über die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung
Wer oder was ist ein Nationalsozialist? Juristisch gesprochen, war ein Nationalsozialist ein Mitglied der am 20. September 1920 in München gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder einer der ihr angeschlossenen Organisationen. Da es eine sehr kleine Gruppe war, die gerne größer erscheinen wollte, begann sie mit der Numerierung ihrer Mitglieder bei 500; Hitlers Mitgliedskarte trug die Nummer 555. Im Januar 1933 hatte die Partei rund 1, 2 Millionen Mitglieder; danach setzte der große Zustrom ein. Zwei Jahre später hatte sich die Zahl verdoppelt, obwohl die Aufnahme in die Partei im April 1933 gesperrt wurde, um „Opportunisten" herauszuhalten. Die juristische Definition hilft uns also nicht viel weiter. Sie kann sogar etwas irreführend sein, wie die alliierten Entnazifizierungskammern nach dem Kriege feststellen mußten. Viele Tausend in der SS, der Elite des Regimes, hatten der Partei nicht angehört. Bei der Waffen-SS hatte es noch weniger Parteimitglieder gegeben. Heinrich Müller, der 1935 zum Chef der Gestapo ernannt wurde, trat erst sechs oder sieben Jahre spätei in die Partei ein. Auf der anderen Seite konnte es geschehen, daß ein völlig unschuldiger Ingenieur, der sich niemals politisch betätigt hatte, in ernste Schwierigkeiten geriet, weil er dem NS-Bund Deutscher Technik, einem der NSDAP angeschlossenen Verband, angehört hatte (oder angehören mußte, wenn er seine Stellung nicht verlieren wollte). Um einen Nationalsozialisten zu definieren, muß man den „Nationalsozialismus“ definieren: ein Gegenstand, über den fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Dritten Reiches erstaunlich wenig bekannt ist. Man weiß natürlich, daß das alles nie wieder geschehen darf. Aber diese Einsicht hätte inzwischen durch eine genauere Kenntnis des Wesens des Nationalsozialismus, seiner Motive, seiner Bestandteile und seiner Struktur untermauert werden müssen; man kann eine Sadie nicht wirkungsvoll bekämpfen, die nach wie vor unerklärlich bleibt. Ein junger amerikanischer Historiker, der sich auf moderne deutsche Geschichte spezialisiert hat, sagte mir vor kurzem, William Shirers Buch, das einen so phä-nomenaien Erfolg gehabt hat, sei „wirklich außerordentlich schlecht"; es sei kein „wissenschaftliches Werk“; es irre sich in zahllosen Einzelheiten und gehe von falschen Grund-hypothesen aus. Ich bemühte mich sehr (ich fürchte, ohne Erfolg), ihn davon zu überzeugen, daß das vorwiegend die Schuld der Berufs-historiker sei. Zwar sind einige sehr gute Monographien, ein paar ausgezeichnete bio-
graphische Studien und zahllose Anmerkungen über Hitlers Leben und Zeit erschienen, aber wo bleibt die endgültige Geschichte des Dritten Reiches oder der NSDAP? Wo ist der umfassende Bericht darüber, wie es zum Mißbrauch des Rechts in Deutschland kam, wie die Intellektuellen sich verhielten, wie der Apparat des Terrors funktionierte, wie die deutsche Wirtschaft gesteuert wurde? Uber den italienischen Faschismus gibt es eine sehr viel kleinere Literatur; und doch scheint das Thema sehr viel gründlicher behandelt worden zu sein, da die italienischen Verfasser offenbar weniger Hemmungen gehabt haben, es zu bearbeiten. Die Schwierigkeiten sind, das muß zugegeben werden, überwältigend; nur wer das Thema in Angriff genommen hat, kann sie voll ermessen. Tausende von Menschen, die während der Nazizeit führende Stellungen inne hatten, sind noch am Leben: Diplomaten, höhere Beamte, Parteiführer, Polizeibeamte. Ihre Aussagen wären von unschätzbarem Wert; aber sie äußern sich nur sehr widerstrebend. Die einzige Ausnahme sind die Generäle, und sie sind in manchen Fällen zu gesprächig gewesen.
Ich bin letztes Jahr nach München gefahren in der unbestimmten Hoffnung, das eine oder andere führende Mitglied der NSDAP aus der ganz frühen Zeit zu finden und mit ihm zu sprechen. Zu meiner großen Überraschung gab es noch ziemlich viele; ich hatte vergessen, daß die meisten 1923 noch recht jung waren, so daß einige heute noch keine 70 Jahre alt sind. Alle zeigten sich beunruhigt: „Wer hat Ihnen von mir erzählt? ... Woher haben Sie meine Adresse?" Meine Versicherung, das örtliche Telefonbuch sei mein einziger Wegweiser gewesen, beruhigte sie einigermaßen. Aber manche von ihnen konnten sich dennoch nicht zum Reden entschließen; andere hingegen legten mir eine Version vor, die offensichtlich über die Jahre sorgfältig einstudiert worden war und die sowohl unwahr als auch nutzlos war.
Zwischen früheren Nationalsozialisten und früheren Kommunisten besteht ein merkwürdiger und auffallender Gegensatz. Die letzteren sind im allgemeinen nur allzu bereit, von ihren Erfahrungen zu berichten. Von den alten Nationalsozialisten kenne ich nur eine Handvoll, die persönliche Berichte dieser Art gegeben haben; die meisten waren damals sehr jung und hatten keine einflußreichen Stellungen. Ihre Bindung an die Partei war oft weniger eng als die der Kommunisten; ihre Enttäuschung, wenn sie überhaupt kam, trat erst nach 1945 ein; es gab keinen radikalen Bruch, solange Partei und Reich noch existierten. Diese Ex-Nazis wollen mit der Politik nichts mehr zu tun haben und sind nur darum bemüht, heute keine Aufmerksamkeit zu erregen. Einige wenige halten die Fahne noch hoch, indem sie die nationalsozialistische Ära in kleinen Broschüren, die von obskuren neonazistischen Verlagen veröffentlicht werden, hektisch zu rechtfertigen suchen; über ihre eigene Vergangenheit äußern sie sich weiterhin merkwürdig wenig. Vielleicht sind sie der Ansicht, die Zeit sei noch nicht reif dafür; vielleicht haben sie Manuskripte irgendwo verborgen, die zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht werden sollen. Aber ich bezweifle es. So bleibt uns eine der wichtigsten Quellen für das Studium des Nationalsozialismus verschlossen.
Die Dokumente
Wie steht es mit den nationalsozialistischen Dokumenten? Hier herrscht jedenfalls kein Mangel; die Masse von Papier, die von einer modernen Bürokratie erzeugt und aufbewahrt wird, ist niederschmetternd. Vieles wurde natürlich während der letzten Kriegsmonate und unmittelbar danach vernichtet; der Winter 1945/46 war hart, der Brennstoff knapp. Einige streng geheime Akten wurden, so vermute ich, 1945 von Leuten in Gewahrsam genommen, die ein berufsmäßiges Interesse an Geheimakten hatten. Trotzdem sind noch hunderte von Tonnen Papier vorhanden. Ein Teil dieses Materials ist nicht zugänglich, entweder weil es in russischer Hand ist oder weil die Alliierten oder die Westdeutschen es vorläufig gesperrt haben Das trifft zum Beispiel für die im Berliner Document Centre aufbewahrten Personalakten aller früheren Mitglieder der NSDAP zu. (Ich hatte zum Beispiel große Schwierigkeiten, die Personalakte Alfred Rosenbergs einzusehen, obwohl Rosen-berg schon seit vielen Jahren tot ist.) Die Gründe sind natürlich „politisch" und nicht sehr rühmlich; aber es mögen auch juristische Gründe sein. Die Sperre ist jedoch nicht immer wirksam, da sich Abschriften von Material, das in den Vereinigten Staaten geheim gehalten wird, in anderen Akten in England und Deutschland befinden — und umgekehrt. Trotz aller Verluste und Sperren gibt es immer noch so viel Material, daß sich wohl die Allerkühnsten nicht davon abschrecken lassen werden. Die American Historical Society stellt seit sieben oder acht Jahren Mikrofilme von den in Washington aufbewahrten Dokumenten her und veröffentlicht alle zwei bis drei Monate einen ausführlichen Katalog.
Der neueste, den ich eingesehen habe, war Nr. 39 Records of the Reich Leader S. S. and the Chief of the German Police (Part III): er enthält 563 Filme mit schätzungsweise einer vierte] bis eine halbe Million Seiten. Diese Akten enthalten vieles, was niemanden interessiert und auch niemals interessieren wird:
Verwaltungsvermerke, Zeitungsausschnitte, einen Antrag (in vierfacher Ausfertigung) des Schwiegersohns von Richard Strauß auf einen Jagdschein. Und dann plötzlich findet man unter einem Wust von örtlichem Klatsch, Lohnbescheinigungen, Anträgen der Putzfrauen auf Sonderurlaub usw. ein Dokument von höchstem Interesse und großer Bedeutung. Der letzte Katalog zum Beispiel führt sämtliche Ausgaben der internen Gestapo-
Zeitung an, die von 1939 bis 1944 zwei-
oder dreimal wöchentlich erschien und eine unersetzliche Quelle der Informationen über die interne Lage Deutschlands während des Krieges darstellt. Auch für andere europäische Länder sind Dokumente von ähnlichem Interesse vorhanden.
Natürlich kann man nur weniges für bare Münze nehmen, ohne weitere Nachprüfungen anzustellen — und das kann sich als unmöglich erweisen. Drei willkürlich herausgegriffene Beispiele mögen hier genügen: 1. Ein ausführlicher Bericht über den Besuch eines jungen Engländers — Träger eines bekannten Namens — in Deutschland im Jahre 1938/39, der als „britischer Faschist" geschildert wird. (Aber der gleiche Bericht nennt ihn auch „Mitglied des britischen Geheimdienstes"!) 2. Hier handelt es sich um einen Mann, der heute im politischen Leben Deutschlands eine prominente Rolle spielt, einen früheren Minister, der behauptet, Gegner des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Aus diesem Dokument geht hervor, daß er Ribbentrops persönlichem Geheimdienst Informationen zukommen ließ. (Aus dem Dokument geht jedoch nicht mit absoluter Sicherheit hervor, ob er dies bewußt tat oder von anderen dazu benutzt wurde. Es ist vielleicht denkbar, daß er ein doppeltes Spiel spielte.)
3. Ein russischer Offizier, der 1942 in deutsche Hände geriet, wußte sensationelle Geschichten über Ereignisse im Kreml in den späten dreißiger Jahren zu erzählen. Vieles in dem Bericht ist jedoch offensichtlich Phantasie — er glaubte wirklich, Bucharin sei „ein deutscher Spion" gewesen. Woher soll man wissen, ob er nun in diesem Fall die Wahrheit sagte oder nicht? Diese drei Beispiele haben politisch keine große Bedeutung. Aber es gibt Hunderte solcher Fälle, und sie zeigen, wie notwendig es ist, außerordentlich vorsichtig zu sein.
Was viele Historiker davon abgehalten hat, diese Dokumente zu benutzen, ist nicht so sehr Furcht vor juristischen Komplikationen als Mangel an Zeit. Wer sich mit Außenpolitik befaßt, verwendet als Quelle meist die Docu-ments on German Foreign Policy, die von verschiedenen Gruppen britischer, amerikanischer und französischer Historiker herausgegeben worden sind. Historiker, die sich mit anderen Aspekten des nationalsozialistischen Deutschland beschäftigen, benutzen für ihre Forschung das Material der Nürnberger Prozesse, von dem der größte Teil noch nicht veröffentlicht worden ist. Für die Herausgabe der Do-cuments ist viel Fleiß und Gelehrsamkeit aufgewendet worden. Aber die Herausgeber mußten sich, vor allem aus Raummangel, darauf beschränken, nur die wichtigsten Dokumente über die außenpolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und anderen Großmächten zu bringen. Das gleiche gilt auch für das sehr viel umfangreichere Material aus Nürnberg. Hier hatten die Herausgeber eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, und wenn man die kurze Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, und die Arbeitsbedingungen bedenkt, so haben sie eine bewundernswerte Leistung vollbracht. Aber ihre Sammlung enthält nur einen Bruchteil des einschlägigen Materials und betrifft nur ganz bestimmte Aspekte der NS-Herrschaft in Deutschland und Europa.
Glücklicherweise gibt es einige Wissenschaftler, die den Wunsch und die Gelegenheit haben, die Originaldokumente zu studieren. Häufig handelt es sich um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Archive und Forschungsinstitute. Wer sonst hätte die Zeit, um so viel Stoff zu bewältigen? Ich will nicht sagen, daß dieser Überfluß an Quellenmaterial das größte Hindernis für das Studium der nationalsozialistischen Ära ist, aber er ist immerhin ein beachtliches Hindernis. Der Wert dieser Forschungsarbeit ist oft in Frage gestellt worden. Sind die großen Anstrengungen und der Fleiß, die nötig sind, um das Material zu sichten und auszuwerten, wirklich gerechtfertigt? Wird die Arbeit zu Schlüssen führen, die das bereits bestehende Gesamtbild wesentlich ändern? Wird sie nicht eher eine Quelle der Verwirrung als der Klärung sein? Diese Zweifel sind nicht ganz unbegründet; die Zahl der Historiker, die sich auf moderne Geschichte spezialisieren, ist begrenzt. Können sie es sich leisten, sich Jahre lang an die Einzelheiten irgendeines Teilgebiets des Nationalsozialismus zu verlieren? Schließlich wissen wir auch ohne die Archive, daß Hitler Antisemit war. Und doch können wir letztlich nur dann etwas mehr Licht in die gesamte Periode bringen, wenn wir herausfinden, was wirklich geschah und, vielleicht auch, warum es geschah. Hierfür möchte ich ein paar Beispiele geben.
Die Revisionisten
Vor einigen Jahren veröffentlichte ein amerikanischer Historiker ein Buch über Deutschlands wirtschaftliche Kriegsvorbereitungen, in dem er feststellte, daß Deutschland — weit davon entfernt, seine Industrie auf eine totale Kriegswirtschaft umzustellen — vor 1939 überraschend wenig in dieser Richtung unternommen hat. Die Tatsachen lassen sich nicht leugnen. Die deutschen Kriegsanstrengungen erreichten ihren Höhepunkt erst nach Stalingrad. Amerikanische isolationistische Historiker und ihre deutschen Gegenspieler stürzten sich auf das Buch; bot es nicht den endgültigen Beweis, daß Hitler den Krieg nicht gewollt hat? Klärte es nicht ein für allemal die Frage, wer für den zweiten Weltkrieg verantwortlich war — wobei Halifax und Beck die Hauptschuldigen waren und nicht Hitler? Das Argument ist kindisch. Man könnte ebenso gut sagen, da Hitler den Krieg verloren habe, habe er ihn von Anfang an nicht wünschen können. Selbst die einfachsten Kenntnisse des Nationalsozialismus hätten den Herren Tansill, Barnes und Hoggan
Ich habe mich in letzter Zeit einer massiven Dosis der . revisionistischen Historiographie" über das Dritte Reich ausgesetzt, nämlich den Schriften deutscher Neo-Nazis und Ultrakonservativer, amerikanischer Roosevelt-Hasser und auch gewisser britischer Verfasser. Ein großer Teil dieser Literatur ist in Deutschland und nur in Deutschland veröffentlicht worden; in Tübingen gibt es ein . Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte" und eine Deutsche Hochschullehrerzeitung, die sich auf diese Veröffentlichungen spezialisiert hat. Es ist nur recht und billig darauf hinzuweisen, daß kein deutscher Historiker von Ruf sich jemals in dieser Gesellschaft sehen lassen würde und daß die meisten detaillierten Widerlegungen der pro-nationalsozialistischen Schriften aus Deutschland stammen. Ich bewundere den Unternehmungsgeist deutscher und Schweizer Historiker, die mit überzeugender Ausführlichkeit bewiesen haben, wie weitgehend diese neue Literatur auf massiver Unwissenheit und willkürlicher Unterdrückung der Wahrheit beruht. Aber ich zweifle, ob eine vernünftige Diskussion hier viel ausrichten wird; man könnle ebenso gut mit Alfred Rosenberg über Philosophie diskutieren. Wer Hitler weißwaschen will, wird nie um Argumente verlegen sein. Gewöhnliche Sterbliche lassen sich offenbar von Anmerkungen beeindrucken; sie können sich nicht vorstellen, daß ein Buch einen wis-senschaftlichen Apparat von fünfzig Seiten haben und dennoch nichts als ein schlechter Witz sein kann. Rosenbergs Bücher und die Bücher anderer NS-Pseudophilosophen und -historiker waren voll von Hinweisen auf die Geschichte; kein ernsthafter Historiker würde sich herablassen, sie zu widerlegen. Es besteht keine Gefahr, daß die heutige revisionistische Literatur von Berufshistorikern ernst genommen wird; die Gefahr liegt vielmehr darin, daß sie zur wirkungsvollen Propaganda wird. So gesehen, ist es bemerkenswert, wie wenig Wirkung sie bisher in Deutschland gehabt hat: die Vorarbeiten sind zum größten Teil von Ausländern und nicht von Deutschen geleistet worden. In gewisser Hinsicht überrascht das nicht. Denn die meisten Deutschen wissen, was wirklich geschehen ist; für sie ist Hitler eine lebendige Realität. (Vielleicht mögen sie die Polen nicht, aber sie wissen genau, daß Hitler Polen angegriffen hat und daß er gar nicht anders handeln konnte — nicht umgekehrt.) Für amerikanische und britische revisionistische Historiker hingegen ist Hitler und sein ganzes System so fremd und so fern wie irgendein assyrischer König — trotz aller Anmerkungen, Zitate und geschichtlicher Hinweise. Für manche Amerikaner der älteren Generation ist das ganze nur eine Fortsetzung des Streites über die Kriegsschuldfrage im ersten Weltkrieg; für andere ist es eine Ausdehnung ihrer Fehde gegen Roosevelt. Ein paar Deutsche glauben, Hitlers Hauptverbrechen habe darin bestanden, „Pech" gehabt zu haben. Dieser oder jener Engländer will wahrscheinlich nur seine Leser durch paradoxe Erklärungen schockieren. Von größerem Interesse ist vielleicht der Franzose, der von der Hoover Foundation nach Frankfurt geschickt wurde, um über den Auschwitzprozeß zu berichten und von den Deutschen als Neo-Nazi hinausgeworfen wurde! Er war Sozialist gewesen und gehörte von Anfang an den Maquisards an; von der Gestapo 1943 verhaftet, verbrachte er zwei Jahre in einem Lager. Und doch veröffentlichte er nach dem Kriege eine Reihe von Büchern, in denen er behauptete, die nationalsozialistischen Verbrechen seien „grob übertrieben", wenn nicht ganz und gar erfunden gewesen; seine Schriften wurden zur Standardlektüre der neo-nazistischen Bewegung in ganz Europa. Zweifellos ein hochinteressanter Fall für den, der sich für politische Psychopathologie interessiert.
Monokapitalismus ?
Im vorigen Jahr fand eine längere polemische Auseinandersetzung zwischen deutschen Gewerkschaftlern und dem Deutschen Industrie-Institut statt über die Rolle, die führende deutsche Industrielle und Bankiers im Dritten Reich gespielt hatten. Sie erzeugte mehr Hitze als Licht; die Gewerkschaften sind, wenn ich mich richtig erinnere, als Sieger aus dem Streit-gespräch hervorgegangen. Aber wie weit zurück lagen die Diskussionen der dreißiger Jahre über den Nationalsozialismus und Finanzkapital; die eigentliche Kraft hinter dem Faschismus sei, so lautete damals die kommunistische These, der „Monopolkapitalismus". Ich bevorzugte damals Ernest Henri, dessen Bücher in den dreißiger Jahren viel Aufsehen erregten. Er wurde von der Zeitschrift New Statesman and Nation als deutscher Flüchtling eingeführt, der über ungewöhnliche Informationsquellen verfüge. In Wirklichkeit war er Russe. Nach seinen Aufsätzen und Büchern war Fritz Thyssen, der Großmagnat an der Ruhr, und nicht Adolf Hitler („Fabius Conc-tator") die Triebkraft des deutschen Faschis-mus. Thyssen war „die Inspiration", „das Gehirn des ganzen Systems", „die treibende Kraft dahinter". Thyssen habe Hitler Befehl gegeben, eine Großoffensive in Bewegung zu setzen. Hitler sei nur eine Marionette in den Händen dieses deutschen Industriebarons — ebenso wie der italienische Industrielle Toeplitz Mussolinis Herr sei. In Wirklichkeit war Thyssens Charakter ziemlich schwer durchschaubar; Hitler wäre sicherlich seinem Rat ebenso wenig gefolgt wie dem seines Dieners. Außerdem war Thyssen verhältnismäßig mutig; im Jahre 1939 brach er die Beziehungen zu Hitler ab und ging ins Exil; sein Vermögen wurde beschlagnahmt, und nach dem Zusammenbruch Frankreichs wurde er in ein Konzentrationslager gebracht. So viel über die „Haupttriebkraft hinter Hitler" und über ein Buch, von dem Bertrand Russell damals sagte, es sei „ungewöhnlich interessant und wertvoll". Die Monopolkapitalismus-Theorie, die von manchen auch heute noch propagiert wird — wenn auch mit immer geringerer Überzeugung —, beschränkte sich nicht auf die Kommunisten; sie wurde auch von vielen Sozialdemokraten und Liberalen unterstützt. In differenziertere! Form wurde sie auch von Franz Neumann in seinem berühmten Buch Behemoth befürwortet Der Erfolg dieser Theorie überrascht nicht unbedingt; große Katastrophen er-B scheinen den Zeitgenossen oft unerklärlich; sie bieten fruchtbaren Boden für die Anhänger der „Verschwörungstheorie” der Geschichte. Wie hätte ein kleiner Anwalt in Arras die Monarchie in Frankreich stürzen können ohne die Hilfe der Freimaurer und der Illuminaten? Wie hätte Lenin Erfolg haben können ohne die Hilfe der Agenten des Kaisers auf der einen und der Ältesten von Zion auf der anderen Seite? Wie hätte ein halbverrückter österreichischer Gefreiter Deutschland und fast ganz Europa erobern können ohne irgendeine finstere und mächtige Unterstützung? Damals klang das ganz einleuchtend. Aber seit 1945 wissen wir, was wirklich geschah, und ein sehr anderes Bild tritt hervor. Die deutschen Industriekapitäne, denen so viel Weitsicht, teufliehe Geschicklichkeit und vor allem einheitliche Zielsetzung zugeschrieben worden war, zeigen sich in einem sehr anderen Licht. Es waren beschränkte und kurzsichtige Männer, nicht kühn, sondern rückgratlose Speichellek-ker. Ihr Selbstvertrauen war in der großen Wirtschaftskrise verloren gegangen; sie wollten nur in Ruhe gelassen werden. Ihnen solche macchiavellistischen Taktiken anzudichten, hieß ihre Lage völlig mißverstehen. Sie haben Hitler nicht „gemacht"; sie haben sich ihm nur in einem für sie günstigen Augenblick angeschlossen. (Es ist zwar richtig, daß einige von ihnen Hitler Jahre lang Geld gegeben hatten, aber es ist sehr viel mehr Geld an die kleinen Parteien der Mitte und des rechten Flügels gegangen.)
Das Verhalten der deutschen Industriekapitäne im Dritten Reich ist nicht sehr erfreulich gewesen, und es wird nicht besser durch die Tatsache, daß der Nationalsozialismus in allen Schichten der deutschen Gesellschaft Unterstützung fand. Die Ost-Deutschen haben vor einiger Zeit ein sehr belastendes Dokument über den „Freundeskreis Heinrich Himmlers" ausgegraben und veröffentlicht. Es handelte sich um etwa dreißig führende deutsche Bankiers und Industrielle (und rund fünfzehn führende Staats-und Parteibeamte), die durchschnittlich einmal im Monat zusammenkamen; sie wurden über die Tätigkeit der SS informiert und besuchten ein-oder zweimal Konzentrationslager. Himmlers „Freunde" bezahlten für dieses Privileg. Im Jahre 1943 zum Beispiel spendeten sie über eine Million Mark, die Himmler zur Verwendung nach eigenem Ermessen überreicht wurden. Was für Privilegien waren das, für die seine „Freunde" so viel Geld zahlen durften? Gelegentlich haben sie wohl Aufträge von der SS bekommen (darunter für die Lieferung von Zyklon für die Gaskammern in den Todes-lagern), Sie bekamen Arbeitskräfte für ihre Fabriken. Vor allem aber erkauften sie sich damit eine Rückversicherung. Einer der höchsten SS-Führer sagte in Nürnberg über diesen Kreis: „Sie wollten eine direkte Verbindung zu Himmler haben für Notfälle, zum Beispiel wenn die Gestapo ihnen in ihren Fabriken Schwierigkeiten machte." Die allmächtigen deutschen Monopolisten zahlten also Danegeld, Schutzgeld für das Privileg, von der politischen Polizei nicht belästigt zu werden ,,. Es geht hier nicht um das Verhalten der deutschen Industrie schlechthin, das sehr schlecht war; nach 1933 taten sie alles in ihrer Macht stehende, um sich bei den neuen Herren beliebt zu machen. Es gab einen gewissen Widerstand gegen Hitler bei den Arbeitern, weniger häufig in der bürgerlichen Schicht und beim Adel. Die Industriellen leisteten keinen Widerstand; der einzige, der sich offen mit Hitler überwarf, war — welche Ironie! — Fritz Thyssen. Die deutsche Industrie hat mit Hitler zusammengearbeitet —-darüber kann es keine verschiedenen Meinungen geben. Das Regime hat einige von ihnen stark begünstigt und sie haben ihm dafür treu gedient. Aber trug ihre Hilfe entscheidend dazu bei, Hitler an die Macht zu bringen? Haben sie Hitlers Politik in irgendeinem Stadium des Dritten Reichs beeinflußt? Auch hierüber kann es keine zwei Meinungen geben; die Industriellen sind niemals gefragt worden, ob sie den Krieg wollten und wie er sich auf ihre Geschäfte auswirken würde. Die Legende eines allmächtigen Monopolkapitalismus löst sich vor unseren Augen auf. Sie beruhte auf der falschen Voraussetzung, daß, um es primitiv zu sagen, die Wirtschaft im totalitären Staat die Politik bestimmt. Heute wissen wir über jeden Zweifel hinaus, daß das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht genau umgekehrt war: der Staat ordnete die Wirtschaft seinen nicht-wirtschaftlichen Zwecken wie Krieg und bewaffnete Aggression unter.
Die Widerstandsbewegung
„Hitler war ein ganz gewöhnlicher Deutscher, Die Nationalsozialisten waren Deutsche. Sie gewannen bei einer freien Wahl mehr Stimmen als irgendeine andere deutsche Partei jemals erhalten hat. . . . Der deutsche Widerstand war eine Legende." So äußerte sich kürzlich der englische Historiker A. J. P. Taylor. Niemand hat je behauptet, die Nazis seien keine Deutschen gewesen. Aber Hitler war eindeutig kein „ganz gewöhnlicher Deutscher". Auch haben die Nationalsozialisten 1933 nicht den höchsten Prozentsatz aller Stimmen errungen — die Sozialdemokraten schnitten 1919 besser ab.
Wie steht es nun mit dem deutschen Widerstand? Wie viele Truppentransporte oder Deportationszüge wurden zum Entgleisen gebracht? Wie viele SS-Leute wurden inner-halb Deutschlands getötet? Mit diesen Fragen (die Taylor stellt) müssen sich die Deutschen auseinandersetzen. Andererseits: wie viele Deutsche wurden unter Hitler verhaftet? Nach den Akten der Gestapo betrug die Zahl der im April aus politischen Gründen 1939 verhafteten und in Gefängnissen und Konzentrationslagern festgehaltepep Personen 301 000. Tausende wurden hingerichtet — lange vor 1944. Dazu gehörten abgefallene National-28 sozialisten und unpolitische Personen, die auf bloßen Verdacht oder auf Grund einer Denunziation verhaftet worden waren. Einige waren Juden, die ohnehin als Feinde des Regimes galten. Aber Dreihunderttausend ist eine große Zahl; das ist keine „Legende".
Die Geschichte Widerstandes des deutschen wie vieles gegen Hitler muß, so andere im Dritten Reich, noch geschrieben werden. Es gibt viele Büche über einzelne Menschen und Gruppen, aber keine objektive Untersuchung, die das ganze Phänomen im größeren Zusammenhang sieht. Westdeutsche Berichte lassen den Beitrag der Kommunisten häufig außer acht; auch die wissenschaftliche Untersuchung von Hans Rothfels über den deutschen Widerstand gegen Hitler
Sodom und Gomorrha hätten, so heißt es, durch zehn Gerechte gerettet werden können. In Deutschland gab es mehr als zehn, aber die geschichtlichen Dimensionen haben sich gewandelt; am Tage des Gerichts wurde ihre Zahl für zu klein befunden. Aber man sollte alle, die am Widerstand beteiligt waren, ehren, auch wenn die Kommunisten es den anderen nicht leicht machen.
Von den vielen Lücken in den Annalen des deutschen Widerstands ist die, die die Intellektuellen hinterlassen haben, wahrscheinlich die größte. Oder fällt sie nur am meisten auf, weil sie das Pech hatten, ihre Ansichten und Gefühle zu Papier zu bringen, während es keine Niederschriften über die Meinungen der anderen gibt?
Ein sonst nicht besonders bedeutender deutscher Literat schrieb im Februar 1933: „Die Diktatur braucht ihnen gar keine Befehle zu geben, sie stehen schon von alleine stramm. Sie fingen schon an zu marschieren, noch ehe sie den Befehl erhielten. Sie schreiben, was von ihnen erwartet wird. * Wenn man die begeisterten Erklärungen, die jubelnden Manifeste der deutschen Intellektuellen aus dem Jahre 1933 wieder liest, so findet man nur wenige mildernde Umstände, abgesehen vielleicht von der Tatsache, daß die Stellung von Schriftstellern wie Thomas Mann, Jakob Wassermann, Rene Schickele, die aus den verschiedensten Gründen von dem Regime bereits abgelehnt worden waren, damals nicht besonders heroisch war. Aber wie war es 1939? Wie war es 1944? Die Literaturbeilage von Goebbels'Wochenzeitung Das Reich während der Kriegsjahre liest sich wie eine Anwesenheitsliste des „anderen Deutschland“, Diese nichtfestgelegten Schriftsteller wurden, das ist richtig, vom Propaganda-Ministerium bewußt kultiviert; die Versuchung war da — aber sie fielen ihr zu leicht zum Opfer. Es gab ein paar deutsche Bischöfe, einige Generäle, sogar deutsche Richter, die Mut bewiesen. Aber wie viele Schriftsteller entschlossen sich, lieber ihren Garten zu pflegen als dem Regime zu dienen? Vor kurzem wurde der anglo-amerikanischen Öffentlichkeit ein Buch über zeitgeschichtliche Fragen beschert von einer deutschen Verfasserin, die nicht Nationalsozialistin gewesen war; darin führt sie aus, Verrat und Widerstand seien in Wirklichkeit sehr verwandte Dinge ohne Bezug auf moralische Werte. Ich bin nicht sicher, ob die Botschaft ganz verstanden wurde; das Buch wurde hier sehr gut besprochen. Dieselbe Verfasserin war eine bedeutende Mitarbeiterin an Goebbels'Zeitung gewesen — nicht im Januar 1933, sondern im Dezember 1944, viele Monate nach dem Aufstand vom 20. Juli, der jedem denkenden Deutschen die letzten Zweifel hätte nehmen müssen. Warum tat sie das? Wäre sie erschossen worden, wenn sie ihre Mitarbeit verweigert hätte?
Wurde sie zur Mitarbeit aufgefordert oder meldete sie sich freiwillig dazu? Aber diese Verfasserin herauszuheben, ist höchst ungerecht; man könnte ebenso gut die Schuld für die Niederlage einer Armee einem verwirrten Gefreiten zuschieben, der wahrscheinlich überhaupt nicht wußte, wie er dazu kam, an der Schlacht teilzunehmen.
Nationalsozialismus und Faschismus
Mein Ausgangspunkt war die Definition des Nationalsozialismus. Was veranlaßte die Menschen. sich dieser Bewegung anzuschließen? Der Ausdruck Nationalsozialismus (und Faschismus) ist in den letzten Jahrzehnten und besonders seit dem Kriege etwas wahllos gebraucht worden. Sehr viele Leute sind von ihren politischen Gegnern „Faschisten“ genannt worden: griechische Könige und österreichische Kanzler, polnische Marschälle, französische Generäle, latein-amerikanische Abenteurer, der Papst, Sigmund Freud, Trotzki und Stalin. Vor kurzem beklagte sich eine Gruppe von Gegnern der Atomrüstung, die die Nacht auf einem Polizeirevier verbringen mußten, über „Gestapo-Methoden“ und „Konzentrationslager", weil die Matratzen nicht weich genug waren. Der Brief einer Dame, die irgendwelchen Unsinn über Geburtenregelung geschrieben hat, wird mit einem „Hitlerschen Manifest" verglichen. Ein Literaturkritiker, der einen Dichter beleidigte, wird als Faschist verschrien. Man erschrickt, wenn man das hört; aber vielleicht ist es nur natürlich. Der Nationalsozialismus ist ferne Vergangenheit geworden; als Redewendung ist er geblieben. Historiker und politische Wissenschaftler — von Propagandisten ganz zu schweigen — sind etwas zu freigiebig mit der Bezeichnung „Nazi" umgegangen. Es besteht die Neigung, jedes Regime, das die Opposition verfolgt, „faschistisch" zu nennen; und wenn sich eine solche Regierung auch noch einer gewissen Demagogie bedient, gibt es keinen Zweifel mehr über ihren „faschistischen Charakter". Die Folge ist, daß der entscheidende Unterschied zwischen faschistischen Regimes einerseits und Militärdiktaturen und totalitären Regierungen andererseits immer mehr übersehen wird. Kaum jemand fragt noch danach, ob es wirklich sinnvoll ist, ein und denselben Ausdruck zu gebrauchen, um Hitlers Deutschland und Italien unter Mussolini zu bezeichnen. Dennoch bestanden zwischen den beiden Regimes wesentliche Unterschiede: das eine entwickelte sich zum vollen Totalitarismus, das andere mußte mit Monarchie und Kirche koexistieren. Man hört gelegentlich die Meinung, man müsse zwischen „links-gerichtetem, gemäßigtem und rechts-gerichtetem" Faschismus unterscheiden. Dafür läßt sich manches sagen; aber es ist nicht sicher, daß man damit weiter kommt. Der sogenannte linksgerichtete Faschismus mag, was seine Quellen (und seine Politik) betrifft, den Linksparteien näher stehen als dem rechtsgerichteten Faschismus, der nichts anderes ist als der äußerste Rand des traditionellen Konservatismus. Es gibt keinen „Idealtyp" des Faschismus, der als Maßstab für alle faschistischen Bewegungen dienen könnte.
Wenn der Nationalsozialismus nichts als eine Verschwörung von Millionen von Verbrechern gewesen wäre, wäre unsere Aufgabe einfacher. Seine Führer waren ein ungewöhnlich wenig einnehmender Haufen, ohne jede moralische Skrupel. Ein gewisser Prozentsatz waren Gangster, die sich aber im allgemeinen als „humaner" erwiesen als Bürokraten wie Heinrich Himmler. Das hat mancher Anti-Nationalsozialist — Bertolt Brecht zum Beispiel — nie verstanden.
Versuchung in großem Maßstab
In Brechts Stück ist Arturo Ui der Führer einer kleinen Gangsterbande in Chicago, die den örtlichen Gemüsehandel „beschützt". Nach kurzer Zeit beherrscht er mit seinen Kumpanen den Blumenkohlhandel, nachdem er alle Gegner durch Terror zur Unterwerfung gezwungen hat. Ihr einziges Ziel ist, aus jeder Kuh, die der gute Gott gemacht hat, ihr Stück Fleisch zu schneiden". Das mag amüsant sein, aber nichts könnte irreführender sein als dieses Bild des Nationalsozialismus. Denn der Nationalsozialismus war nicht Terror. Eine Bewegung, für die Millionen von Menschen zu kämpfen und zu sterben bereit waren, läßt sich nicht ausschließlich mit der Begriffswelt von Al Capone und Jack „Legs" Diamond erklären. Gangster hat es schon viele gegeben, aber nur einen Hitler; Brechts Formel erklärt weder den Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung noch die Begeisterung, die sie hervorrief, noch den Mangel an Widerstand dagegen. Unter den jungen Leuten, die sich der NS-Bewegung in den ersten Jahren anschlossen, gab es eine ganze Reihe von Idealisten. Viel später schilderte ein junger Mann, der der Versuchung widerstanden hatte, das Dilemma, in dem sich seine Altersgenossen befanden: „Wenn nur wenige eine klare Stellung bezogen und sie beibehielten, so lag das nicht daran, daß Widerstand so unmöglich war, sondern daran, daß der Nationalsozialismus alles bot, was sich ein junger Mann im tiefsten Herzen und in seinen stolzesten Phantasien wünschte: Tätigsein, Verantwortung für seine Mitmenschen, Arbeit mit ebenso begeisterten Kameraden für ein größeres und stärkeres Vaterland. Er bot öffentliche Anerkennung und berufliche Laufbahnen, die bisher undenkbar gewesen wären; auf der anderen Seite hingegen gab es nur Schwierigkeiten und Gefahren, eine leere Zukunft und herzzerreißende Zweifel."
Jedermann stimmte zu, daß Deutschland ein „grausam unterdrücktes" Land sei, daß es 1919 in Versailles „höchst ungerecht behandelt" worden sei, daß es einen Teil der . verlorenen Gebiete" zurückerhalten müsse, daß Reparationen reine „Ausbeutung" bedeuteten. Wir neigen dazu, diese Klagen als Manifestationen eines aggressiven deutschen Militarismus anzusehen. Damals aber wurden diese Forderungen von allen Liberalen, Sozialisten und Kommunisten, einschließlich der meisten Linksgerichteten in England und Amerika, unterstützt. Und so wandten sich Millionen junger Deutscher einer, wie sie glaubten, Nationalen Revolution zu. Einige hatten Bedenken gegen den terroristischen Charakter der NS-Bewegung oder gegen ihre feindselige Haltung zur Kirche. Manche bedauerten den extremen Antisemitismus. Aber nur wenige machten sich ernste Sorgen, und wer wollte schließlich für die Demokratie oder für die Juden kämpfen? Das waren kleinere Makel der großen Bewegung für Deutschlands Wiedergeburt. Der Nationalsozialismus war gefährlich, gerade weil er nicht nur an die niedrigsten Instinkte appellierte. Er war Versuchung in großem Maßstab. Die Vorfahren der Deutschen wären skeptischer gewesen; auf dem Theater des Mittelalters trat der AntiChrist im Gewände Christi auf, um das Volk besser zu täuschen.
Zahlreiche Versuche sind in unserer Zeit von Liberalen und Konservativen, Sozialisten und Kommunisten, Juden und Katholiken, Psychoanalytikern und Soziologen unternommen worden, den Nationalsozialismus zu „erklären". Fast alle enthalten ein Körnchen Wahrheit, so klein es auch manchmal sein mag. Ich persönlich glaube, daß die ersten richtigen Beurteilungen des Nationalsozialismus nicht von politischen Parteien, sondern von einzelnen stammen, die keine vorgefaßte Meinung zu verteidigen oder zu beweisen hatten; das scheint mir jedenfalls aus einem Studium der zeitgenössischen Literatur hervorzugehen. Erst in allerjüngster Zeit ist der Versuch unternommen worden, alles, was in den verschiedenen Interpretationen des Nationalsozialismus von Wert ist, zusammenzufassen. Eines Tages werden wir vielleicht alle einer Ansicht sein.
Inzwischen sollte Einstimmigkeit darüber herrschen, daß der Nationalsozialismus nicht nur eine „rechtsgerichtete Diktatur“ war, sondern einen entscheidenden Eigencharakter besaß. Er war reaktionär, aber nicht wirklich konservativ; auf seine eigene abwegige und unmenschliche Weise wollte er wirklich die Welt ändern. Er war zutiefst antimarxistisch, bediente sich aber dennoch ähnlicher Methoden (manchmal genau der gleichen) wie seine Feinde und teilte deren Feindschaft gegen die liberale Demokratie. Eine gewaltige Skala von Beweggründen veranlaßte die Menschen, sich der NSDAP anzuschließen. Die Hauptquelle des Übels war letztlich moralischer Relativismus und Gleichgültigkeit: die einfache Tatsache, daß zu viele Menschen in Deutschland nicht fähig oder nicht bereit waren, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Es war der klassische Zustand der Sünde, wie die Griechen ihn gesehen hätten: Sünde als Folge der Hybris, die Hybris ruft Verblendung hervor, jenen Zustand moralischer Blindheit, in der das Böse gut erscheint.
Der Nationalsozialismus entstand unter besonderen Bedingungen und zu einer bestimmten Zeit; beide sind vergangen und mit ihnen die Möglichkeit zu einer Wiederkehr. Damit soll nicht der Selbstgefälligkeit oder einem Nachlassen jener ständigen Wachsamkeit das Wort geredet werden, die der Preis der Freiheit sein soll. Aber Wachsamkeit am falschen Platz ist keine Tugend. Es wird immer wieder brutale und unmenschliche Diktaturen geben, aber daß sie vom Nationalsozialismus inspiriert werden, ist unwahrscheinlich. Es wird weder durch Zufall noch „auf allgemeinen Wunsch" eine Wiederholung der Vorstellung geben.