Politik der gegen das nationalsozialistische Deutschland zusammengeschlossenen Koalition rechtfertigen sollen, dieser Verdacht wird begreiflicherweise nie ganz auszuräumen sein. Daß mit einem solchen Verdacht notwendig das Mißtrauen gegenüber den Feststellungen und Wertungen jener Prozesse verbunden war und ist, bedarf keiner näheren Begründung. Aber auch wer dieses Mißtrauen nicht teilt, wird das Argument würdigen müssen, bei Gerichtsverfahren, die politische Ereignisse zum Gegenstand haben, decke sich forensische Wahrheit kaum jemals mit historischer Wahrheit. Ankläger wie Verteidiger haben andere Aufgaben als der Historiker, und ein Plädoyer ist seiner Natur nach kein wissenschaftlicher Aufsatz; auch der Richter wird nur die juristisch faßbare und juristisch beurteilbare Seite des politischen Geschehens in seinem Urteil erschließen können: seine Erkenntnisse werden dann zwar im allgemeinen nicht falsch, aber meist eben doch unvollständig sein.
Allerdings: Nürnberg ist schließlich nur ein Symbol. Die Kriegsschuld Hitlers ist weder allein in Nürnberg noch auch nur zum ersten-mal in Nürnberg behauptet worden, und daß die Geschichtswissenschaft, im Ausland wie in Deutschland selbst, immerhin die Kernthese des Nürnberger Verfahrens, nämlich die These von der Kriegsschuld der nationalsozialistischen Führung Deutschlands, ebenfalls vertrat und vertritt, ist wohl zum Teil mit der Überzeugungskraft der in Nürnberg vorgelegten Dokumente zu begründen gewesen, war jedoch nie vom Nürnberger Material allein abhängig und stützt sich inzwischen auf eine noch viel breitere Basis.
Versäumnisse der Geschichtswissenschaft
Trotzdem bleibt jene Frage verständlich. Und zwar nicht deshalb, weil sich die Skepsis gegen die Ergebnisse von Nürnberg unwillkürlich auf eine auch, mit Nürnberger Quellen arbeitende und zu ähnlichen Resultaten gelangende Geschichtswissenschaft übertragen müßte. Ebensowenig kann die Forderung, man solle die Möglichkeiten einer sozusagen revisionistischen Geschichtsschreibung prüfen, einfach und leichthin auf das Bedürfnis nach nationaler Rechtfertigung, auf Unbelehrbarkeit oder auf neonazistische Umtriebe geschoben werden. Gewiß sind da und dort solche Momente im Spiele, aber in erster Linie muß doch ein Versäumnis der Geschichtswissenschaft selbst konstatiert werden, das heißt ein Versäumnis von uns Historikern. Und zwar hat unsere Selbstkritik der bemerkenswerten Tatsache zu gelten, daß bislang kein Historiker eine umfassende Darstellung der außenpolitischen Entwicklung im Europa der Zwischenkriegszeit oder wenigstens der Außenpolitik des Dritten Reiches geschrieben hat, eine Darstellung, die das heute in geradezu erdrückender Fülle vorliegende Quellenmaterial unvoreingenommen und kritisch ausgeschöpft hätte. Freilich stehen einige der wichtigsten Quellen-komplexe erst seit relativ kurzer Zeit zur Verfügung, und trotz der Fülle des Materials sind nicht unwichtige Akten der Forschung noch immer verschlossen. Aber die Quellenbasis ist solide immerhin schon eine ganze Weile genug, und das Zögern der Historiker, eine solche Gesamtdarstellung zu versuchen, ist kaum auf die Sorge vor dem Veralten der eigenen Arbeit zurückzuführen.
Der eigentliche Grund ist wohl anderswo zu suchen. Die Auffassung, Hitler trage die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges, schien so gesichert zu sein und von jedem neu publizierten Aktenband wie von allen nach und nach veröffentlichten ernsthaften Memoiren lediglich bestätigt zu werden, daß es keinen Historiker sonderlich reizte, sich mit einem Thema zu beschäftigen, das offenbar kein Forschungsproblem, sondern nur ein Darstellungsproblem bot. Schließlich leitet den echten Historiker bei seiner Arbeit nicht zuletzt die Lust, in unerforschtes Gebiet vorzustoßen; und die Lockung, die von weißen Flächen auf der Karte der Geschichte ausgeht, schien bei der Frage des Kriegsausbruchs völlig zu fehlen. Wer sich trotzdem mit Außenpolitik beschäftigte, wandte sich Detailfragen zu, den in ihrem Ablauf noch nicht ganz aufgehellten Einzelereignissen: der Wiederbesetzung des Rheinlandes etwa, dem Münchner Abkommen oder der diplomatischen Geschichte der letzten Friedenstage. Er vollendete gleichsam die noch unfertigen Stellen eines in Wahrheit noch gar nicht gemalten, sondern nur vorgestellten Bildes. Und diese ergänzende Arbeit spielte sich überdies, wie fast jede ergänzende wissenschaftliche Arbeit, zunächst innerhalb der Zunft ab; ihre Ergebnisse erreichten die Öffentlichkeit nur in begrenztem Maße. Es blieben also Lücken, und solche Lücken haben nun einmal die Eigenschaft, Fragen und Zweifel zu provozieren, Fragen und Zweifel an einem zwar fundiert behaupteten und gewußten, aber lediglich in Spezialuntersuchung punktuell festgehaltenen Sachverhalt; — daß derartige Fragen erst recht und besonders hartnäckig dann gestellt werden, wenn der behauptete Sachverhalt unangenehm ist, wenn er, wie im Falle der Kriegsschuld, sogar eine schwere Belastung unseres Nationalgefühls darstellt, versteht sich von selbst.
Hoggan und Taylor: Freispruch Hitlers
Seit einiger Zeit gibt es jedoch zwei größere Versuche der Auseinandersetzung mit diesen Zweifeln, wenn wir von der alt-und neonazistischen Rechtfertigungsliteratur einmal absehen, und beide Versuche erheben mit Nachdruck den Anspruch, nachgewiesen zu haben, daß die Zweifel berechtigt und die Nürnberger Schuldsprüche bestenfalls Justizirrtümer waren, daß Hitler in der Tat nicht nur nicht Hauptschuldiger, sondern in Wahrheit sogar unschuldig gewesen sei. Sowohl in dem Buch des Engländers Taylor „Die Ursprünge des Zweiten Weltkriegs" wie in dem Buch des Amerikaners David L. Hoggan „Der erzwungene Krieg" wird der Führer des nationalsozialistischen Deutschland von jeglicher Kriegsschuld freigesprochen.
Taylor macht die allgemeine europäische Entwicklung, die Schwächen und Fehler aller damals auf der politischen Bühne Europas agierenden Politiker und ihre schon seit der Gründung des Deutschen Reiches zu beobachtende Unfähigkeit, mit dem Problem Deutschland fertig zu werden, für den Ausbruch des Krieges verantwortlich. Wo wir bisher Schuld sahen, sieht er Fahrlässigkeit und bloße diplomatische Fehler; wo wir bisher planvolle und zielstrebige Politik erkannten, findet er nur den Einfluß von Umständen, Gegebenheiten und Verhältnissen. Getreu seiner Grundthese, es gebe überhaupt keine Politik, die über die jeweilige Situation hinaus-denke — eine These, die er auch schon am Beispiel Bismarcks zu demonstrieren versucht hat —, schreibt er eine Geschichte, die „keine Helden und vielleicht nicht einmal Schurken“ kennt. Der Kriegsausbruch erscheint in seiner Darstellung als eine Art Verkehrsunfall der internationalen Politik, bei dem die Beteiligten vielleicht ein etwas leichtsinniges Fahrverhalten gezeigt, sich aber weder schwerer Versäumnisse noch gar der Trunkenheit am Steuer schuldig gemacht hatten.
Ganz anders Hoggan. In seinem Drama treten fast nur Helden und Schurken auf, und zwar sieht er die Helden in den damaligen Ver4 tretern der deutschen Politik, soweit sie nicht als Botschafter in Warschau, Moskau, Londoni und Paris die genialen Intentionen des „Führers" aus Unfähigkeit oder Böswilligkeit sabotierten, während die Rolle der Schurken Repräsentanten Polens und vor allem Englands übernehmen müssen. Den Ehrenplatz seiner Galerie der Schufte erhält ausgerechnet der Außenminister der britischen Appease-ment-Politik, Lord Halifax, den Hoggan als einen skrupellos-diabolischen Diplomaten zeichnet, der 1939 wider alle Vernunft und Moral eine friedliche Lösung der deutsch-polnidie! Differenzen verhindert und der den friedliebenden, überaus vorsichtigen, manchini geradezu unbegreiflich geduldigen und langmütigen deutschen Reichskanzler schließlich zum Krieg gezwungen habe.
Unterschiedliche politische Absichten
Man kann wohl sagen, daß beide Versuchej mißglückt sind, der Anspruch beider ohne die: mindeste Fundierung erhoben wird und der verkündete Freispruch unhaltbar ist. Mißglückt, unfundiert und unhaltbar nicht schoni deshalb, weil beide Autoren ihre Bücher einer bestimmten politischen Absicht geschrieben haben: Taylor, um den Engländern zu beweisen, daß der Zweite Weltkrieg nicht durchi Hitler entfesselt, sondern durch das deutsche; Problem verursacht worden sei, und daß daher ein entschärftes Problem Deutschland, das: heißt ein geteiltes Deutschland, für Europa 1 wünschens-und bewahrenswert sei — Deutschen hätten die wahre Natur ihrer Politik, so sagt Taylor, lange genug hintem dem toten Hitler versteckt, es sei nun an der Zeit, Legenden entgegenzu treten, die natürliche und unvermeidliche, aber für die Umwelt ebent nicht akzeptable politische Impulse eines ganzen Volkes als Maßlosigkeit und politisches; Abenteurertum eines einzigen Manens erklä-ren wollen; Hoggan dagegen in der Absicht, im Interesse des gemeinsamen Kampfes gegen den Kommunismus die historischen Belastungen des deutsch-amerikanischen Bündnisses abzutragen. Mißglückt, unfundiert und unhaltini auch nicht schon deshalb, weil sowohl Taylor wie Hoggan die innen-und wirtschaftspolitische Entwicklung Deutschlands nach dem 30. Januar 1933 und das Geschehen nach Kriegsausbruch so gut wie gar nicht berücksichtigen, ferner jede nähere Betrachtung der nationalsozialistischen Bewegung und ihrer Ziele peinlich vermeiden. Das ist zwar eben-die‘ höchst bedenklich, da alle drei Komplexe zum Verständnis der nationalsozialistischen Außenpolitik im Grunde unentbehrlich sind. Immerhin müßte eine Beschränkung auf die pure Außenpolitik brauchbare Erkenntnisse ebensowenig von vornherein ausschließen wie die politische Zielsetzung Taylors und Hoggans.
Mißachtung der Regeln wissenschaftlicher Methodik
Nein, mißglückt, unfundiert und unhaltbar deshalb, weil beide Bücher nicht lediglich methodisch anfechtbar sind, sondern nicht einmal den primitivsten handwerklichen Regeln wissenschaftlicher Methodik entsprechen: In beiden Büchern werden mindestens vier Fünftel der heute zur Verfügung stehenden Quellen und mindestens neun Zehntel der heute vorliegenden Literatur einfach nicht zur Kenntnis genommen, auch dann nicht zur Kenntnis genommen, wenn sie im Quellen-und Literaturverzeichnis erscheinen. In beiden Büchern werden die tatsächlich herangezogenen und zitierten Quellen in geradezu grotesker, jedem normalen Denken hohnsprechender Weise interpretiert. In beiden Büchern wird für die aufgestellten Behauptungen nicht der unscheinbarste Beleg geliefert und kein noch so dürftiger Beweis erbracht. Taylor wechselt, zweifellos nicht ohne Eleganz, seine Spielregeln nach Belieben, und Hoggan spielt einfach falsch. Gewiß, der Historiker sollte sich nicht allein in seiner eigenen Arbeit, sondern auch bei der Beurteilung von Büchern seiner Kollegen, und um Kollegen handelt es sich bei Taylor und Hoggan, zu Objektivität und Gelassenheit zwingen. Aber im Falle dieser beiden angelsächsischen Autoren ist es unmöglich, gelassen zu sein, sofern man objektiv bleiben will: das schärfste Urteil ist das objektive, nämlich das richtige.
Wenn Taylor die Bedeutung der im sogenannten Hoßbach-Protokoll festgehaltenen Konferenz vom 5. November 1937, in der Hitler seine Angriffspläne darlegt, mit dem Argument anzweifelt, Hitler habe seine geheimsten Gedanken wohl kaum Männern anvertraut, die alle, außer Göring, alte Konservative gewesen und nur deshalb im Amt geblieben seien, weil sie Hitler zu kontrollieren beabsichtigten, und die Hitler überdies schon bald habe entlassen wollen, so ist das noch ein relativ harmloser Fehler. Schließlich könnte es Mr. Taylor ja tatsächlich entgangen sein, daß von den Konferenzteilnehmern nicht einer, Außenminister Neurath zu Zeiten vielleicht ausgenommen, je daran gedacht hat, Hitler kontrollieren zu wollen, daß Kriegsminister Blomberg sogar ein ungewöhnlich hitlerhöriger Mann war, den der „Führer" nur sehr ungern verabschiedete. Es könnte Mr. Taylor auch entgangen sein, daß Hitler Fritsch und Neurath nicht schon entlassen wollte, als er am 5. November 1937 vor ihnen sprach, sondern erst nach jener Konferenz, nämlich dann, als ihm ihr Widerspruch gegen seine Darlegungen klargemacht hatte, daß er für eine kriegerische Politik bedenkenlosere und nachgiebigere Naturen brauchte. Schließlich könnte Mr. Taylor noch entgangen sein, daß Hitler lange Jahre, wenn auch mit ständig wachsenden Zweifeln, in Generalen und Admiralen nicht, wie Taylor meint, „alte Konservative" gesehen hat, sondern, nach seinem eigenen Zeugnis, kriegslustige Wüteriche, mit denen er über seine außenpolitischen Ziele sehr offen reden zu können meinte; nach dieser Vorstellung hat er schon wenige Tage nach der Machtergreifung, am 3. Februar 1933, im Hause des damaligen Chefs der Heeresleitung, von Hammerstein, gehandelt und seine künftige Außenpolitik in beispielloser Deutlichkeit entwickelt.
Unverzeihlich aber, methodisch unverzeihlich, ist es, daß Taylor nicht nur diese, sondern die ganze lange Reihe Hitlerscher Selbst-enthüllungen mit einem belästigten Achselzucken als „Wachträume" beiseite schiebt und ihnen jeglichen Aussagewert abspricht, gleichermaßen unverzeihlich, daß er die Akten zur deutschen Außenpolitik, ebenso die britischen und amerikanischen Aktenpublikationen oder die italienischen Dokumente, zwar gelegentlich zitiert, aber ihren Inhalt ignoriert. Entgegen allen handwerklichen Regeln der Geschichtswissenschaft verzichtet Taylor darauf, die internen Äußerungen der handelnden Politiker genau zu studieren und vernünftig zu interpretieren, und mißt statt dessen ihren öffentlichen Reden, etwa auf Parteitagen, größere Beweiskraft bei. Dazu ist nur zu bemerken, daß ein Verfahren, das einen Studenten im Historischen Seminar stolpern läßt, noch lange nicht deshalb geistvoll ist, weil es von einem Professor praktiziert wird.
Taylors staunenswerte Resultate
Es ist vielleicht eine offene Frage, ob Taylors eigenartige Methodik zu seinen merkwürdigen Thesen geführt hat, oder ob seine merkwürdigen Thesen eigenartige Methoden erforderten. Jedenfalls kommt seine Arbeit zu staunenswerten Resultaten. Die von Taylor aufgestellten Behauptungen sind sicherlich nonkonformistisch, aber an ihnen zeigt sich die alte Wahrheit, daß eine nonkonformistische Behauptung nicht schon deshalb richtig sein muß, weil sie nonkonformistisch ist.
Wenn Taylor etwa schreibt, Hitler habe bis zum Schluß der Sudetenkrise überhaupt keine Forderungen gestellt, so wirkt das noch erheiternd; hat doch Taylor zu Hitlers Haltung in Godesberg selber die Frage gestellt: „Warum schlug Hitler diesen Weg ein, wenn er durch Verhandlungen alles erhalten sollte, was er gefordert hatte?“ Wenn Taylor aber sagt, Hitler habe die Tschechoslowakei gar nicht zerstören wollen, so ist das im Lichte der
Dokumente und der Ereignisse eine zweifellos bewußte Irreführung. Wenn Taylor erklärt, Hitler habe die Slowakei um ihrer selbst willen unterstützt, so ist das lediglich komisch. Wenn er aber behauptet, Hitler sei im Frühjahr 1939 vom „Zerfall“ der „Resttschechei“ überrascht worden, habe besagte Resttschechei eigentlich wider seinen Willen besetzt und sich zu seinem größten Erstaunen plötzlich auf dem Prager Hradschin gefunden, so ist das nach den Taylor doch wohl bekannten Dokumenten eine bewußte Unwahrheit. Oder sollte Mr. Taylor, obwohl er die Akten zur deutschen Außenpolitik manchmal zitiert, ausgerechnet jene Berichte übersehen haben, in denen sich die Emissäre deutscher Reichsstellen Anfang März 1939 geradezu verzweifelt über die Passivität der Tschechen beklagen, die auch durch grobe und organisierte Provokationen nicht zu sogenannten „Zwischenfällen" zu reizen seien? Hat Mr. Taylor auch die deutschen Protokolle über die nicht eigentlich unbekannten Unterredungen zwischen Hitler und Tuka am 12. Februar beziehungsweise Hitler und Tiso am 13. März 1939 nicht gelesen, in denen Hitler die slowakischen Politiker zur Proklamierung einer unabhängigen Slowakei ermunterte und schließlich sogar zwang? Wenn Taylor einerseits Hitler einen rationalen Staatsmann nennt, es aber andererseits fertigbringt, drucken zu lassen, der von Hitler am 25. August 1939 schon gegebene, dann aber auf Grund bestimmter Umstände widerrufene und nur durch eine nachrichtentechnische Höchstleistung wieder rückgängig gemachte erste Befehl an die Wehrmacht zum Einmarsch in Polen sei „Schmierenschauspielerei" gewesen und Hitler habe sich nicht überlegt, daß sein Befehl tatsächlich befolgt würde, wenn Taylor ferner erklärt, Hitler habe den letztmöglichen Termin für den Angriff auf Polen, also den 1. September 1939, dadurch ermittelt, daß er mit einer Nadel in den Kalender stach, dann ist die Grenze zwischen mehr oder weniger geistvollen Witzen und reiner Clownerie überschritten. Es sei gern eingeräumt, daß Taylors Buch auch beachtenswerte, ja, glänzende Passagen enthält; das ändert aber nichts an der Tatsache, daß dieses Buch eines an sich ungewöhnlich begabten Historikers weithin und gerade in den entscheidenden Abschnitten als munteres Hin und Her zwischen intellektueller Gaukelei und bewußter Irreführung charakterisiert werden muß. Eine vernünftige Auseinandersetzung ist mit einem derartigen Werk natürlich unmöglich.
Wissenschaftlicher Apparat — unwissenschaftliches Buch
Da Taylor seinen Geist und seinen Verstand nicht ganz unterdrücken konnte, da er außerdem noch den abwegigstenBehauptungen seine beachtliche Formulierungskunst dienstbar macht, war es immerhin nicht völlig unerklärlich, daß sich manche Rezensenten auch angesehener deutscher Zeitungen von ihm nicht unbeeindruckt zeigten. Daß es aber in Deutschland außerhalb der Redaktionen neonazistischer Organe Leute gegeben hat, die dem Pamphlet Hoggans wissenschaftlichen Charakter zu-schrieben und wissenschaftlichen Wert bei-maßen, könnte zur Melancholie verführen.
Gewiß, Hoggan sucht mit einem gewaltigen Quellen-und Literaturverzeichnis und mit einem nicht minder ausladenden, übrigens gänzlich unamerikanischen Anmerkungsapparat den Eindruck von Ernst, Gründlichkeit und Akribie zu erwecken. Gewiß, der normale Leser wird es einfach nicht für möglich halten, daß sich ein offenbar so gelehrter Mann allzu weit von der Wahrheit entfernen kann. Doch sollte schon die Lektüre der ersten Kapitel, die sich mit der polnischen Entwicklung vor und nach 1918 beschäftigen, jeden Leser zumindest mißtrauisch stimmen: daß man bei der Mehrzahl der Sätze erst mühsam herausfinden muß, was der Autor eigentlich sagen will, mag zunächst noch mit als Schuld der Übersetzer erscheinen, aber spätestens nach fünfzig Seiten muß die Erkenntnis dämmern, daß die Unklarheit und Verworrenheit der Formulierung auch eine Folge unklaren und verworrenen Denkens ist, und dem sollte wenigstens der Verdacht folgen, daß einem Historiker, der keine Situation, keinen Gedankengang, keinen politischen Kurs verständlich darstellen kann, wahrscheinlich auch die richtige Interpretation und Einordnung seiner Quellen schwerfallen dürfte. Die Häufung von Widersprüchen, die schrillen Töne seiner sachlichen und persönlichen Werturteile, die ungewöhnlich deutlich sichtbare Unfähigkeit zum „sicheren Takt des Urteils", wie Clausewitz das genannt hat, müßten ebenfalls zu dem Zweifel führen, ob Hoggans eindrucksvoller wissenschaftlicher Apparat tatsächlich als Beweis für die Wissenschaftlichkeit des Buches gelten darf. Schließlich drängt die Lektüre der ersten Kapitel auch schon die Frage auf, ob hier ein nicht nur verworrener Geist am Werke ist. Die Tendenz nämlich, irgendeinen mehr oder weniger bedeutenden polnischen Publizisten als den großen Theoretiker der polnischen Außenpolitik zu präsentieren, hat eine auffallende Ähnlichkeit mit der Technik jener professionellen Antideutschen in England und Amerika, die während der beiden Weltkriege und nach 1945 in ihren Propagandaschriften die Phantasie eines alldeutschen Autoren als die dauernd gültige theoretische Grundlage der deutschen Außenpolitik vorstellten und so den ewig aggressiven Charakter der Deutschen „bewiesen".
Hoggans verblüffende Zensuren
Dem zeitgeschichtlichen erfahreneren Leser wird noch anderes auffallen. Er wird sich zum Beispiel wundern, daß ein so gründlicher Mann wie Hoggan den noch relativ jungen tschechischen Historiker Boris Celovsky als führenden tschechischen Sachverständigen zur Zeit der Sudetenkrise bezeichnet oder im Dezember 1938 einen „strenggläubig katholischen Justizminister“ Hitlers namens Hans Frank auftreten läßt, obwohl der spätere Generalgouverneur in Polen 1938 weder strenggläubig katholisch noch Justizminister war. Nicht weniger verblüffend sind die Zensuren, die Mr. Hoggan in seinem Literaturverzeichnis austeilt. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß er alles, was je ein Nationalsozialist vor oder den nach 1945 publiziert hat, mit Beiwörtern „glänzend", „hervorragend", „unentbehrlich" schmückt.
Erstaunlich ist vielmehr, daß er etwa die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit von Mau/Krausnick als „sachkundig" rühmt oder für die Geschichte des Münchner Abkommens von dem bereits genannten Boris Celovsky anerkennende Worte findet. Würden diese beiden Bücher der Arbeit Hoggans nur in der Bewertung der Fakten und nur in der Interpretation der Dokumente widersprechen, so könnte das Urteil Hoggans sogar als Beweis wissenschaftlicher Objektivität und ritterlicher Gesinnung aufgefaßt werden — und das dürfte er auch bezweckt haben. Aber beide Bücher widersprechen Hoggan Seite für Seite in der Feststellung der Fakten und in der Feststellung des Inhalts von Dokumenten. Daher sollte Hoggan, wenn ihm Bücher dieser Art als gut erscheinen, sein eigenes Elaborat mit größtem Mißtrauen betrachten. Hoggan scheint auch die kleine Studie des Verfassers über die Kristallnacht zu schätzen, so ist wenigstens aus seiner Zensur zu schließen; das hindert ihn aber nicht, ein später erschienenes Buch zum gleichen Thema, das sich mit dieser Arbeit inhaltlich völlig deckt, dessen Verfasser jedoch das Pech hat, Engländer zu sein, als „grotesk ungenau" zu qualifizieren.
Schnitzer dieser Art gehören aber noch zu einer vergleichsweise harmlosen Kategorie von Fehlern. Es sind Fehler, die dem aufmerksameren Leser vor allem die Warnung signalisieren, sich von der Zahl der Fußnoten nicht einschüchtern zu lassen. In die gleiche Kategorie rechnen Widersprüche, zu deren Entdekkung das Mikroskop des Fachmannes ebenfalls unnötig ist. So schreibt Hoggan zum Beispiel, die Polen hätten 1938/39 gehofft, England werde das Interesse an Osteuropa verlieren, um jedoch zwanzig Zeilen weiter zu sagen, die Polen hätten sich blindlings auf die von ihnen gewünschte britische Hilfe verlassen. Und an einer anderen Stelle erklärt er etwa, Hitler habe zwar in der Tat öffentlich verkündet, das Sudetenland sei seine letzte territoriale Forderung in Europa, aber wenn danach „wendige Propagandisten" behaupten, Hitler habe sein Wort gebrochen, als er kurze Zeit nach dem Münchener Abkommen Danzig und den polnischen Korridor verlangte — den Marsch nach Prag findet Hoggan in diesem Zusammenhang gar nicht mehr erwähnenswert —, so sei das „eine Ignorierung der Wahrheit".
Fälschertechnik
Indes liegt das schwerwiegendste Gebrechen des Hogganschen Buches, das Gebrechen, das dem Verfasser gewissermaßen die wissenschaftliche Satisfaktionsfähigkeit kostet, auf einer ganz anderen, noch niedrigeren Ebene. Es ist allerdings ein Gebrechen, das nur der Fachmann exakt feststellen kann, und zwar einfach deshalb, weil nur der Fachmann das dazu nötige Handwerkszeug besitzt. Wer sich, aufgestört durch Fehler der bislang genannten Kategorie, die Mühe nimmt, Hoggan nicht nur zu lesen, sondern seinen imponierenden wissenschaftlichen Apparat einmal schärfer zu durchleuchten, das heißt die Wiedergabe der Quellen bei Hoggan mit dem Originaltext der Dokumente zu vergleichen, der wird höchst erstaunt sein. Man zögert unwillkürlich, einen Kollegen als Fälscher zu bezeichnen, aber dieser Ausdruck läßt sich hier leider nicht umgehen. Vielleicht wäre es korrekter, Hoggan einen Verfälscher zu nennen, doch glaube ich, daß diese feine Unterscheidung hier bedeutungslos ist. Wenn Hoggan zum Beispiel den Bericht eines Botschafters zitiert und dabei dem Diplomaten Sätze unterschiebt, die dieser niemals geschrieben hat, wenn er andererseits Sätze oder Satzteile unterschlägt, die dem Zitierten einen ganz anderen Sinn geben, wenn er behauptet, in einer Führerweisung an die Wehrmacht, in dem Memorandum eines Beamten des Londoner Foreign Office oder in einem Schreiben des britischen Außenministers stehe das und das, während in Wahrheit genau das Gegenteil zu finden ist, so kommt das in der Wirkung auf den Leser einer Fälschung des Dokuments selbst gleich; zumal ja der durchschnittliche Leser keine Möglichkeit hat, Hoggans Fälschertechnik zu entlarven, und zunächst einmal von der an sich selbstverständlichen Annahme ausgehen wird, daß auch Hoggan der an jeden Historiker zu stellenden Mindestforderung genügt, ohne Rücksicht auf Tendenz und Auffassung die Quellen korrekt wiederzugeben.
Niemand ist sonderlich befremdet, wenn da, wo die herrschende Partei eines totalitären Staates dem nur so genannten Historiker die Feder führt, Dokumente entstellt und verfälscht werden; wer also zum Beispiel die sowjetische „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges 1941— 1945" liest und dabei feststellt, daß hier etwa aus dem Tagebuch des deutschen Generalstabschefs Halder Sätze zitiert werden, die in dem Tagebuch selbst nicht zu entdecken sind, der wird es im allgemeinen überflüssig finden, sich darüber zu erregen — von kommunistischer Zeitgeschichte kann man eben nichts anderes erwarten. Wenn wir aber auch bei uns die Praktiken der totalitären Propagandahistorie widerspruchslos einreißen lassen, wenn wir nicht mehr darauf vertrauen können, daß die Arbeit eines Historikers jene Mindestforderung erfüllt, dann hört Geschichtsschreibung auf, eine Wissenschaft zu sein, und nur als Wissenschaft kann sie existieren. Nicht daß Hoggan Hitler rechtfertigen möchte oder Lord Halifax als Kriegshetzer charakterisiert, ist das Ärgernis, nein, zum Ärgernis werden die dabei angewandten und unaufgebbare Normen unserer Tätigkeit bedrohenden Methoden.
Erfindungen und Verdrehungen
Eine so ernste Beschuldigung muß natürlich auch in einem relativ eng gespannten Rahmen begründet und bewiesen werden. Beginnen wir mit einer geradezu kindischen Fälschung, die für Hoggans Tendenzen und Thesen eigentlich nicht sehr hilfreich ist. Paul Schmidt erzählt in seinem Buch „Statist auf diplomatischer Bühne": „Näheres [über die Zurücknahme des ersten Hitlerischen Angriffsbefehls am 25. August 1939] erfuhr ich dann aus den Gesprächen mit den wartenden Offizieren in der Halle [der Reichskanzlei] ... , Es wird ein furchtbares Durcheinander geben', sagte ein Major, . wenn die auf dem Vormarsch befindlichen Truppen wieder rechtzeitig zurückbeordert werden sollen. Auf den Straßen an den Grenzen wird jetzt vielstimmig geflucht werden. ’ Und dann fügte er hinzu: , An allem seid ihr Diplomaten schuld. Hättet ihr euch die Sache doch eher überlegt und uns nicht erst losgeschickt, wenn nun doch wieder alles anders kommt.'Es war eine herbe, aber wohlverdiente Kritik an dem . Diplomaten'Hitler." Ausdrücklich auf diese Stelle gestützt, schreibt Hoggan: „Hitlers Zurücknahme des Angriffs-befehls verursachte natürlich Bestürzung in der deutschen Wehrmacht. Einer der deutschen Generale wurde am Abend des 25. August 1939 zur Wilhelmstraße entsandt, um sich entrüstet zu erkundigen, warum man die Soldaten in Marsch gesetzt habe, wenn man die Differenzen mit Polen auf diplomatischem Wege beizulegen beabsichtige. Das Auswärtige Amt hatte keine passende Antwort auf diese peinliche Frage."
Ernster ist es schon, wenn Hoggan sagt, es ist hier gleichgültig in welchem Zusammenhang: „Kennard [der britische Botschafter in Warschau] ... war entsetzt über die Taktlosigkeit Halifax', gleichlautende Noten an Warschau und Budapest zu senden. Er drückte sein Befremden darüber am 22. September 1938 in einem Bericht an das Foreign Office aus... Kennard betonte, daß die deutschfeindliche Stimmung in Ungarn zu schwach sei, um Großbritannien zu nützen, wies aber auf den in Polen weitverbreiteten Haß gegen die Deutschen hin. Er hob hervor, daß eine Steigerung dieses Hasses im Interesse Englands liege, unachtsame Kränkungen Warschaus, wie sie Halifax sich geleistet hatte, diesen Deutschenhaß zerstreuen würden." Hoggan nennt die Quelle (es ist in diesem Kapitel seine 105. Anmerkung), aber wenn man sich den zitierten Bericht ansieht, so entdeckt man, daß Kennard weder das eine betont, noch das andere hervorgehoben, auch keineswegs seinem Befremden über irgend etwas Ausdruck gegeben hat; wohlgemerkt, Hoggan hat nicht etwa die zurückhaltenden Formulierungen eines Diplomaten in gröberes Deutsch übersetzt, er hat das Ganze einfach erfunden. Völlig unbegreiflich, ist es, daß Hoggan behauptet, der amerikanische Botschafter Biddle habe am 28. März 1938 aus Warschau berichtet, viele polnische Juden hielten die Sowjetunion für ein wahres Paradies im Vergleich zu Polen, und die Zerstörung des neuen Polen würde unter Umständen die Verhältnisse für die Juden bessern. Nichts davon ist in dem genannten Bericht zu finden. Schändlich ist auch, daß Hoggan bei der Schilderung der Kristallnacht schreibt: „Die deutschen Versicherungen waren angewiesen, den Juden unverzüglich alle Eigentumsschäden vom 10. November [1938] zu ersetzen ...", obwohl er selbst die Verordnung vom 12. November 1938 zitiert, in deren § 2 es heißt: „Versicherungsansprüche von Juden deutscher Staatsangehörigkeit werden zugunsten des Reiches beschlagnahmt." Ebenso schändlich ist es, wenn er so im Vorübergehen den Eindruck erwecken möchte, auch die Tschechen seien Antisemiten gewesen, indem er sagt, Lord Halifax habe am 26. Oktober 1938 erklärt, den ruthenischen Juden werde es „unter den Ungarn besser gehen... als unter den Tschechen". Was hat Halifax tatsächlich geschrieben? Die „ 100 000 ruthenischen Juden" könnten „sehr wohl die Eingliederung in Ungarn einem Verbleiben in einer nazi-kontrollierten Tschechoslowakei vorziehen".
Beispiele für Hoggans Umgang mit den Quellen
Solche und ähnliche Beispiele sind Zeugnisse der absoluten Unglaubwürdigkeit Hoggans; für seine Thesen sind diese Textstellen im Grunde nebensächlich. Wenn man ihn aber hier auf sozusagen mutwilligen Lügen ertappt, so läßt das — durchaus zutreffende — Vermutungen über seinen Umgang mit Quellen zu, die für seine wesentlichen Behauptungen von Bedeutung sind. So schildert er, um zu beweisen, daß Großbritannien schon wenige Wochen nach München das Münchner Abkommen entwertet habe, eine Unterredung, die am 26. Oktober 1938 zwischen dem deutschen Staatssekretär v. Weizsäcker und dem britischen Geschäftsträger in Berlin, Sir George Ogilvie-Forbes, stattgefunden hat, folgendermaßen:
„Der deutsche Staatssekretär beklagte sich, die Nichtbeteiligung Großbritanniens und Frankreichs an dem Schiedsgericht [füi den 1. Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938] stehe im Gegensatz zu den Bestimmungen des Münchner Abkommens. Er kam gar nicht auf den Gedanken, daß Großbritannien dahinter-stand und schickte sich an, lang und breit zu erklären, daß Deutschland dafür keine Verantwortung übernehmen könne. Der britische Diplomat klärte Weizsäcker keineswegs über den wahren Sachverhalt auf." Als Quelle nennt Hoggan den Bericht dieses britischen Diplomaten an das Foreign Office. Wer den Bericht selbst ansieht, liest dort: „Ganz persönlich und informell sprechend, brachte ich [Ogilvie-Forbes] die Auffassung zum Ausdruck, daß es nicht im Geiste des Münchner Abkommens sei, wenn Großbritannien und Frankreich aus dem in der ungarischen Note vom 24. Oktober vorgeschlagenen Schiedsgericht ausgeschlossen blieben. Sowohl Herr v. Ribbentrop wie Herr v. Weizsäcker haben mir versichert, daß dies in keiner Weise ein deutscher, sondern ein ungarischer Vorschlag sei."
Wenn Hoggan dartun will, daß Hitler nach München die sog. „Resttschechei" nicht habe zerstören wollen, daß Prag aber trotzdem weiterhin eine deutschfeindliche Politik getrieben habe, leistet er sich einige Bravour-stücke an Fälschung und Irreführung. Unter Berufung auf einen Bericht des britischen Gesandten in Prag, Newton, vom 22. November 1938 schreibt er z. B.: „Die Tschechen schilderten lebhaft die deutschen Entwicklungsprojekte [in der CSR] und hofften damit die Briten zu alarmieren. Sie erzählten Newton, daß die deutschen Pläne die Fertigstellung der Autobahn [Breslau] nach Wien für 1940 vorsähen ... Auch behaupteten sie, die Deutschen hätten Pläne für ein Autobahnsystem bis nach Bagdad. Man rechnete in Prag damit, daß die Briten es nicht uninteressant finden würden, von einem Vorhaben zu erfahren, das ihre Erinnerung an den bekannten Bagdadbahn-Fall der vorhergehenden Generation wecke. Der ganze Tonfall der Unterredungen mit den britischen Diplomaten ließ keinen Zweifel aufkommen, daß die Tschechen sich noch immer als Freunde der Sowjetunion und Gegner Deutschlands betrachteten." Das muß für den Durchschnittsleser ganz plausibel klingen, für den Leser, der nicht feststellen kann, daß in dem von Hoggan angezogenen Bericht Newtons gar keine Rede von Gesprächen zwischen Tschechen und englischen Diplomaten ist, sondern von Pressemeldungen über solche Projekte betreffende deutsch-tschechische Verein-barungen, der auch nicht feststellen kann, daß am 22. November 1938 die große Schlagzeile auf der ersten Seite des „Völkischen Beobachters" „Autobahn Breslau—Wien" lautete und in dem folgenden Bericht alle Einzelheiten des geplanten Projekts mitgeteilt wurden; in den Kommentaren des VB ist aus den weiter nach Süden zielenden verkehrstechnischen Ambitionen Deutschlands ebenfalls kein Hehl gemacht worden.
Wenige Seiten zuvor hatte Hoggan behauptet, Newton habe am 5. November 1938 aus einer Unterredung mit dem tschechoslowakischen Außenminister Chvalkowsky den Schluß gezogen, „daß die Tschechen keineswegs den Gedanken einer Teilnahme an einer Front gegen Deutschland aufgegeben hätten". Wieder nennt der Autor brav den entsprechenden Bericht Newtons als Quelle, in dem es freilich heißt: Chvalkowsky habe erzählt, bei seinem letzten Besuch in München habe ihm Herr Hitler „hinreichend klargemacht, daß sich die Tschechoslowakei gegenüber Deutschland keine Tricks erlauben darf. Er hat gesagt, die Tschechoslowakei müsse in Zukunft einen ganz anderen Weg einschlagen. Weiche sie davon ab, . mache ich in 24 Stunden — nein, in 8 Stunden — Schluß-."
Fast schon wieder belustigend ist es, wenn Hoggan ein am 13. März 1939, also unmittelbar vor der Besetzung Prags, von F. K. Roberts verfaßtes Memorandum des Foreign Office zu den tschechisch-slowakischen Differenzen als „scharfsinnig und präzise“ bezeichnet und hinzusetzt, der Verfasser des Memorandums „betrachtete den Marsch nach Prag als logischen Schritt Hitlers, um der gegenwärtigen Krise zu begegnen. Man hat beinahe das Gefühl, als meinte der Autor, wenn er Hitler wäre, würde er nach Prag marschieren". Nun, ein solches Memorandum ist an sich durchaus vorstellbar, aber Mr. Roberts hat es nicht geschrieben, Mr. Roberts hat damals vielmehr die Ansicht vertreten, daß „die natürliche Lösung der gegenwärtigen Krise wohl in der Konsolidierung der slowakischen Autonomie-forderungen zu erblicken ist, und zwar unter Sicherungen, die weiterhin die Zugehörigkeit der Slowakei zur Tschecho-Slowakischen Republik garantieren“.
Hauptschuldiger Halifax ?
Wenn Mr. Hoggan den britischen Außenminister Lord Halifax als Kriegshetzer und wahren Kriegsschuldigen hinstellen will, muß er natürlich konstatieren: „Halifax hatte bislang [das heißt bis zum 28. August 1939] nicht den leisesten Versuch gemacht, den Verhandlungswillen der Polen zu sondieren. Er wünschte keine Regelung der deutsch-polnischen Differenzen.“ Wie Hoggan einen solchen Satz aber mit der von ihm für sich selbst in Anspruch genommenen Kenntnis der englischen Akten, deren Fehlen er bei anderen Autoren nicht scharf genug zu tadeln weiß, vereinbaren will, bleibt sein Geheimnis. Halifax hat nämlich mit einer ganzen Serie von Schreiben seinen Einfluß in Warschau geltend gemacht, um die Polen zu Verhandlungen über Danzig zu veranlassen; er ging am 10. Mai 1939 sogar soweit, Warschau ein nahezu passives Verhalten anzuraten, falls die Vereinigung zwischen Danzig und dem Deutschen Reich zustande käme, ohne daß deutsche Truppen einmarschierten; und am 23. August, noch bevor er am 28. August vom polnischen Außenminister Beck die Ermächtigung forderte, Deutschland die Bereitschaft Polens zu direkten deutsch-polnischen Verhandlungen mitzu-teilen, hat Lord Halifax seinen Botschafter in Warschau angewiesen, bei Beck auf einen „sofortigen Schritt" zur Wiederherstellung eines direkten Kontaktes zur deutschen Regierung zu „dringen".
Daß Hoggan andererseits, um Hitler als geduldig und friedfertig darstellen zu können, etwa schreibt, Hitler habe es am 25. März 1939 abgelehnt, daß „Brauchitsch militärische Maßnahmen für einen möglichen deutsch-polnischen Krieg treffe", erstaunt selbst dann nicht mehr, wenn man in der Weisung des Führers an den Oberbefehlshaber des Heeres vom 23. 3. 1939 liest, daß die polnische Frage „nun aber bearbeitet werden soll". Damit Hitler als besonders maßvoller Verhandlungspartner erscheint, schildert Hoggan eine Unterredung des „Führers" mit Henderson, dem britischen Botschafter in Berlin, mit folgenden Worten: „Im Verlauf seiner Ausführungen gab Hitler zu, er sei schmerzlich versucht gewesen, eine Revision der unsinnigen ... oberschlesischen Grenze zu verlangen Die polnische Herrschaft sei außergewöhnlich hart gewesen .. . Doch habe er das Schicksal mit dem Aufgreifen dieses Anliegens nicht herausfordern wollen, denn er wisse, daß jede Veränderung des Status quo in jenem Raum vitale polnische Wirtschaftsinteressen ernstlich beeinträchtigen würde." Henderson, dessen Bericht über dieses Gespräch in der Hogganschen Fußnote als Quelle angeführt wird, sagt allerdings: „Er [Hitler] bezog sich auf sein großzügiges Angebot vom vergangenen März, sagte, daß es nicht wiederholt werden könne, und versicherte, daß ihn nur die Rückkehr Danzigs und des ganzen Korridors zusammen mit einer Grenzberichtigung in Schlesien ... zufrieden-stellen könne." Am 31. August hat Lord Halifax um 13 Uhr ein kurzes Telegramm an Henderson geschickt, das nur zwei Sätze enthielt: „Außenminister hat den um 12. 30 Uhr von Ihrer Botschaft durchtelefonierten Bericht erhalten. Die darin ausgedrückte Ansicht bezüglich einer obstruktiven Haltung der polnischen Regierung teilt er nicht.“ Bei Hoggan wird daraus: „Um 1 Uhr des gleichen Tages [31. 8. 1939] distanzierte sich Halifax von dem Schritt Hendersons in der polnischen Botschaft in Berlin. Er teilte Henderson mit, er weise die Ansicht zurück, daß die deutschen Vorschläge eine Grundlage für deutsch-polnische Verhandlungen böten, auch könne er, , was die widerspenstige Haltung der polnischen Regierung angehe', Henderson und Dahlerus nicht zustimmen. Er bedauerte, Kennard angewiesen zu haben, gemeinsam mit Noe] [dem französischen Botschafter in Warschau] darum zu ersuchen, daß Lipski [der polnische Botschafter in Berlin] die deutschen Vorschläge entgegennehme." Eine Verlängerung dieser Liste, dies sei ausdrücklich bemerkt, kann jederzeit bis zu den Grenzen vorgenommen werden, die der Umfang des Hogganschen Buches zieht. Doch ist das wohl kaum notwendig. Es dürfte hinreichend deutlich geworden sein, daß die Aufforderung zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Hoggans Werk nicht einfach, wie bei Taylor, als unmöglich bezeichnet, sondern als sinnlos abgelehnt werden muß.
Hitler nur ein „Revisionist" ?
Aber wenn die Versuche Hoggans und Taylors auch als gescheitert anzusehen sind, so darf uns das doch nicht dazu verführen, mit ihren Büchern gleich auch die Fragestellung beiseite zu schieben, von der zumindest Taylor ausgegangen ist. Sieht man von den Harlekinaden des Oxforder Professors einmal ab, so lautet diese Fragestellung: Läßt sich beweisen oder doch wahrscheinlich machen, daß der Zweite Weltkrieg neben seinen Schuldigen auch seine objektiven Ursachen hatte? Und lassen sich, zweitens, Anhaltspunkte dafür finden, daß Hitler durch eine in der damaligen Situation Deutschlands natürliche Politik der bloßen Revision von Versailles in einen vielleicht unvermeidlichen, jedenfalls aber unverschuldeten Konflikt mit den Westmächten getrieben wurde, der sich dann zum Weltkrieg ausweitete?
In der Tat ist die Frage nach objektiven Ursachen des Krieges keineswegs unfruchtbar, und das Problem, ob Hitler nur „Revisionist" war, muß immerhin geprüft werden. Hätte sich Taylor auf die aus den Quellen erarbeitete Beantwortung dieser Fragen beschränkt, dabei ganz zu Recht die bisher erschienene Literatur weitgehend unberücksichtigt lassend, hätte er nicht unter allen Umständen und ständig mit dem Blick auf die bisher erschienene Literatur eine ganz bestimmte, der herr-sehendenLehrmeinung gewaltsam widersprechende Antwort beweisen wollen, so hätte er ein sehr verdienstvolles Buch schreiben können.
Auch in diesem Zusammenhang ist eine leise Kritik an der Geschichtswissenschaft nicht ganz unberechtigt. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die bisherige zeitgeschichtliche Forschung, sofern sie sich mit Außenpolitik beschäftigte, fast stets etwas allzu sorglos Hitler und Deutschland ins Zentrum rückte und das Handeln der nichtdeutschen Staaten gewiß nicht ausschließlich, aber doch weitgehend als Reaktion auf deutsche Aktion begriff und daher vernachlässigte. Wenn das lange Zeit verzeihlich war, da die Historiker gewissermaßen noch unter dem Schatten Hitlers schrieben, so muß eine Darstellung der Außenpolitik heute doch auch Entwicklungslinien und Zusammenhänge sehen und sichtbar machen, die zwar nicht, wie man finden wird, unmittelbar zu den Ursachen des Zweiten Weltkrieges gerechnet werden dürfen, wohl aber zu den Ursachen der außenpolitischen Konstellation, in der die Mächte einander schließlich militärisch gegenübertraten Es kann hier natürlich nicht versucht werden, diese Entwicklungslinien und Zusammenhänge nachzuzeichnen, sie sollen nur kurz genannt werden.
Drei weltpolitische Kombinationsmöglichkeiten
Die deutsche Geschichtswissenschaft sieht, einem Vorschlag von Hans Rothfels folgend, in dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg und in der bolschewistischen Revolution in Rußland den Beginn einer neuen historischen Epoche. Auch die Betrachtung der Außenpolitik wird eine jener Entwicklungslinienmit diesen beiden beherrschenden Daten unseres Jahrhunderts beginnen lassen können, da sie den Ansatz nicht allein einer ideologischen und gesellschaftspolitischen, sondern ebenso einer außenpolitischen Zweiteilung der Welt bezeichnen, einer Zweiteilung, zwischen die sich bald verschiedene Faschismen und dann der Nationalsozialismus als eine Art Dritte Kraft schoben. Die Spannungen zwischen den drei so entstandenen politisch-sozialen Grundhaltungen boten, schematisch gesehen, auch drei verschiedene Möglichkeiten der außen-und bündnispolitischen Kombination, die sich in chronologischer Folge realisieren sollten:
1. die Annäherung des demokratischenWestens an die nationalsozialistische Mitte und deren faschistische Satelliten, wie sie in der von Großbritannien geführten Befriedungspolitik bis zum Münchner Abkommen, der Politik des appeasement, Gestalt gewann;
2. die nationalsozialistisch-sowjetischeLiaison, die mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939 den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges besiegelte; und endlich 3. das Bündnis zwischen dem demokratisch-liberalen Westen und dem kommunistischen Osten, das nach manchen früheren Fühlern erst durch Hitlers Angriff auf Rußland erzwungen wurde und nach dem Zusammenbruch des gemeinsamen Feindes sogleich wieder zerfiel.
Gegensatz zwischen konservativen Demokratien und dynamisch-revolutionären Mächten
Uber und unter den wechselnden Fronten machte sich, obwohl die Realitäten kein starres Schema duldeten, ein deutlicher Gegensatz geltend zwischen den Demokratien einerseits, die in der Verteidigung ihrer konstitutionellen Einrichtungen und gesellschaftlichen Ordnung konservativ geworden waren, und andererseits den dynamischen Mächten mit revolutionärer und totalitärer Innenpolitik, die zu entsprechenden Formen militanter Außenpolitik drängten. Die Kräfte der künftigen westlichen Vormacht Amerika entbanden damals noch kaum eine eigene, stärker auf Europa wirkende Dynamik; das an sich schon längst vorhandene, aber nach 1918 wieder latent gewordene demokratische Sendungsbewußtsein der Vereinigten Staaten war bis in den Krieg hinein gerade stark genug, um den, übrigens sehr auf die Eigenständigkeit Europas bedachten, europäischen Demokratien das gewiß beruhigende Gefühl zu vermitteln, in Notzeiten einen Rückhalt zu haben, der eine totale und endgültige Niederlage verhindern werde. Diese ganze Entwicklungslinie könnte als ein in staatlichen Gegensätzen lokalisierter europäischer und Welt-bürgerkrieg definiert werden.
Konflikt zwischen Siegern und Unterlegenen
Eine zweite Ereignisreihe ist von den Friedensschlüssen der Jahre 1919 bis 1921 eingeleitet worden. Aus ihnen folgte der Konflikt zwischen den Siegermächten und den Geschlagenen, der sich in die Frontbildungen der ersten Entwicklungslinie in bezeichnender Weise einpaßte. Auch hier sind die Demokratien, die Siegermächte, Verfechter eines konservativen außenpolitischen Prinzips; naturgemäß neigen sie zur Erhaltung des Status quo und zur Be-B
Wahrung des internatinalen Vertragsrechts. Dagegen verfolgen die geschlagenen und revolutionierten Staaten eine dynamische Politik der Revision des Status quo, die mit einer gewissen Zwangsläufigkeit an die bestehenden Verträge stößt. Dabei ist die innere Schwäche dieser Verträge und des auf ihnen ruhenden internationalen Systems unverkennbar. Sie hatten im Zeichen bestimmter nationaler und internationaler Ordnungsprinzipien gestanden, die von ihren Verkündern schon im Augenblick der Verkündung verletzt worden waren. Damit wurde den Revisionsforderungen die moralische Begründung geliefert, die eigene Moral jedoch kompromittiert und das konservative Prinzip selbst ausgehöhlt. Daraus folgte jener Schwund des Glaubens an die selbstgeschaffene Ordnung, ohne den das Geschehen der späten dreißiger Jahre nicht zu verstehen ist. Auch hier hat freilich die politische Realität Frontwechsel erzwungen und unzufriedene oder revolutionierte Sieger, etwa Italien, zu den Geschlagenen treten lassen bzw. von anderen Revisionismen bedrohte Revisionisten zu den Siegern, so Mitte der dreißiger Jahre die Sowjetunion.
In diesem Zusammenhang steht auch die Verkümmerung des von Anfang an durch die Siegermächte selbst diskreditierten Völkerbundsgedanken, den noch vor Beginn stärkerer außenpolitischer Aktivität des nationalsozialistischen Deutschland die imperialistische Dynamik des faschistischen Italien und die Dynamik des japanischen Imperialismus zerstörte. Erst der italienisch-abessinische und der japanisch-chinesische Krieg haben die alten außenpolitischen Fronten zum Einsturz gebracht und jene neuen Fronten ermöglicht, die für die unmittelbare Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges bedeutsam wurden. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, nach dem Zusammenbruch des im Völkerbund konkretisierten Systems der kollektiven Sicherheit eine andere Form internationaler Ordnung zu finden, eine Ordnung, die nicht, wie eben der Völkerbund, von allzu vielen europäischen Staaten auch als Instrument der Siegermächte zur Bewahrung des durch den Krieg erworbenen politischen Besitzstands begriffen werden würde.
Britische Außenpolitik restaurativ
So bezweckte die britische Appeasement-Politik nicht nur die Beschwichtigung Hitlers, sie wollte nicht nur einen Kompromiß zwischen dem Klub der konservativen Mächte und der Partei der revisionistischen Staaten erreichen, vielmehr arbeitete sie gleichzeitig auf eine Restauration des Konzerts der europäischen Großmächte hin, das bis 1914 die Streitfragen Europas geregelt hatte und diese Funktion jetzt wieder übernehmen sollte. Daß Chamberlain und Lord Halifax damit scheiterten, ist gewiß nicht allein die Schuld des deutschen Expansionismus gewesen. Jener Versuch Londons stellte eine gewissermaßen reaktionäre Außenpolitik dar, die in einer längst veränderten Umwelt noch mit Vorstellungen und Begriffen des 19. Jahrhunderts auskommen wollte: sie erkannte nicht, daß in Europa selbst die Zeit vorüber war, da die Geschicke des Kontinents nur in den wichtigsten Hauptstädten gelenkt wurden, vor allem aber übersah sie, daß Europa nicht mehr das alleinige Zentrum der Weltpolitik war. Der in einer dritten Entwicklungslinie zu fassende Eintritt des Fernen Ostens in die Weltpolitik wurde noch kaum realisiert, erst recht die Folge Vorgangs, nicht dieses nämlich die Tatsache, daß die zwangsläufig entstehenden Spannungen zwischen Japan und Amerika, Japan und Großbritannien, Japan und Sowjetrußland nicht einfach neben den europäischen Schauplatz traten, sondern unvermeidlich die europäischen Konstellationen selbst beeinflußten.
Politische Gegensätze führen nicht zwangsläufig zu Kriegen
Auch ohne das persönliche Element Hitler war also im damaligen Europa und in der damaligen Welt Zündstoff genug aufgehäuft, gab es genügend Spannungszonen und Krisenherde. Aber Konfliktmöglichkeiten allein schaffen noch keinen Krieg. Im Verhältnis zwischen souveränen Staaten und Staatengruppierungen existieren immer Gegensätze, und im Wechsel zwischen Abschwächung und Verschärfung dieser Gegensätze werden recht häufig Gefahrenmomente passiert, ohne daß die Reibung in der Regel zur Entzündung führt. Die Staaten, auch und gerade Großmächte, sind meist stärker an der Erhaltung des Friedens interessiert, als oft angenommen wird. Das Risiko ist immer groß, und vor den mit jedem Krieg verbundenen Anstrengungen, Gefahren, Entbehrungen und Leiden schreckt man unwillkürlich zurück. Jeder normale Politiker weiß, daß mit dem ersten Schuß ein Geschehen ausgelöst wird, das bald unkontrollierbar werden wird, das sowohl in der Außenpolitik wie in der Innenpolitik große und unvorhersehbare Umwälzungen bewirken kann, und diesen Gang ins Ungewisse und Unbekannte tritt die jeweils herrschende Gruppe im allgemeinen höchst ungern an. Auch die Wirtschaft macht, ebenfalls entgegen einer nicht unpopulären Ansicht, normalerweise bessere Geschäfte in Friedenszeiten als während eines Krieges.
Das alles gilt natürlich nicht immer, und es gibt fraglos Kräfte, die in bestimmten Situationen die retardierenden Elemente überwinden können. Doch dürfen wir von einer natürlichen Trägheit sprechen, von der die Staaten im Normalfall zur friedlichen Regelung von Streitfragen bewogen werden und die es jedenfalls ausschließt, daß sich jeder politische Gegensatz zwangsläufig bis zum militärischen Konflikt zuspitzen muß. Bismarck hat noch sehr gut gewußt, daß es „unvermeidliche" kriegerische Auseinandersetzungen, die deshalb besser in einem günstigen Augenblick präventiv zu eröffnen seien, nicht gibt.
Auch die hier skizzierten Entwicklungen und Spannungen haben keineswegs mit einer einfach hinzunehmenden Automatik den bewaffneten Zusammenstoß erzwungen; sie haben lediglich, wie schon gesagt, über die Konstellation der Mächte entschieden. Selbst die bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschehenen offenen Konflikte zwischen den allerdings in Bewegung geratenen Staaten konnten noch abgedämmt und lokalisiert werden; sie waren gewiß Vorboten und in gewissem Sinne auch Wegbereiter des großen Krieges, haben ihn aber weder ausgelöst noch verursacht. Dieser große Krieg ist nicht aus einem Zusammenprall japanischer mit chinesisch-russischen oder amerikanischen Interessen entstanden, auch nicht aus dem Zusammenprall zwischen dem italienischen Imperialismus und dem außenpolitischen Konservatismus Großbritanniens und Frankreichs, ebensowenig aus den vielfältigen Spannungen, die der Spanische Bürgerkrieg erzeugte.
Deutscher Revisionismus gegen Status-quo-Denken
Er begann vielmehr präzise am 1. September 1939 mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen, also mit dem Zusammenprall zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Dreiergruppe Polen/Großbritannien/Frankreich, wobei Deutschland mit sowjetischer Rückendeckung handelte. Diese simple, aber grundlegende Tatsache zeigt, daß sowohl den außereuropäischen Entwicklungen wie den Geschehnissen am Rande Europas für den Ausbruch des Krieges nur begrenzte Bedeutung zukommt; der eine entscheidende Faktor war eben doch die politische Zielsetzung Adolf Hitlers, dessen Wille die Politik des Deutschen Reiches damals ausschließlich bestimmte, der andere Faktor die Reaktion Polens und Großbritanniens auf die Aktivität des deutschen Reichskanzlers. Mit anderen Worten, der Nutzen von Taylors erster Fragestellung ist mit einer freilich unbedingt notwendigen Erweiterung des außenpolitischen Gesichtskreises und mit einer ebenso unentbehrlichen Vertiefung des Verständnisses für die außen-politische Frontbildung am Vorabend des Weltkrieges erschöpft.
Hier aber muß nun die zweite Frage Taylors, die auch die Frage Hoggans ist, behandelt werden, die Frage nämlich: stieß an jenem 1. September 1939 berechtigter und verständlicher oder sogar unvermeidlicher, jedenfalls grundsätzlich friedlicher deutscher Revisionismus mit dem starrsinnigen und verblendeten Willen Englands und Polens zur Erhaltung des Status quo und der Versailler Ordnung zusammen?
Niemand hätte eine solche Deutung der damaligen Lage schroffer abgelehnt als Hitler. Wenn wir sein politisches Credo und seine Selbstkommentare zu seiner Politik analysieren, so stoßen wir zunächst einmal darauf, daß er eine Vorstellung von Außenpolitik besaß, die den Krieg nicht als eine manchmal nur schwer oder auch gar nicht mehr zu vermeidende Eventualität im Völkerleben begriff, auf die jeder Staat vorbereitet sein muß, sondern als die fast normale Form zwischenstaatlicher Beziehungen und als notwendiges, vom wahren Staatsmann immer wieder selbst herbeizuführendes Element der Kräftigung des eigenen Volkes. In seinem 1928 geschriebenen „Zweiten Buch” sagt er, daß nach der Verwirklichung seiner Vorstellungswelt „Kriege den Charakter einzelner mehr oder minder gewaltiger Überraschungen verlieren, sondern sich eingliedern in ein natürliches, ja selbstverständliches System einer gründlichen, gut fundierten, dauerhaften Entwicklung eines Volkes". Im Grund sind in diesem Satz nicht nur die wesentlichen Züge des Hitlerschen Bildes von Außenpolitik umrissen; in diesen Worten erschöpft sich vielmehr seine Auffassung von Politik überhaupt.
Innenpolitik im normalen Sinne des Begriffs, als Auseinandersetzung und Ausgleich der Anschauungs-und Interessengegensätze innerhalb eines politischen Gemeinwesens, kennt er nämlich gar nicht. In seinen Augen ist Innenpolitik nichts anderes als Vorbereitung des Staates für den Krieg oder, wie er es ausgedrückt hat, für den Krafteinsatz nach außen. Wer „Mein Kampf", das „Zweite Buch" und alle seine vertraulicheren Äußerungen aufmerksam liest, wird zu der Erkenntnis genötigt, daß Hitler eigentlich nur in den Kategorien einer aggressiven, von der Armee sichtbar getragenen und schließlich von der Armee durchgesetzten Außenpolitik zu denken vermochte. Der Friede war ihm offensichtlich, zunächst lediglich in der Theorie, ein unbehaglicher Zustand, der sobald wie möglich wieder mit dem Krieg zu vertauschen sei. „Wo immer auch unser Erfolg endet", so hat er geschrieben, „er wird stets nur der Ausgangspunkt eines neuen Kampfes sein.“ Und noch während des Krieges fiel sein Ausspruch, der Wille zum Schlagen sei immer in ihm gewesen.
Hitlers Lebensraum-Programm
Aber Hitler entwickelt nicht einfach die allen Faschismen eigene, im Grunde ziellose Kampf-moral, die zum Beispiel auch Mussolini in seinen Schriften als die Essenz politischen Handelns beschreibt. Für Deutschland und die nationalsozialistische Bewegung entwirft Hitler ein fest umrissenes außenpolitisches Programm. Und dieses Programm hat mit deutschem Revisionismus nichts mehr zu tun. Die europäische Situation der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg nimmt er etwa in der gleichen Weise zur Kenntnis, wie er die innenpolitischen Verhältnisse der Weimarer Republik zur Kenntnis nimmt: in beiden Fällen begreift er im Grunde das wahre Wesen und den Ernst der existierenden Gegensätze, Spannungen und Gruppierungen gar nicht; die wirtschaftspolitischen, gesellschaftspolitischen und auch außenpolitischen Aufgaben, die Deutschland damals tatsächlich gestellt waren, ignorierte er oder schob er uninteressiert beiseite. Gewiß hat er eine feine Witterung für taktische Möglichkeiten. Er sieht sehr deutlich, wo Gegensätze und Spannungen herrschen, die er sich zunutze machen kann, an welchen Problemen sich Unzufriedenheit entzündet, die ihm schlagende Propagandaparolen zu liefern vermag, wo die morschen Stellen des Bestehenden sind, die seinem Einbruch und der Ausdehnung seiner Macht den geringsten Widerstand entgegensetzen. Aber das betrifft nur die Taktik seiner politischen Operationen. Seine strategischen Überlegungen, die ja von den eigentlichen Zielen handeln, gelten ganz anderen Dingen: sie bewegen sich in einer selbst-geschaffenen imaginären Wirklichkeit, die er mit selbsterfundenen Problemen ausstattet, mit Problemen, für die er dann wiederum Lösungen erfindet. In der Außenpolitik ist sein taktisches Vehikel der Vertrag von Versailles. Was für das damalige Deutschland in der Tat die große außenpolitische Aufgabe ist, nämlich die Revidierung der Versailler Beschränkungen und die Rückkehr in den Kreis der europäischen Mächte, das ist für Hitlernur ein Mittel, das deutsche Volk und Deutschland in Bewegung zu setzen, nur eine moralisch unanfechtbare Parole, mit der er die Manövrierfähigkeit gegenüber den anderen europäischen Staaten zurückgewinnen will. Sein eigentliches Problem aber, in dessen Dienst er die zurückgewonnene Manövrierfähigkeit stellen möchte, ist nicht die Revision von Versailles, nicht einmal die mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker durchsetzbare Schaffung Großdeutschlands, sondern das Raumproblem. In all seinen politischen Äußerungen, von 1920 bis 1945, entwickelt er beharrlich und praktisch ohne Variationen die These, Deutschland müsse sich Lebensraum im Osten erkämpfen. Damit will er jedoch nicht allein eine ausreichende Ernährungsbasis für das deutsche Volk sichern. Sowohl in „Mein Kampf" wie im „Zweiten Buch" hebt er mit fast noch größerem Nachdruck das Argument hervor, künftig müsse ein Staat, der Weltmacht sein wolle, über eine genügend große Landmasse verfügen, und da Deutschland nur als Weltmacht existieren könne, habe die nationalsozialistische Bewegung die historische Mission, das deutsche Volk zum Erwerb dieser Landmasse zu führen. Die bürgerlich-natio nalen Revisionisten, deren Blick sich höchstens bis zur Wiederherstellung der Grenzen von 1914 erhebe, überschüttet er mit einem so beißenden Hohn, daß Mr. Hoggan eigentlich schamrot werden müßte, weil er den „Führer" auf das klägliche Format eines bloßen Revisionspolitikers zu reduzieren wagt. Es sei dumm, doppelt dumm, nur die Wiederherstellung der alten Grenzen anzustreben, hat er einmal gesagt. „Demgegenüber wird die Außenpolitik der nationalsozialistischen Bewegung immer eine Raumpolitik sein ... Sie konzentriert alle Kräfte, um unserem Volke durch die Zuweisung eines genügenden Lebensraumes für die nächsten 100 Jahre einen Lebensweg vorzuzeichnen.“
Krieg im Zentrum von Hitlers Denken
Allerdings ist schwer zu entscheiden, ob Hitler seine Kampfmoral predigte, weil er das deutsche Volk zum Kampf um Lebensraum tauglich machen wollte, oder umgekehrt der Lebensraumgedanke nur zu einer halbwegs rationalen Rechtfertigung des vorgegebenen Drangs zum Kriege diente. Jedenfalls hat die Unfähigkeit, auch beruhigte und befriedigte Verhältnisse in das politische Weltbild aufzunehmen, bei der Fixierung seines Programms eine wesentliche Rolle gespielt. Es ist bezeichnend, daß er die Notwendigkeit großen Landbesitzes stets auch mit dem Argument begründet, ohne eine solche Basis könne man in Zukunft keine Kriege mehr führen, und daß ihm schon 1928 die Vision vor Augen steht, Deutschland müsse sich, nachdem es seine kontinentalen Ziele erreicht habe, zum Endkampf um die Weltherrschaft mit den Vereinigten Staaten rüsten. Selbst wenn wir aber unterstellen, daß nicht Hitlers Psyche, sondern Hitlers Programm als die eigentliche Wurzel jener Kampfmoral anzusehen ist, so ändert das nichts daran, daß der Krieg im Zentrum seines politischen Denkens steht und stehen mußte. Ihm selber war durchaus klar, daß ja gerade auch sein politisches Ziel nicht allein mit diplomatischen Mitteln zu erreichen war, daß der Kampf um Lebensraum den „Bluteinsatz" erfordern werde, wie er es formuliert hat. Schließlich war nicht zu erwarten, daß Polen oder Rußland die von Hitler ins Auge gefaßten Gebiete freiwillig abtreten würden. Und schon lange vor der Machtübernahme hat Hitler diktiert, er werde sich nicht scheuen, dereinst die Verantwortung für diesen Blut-einsatz zu übernehmen.
Dabei dachte er selbstverständlich nicht an einen Krieg, wie er ihn dann später tatsächlich bekommen sollte. Hitler hatte keineswegs die Absicht, sich gleichzeitig mit Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu schlagen. Nur ein Narr hätte auf einen solchen Gedanken kommen können, und Hitler war kein Narr. Er hoffte vielmehr, den Marsch nach Osten antreten zu können, ohne von den Westmächten gestört zu werden, vor allem glaubte er, es werde gelingen, England zu neutralisieren. Im „Zweiten Buch“ entwickelte er die Theorie, England sei 1914 nur auf Grund der expansiven Wirtschaftspolitik Deutschlands, auf Grund der deutschen Flottenpolitik und auf Grund des allgemeinen deutschen Ausgreifens nach Übersee in den Krieg eingetreten. Man müsse daher nur, dieses taktische Rezept leitete er daraus ab, Deutschland aus dem Welthandel herausnehmen, auf Kolonien und Seestreitkräfte größeren Umfangs verzichten, die Stoßrichtung Deutschlands nach Osten richten, und England werde dem deutschen Eroberungszug Gewehr bei Fuß zusehen. Auf die gleiche Weise, so meinte er, könne auch Italien aus der antideutschen Koalition herausgelöst werden, und ein Bündnis oder doch ein stillschweigendes Einverständnis zwischen Berlin, London und Rom werde Deutschland ausreichende Rückenfreiheit, vielleicht sogar Rückendeckung gewähren, wenn es den Kampf um Lebensraum beginnen müsse.
Könnte man für den Hitler vor 1933 alle diese Überlegungen als die „Wachträume“, wie Taylor das nennt, eines unverantwortlichen Parteiführers abtun, so ist das für den Reichskanzler Hitler nicht mehr möglich. Und der Reichs-kanzler Hitler hat nicht nur bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, am 3. Februar 1933 vor den Generalen, erneut sein Lebensraum-programm theoretisch dargelegt, er hat auch sogleich nach seiner Maxime zu handeln begonnen, Innenpolitik habe Vorbereitung des militärischen Einsatzes zu sein.
Innenpolitik dem außenpolitischen Programm untergeordnet
Die sogenannte nationalsozialistische Revolution der Jahre 1933/34 und der sich bis zum Kriegsausbruch hinziehende Prozeß der Gleichschaltung des innenpolitischen, gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Lebens erweisen sich bei näherer Betrachtung — wenn man von unbeabsichtigten Entwicklungen einmal absieht — nur als eine gigantische Mobilmachung. Nationalsozialisten, die ihren Führer als echten Revolutionär mißverstanden, haben immer wieder ernsthafte Reformen der staatlichen und gesellschaftlichen Struktur Deutschlands planen und einleiten wollen. Aber Hitler hat derartige Versuche meist schon im Ansatz abgewürgt, auch und gerade dann abgewürgt, wenn das Vorhaben zwar im Sinne der Partei „linientreu" war, jedoch eine zeitweilige militärischen oder Schwächung wirtschaftlichen Schlagkraft Deutschlands bedeutet hätte.
Der, wenn man so will, linke Flügel der NSDAP — von Otto Strasser bis Ernst Röhm — mußte das ebenso erfahren wie der rechte Flügel mit seinen Anläufen zu einer ständischen Neuordnung. Hitler war an positiven Resultaten, an nach nationalsozialistischer Auffassung positiven Resultaten, nicht interessiert, sofern sie erst in einer weiteren Zukunft reifen konnten. Umgekehrt hat er zum Beispiel wirtschaftspolitische Maßnahmen, die nach einiger Zeit mit Sicherheit schädliche Folgen haben mußten, unbedenklich getroffen, wenn sie zunächst einmal Energien freisetzten.
Da er ein relativ nahe vor ihm liegendes Ziel ansteuerte, glaubte er es sich leisten zu können, Deutschlands Kraft gleichsam mit schädlichen Drogen aufzuputschen. In seiner im August 1936 entstandenen Denkschrift zum Vierjahresplan umschrieb Hitler dieses Ziel mit den lapidaren Sätzen: „Die deutsche Armee muß in vier Jahren einsatzfähig sein; die deutsche Wirtschaft muß in vier Jahren kriegsfähig sein.“
Die Außenpolitik hatte in den ersten Jahren nach der Machtübernahme, in einer von Hitler schon 1928 einkalkulierten vorübergehenden Umkehrung seiner eigentlichen Vorstellungen, der Sicherung des ungestörten Ablaufs jener zu inneren Mobilmachung dienen. Das ist auch gelungen, ja, Hitler konnte schon früh die ersten Breschen in die Versailler Ordnung und in das System kollektiver Verträge schlagen: etwa mit dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom Januar 1934, der überdies als großzügige Abkehr von der traditionellen deutsch-polnischen Feindschaft und als Beweis der Friedensliebe Hitlers gelten konnte. Intern hat er damals gesagt, er sei bereit, Nichtangriffspakte in jeder Zahl abzuschließen, wenn er sich damit die Ruhe für die Aufrüstung erkaufen könne; man dürfe sich dabei nicht von dem Gedanken beirren lassen, daß man diese Verträge einmal brechen müsse.
Revision der Ostgrenzen nur Vorstufe des Vorstoßes nach Osten
Durch zweifellos geschickte Taktik und durch entschlossene Ausnutzung der vom italienisch-abessinischen Krieg, vom japanisch-chinesischen Krieg und schließlich vom Spanischen Bürgerkrieg geschaffenen Möglichkeiten hatte Hitler bis Ende 1937 Deutschland eine beachtliche militärische Schlagkraft und die außen-politische Bewegungsfreiheit zurückgewonnen. Damit waren die Voraussetzungen für die nächste Phase seines Aktionsprogramms gegeben, nämlich für die auf das Selbstbestimmungsrecht gestützte Revision der deutschen Ostgrenzen. Alle bis heute bekannten Zeugnisse über die Absichten Hitlers lassen jedoch keinen Zweifel daran, daß er diese revisionistische Phase seiner Außenpolitik lediglich als Vorbereitung des strategischen Aufmar18 sches für den eigentlichen Vorstoß nach Osten verstand.
Wahrscheinlich hat er 1933 noch nicht geglaubt, daß die Zeit zur Einleitung dieses Aufmarsches schon so früh gekommen sein könnte. Aber aus der Reaktion des Westens auf seine bisherigen Aktionen — auf den Austritt aus dem Völkerbund, auf die Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht, auf die Wiederbesetzung des Rheinlands und auf sein Eingreifen in den Spanischen Bürgerkrieg —, vor allem auch aus der Reaktion des Westens auf die italienische Expansion in Afrika hatte er den Schluß gezogen, er dürfe, ohne ernsthaftem Widerstand zu begegnen, die einzelnen Phasen seines Programms schneller ablaufen lassen, als er es ursprünglich vorgesehen hatte. Am 3. Februar 1933 hatte er den Generalen noch gesagt, in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft werde sich zeigen, ob Frankreich noch Staatsmänner habe; ein nach seinen Begriffen gut geführtes Frankreich müsse den deutschen Wiederaufstieg unter dem Nationalsozialismus bereits im Anfangsstadium ersticken. Da Frankreich aber ruhig geblieben war, folgerte Hitler, er könne die nächsten Schritte wagen, obwohl er militärisch noch nicht fertig sei. Die Bedeutung der durch das Hoßbach-Protokoll überlieferten Konferenz vom 5. November 1937 liegt eben darin, daß sie uns eine recht genaue Fixierung des Zeitpunktes erlaubt, zu dem Hitler auf Grund einer bestimmten Lagebeurteilung den Entschluß faßte, die relative Ruhe des Jahres 1937 enden zu lassen und erneut zu außenpolitischer Aktivität überzugehen. Als nächste Ziele, die ihn in die gewünschte strategische Ausgangsposition bringen sollten, faßte er ins Auge: den Anschluß Österreichs und die Eroberung der Tschechoslowakei, dazu kleinere Grenzkorrekturen wie Danzig, Memel und den polnischen Korridor; diese allerdings mehr in der Absicht, die betroffenen Staaten, vor allem Polen, in Satelliten Deutschlands zu verwandeln und beim Kampf um den östlichen Raum zunächst noch als Hilfsvölker einzusetzen. Die Reihenfolge der einzelnen Züge mußte natürlich von der jeweiligen Situation abhängen.
Großbritannien toleriert Revisionismus
Dieses Programm ist von Großbritannien durchkreuzt worden. Allerdings nicht sofort. Die uns heute zugänglichen Quellen, einschließlich der britischen Akten, gestatten alle nur den einen Schluß, daß sich die von Chamberlain und Lord Halifax geführte englische Regierung spätestens Mitte 1937 dazu entschlossen hatte, eine Generalbereinigung der mitteleuropäischen Streitfragen zu versuchen und dabei den berechtigten deutschen Revisionswünschen so weit wie irgend möglich entgegenzukommen. Im Hintergrund stand, wie schon erwähnt, der Wunsch, das diskreditierte und sterbende System der kollektiven Sicherheit durch die Zusammenarbeit der europäischen Großmächte zu ersetzen, um so der Wandlung der europäischen Machtverhältnisse Rechnung zu tragen und die Lage in Europa wieder zu stabilisieren. Im November 1937 kam Lord Halifax, noch ehe er Außenminister wurde, nach Deutschland und hatte eine lange persönliche Unterredung mit Hitler. Kern der Botschaft Halifax'war die Versicherung —und zwar ausdrücklich im Namen der britischen Regierung —, daß keine Veränderung des territorialen Besitzstands in Europa ausgeschlossen sei, vorausgesetzt, sie erfolge auf dem Boden einer vernünftigen Vereinbarung. Halifax schloß in die veränderungsreifen Dinge Memel und Danzig, Österreich und die Tschechoslowakei ein. Auch in der Kolonialfrage, die Hitler aus taktischen Gründen stark betonte, zeigte er sich zugänglich. Aus diesen wie aus anderen Zeugnissen, und natürlich aus der praktischen Politik Londons, läßt sich mit Sicherheit entnehmen, daß die Versailler Ordnung in England jeden Kredit verloren hatte und daß man dort bereit war, die 1918/19 gemachten Fehler zu korrigieren — freilich immer unter der Voraussetzung, daß nicht Gewalt zu neuem Unrecht, zu neuen Problemen und neuer Unruhe führte. Wie Chamberlain am 26. November 1937 in einem Privatbrief schrieb: „Gebt uns Sicherheit, daß ihr keine Gewalt gebraucht in der Österreich-und Tschechenfrage, und wir sichern euch zu, daß wir keine Gewalt brauchen wollen, um die Änderungen zu verhindern, die ihr wünscht, sofern ihr sie durch friedliche Mittel erreichen könnt.“
Hier lag zweifellos eine große Chance, die größte, die einem deutschen Politiker seit Bismarck geboten war, sofern man sie mit Geduld reifen ließ und den evolutionären Weg beschritt. Praktisch alle deutschen Revisionswünsche waren in der Sondierung Halifax'berührt, und die englische Bereitschaft, weitgehende und rechtzeitige Konzessionen an Deutschland zu unterstützen, stand außer Frage. Hitler aber muß diese britische Haltung als stillschweigendes Zugeständnis mißverstanden haben, ihm völlig freie Hand im Osten zu geben. Ohnehin zum Absprung bereit, riß ihn die vermeintliche britische Ermunterung endgültig aus der Passivität, und mit dem Einmarsch in Österreich betrat er den Weg der territorialen Expansion.
Hitler mißversteht britische Verständigungspolitik
Bis zur Besetzung Prags im März 1939 ist die Geschichte der deutsch-englischen Beziehungen die Geschichte eines nachträglich nur mehr schwer verständlichen Mißverständnisses. Während Chamberlain und Halifax den deutschen Reichskanzler zunächst als bloßen Revisionisten mißverstanden, wenn auch schon im Laufe des Jahres 1938 mit zunehmenden Zweifeln, glaubte Hitler seinen Rücken frei und meinte, die Engländer hätten ihre Interessen in Mittel-und Osteuropa abgeschrieben. Da er selber nur Sinn für nackte Machtpolitik und brutales Vorgehen hatte, und die Engländer aus Unkenntnis wie aus einer grotesken Fehlinterpretation der englischen Geschichte als ihm verwandte Geister ansah, war er außerdem der Auffassung, die Methodik des ihm von London scheinbar zugebilligten Vordringens nach Osten sei England im Grund gleichgültig; auch wenn es, um das Gesicht zu wahren, protestieren müsse, meine es die Proteste nicht ernst und werde jedenfalls nicht kämpfen. Daß ihn Chamberlain zunächst zu bloß diplomatischen Siegen zwang, hat er nie recht begreifen können und sehr übel genommen. Hitler empfand München, das ist bezeugt, als Niederlage, weil ihm nicht die ganze Tschechoslowakei zugefallen und er um den begrenzten Feldzug gebracht worden war: Daß seine schon beim Anschluß Österreichs und erst recht in der Sudetenkrise erpresserischen und gewaltsamen Methoden die britische Politik in wachsendem Maße irritiert hatten, daß er dann mit der nur im Rahmen eines militärischen Aufmarschprogramms verständlichen, ansonsten ebenso unnötigen wie ungerechtfertigten Zerstörung der Resttschechei den Rubikon endgültig überschritten hatte, weil seine englischen Gegenspieler nun die wahre Natur und die wahren Ziele seiner Politik zu erkennen begannen, und daß sich Großbritannien schließlich niemals vom Kontinent und damit aus Europa verdrängen lassen werde oder könne, das hat er nie wahrhaben wollen, vermutlich gar nicht verstehen können.
An den Rand eines Berichts, in dem Albrecht Haushofer für Außenminister Ribbentrop die Aufrichtigkeit, vor allem aber auch die Grenzen der britischen Verständigungspolitik dargelegt hatte, schrieb der Minister ganz im Sinne Hitlers: „Secret Service Propaganda." Doch kennzeichnete Haushofer die Gründe für den Wandel der britischen Haltung durchaus zutreffend, als er nach dem Bruch des Münchner Abkommens durch den Marsch nach Prag in der „Geopolitik", der Zeitschrift seines Vaters Karl Haushofer, feststellte: „Wenn man keine anderen Verpflichtungen anerkennt als die, die sich aus den jeweiligen Machtverhältnissen ergeben, dann ändert sich alles, von der Behandlung der Verwundeten und Gefangenen im Kriege bis zur Bewertung diplomatischer Verträge. Die Schlußauseinandersetzung der europäischen Mächte mit Napoleon ist viel weniger dadurch bedingt, daß die realen Interessengegensätze nicht ausgleichbar gewesen wären, sondern dadurch, daß man beiderseits jeden Vertrag für einen Fetzen Papier hielt." Und er scheute sich nicht, zu sagen, Chamberlain sei nun wohl von seinen Münchner Illusionen gründlich geheilt.
Hitler riskiert bewußt den Krieg
Hitler hat jedoch gar nicht bemerkt, daß sich die Lage grundlegend geändert hatte, und sofort nach dem Einmarsch in Prag die Polen-krise anlaufen lassen. Mit ihr bezweckte er jetzt aber mehr, als in seinem ursprünglichen Konzept vorgesehen war. Schon in den ersten Tagen der Krise hatte er zur Kenntnis nehmen müssen, daß Polen sich niemals freiwillig in einen gegen Rußland gerichteten und von Deutschland beherrschten Satellitenblock einfügen würde. Statt als Werkzeug entpuppte sich Warschau als Hindernis seiner Pläne, und folgerichtig faßte Hitler den Entschluß, Polen nicht erst später, nach getaner Schuldigkeit, sondern bereits jetzt zu zerschlagen. Am 23. Mai 1939 hat er in einer Ansprache vor den Generalen unmißverständlich gesagt „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten." In der gleichen An spräche konstatierte er, daß die Zeit der diplomatischen Siege vorbei sei: „Weitere Erfolge können ohne Blutvergießen nicht mehr errungen werden.“ Ähnliche Aussprüche finden sich bis zum Kriegsausbruch noch mehrmals, und es ist schwerlich zu bestreiten, daß Hitler den militärischen Konflikt mit Befriedigung erwartete! am 14. wie am 22. August erklärte er zynisch, er hoffe, daß ihm niemand mehr mit einem Vermittlungsvorschlag in die Quere komme.
Freilich dachte er dabei nur an einen Krieg gegen Polen. Zwar ist er im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1939 offenbar doch unsicher geworden, ob England stillhalten werde. Da er aber die Grundlinien der englischen Politik völlig falsch einschätzte, konnte er auch jetzt noch bei der Auffassung bleiben, es bedürfe lediglich einer taktischen Anstren-I um England und Polen auseinander zu manövrieren, überdies sah er als Voraussetzung eines britischen Eingreifens ein englisch-sowjetisches Bündnis an, ohne das Deutschland ja keinen eigentlichen Zweifrontenkrieg zu führen haben würde, und daher glaubte er seine polnische Aktion endgültig abgeschirmt zu haben, als es ihm gelang, die Sowjetunion durch das großzügige Angebot halb Ost-europas zu wohlwollender Neutralität zu bewegen. Gewiß, als London trotz dem deutsch-sowjetischen Vertrag seinen Beistandspakt mit Polen abschloß und Chamberlain in Berlin erklären ließ, die Schwenkung der Sowjetunion ändere nichts an den britischen Verpflichtungen gegenüber Polen, als außerdem gleichzeitig Mussolini mitteilte, er wolle an sich gern mit seinem großen Freunde Hitler zu Felde ziehen, müsse aber leider aus den verschiedensten Gründen neutral bleiben, da hat Hitler am 25. August de bereits erteilten Angriffsbefehl noch einmal zurückgenommen. Doch wenige Tage später scheint er sich wieder der Illusion hingegeben zu haben, England bluffe nur, allerdings diesmal nicht, wie im Herbst 1938, bis zur vorletzten, sondern bis zur letzten Minute. Auch hoffte er immer noch, die englische Entschlossenheit durch scheinbar großzügige Bündnisangebote lähmen zu kön-neni in einem seiner letzten derartigen Versuche verstieg er sich sogar zu der Offerte, ngland gegen Italien zu unterstützen, gegen en Staat also, mit dem er kurz zuvor den sogenannten „Stahlpakt“ geschlossen hatte — eine zuverlässige Methode, um auch noch etwaige Reste britischen Vertrauens in Hitler-sehe Zusagen zu zerstören. Im übrigen meinte er aber, die Engländer würden, wenn sie schon in den Krieg einträten, um ihren Verpflichtungen pro forma nachzukommen, nicht kämpfen, und sollten sie wider Erwarten doch kämpfen, so werde er sie eben schlagen. Hitler hat bis zur letzten Stunde, entgegen den Versicherungen, ja Beschwörungen Chamberlains, nicht mit dem Eingreifen Englands gerechnet, aber er hat es bewußt riskiert.
Dabei darf nicht vergessen werden, daß sich London bis zuletzt um Verhandlungen zwischen Berlin und Warschau bemühte. Noch am 30. August schrieb Lord Halifax in einer internen Notiz: “ It may be that no permanent Settlement in Europe is possible with the Nazi Regime still in control in Germany. Bud I don't think this ought to be conclusive in favour of not working for a peaceful solution on proper terms now." Allerdings hätten diese Verhandlungen zwar die Probleme Danzig und Korridor lösen sollen, aber in anderen Formen und in einem anderen Geiste geführt werden müssen als die Berchtesgadener und Godesberger Gespräche während der Sudetenkrise, erst recht anders als die brutale Erpressung des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Hacha im März 1939.
Einer solchen Rückkehr zur Normalität europäischer Politik war Hitler jedoch nicht mehr fähig; er wollte und konnte sich auch nicht zu ihr verstehen, weil es ihm eben nicht um diskussionsfähige Fragen, um Grenzrevisionen oder um die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts, ging, sondern um die Ausschaltung Polens, das ihm den Weg nach Osten zu versperren drohte. Wie der polnische Unterhändler, dessen Ausbleiben von Hitler und seinen Historikern als einer der entscheidenden Kriegsgründe hingestellt wurde und auch heute wieder wird, behandelt worden wäre, zeigt eine Notiz Halders, des Generalstabs-chefs, in der es über Hitlers Vorstellungen heißt: „ 30. 8. Polen in Berlin. — 31. 8. Zerplatzen. — 1. 9. Gewaltanwendung." So hat er die britischen Vermittlungsversuche sabotiert und schließlich am 1. September 1939 „zurückschießen" lassen. Gewiß, als die Westmächte nun doch eingriffen, bekam er einen Krieg, den er in dieser Konstellation nicht gewollt hatte; die Intervention Paris'und Londons lenkte ihn ja von seiner eigentlichen Stoßrichtung ab und zwang ihn, nach der Niederwerfung Polens gewissermaßen mit verkehrter Front zu fechten. Aber er hatte sich schon mehrmals überlegt, daß er um einen Westfeldzug doch nicht herumkommen werde, und sich daher die Frage gestellt, ob es nicht ohnehin ratsam wäre, vor der Wendung nach Osten erst im Westen reinen Tisch zu machen. Da er außerdem von der militärisch zutreffenden Annahme ausging, England und Frankreich seien zu einer ernstlichen Störung des polnischen Feldzuges nicht in der Lage, hat er den Krieg im Westen als eine zwar lästige, aber nicht weiter gefährliche Programmänderung in Kauf genommen. Für jede einzelne Runde des militärischen Konflikts glaubte er den Rücken frei zu haben oder frei machen zu können, und so hat er den Konflikt selbst bewußt entfesselt und dessen Ausweitung nicht gerade gern, aber doch gelassen hingenommen.
Polnische und sowjetische Verantwortlichkeiten
Indes ist nicht zu bestreiten, daß neben der klaren Schuld Hitlers noch andere, abgestufte Verantwortlichkeiten konstatiert werden müssen. Die damalige polnische Regierung etwa hat ihre moralische Position in mehrfacher Hinsicht geschwächt. Als erster europäischer Staat hatte 1934 Polen mit Hitler einen bilateralen politischen Vertrag geschlossen und damit an der Auflösung des Systems der kollektiven Sicherheit aktiv mitgewirkt; 1938 machte sich Warschau zum Komplicen des Hitlerschen Vorgehens gegen die Tschechoslowakei, und während der polnischen Krise selbst steuerte der polnische Außenminister Beck einen Kurs, der nicht nur in lebenswichtigen Fragen, sondern auch in taktischer Hinsicht jede Geschmeidigkeit vermissen ließ — Becks Starrheit lieferte nicht allein Hitler billige Argumente, sie nährte überdies den bis heute zumindest nicht widerlegten Verdacht, Beck habe damals bewußt auf Krieg spekuliert, weil er sich trotz der zunächst unvermeidlichen polnischen Niederlage nur von einer großen europäischen Auseinandersetzung, an deren Ende Deutschlands Niederlage stehen mußte, die Wiederherstellung und Rettung der staatlichen Existenz Polens versprach.
Auch Stalin wird mit einer gewissen Mitverantwortung zu belasten sein. Als er seine Verhandlungen mit den Westmächten scheitern ließ und sich statt dessen mit Hitler über eine neue Teilung Polens einigte, war ihm zweifellos klar, daß er damit nicht nur einen lokalisierten deutsch-polnischen Konflikt ermöglichte, sondern den Weg zu einem allgemeinen europäischen Krieg freigab. Dennoch kann weder die polnische noch die sowjetische Haltung mit der Hitlers auf eine Stufe gestellt werden. Bede wollte schließlich nicht von Anfang an Krieg, er hat in der militärischen Auseinandersetzung lediglich den letzten Ausweg aus einen ansonsten für Polen hoffnungslosen und von Hitler so geschaffenen Situation gesehen. Stalin dagegen hoffte, die immer deutlicher nach Osten zielende Stoßkraft des nationalsozialistischen Deutschland werde sich im Kampf mit den Westmächten verbrauchen. In beiden Fällen handelte es sich mehr um Rettungsmanöver, und wenn diese Manöver auch dubios und anfechtbar waren, so wiegen sie doch sehr viel leichter als Hitlers unbedingter Wille zum Krieg.
Keine Chance einer revisionistischen Geschichtsschreibung
Wie Taylor und Hoggan angesichts dieses klaren Bildes, das alle Quellen bestätigen, von Hitlers Schuldlosigkeit oder gar von der britischen Kriegsschuld sprechen können, bleibt unerfindlich. Wiederholen wir die zweite Frage der beiden angelsächsischen Historiker: Stieß an jenem 1. September 1939 berechtigter und unvermeidlicher, jedenfalls grundsätzlich friedlicher deutscher Revisionismus mit dem starrsinnigen Willen Englands und Polen zur Erhaltung des Status qro und der Versailler Ordnung zusammen? Die Antwort ist wohl eindeutig ausgefallen. Weder war Hitler ein grundsätzlich friedlicher Politiker, noch führte er den von ihm entfesselten Krieg zur Rey sion von Versailles. Und seine Gegner sind nicht deshalb in den Krieg eingetreten, weil sie gerechtfertigten deutschen Forderungen die Anerkennung versagt hätten oder ein starkes Deutschland nicht dulden wollten. Sie griffen vielmehr zu den Waffen, weil ihnen ein Hitler, der nicht einmal das auch in der internationalen Politik notwendige Mindestmaß an Geschäftsmoral besaß und der offensichtlich nach der Herrschaft über den ganzen europäischen Kontinent strebte, keine andere Wahl ließ.
Dem deutschen Revisionismus hatten London und Paris eine Chance gegeben, doch der „Führer" hat dieser Chance den Kampf um die Chimäre „Lebensraum" vorgezogen, und als Hitler dabei scheiterte, ist zugleich auch der deutsche Revisionismus gescheitert. Eine revisionistische Politik Deutschlands hatte damals Chancen. Eine revisionistische Geschichtsschreibung hat heute keine Chance. Und gerade auch deutsche Historiker dürfen Entlastungen der einstigen deutschen Machthaber nur dann akzeptieren, wenn sie es vor ihrem Gewissen verantworten können.