Die angesehene Londoner Monatszeitschrift " Encounter" hat ihre April-Ausgabe ausschließlich dem Thema Deutschland gewidmet. In 31 Beiträgen wird versucht, eine wenn auch ziemlich unsystematische Einführung in die Wirklichkeit der Bundesrepublik, von den politischen Zuständen bis zum Musikleben, zu geben. Insgesamt gesehen ist gewiß ein abgewogenes Bild zustande gekommen, das mit allerlei vorgefaßten Meinungen und Fehlurteilen in England aufräumt.
Wir meinen, daß es nützlich für deutsche Leser wäre, von einigen dieser Ansichten Kenntnis zu nehmen, auch und gerade dann, wenn sie da und dort nicht schmeichelhaft für uns sind oder wenn wir sie manchmal für nicht ganz gerechtfertigt halten oder auch, wenn wir mit gewissen Vorstellungen über die Zukunft nicht übereinstimmen. — Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber von " Encounter" drucken wir daher im folgenden das Vorwort von Melvin J. Lasky, eine Reihe von kurzen Beiträgen britischer und amerikanischer Deutschlandkenner, die die Wandlungen ihres Deutschlandbildes aufzeichnen, und schließlich den Aufsatz von Walter Laqueur über die Schwierigkeiten bei der Erforsdrung des Nationalsozialismus ab.
Vorbemerkung
Hassen Sie die Russen, verachten Sie die Amerikaner oder sind Ihnen die Deutschen zuwider? Wer liebt die Italiener? Finden Sie die Franzosen charmant, abstoßend, dekadent? Und die Laputier — gefährlich? Und die Yahoos — die letzte Station der Menschheit?
Von den mächtigen politischen Emotionen, die die westliche Welt gespalten haben, scheint der Anti-Amerikanismus (mindestens in England) im wesentlichen erloschen zu sein. Für den Anti-Germanismus trifft das nicht zu. Noch im April dieses Jahres schrieb eine prominente amerikanische Autorin in der ZeitSchrift Atlantic Monthly: die Deutschen, zum Gehorsam erzogen und der moralischen Selbstrechtfertigung hingegeben, sind kein neues Volk und keine verläßlichen Partner für andere ... Es scheint niemandem aufzufallen, daß das friedliche Deutschland das große Hindernis für den Frieden in Europa bildet . . . Es ist bemerkenswert, daß die deutsche Nationalhymne auch heute noch . Deutschland über alles'heißt. ... Deutschland wechselt nur seine Führer, nicht seinen Charakter . . . Die Deutschen sollten sich nicht über die Melvin J. Lasky:
Vorbemerkung 3 George P. Gooch: Blick zurück 5 Arnold Toynbee:
De Germania 8 Malcolm Muggeridge: Einst und jetzt 10 John Mander:
Nach derApokalypse 13 Edward Shils:
Enttäuschung 16 Louis J. Halle:
Mythen und Hoffnungen 19 Walter Laqueur:
Der Nazismus und die Nazis 23
Mauer entrüsten; es ist noch gar nicht lange her, daß sie selbst überall in Europa ähnliche Mauern errichtet haben. . . ." Diese hartherzige, gefühllose Scheinheiligkeit (cant) ist nicht etwa allein auf den oberflächlichen Journalismus beschränkt. In einem wissenschaftlichen Werk schreibt ein hervorragender englischer Historiker: „Am gefährlichsten wurde die Lage, als — charakteristischerweise die kleine deutsche Gruppe sich verschwor, um die Kolonie zu verraten, Sie schmuggelten heimlich Waffen an die Eingeborenen und hofften, die Kolonie den Spaniern auszuliefern Ebenso charakteristisch war es, daß sie den gerechten Lohn für ihr Verhalten erhielten: einigen, denen es gelang, nach Powhatan zu entkommen, wurde wegen ihres Verrats an den Engländern der Schädel eingeschlagen ..." So A. L. Rowse, der sine ira et Studio die Schwierigkeiten schildert, mit denen die erste englische Siedlung in Jamestown in Virginia im Jahre 1609 zu kämpfen hatte.
Aber das Wesen der Nationen und Völker hat sich als das flüchtigste und am wenigsten greifbare Element der menschlichen Geschichte erwiesen; und wer versucht, sich an eine bestimmte Vorstellung eines National-charakters zu halten, muß enttäuscht feststellen, daß er es mit einem Klischee von gestern zu tun hat. Das freundliche Bild des 19. Jahrhunderts von „unseren deutschen Vettern" wurde von der verbitterten modernen Vorstellung des „unbelehrbaren Teutonen" abgelöst. Vielleicht werden sie immer unter uns sein, die Deutschenhasser und die Deutschenfreunde, die ständig von den Schrecken Hitlers oder den Herrlichkeiten Goethes, von dem Fluch eines zum Militarismus und noch Schlimmerem verurteilten Volkes oder von der Verheißung einer Kultur und eines Geistes sprechen, die so nahen Umgang mit dem Genius gepflogen haben.
Das Schlimme bei den Deutschenhassern ist, daß sie wegen ihrer brennenden Sorge vor dem, was sie als pervers und gefährlich im Hintergrund lauern sehen, offenbar von Natur aus unfähig sind, ein deutsches Buch schön zu finden, einen deutschen Gedanken zu bewundern oder einen deutschen Freund zu haben Der Haken bei den Deutschenfreunden ist, daß sie wegen ihrer lobenswerten Aufgeschlossen heit gegenüber Ausländern und allem Fremden sich nur schwer dazu aufraffen können, ein Gefühl des Zorns oder der Bestürzung bei sich zu erwecken angesichts der Rückkehr eines schäbigen Nazis oder eines Ausbruchs teutonischer Taktlosigkeit oder der immer wiederkehrenden Erscheinung „deutscher Sturheit".
Beide sind einseitige Extremisten — engstirnig oder einfältig, zynisch oder unkritisch.
Keiner, so will es uns scheinen, verhält sich nützlich oder sachgemäß in einer Zeit, die, vielleicht mehr als jedes Zeitalter vor uns, einfach den Gebrauch des Verstandes (nicht nur von den Intellektuellen) verlangt. Sie fordert uns auf, weltanschauliche Versuchungen und gefühlsmäßige Vereinfachungen auszuschalten und an ihre Stelle ein bescheidenes Maß von Neugier, Duldsamkeit, Vernunft und menschlichem Mitgefühl zu setzen. Denn diesseits der weitgespannten Horizonte der terri-bles simpliticateurs liegen greifbare und irdischere Aufgaben: nämlich großzügige, humane und auf Wissen beruhende geistige Beziehungen zu anderen Kulturen zu schaffen. Und mehr noch: an der Entwicklung allgemein gültiger Grundlagen für eine Weltordnung mitzuarbeiten, die lebensvoller und nachbarlicher wäre. Goethe, den der Anblick seiner Landsleute so tief betrübte, bemühte sich einmal, seine Suche nach dem „allgemein Mensch-liehen" zu erklären, nach jenem Sinn für die universale Menschlichkeit, die sich in so vielen verschiedenen Gestalten in der ganzen Welt finden lasse und die er in seinem eigenen Lande zu finden, zu erkennen oder anzuregen gehofft habe. Er glaubte — oder vielleicht hoffte er es nur es könnte das Schicksal der Deutschen sein, Vertreter eines neuen „Weltbürgertums" zu werden. Ist das aber nicht vielmehr das Schicksal aller Europäer, ja der Menschheit selbst?
Wir möchten gerne glauben, der gegenwärtige Stand der deutsch-englischen Beziehungen — oder sinnvoller der gesamten Beziehung zwischen Deutschland und dem atlantischen Westen — habe einen Punkt erreicht, an dem es keine Rückkehr mehr gibt; das heißt „keine Rückkehr" zu den politischen Abirrungen (die stets von geistiger Korruption und Schande begleitet sind) der Vergangenheit In diesem Geiste legen wir diese Nummer unserer Zeitschrift vor.
Blick zurück
Wenn ich in meinem 91. Lebensjahr auf die verwickelten englisch-deutschen Beziehungen zurückblicke, wie sie während meines Lebens bestanden haben, so kann ich mich an fünf verschiedene Phasen erinnern. Es ist mir eine große Befriedigung, lange genug gelebt zu haben, um Zeuge der Wiedererrichtung der Brücken zwischen den beiden Ländern zu sein und um die Überzeugung zu gewinnen, daß sie nicht wieder vom Abbruch bedroht sind.
Das viktorianische England war ausgesprochen deutschfreundlich. Die Königin liebte nicht nur ihren Mann, den Prinzgemahl, sondern auch das Land, aus dem er kam. Mit Frankreich, das sie nicht nur für unseren „Erbfeind", sondern auch für höchst unzuverlässig und unberechenbar hielt, konnte sie wenig anfangen. Die Einstellung des Hofes wurde noch wärmer, als die Tochter der Königin den Kronprinzen Friedrich heiratete, den viele Engländer Friedrich den Edlen nannten. Er gewann unsere Herzen durch das furchtbare Krebsleiden, das ihn während seiner kurzen Regierungszeit von drei Monaten im Jahre 1888 daran hinderte, verständlich zu sprechen, und nach seinem betrauerten Tod galt seiner Witwe weiterhin unser herzliches Mitgefühl. Königin Viktorias Bewunderung für viele Aspekte des Lebens in Deutschland wurde von den meisten ihrer Untertanen geteilt, von niemandem mehr als dem großen alten Thomas Carlyle, dessen letztes und längstes Werk über Friedrich den Großen nicht nur eine Biographie, sondern auch ein Glaubensbekenntnis für die Regie-rungsform war, die er vertrat — den philosophischen Despotismus oder, um ein anderes Wort zu gebrauchen, den Paternalismus. Von den zeitgenössischen Denkern erregte keiner so viel Interesse und so viel Abscheu wie Nietzsche, der — ein neuer Macchiaveil — seine Lehre vom Übermenschen und seine Verwerfung der althergebrachten Grundsätze der Moral verkündete. Ein anderer Bewunderer des deutschen Volkes war Cecil Rhodes, der auch den Deutschen die Vorteile der von ihm gestifteten Ausbildungseinrichtung zukommen ließ. Last, not least sei Joseph Chamberlain genannt, der von der Feindseligkeit Frankreichs und Rußlands so beunruhigt war, daß er einen der langen Erholungsaufenthalte Salisburys in Frankreich nutzte, um dem deutschen Botschafter inofliziell ein politisches Bündnis anzubieten.
Abgesehen von der Politik wurde auch die deutsche Kultur und Gelehrsamkeit sehr bewundert. England hat in Gibbon, Macaulay und Carlyle die größten Amateure der Geschichtsschreibung hervorgebracht, aber die berufsmäßige Geschichtsschreibung, wenn man sie so nennen darf, ist ein Kind Deutschlands. Ihr Beginn wird meist auf das Jahr 1824 angesetzt, das Jahr, in dem Ranke seinen ersten Band über einige Völker Westeuropas am Ende des Mittelalters veröffentlichte, dem er eine sehr ausführliche Untersuchung der dem Historiker zur Verfügung stehenden Quellen hinzufügte. Nur durch die gründliche Beherrschung des vorhandenen Beweismaterials könne man die Vergangenheit rekonstruieren! in einem berühmt gewordenen Satz seiner Vorrede erklärte er, er habe nur das Ziel, zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen". Den Rest seines langen Lebens widmete er der Anwendung dieses Grundsatzes, und seine Meisterwerke über die Reformation, die Päpste, Preußen, England im 17, Jahrhundert und Frankreich unter den Bourbonen sind nicht nur für seine zahllosen Jünger in Deutschland, sondern für historisch interessierte Leser und Geschichtsschreiber in der ganzen Welt Denkmal und Vorbild geworden. In einem seiner letzten Briefe steht ein Satz, der eingerahmt und an der Wand des Studierzimmers jedes Gelehrten hängen sollte:
„Geschichtsschreibung ist Gewissenssache.'Neben Ranke steht unter unseren deutschen Meistern Theodor Mommsen, und meine persönliche Dankesschuld an diese beiden unvergleichlichen Gelehrten ist unermeßlich.
Die zweite Phase in den deutsch-englischen Beziehungen setzt um die Jahrhundertwende mit dem Tod der ehrwürdigen Königin und der Thronbesteigung Eduards VII. ein. Der neue Herrscher hatte für Deutschland ebenso wenig übrig wie seine Mutter für Frankreich, und er und der deutsche Kaiser hegten nicht viel Bewunderung und Achtung füreinander;
aber diese persönlichen Faktoren genügen nicht, um die Veränderung in der Gesamt-atmosphäre zu erklären. Der Kaiser hatte die britische Öffentlichkeit durch seine Depesche an Krüger nach dem Fehlschlag des Jameson-Einfalls in Transvaal schockiert, in der er den Buren zum Sieg über den Angreifer gratulierte und seine Befriedigung darüber ausdiückte, daß es nicht notwendig geworden sei, fremde Machte zu Hilfe zu rufen.
Weit wichtiger war die Entschlossenheit des Kaisers, eine deutsche Flotte zu schaffen, die beinahe ebenso stark sein sollte wie die stärkste Armee in Europa, die er bereits besaß. In England herrschte während dieser Jahre, in denen ich zunächst Bewerber um einen Sitz im Parlament und dann Abgeordneter der Liberalen Partei war, fast überall das Gefühl, das Verhalten des Kaisers sei nicht fair, und in den Jahren nach dem Wahlsieg der Liberalen von 1906 wurde keine Frage so heftig diskutiert wie die, welche Maßnahmen wir ergreifen sollten, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Unser Handeln nahm jedoch eher politische als militärische Gestalt an, denn es bestand eine unmittelbare Verbindung zwischen der Flottenvolitik des Kaisers und Lansdownes Vertrag mit Frankreich im Jahre 1904, dem Greys Vertrag mit Rußland von 1907 folgte. Inzwischen bot die Landkarte Europas ein völlig neues Bild, und in den wenigen Jahren vor 1914 standen sich die Entente zwischen England, Frankreich und Rußland und der Dreibund aus Deutschland, Osterreich-Ungarn und Italien deutlich gegenüber. Während der letzten Friedensjahre wurde ein Krieg als konkrete Möglichkeit in beiden Ländern häufig und offen erörtert, und die Kriege auf dem Balkan vermehrten die Verwirrung auf dem europäischen Schachbrett. Als der Sturm 1914 ausbrach, fanden wir uns im Kriege gegen unseren alten Verbündeten aus der Zeit Friedrichs des Großen und Napoleons. Ich erinnere mich an eine Begegnung in den allerersten Tagen des Krieges mit dem österreichischen Historiker Namier, der britischer Staatsangehöriger geworden war; ich bemerkte, wie schmerzlich dies alles für mich und meine deutsche Frau sei und daß ich viele Freunde in Deutschland hätte. Er setzte seine strengste Miene auf und antwortete, „Ich habe gar keine" und wandte sich ab. Eine Welle des Zorns ging über das ganze Land und dehnte sich mit dem Auf und Ab des Kriegsglückes auf das ganze deutsche Volk aus. Aber nicht jeder ließ sich mitreißen, und eine Gruppe von Abgeordneten der Liberalen und der Labour Party gründeten die Union of Democratic Control, die, ohne gegen die Kriegführung zu opponieren, für einen maßvollen Frieden warb, der nach ihrer Meinung allein die Möglichkeit bot, eine Wiederholung des Unglücks zu verhindern. Diese Haltung war nicht auf linksstehende Journalisten und Abgeordnete beschränkt, denn im Jahre 1917 veröffentlichte Lansdowne, dem das ganze Gewicht seiner Autorität als früherer konservativer Außenminister zur Verfügung stand, seinen berühmten Brief, der von der Times abgelehnt und vom Daily Telegraph abgedruckt wurde-, darin erklärte er, die allgemeine Forderung nach einem Krieg bis zum bitteren Ende werde, wenn sie erfüllt werde, eine Stabilisierung Europas nach dem Kriege fast unmöglich machen. Gern erinnere ich midi daran, daß ich mich einer kleinen Abordnung anschloß, die dem Verfasser des Briefes zu seinem Mut und seiner Klugheit gratulierte.
Als die Kampfhandlungen aufhörten, wandten sich unsere Blicke nach Paris, wo die siegreichen Verbündeten sechs Monate mit dem Versuch zubrachten, sich über die Bedingungen zu einigen, die unserem besiegten Gegner auferlegt werden sollten. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages im Sommer 1919 endete die zweite Phase der deutsch-englischen Beziehungen.
Die dritte Phase setzt ein mit der Beherrschung Europas durch Deutschlands Feinde. Das Land, das Bismarck zur stärksten Macht Europas gemacht hatte, lag, aus tausend Wunden blutend, im Staube und grübelte über den Ruhm und die Triumphe vergangener Tage. Das Kaiserreich war 1918 verschwunden, und das Land war zum erstenmal auf sich allein gestellt. Wer sollte es führen, wer die Flamme der Vaterlandsliebe neu entzünden, wer den Glauben an seine Wiederauferstehung wecken? Die Antwort wurde von den Schöpfern der Weimarer Verfassung und von den Staatsmännern der Mitte gefunden, deren hervorragendster Vertreter Stresemann war. Viele der neuen Führer versicherten der Welt, das alte Deutschland sei für immer verschwunden, die neuen Männer blickten nach Weimar und nicht mehr nach Potsdam. Viele Engländer empfanden mit der angeborenen Großzügigkeit, die sie vielleicht mehr als die Angehörigen jeder anderen Großmacht auszeichnet, alsbald eine gewisse Sympathie für ihre bisherigen Feinde. Wir wollen ihnen eine faire Chance geben, sagten sie, und nahmen ihnen zwar auf verhältnismäßig lange Zeit Heer und Flotte, aber ermöglichten es ihnen, sich nach dem Knock-out-Schlag wieder zu erholen. Ich gehörte zu denen, „die mit den Weimaria nern sympathisierten, denn ich wußte, daß das deutsche Volk zumindest fürs erste genug von Militarismus und Krieg hatte. Die Stimmung in England wurde ausgesprochen freundlich und sogar ein wenig optimistisch, und als Lloyd George, einer der Mitgestalter des Versailler Vertrages, 1922 stürzte, traten die neuen Männer wie Ramsay MacDonald und Stanley Baldwin mit etwas wärmeren Gefühlen an ihre Aufgabe heran. Natürlich gab es viele Engländer, die erklärten, einem Deutschen nie wieder vertrauen zu können, aber sie waren in der Minderheit. Aber keine britische Regierung konnte viel dazu tun, um die Lage für Frankreich zu entspannen, das mehr als wir gelitten hatte und sich noch immer in den Händen der Unversöhnlichen befand, mit dem alten „Tiger“ Clemenceau am Steuer. Die Wunde der Niederlage und die Last der Reparationszahlungen lagen so schwer auf Millionen von Deutschen — Alten und Jungen —, daß der Weg frei wurde für ein Wiederaufleben von Gefühlen wie sie Hitler wie kein anderer begriffen und ausgenutzt hat. So sah also das kurzlebige Weimarer Experiment aus, das seine Freunde im Ausland kaum weniger enttäuschte als seine Führer im Innern, und die Franzosen konnten sagen, als sie den Aufstieg der NSDAP beobachteten: „Das haben wir gleich gesagtl“ Ich bin in der Zeit zwischen dem Versailler Vertrag und Hitlers Sieg im Jahre 1933 ein paar Mal in Deutschland gewesen und kann ehrlich sagen, daß ich kaum Beweise für den Wunsch nach weiteren Abenteuern und Aggressionen fand in einem Volke, in dem fast jede Familie einen oder mehrere Angehörige hatte.
Die vierte Phase erstreckt sich von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Jahre 1933 bis zu Deutschlands Kapitulation 1945. Als Verehrer von Beethoven und Schubert, Goethe, Schiller und Kant und als dankbarer Schuldner der großen deutschen Historiker brauche ich kaum zu sagen, wie der Aufstieg der Nationalsozialisten mich mit Schmerz und Bestürzung darüber erfüllte, daß das „Volk der Dichter und Denker", wie es einst geheißen hatte, sich von einem halbirren Fanatiker regieren lassen konnte, der es als seine Sendung empfand, die jüdische Rasse vom Erdboden zu tilgen Die Demokratie hat lange gebraucht, ehe sie in Großbritannien feste Wurzeln schlagen konnte; in Deutschland hatte sie vor der Weimarer Zeit kaum eine Chance gehabt und diese Zeit war zu kurz, als daß demokratische Gedanken und Vorstellungen beim Volke Eingang finden konnten. Der Historiker A. J. P. Taylor vertritt die Meinung, Hitler sei ein Opportunist gewesen, der den Gang der Ereignisse, wie sie sich gerade ergaben, geschickt für seine eigenen Zwecke auszunutzen verstand. Diese Ansicht ist nicht allgemein verbreitet, und ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß, während 1914 weder Deutschland noch irgendeine andere Macht einen Krieg wünschte, der Konflikt von 1939 im voraus beschlossen wurde, weil er die einzige Möglichkeit bot, Deutschland wieder in den Rang einer Großmacht und wenn möglich in die Stellung der größten europäischen Macht überhaupt zu erheben. So weit ich beobachten konnte, gab es im zweiten Weltkrieg viel weniger Deutschenhasser als im ersten. Im ersten Krieg glaubten wir, das ganze deutsche Volk zum Gegner zu haben. Im zweiten glaubten die meisten Engländer, es mit den Nazis zu tun zu haben, die jedenfalls nur für einen Teil des Volkes sprechen konnten. Die britische Politik ist vor dem ersten Weltkrieg und während des Krieges in England selbst kritisiert worden, aber im zweiten ist die Forderung nach einem Kompromißfrieden niemals gestellt worden, und als die deutschen Armeen mit Hilfe der Vereinigten Staaten besiegt worden waren, sprach niemand von maßvollen Bedingungen.
Die fünfte und letzte Phase der deutsch-englischen Beziehungen beginnt mit dem Verschwinden der Nationalsozialisten, und dieses Mal sprach niemand von einem weiteren, bevorstehenden Krieg. Die Energie, mit der die arbeitsamen Deutschen ihr zerstörtes Gebäude wiederaufbauten, oft als das „deutsche Wunder" bezeichnet, brachte ihnen die Achtung der Sieger ein; Dr. Adenauers Politik, neue Brücken nach Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten zu schlagen, bestärkte unsere Überzeugung, daß das Schlimmste vorbei sei. Was auch immer man über seine spätere Politik sagen mag, die Geschichte wird immer wieder die Dankbarkeit Westeuropas verzeichnen, daß er während seiner ganzen Regierungszeit den Mut zu der Erkenntnis hatte, daß Deutschland eine westliche Macht sei. Nun trat ein neuer Faktor im Spiel auf, als wir nicht nur die Macht, sondern auch die ehrgeizigen Ziele des kommunistischen Rußland erkannten und Zeuge wurden, wie es verschiedene Staaten in Europa, Asien und in der Neuen Welt unter seine Herrschaft brachte. Die Geschichte besteht vorwiegend aus den unvorhersehbaren Folgen unerwarteter Ereignisse. Als das Zarentum 1917 verschwand, hätte niemand voraussagen können, daß innerhalb eines halben Jahrhunderts die halbe Welt kommunistisch regiert werden würde. Die kommunistischen Führer, darunter auch Chruschtschow selbst, haben ihre Über-zeugung zum Ausdruck gebracht, daß es sich nur noch um ein paar Jahrzehnte handele, ehe die übrige Menschheit in die gleiche riesige Herde ausgenommen werden würde, weih wie sie meinen, das kommunistische System für eine gerechtere Güterverteilung sorge. Obwohl Chruschtschow erklärte — und es zweifellos auch ehrlich meinte —, als Vater und Großvater habe er keinerlei Wunsch nach Krieg, und man brauche nur eine lange Friedenszeit, fuhr er fort, auf dem Lande und in der Luft gewaltig aufzurüsten; diese Aufrüstung aber machte Gegenmaßnahmen erforderlich. Wer kann sagen, welche Führer an die Macht kommen weiden, wenn Chruschtschows Tag vorbei ist? Die Frage unserer Sicherheit kann jedoch nicht auf militärischem Gebiet allein gelöst werden. In den Beziehungen der Großmächte zueinander mußte ein neues Kapitel eröffnet werden, und nun schien der Weg der Sicherheit nach Bonn und Berlin zu führen. Wieder einmal hatte Großbritannien bei der Verfolgung des einen Zieles der nationalen Sicherheit den Partner gewechselt. Heute ist ein Block bestehend aus Westdeutschland, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten gebildet worden, der allein in der Lage zu sein scheint, sich zu verteidigen. Mein Überblick endet wie er begann: England und Westdeutschland sind wieder Freunde, mehr als das, sie sind neue Partner in einem Verhältnis, das auf einer größeren Konzeption beruht.
De Germania
Da ich mich meinem 75. Geburtstag nähere, hat Deutschland seit nunmehr rund sechzig Jahren auf mein Bewußtsein eingewirkt. In den aufeinander folgenden Bildern, die ich mir von Deutschland gemacht habe, stellt der August 1914 einen scharfen Einschnitt dar. Vor 1914 bedeutete Deutschland für mich die klassische Gelehrsamkeit; es bedeutete geistige Riesen wie Theodor Mommsen, Eduard Meyer und Ulrich Wilamowitz-Möllendorff; es bedeutete die großartigen Teubner-Reihen der griechischen und lateinischen Literatur — die so viel unternehmungslustiger und erregender waren als die Oxford-Ausgaben, die sich auf den kleinen Kreis super-klassischer Schriftsteller beschränkten. Als ich in'Oxford studierte und später, bis der erste Weltkrieg mich wegholte, dort Don war, wußte ich natürlich, daß es in England Leute gab, die einen Krieg gegen Deutschland voraussagten und darauf drängten, Vorbereitungen dafür zu treffen: Lord Roberts zum Beispiel. Meine Zeitgenossen und ich schrieben den armen alten Mann als senil ab und verurteilten die weniger ehrwürdigen Bangemacher als unheilstittende mutwillige Irre In Griechenland im Jahre 1911 und 1912 hörte ich off zu, wie die griechischen Bauern sich darüber unterhielten, ob der Krieg im kommenden Herbst oder erst im Frühjahr ausbrechen werde 1913 hörte ich in Oxford
Sir Lewis Namier, der gerade von dem österreichischen Gut seines Vaters an der österreichisch-russischen Grenze zurückgekehrt war, schildern, wie sich die österreichische und die russische Armee auf einer Entfernung von 20 Minuten Fußmarsch angriffsbereit gegenüberstanden. Aber diese Warnungen machten nur wenig Eindruck auf mich und der Schock des August 1914 war entsprechend stark.
Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn ich mir hätte einreden können, die Deutschen gehörten einer anderen Gattung an als die übrige Menschheit. Wenn man nur hätte beweisen können, daß sie vom Neanderthaler abstammten, wenn sie nur echte „Hunnen“ gewesen wären! Dann würden natürlich ihre psychologische Beschränktheit, ihre politische Dummheit, ihre Kriegslust und Grausamkeit uns anderen immer noch ernsten Schaden zufügen, aber die deutschen Schwächen und Laster würden sich wenigstens nur auf ihren eigenen Ruf und nicht auf den anderer auswirken. Aber das konnte ich nicht glauben; ich konnte die Deutschen nicht von uns trennen; ich konnte unsere Verwandtschaft mit ihnen nicht leugnen. Das war das eigentlich Schok kierende und Entsetzen erregende an den Greueltaten der Deutschen. Nehmen wir zum Beispiel die westliche klassische Gelehrsamkeit, mit der ich groß geworden war: was bliebe davon übrig, wenn man den deutschen Beitrag herauszunehmen versuchte? Und die westliche Musik: meinen wir nicht, wenn wir „Musik" sagen, „deutsche Musik"? Schließen wir diese aus und es gibt beinahe überhaupt keine westliche Musik. Nun, wenigstens Shakespeare war kein Deutscher, wenn auch die Deutschen sich sehr bemüht haben, ihn sich anzueignen. Ja, aber Goethe war ein Deutscher; und da mir in der Schule in einem gründlichen Deutschunterricht der Faust nahegebracht wurde, bedeutet Goethe zufällig für mich das, was den meisten Menschen, deren Muttersprache Englisch ist, Shakespeare bedeutet. So konnte ich Deutschland nicht abschütteln und seit 1914 hängt es mir wie ein Mühlstein am Halse. Was die Deutschen in den Jahren von 1914 bis 1945 taten, hat mein Vertrauen in die Teutonen, in die westliche Kultur, in die Menschheit erschüttert. Wenn die Deutschen teutonische Barbaren sind, dann bin ich auch einer trotz meiner mühsam erworbenen Politur aus griechischer und jüdischer Kultur. Ich wollte, ich wäre ein Romane, aber auch das hülfe nichts, denn die Romanen gehören dem Westen an und die Deutschen auch. Nun, wenigstens bin ich ein Mensch, aber auch die Deutschen sind, wie ich, Exemplare der Gattung homo sapiens.
Angesichts dessen, was die Deutschen getan haben, gibt es also keine Garantie dafür, daß ich und meine Mit-Engländer, meine Mit-
Abendländerund meine Mitmenschen nicht vielleicht genau das gleiche täten, wenn wir eines Tages unter den gleichen Bedingungen leben müßten wie die Deutschen. Damit wird die gesunde, von Vernunft und Ethik beherrschte Welt zerstört, in die ich bis 1914 glaubte hineingeboren zu sein.
Ich glaube nicht, daß meine Gefühle gegenüber den Deutschen etwas besonderes sind.
Ich bilde mir ein, daß ich ähnliche Gefühle ganz nahe an der Oberfläche in den Herzen der früheren Opfer und jetzigen Partner der Deutschen in der EWG finden würde.
Und ich weiß, daß ich diese Gefühle bei den Russen, Polen und Tschechen finden würde.
Die ständige Angst der Russen, ihr Land könnte zum dritten Mal von deutschen Armeen überfallen und verwüstet werden — wobei das gewaltige Wirtschaftspotential der Vereinigten Staaten dieses Mal Deutschland und nicht Rußland zur Verfügung stehen würde —, kann ich völlig verstehen und nachempfinden.
Idi bin überzeugt, daß mich, wenn ich ein Russe wäre, diese Furcht vor Deutschland verfolgen würde. Nach den Erfahrungen, die die Russen mit Deutschland gemacht haben, müssen sie Deutschland weiterhin mit Zweifel, Mißtrauen und Sorge betrachten. Das liegt auf der Hand und ist von entscheidender Bedeutung; und doch sind die Deutschen — ja sogar diese artigen Bundesrepublikaner — offenbar unfähig, das zu begreifen. Sie scheinen nicht zu sehen, daß, wenn Deutschland nicht mit Amerika zusammenarbeitet, um Rußlands Angst — und es ist eine echte Angst — vor einem erneuten Angriff zu beseitigen, nicht die leiseste Chance einer Wiedervereinigung der beiden Teile besteht, in die Deutschland jetzt aufgespalten ist. Dann sind also die Deutschen politisch immer noch genau so dumm wie früher? Oder bilden sie sich trotz der beiden vernichtenden Niederlagen, die sie erlitten haben, immer noch ein, die Wiedervereinigung schließlich doch durch einen weiteren Krieg erreichen zu können? Können sie denn nicht begreifen, daß ein weiterer Krieg im Zeitalter der Atombombe für Deutschland nicht die Wiedervereinigung, sondern die völlige Vernichtung bedeuten würde? Wenn ich solchen Gedanken nachhänge, verzweifle ich fast an einer Welt, in der die Deutschen offenbar immer noch unbelehrbar und wir anderen Bein vom Bein der Deutschen und Fleisch vom Fleisch der Deutschen sind kraft unserer gemeinsamen Zugehörigkeit zu den homines sapientes (was für eine tiefe Ironie seit 1914 in dieser selbstgerechten wissenschaftlichen Bezeichnung liegt, die unsere Großväter unserer Gattung damals zudiktierten!)
Diese Überlegungen sind entmutigend, aber glücklicherweise gibt es noch mehr, was gedacht und gesagt werden muß. Diese verzweiflungsvollen Gedanken sind zum Teil ungenau. Nehmen wir zunächst einmal „die Deutschen": Was meinen wir mit diesen beiden Worten? Natürlich meinen wir preußische Militaristen, Hitler, die SS, die unmenschlichen Aufseher in den Todeslagern; aber wenn wir mit „den Deutschen“ diese meinen, müssen wir auch die deutschen Opfer dieser deutschen Ungeheuer meinen. Und manche ihrer deutschen Opfer waren Helden. Lieber als sich Hitler und allem, was er vertrat, unterzuordnen, nahmen sie bewußt Folterung und Tod auf sich. Es mag nicht viele solche Helden gegeben haben. Aber wie viele hat es überhaupt jemals in der Welt gegeben? Ein paar Helden genügen, um das Salz der Erde zu sein, und das deutsche Volk hat einen beachtlichen Beitrag zu der kleinen Schar von Helden in unserer Zeit geleistet, vielleicht einen größeren Beitrag als das britische Volk, da uns bisher kein englischer Hitler jene deutschen Gelegenheiten zum Heldentum geboten hat, die Hitler seinen Landsleuten bot, als er sie dazu verführte, ihn an die Macht gelangen zu lassen. Ich selbst zum Beispiel bin nicht dazu aufgerufen worden, ein Held zu sein; es wurde mir nicht auferlegt, auch nur die Regenschirme mit Chamberlain zu kreuzen; und hätte ich es gewagt, so ist es undenkbar, daß dieser gute Mensch mich daraufhin in die Gaskammern gejagt hätte. Wenn ich dem ausgesetzt gewesen wäre, was meine deutschen Märtyrerfreunde von Bernstorff und Künzer ertragen mußten, kann ich sicher sein, daß ich mich genau so bewährt hätte wie sie? Mein Selbstvertrauen schwindet wieder dahin, aber dieses Mal, so meine ich, auf weniger pharisäische Weise.
„Die Deutschen'sind — wie jedes andere menschliche Geschlecht — ein buntes Gemisch. Wenn die Deutschen zu unserer Zeit Ungeheuer hervorgebracht haben, so haben sie auch Helden und Märtyrer hervorgebracht. Und wenn ich an die deutschen Märtyrer, die ich persönlich gekannt habe, denke, so kehrt mein Vertrauen in das Wesen der Deutschen, des Westens und der Menschheit allmählich wieder zurück. Die Deutschen haben die gleiche Natur wie wir alle; diese Tatsache birgt Trost und Entsetzen zugleich in sich. Die menschliche Natur hat einen teuflischen Zug, aber dieses Teuflische ist niemals unheilbar. Wenn Amerika und Rußland sich zusammentun (und sie scheinen jetzt dazu zu neigen), um die Menschheit davor zu retten, sich selbst zu vernichten, ist die Lebenserwartung der Menschheit auf dieser Erde, so sagt man, rund 2 Milliarden Jahre. Wie viele Jahre hat es gedauert, um durch Umweltbedingungen im Wesen der Deutschen jene bösen Eigenschaften hervorzurufen, deren schlimme Früchte Preußentum und Nationalsozialismus waren? Dieser Vorgang der Fehl-erziehung nahm nur eine winzige Spanne Zeit in Anspruch verglichen mit der Zeit, die wir alle noch vor uns haben; und Gewohnheiten können ebenso rasch abgelegt wie angenommen werden. Ich halte es durchaus für möglich, daß die Mehrheit der Deutschen jene unglückseligen Gewohnheiten, die Preußentum und Hitler möglich machten, bereits überwunden haben.
So spricht, davon bin ich überzeugt, die Stimme der Vernunft, der Nächstenliebe und der Demut. Sie spricht von einer brüderlichen, hilfsbereiten und konstruktiven Haltung, die ich meinen deutschen Zeitgenossen heute entgegenbringen kann und sollte. Ich hoffe, daß meine nicht-deutschen Zeitgenossen und ich dieser Stimme lauschen und sich durch sie leiten lassen werden. Aber auch ich bin nur ein Mensch und der Gefangene meiner persönlichen Lebenserfahrung; und das heißt, so fürchte ich, daß es mir nicht gelingen wird, der Stimme der Vernunft und der Nächstenliebe mit ganzem Herzen zu folgen. Der Alptraum des preußischen und des nationalsozialistischen Deutschland wird mich mein Leben lang nicht mehr loslassen. Meine Enkel wird er wahrscheinlich nicht mehr stören; und für unsere gemeinsamen Nachfahren wird er in 2 Milliarden Jahren kein Problem mehr sein.
Einst und jetzt
Mindestens seit dem Tage, an dem Prinz Albert den Fuß an unser Ufer setzte, ist Deutschland für die Engländer zur fixen Idee geworden; umgekehrt wird es — so stelle ich mir vor — nicht anders sein.
Man braucht nur die schwülstigen Passagen eines Buches wie Carlyles Friedrich der Große zu lesen, um zu erkennen, wie stark diese Leidenschaft ist, an deren Grenze zur Tollheit Gestalten wie Houston Stewart Chamberlain standen. Sogar heute noch gibt es mindestens einen bedeutenden Konservativen, der einst bewußt einen Schnurrbart ä la Nietzsche pflegte, und unsere königliche Familie zeigt sich trotz aller Klagen Lord Bea verbrooks nach wie vor allen deutschen Dingen — einschließlich ihrer deutschen Verwandten — geneigter als manchen Erzeugnissen der Heimat, wie zum Beispiel der Zeitung Daily Expreß. Alle starken Leidenschaften rufen ihr Gegenteil hervor, und die Ausschweifungen der Deutschenhasser haben denen der Deutschenfreunde nicht nachgestanden. Lord Northcliffe glaubte mit fortschreitendem Wahnsinn immer überzeugter an die Existenz einer bösartigen deutschen Verschwörung, die gegen ihn, sein Land, seine Religion und seine Kultur (wenn es sie gab) gerichtet sei. Er stand nicht allein. In den Jahren vor 1914 blühte der Anti-Germanismus auf der äußersten Rechten, während die Linke in jenen Tagen zur Deutschfreundlichkeit neigte. Englische Gewerkschaftler fühlten sich wohl bei ihren deutschen Partnern, die ehrbare, saubere, kräftige Gestalten waren, weniger geneigt als die französischen, italienischen und spanischen Gewerkschaftler, sich Bärte stehen zu lassen, sich dem Anarchismus zu verschreiben, Bomben zu werfen und mit Frauen zusammenzuleben, mit denen sie nicht verheiratet waren. Bei internationalen Zusammenkünften sah man die deutsche und die englische Abordnung zusammensitzen, einen Krug Bier vor sich, die Ehefrau neben sich, und mißtrauische Blicke auf die Wein trinkenden, schnurrbärtigen Kollegen aus wärmeren Regionen werfend. Da war außerdem die Tatsache, daß Karl Marx Deutscher war. Obwohl englische Sozialisten — von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen — sich standhaft geweigert haben, Marxens Werke zu lesen, haben sie ihn persönlich stets hoch geachtet. Das mag darauf zurückzuführen sein, daß er es vorzog, in London und nicht in Paris zu leben, sich geschmackvollerweise im Londoner Stadtteil Highgate beerdigen zu lassen und sich der bemerkenswerten Auszeichnung erfreute, zum Kirchenältesten in der Gemeinde St. Pankraz gewählt worden zu sein.
Ich erinnere mich aus meiner Kindheit in meinem sozialistischen Elternhaus, daß deutschen Gästen, verglichen mit anderen Ausländern, immer besondere Ehre erwiesen wurde. Sie seien, so wurde mir bedeutet, sauber, fleißig und begeisterte Sozialdemokraten. Das Gerede über ihre kriegerischen Absichten wurde, so schloß ich, von Rüstungsfabrikanten und Reaktionären verbreitet, die die Deutschen um ihr geordnetes Voranschreiten auf dem Wege zu Wohlstand und Aufklärung beneideten. Wenn überhaupt echte Kriegshetzer in Europa am Werke waren, so konnten es nur die Franzosen sein mit ihrer lächerlichen fixen Idee von gloire und revanche. Was die Russen betraf, so lebten sie in Armut und Unterdrückung, in der nur gelegentlich ein Tolstoi oder Kropotkin erschien, um ihre Finsternis aufzuhellen. Die Österreicher und Ungarn waren auch nicht viel besser; ihr Kaiser Franz Josef mit seinem geteilten Bart war offensichtlich kein Freund der Arbeiter von Kopf und Stirn, die, wie mir versichert wurde, alsbald über die ganze Erde und besonders über jenen erfreulichen Teil herrschen würden, der von den achtbaren Deutschen bewohnt wurde.
Der August 1914 zerstörte das alles. Mein Vater, wie viele alte Sozialisten, erholte sich nie ganz von dem Schock, erleben zu müssen, wie deutsche Sozialdemokraten lammfromm für die Kriegskredite stimmten, die die Regierung forderte. Auch Kaisers von ihnen ich erfuhr eine ähnliche Umkehr der Gefühle. Bald nach dem deutschen Einfall in Belgien kam ich auf meinem Schulweg an einer Gruppe von Jungen vorbei, die ein Bild des Kaisers mit seinem typischen, nach oben gedrehten Schnurrbart, das irgend jemand auf einen Holzzaun gekritzelt hatte, begeistert mit Dreck bewarfen. Nach kurzem Zögern schloß ich mich ihnen an; von da ab stand ich im Kriege 1914— 1918 auf der britischen Seite.
Unsere frühere Achtung für die Deutschen verschärfte unseren Haß gegen sie im Kriege. Nun bewarf das ganze Volk den Kaiser mit Dreck, die alliierte Propaganda lieferte das nötige Material, die Leitung hatten Gestalten wie Northcliffe, Beaverbrook und H. G. Wells. Was für ein Dreigespann! Als jedoch der Krieg vorbei war, nahmen die meisten Linken ihre alte Position wieder ein, wetter-ten nach dem Vorbild von Keynes gegen den Versailler Vertrag und sahen in den Deutschen die gekränkten Unschuldigen Europas, ausgehungert durch eine strenge alliierte Blockade, ständig am Rande des Bankrotts durch die Bösartigkeit der Franzosen und von den üblen Militaristen der Kleinen Entente daran gehindert, den ihnen zustehenden Platz im Völkerbund einzunehmen.
Das waren die Zeiten, die Christopher Isherwood geschildert hat
Der Aufstieg der Nationalsozialisten machte eine neue Verteilung der Karten notwendig, aber solange sie noch gemischt wurden, herrschte eine gewisse Unsicherheit. Links-stehende wie Vernon Bartlett — von Sir Oswald Mosley ganz zu schweigen — neigten dazu, doch etwas Gutes an Hitler und dem Nationalsozialismus zu finden, während Reaktionäre der alten Morning Post-Schule ihn und alle seine Werke instinktiv verabscheuten. Mit der Zeit änderte sich das alles. Links-stehende wurden zu Deutschenhassern und begannen romantische Gefühle für die französische Armee und Respekt für ihren einstigen Gegner Churchill zu entwickeln; die Rechtsstehenden, die noch vor wenigen Jahren danach geschrieen hatten, den Kaiser zu hängen und die Deutschen wie eine Zitrone auszupressen, meinten, mit Vernunft und gegenseitigem Entgegenkommen und der gebührenden Achtung vor dem Standpunkt des anderen könne man zu einem vorteilhaften Arrangement mit dem Dritten Reich gelangen.
Als der Krieg 1939 ausbrach, herrschte der Anti-Germanismus, zumindest offiziell, überall und wurde sehr verschärft durch die Anhänger des Münchner Abkommens, die ihre Schuldgefühle zu kompensieren suchten, indem sie noch lauter auf die Deutschen schimpften als alle anderen. Ob der Haß gegen Deutschland und die Deutschen in diesem Maße auch außerhalb des britischen Rundfunks und anderer offizieller Institutionen existierte, ist zweifelhaft. Mein persönlicher Eindruck bei der Armee ging dahin, daß die Feindseligkeit gegen die Deutschen mindestens bei den Mannschaften viel geringer war, als man hätte annehmen können. Das beruht zum Teil darauf, daß die Engländer, besonders die unteren Schichten, zum Antisemitismus neigen (obwohl das natürlich weder sie noch sonst jemand offen zugibt). So konnte man in den Offiziers-oder Unteroffiziers-messen oft die Meinung hören, was auch immer man Von den Nazis halten möge, jedenfalls wüßten sie, wie man mit den Juden umzugehen habe. Das hieß natürlich nicht, daß, wer so redete, mit Belsen oder Auschwitz einverstanden gewesen wäre, sondern nur, daß er den nationalsozialistischen Antisemitismus irgendwo verständlich, wenn nicht gar annehmbar fand.
Außerdem hatten die meisten Soldaten das noch unbestimmtere Gefühl, daß der Krieg eher ein Fehler als ein Kreuzzug sei oder daß er auch nur ein Unglück sei. Nur wenige von ihnen irrten sich so gründlich wie Churchill oder waren so verbohrt wie Roosevelt, wenn es darum ging, sich die Welt nach dem Kriege vorzustellen; sie ahnten, daß der souveräne Nationalstaat — vom Britischen Empire ganz zu schweigen —, zu dessen Verteidigung sie angeblich angetreten waren, der Vergangenheit angehörte. Sie sangen Lilli Marien unbekümmert darum, daß der Feind mit dem gleichen Lied auf den Lippen seinen Geschäften nachging. Es war die britische Regierung, aufgestachelt durch den unsäglichen Cherwell, die die sinnlose Zerstörung Dresdens befahl; die britischen Truppen mußten von ihrer eigenen Militärpolizei davon abgehalten werden, mit den Deutschen zu fraternisieren. Auch das makabre Schauspiel von Nürnberg rief, wie man mit Befriedigung feststellen konnte, bei den entlassenen Soldaten oder den Zivilisten in der Heimat kaum eine Reaktion hervor. Solche Sachen sind für Richter, Redakteure und Redner, für die Herrscher, nicht für die Beherrschten. Der gewöhnliche Bürger konnte — anders als ein Lord Birkett oder ein David Maxwell Fyfe — es einfach nicht ernstnehmen, wenn ein Richterkollegium, zu dem ein von Stalin ernannter Sowjet-richter gehörte, die Teilung Polens verurteilte.
Solange die Deutschen hungerten und verarmt waren, konnten sie eines gewissen Mitgefühls von selten der englischen Quäker und der Aufgeklärten im allgemeinen sicher sein. Das änderte sich aber, als die Deutschen es sich herausnahmen, wohlhabend und reich zu werden und eine größere Goldreserve anzusammeln als wir. Weiterer Ärger entstand, als sie sich nur widerstrebend bereit zeigten wiederaufzurüsten. Alle die alten Deutschlandkenner hatten vorausgesagt, die Deutschen würden sich wieder so verhalten wie nach dem ersten Weltkrieg: erst bankrott machen, um sich ihrer Schulden zu entledigen, und dann heimlich wiederaufrüsten. Um so ärgerlicher war es, als sie eines der gesündesten Wirtschaftssysteme Europas aufbauten und nur mit Mühe dazu überredet werden konnten, auch nur ein paar Divisionen aufzustellenI Wer, so fragten mit bitterer Rhetorik die Engländer in den Kneipen und Wirtshäusern im ganzen Lande, will schon einen Krieg gewinnen?
Doch die zornigen Gefühle lassen allmählich nach, je mehr wir uns an ein im Überfluß lebendes und unkriegerisches Westdeutschland gewöhnen. In zehn Jahren werden, wenn wir Glück haben, alle die Deutschlandkenner im Schatzamt und im Außenministerium gestorben oder in den Ruhestand getreten sein, ebenso wie alle alten Nazis in bedeutenden Stellungen in der Bundesrepublik. Es gibt hoffnungsvolle Anzeichen dafür, daß die Deutschen allmählich weniger fleißig und weniger tüchtig werden und vielleicht, so darf man hoffen, ebenso träge und leichtsinnig wie wir Engländer. Wir haben glücklicherweise unser Empire verloren und neigen immer mehr dazu, uns auch von dem traurigen Abglanz einstiger Größe abzuwenden. So kann keinerlei koloniale Rivalität wieder entstehen. Unter diesen Umständen kann man erwarten, daß das deutsche Problem selbst in Chatham House vergessen und aus den Leitartikeln der Times verschwinden wird. Wie tröstlich! Was für eine Erleichterung! Ulbricht hat, das ist wahr, natürlich ein Interesse daran, es so lange Wie möglich am Leben zu halten; aber er wird, so steht zu hoffen, nicht ewig leben.
Selbst alte Stalinisten müssen einmal sterben und ihre fixen Ideen mit ihnen.
Nach der Apokalypse
Mein Deutschland war weder exotisch wie Isherwoods noch apokalyptisch wie das, das der alliierte Soldat in den Ruinen von 1945 vorfand. Als ich 1954 in München ankam, war der Schutt fast ganz verschwunden. In Schwabing standen schon die großen, grauen Stahl-und Betonungeheuer und verdrängten die alten Fassaden, die Thomas Mann, Kandinsky und Richard Strauß vertraut waren. Ein Schlagwort insbesondere — es war, wenn ich mich recht erinnere, der Titel eines Schwa-binger Kabarettprogramms — schien die Stimmung des Tages auszudrücken: „die Helden sind müde“. Dafür, so nehme ich an, hätte der Ausländer dankbar sein müssen. Ich erinnere mich, damals gelesen zu haben, wie eine Gruppe armloser und auf Krücken gehender Kriegsbeschädigter über Adenauers Verteidigungsminister Blank hergefallen war — Schatten der Dreigroschenoper! Aber der Gedanke an eine neu Wehrmacht war tatsächlich unbeliebt, besonders bei den jungen Leuten, mit denen ich zusammen war. Viele hatten mit dem Ohne-mich-Feldzug der SPD Anfang der fünfziger Jahre sympathisiert; der neue Wohlstand war noch nicht bis zu den Studenten vorgedrungen. Ein Auto war undenkbar, wenn auch der eine oder andere ein Moped besaß. Sie lebten immer noch von der Hand in den Mund in dem freiheitlichen, freundlich-egalitären Stil der Jahre nach 1945.
Wenn sie sich überhaupt über Politik unterhielten, sprachen sie düster von der „Restauration". Damit meinten sie nicht die neonazistischen Schreckbilder, die die britische Presse gerade verbreitete, sondern den angeblichen Einfluß von Prälaten, Bankiers und Großindustriellen an dem neuen Hof Adenauers in Bonn.
Aber es war nicht immer klar, was eigentlich „restauriert wurde. Der Nationalsozialismus war es jedenfalls nicht. Die Nazis, die ich kennen lernte, waren gutsituierte Herren mittleren Alters -— Autohändler, Versicherungsmakler, Steuerberater, denen das Wirtschaftswunder mehr einbrachte, als die Partei es je getan hatte. Wie alle anderen, hatten auch sie natürlich nie etwas Böses gehört, gesehen oder getan. Der Nationalsozialismus bedeutete eine vergeudete Jugend, zwölf verbrecherische Jahre, ein kaputt gegangener Krieg. Für diese Männer war der Nationalsozialismus keine Weltanschauung mehr (und war es in einem gewissen Sinne auch nie gewesen); er hieß einfach „die Nazizeit". Der Nazismus war, das wurde ganz deutlich, weitgehend eine Generationsfrage; und im Jahre 1954 stellten die Männer, die Hitler 1933 zugeströmt waren, eine ziemlich erbärmliche Generation dar. Vom Kriege dezimiert, ihrer Illusionen, ihrer Selbstachtung und ihres Selbstvertrauens beraubt, fiel es schwer, in ihnen irgendeine Gefahr zu sehen. Im Jahre 1954 war die Aufregung in Frankreich und Großbritannien über die deutsche Wiederaufrüstung auf dem Höhepunkt. (Auch von Otto Remers Taten in Niedersachsen, dem Otto-John-Skandal und der Verhaftung des „Naumann-Kreises" wurde viel hergemacht — und nicht nur von Bevan und Beaverbrook.) Nach einer kurzen Besserung zur Zeit der Berliner Luftbrücke fielen die deutsch-englischen Beziehungen rasch wieder in ihren alten Zustand des Mißtrauens, des gegenseitigen Neides und der Mißverständnisse zurück.
Als ich mich allmählich besser auskannte, sah ich, daß das neue Deutschland aus drei Generationen bestand, die isoliert voneinander lebten und kaum in der Lage waren, sich zu verständigen. Die mittlere Generation habe ich schon geschildert; kulturell und politisch stellte sie in der neuen Gesellschaft ein Vakuum dar. Aber die Leute, die dieses neue Deutschland regierten, waren entweder viel älter oder viel jünger: Adenauer und Heuss aul der einen Seite, Strauß, Schröder, Mende auf der anderen. Das gleiche galt für die Kunst. Es gab ältliche Expressionisten, die nun zu ehrbaren, in der akademischen Welt anerkannten Künstlern geworden waren; es gab Thomas Mann und Hermann Hesse, Gottfried Benn und Bertold Brecht. Es gab auch sehr viel jüngere Schriftsteller — Bach-mann, Enzensberger, Grass —, die gerade anfingen, in kleinen Zeitschriften zu erscheinen, aber einstweilen nur wenig bekannt waren. Aber zwischen diesen beiden Generationen, den Großvätern und den Söhnen, bestand nur spärlicher Kontakt Brecht und Benn hatten, jeder in seinem eigenen Teil Deutschlands, eine treue Gemeinde. Aber Mann und Hesse, obwohl hochverehrt, waren bereits zu unvorstellbar fernen Gestalten geworden. Und die Kriegsschriftsteller, die Künstler der drei-14 ßiger Jahre, die Generation von Sartre und Auden, wo waren sie? Wahrscheinlich suchte man besonders sorgfältig nach Stimmen aus dieser Generation, aber es schien keine zu geben. Waren sie, wie eine frühere Generation in Flandern, an der Ostfront verblutet? Oder waren sie, wie ihre Zeitgenossen, vom Kriege zermürbt, apathisch, ausgebrannt?
Wenn ich zurückblicke, war es, glaube ich, das auffallende Fehlen dieser mittleren Generation, das den Ausländer im Deutschland der fünfziger Jahre am meisten störte.
Heute, zehn Jahre später, hat sich die Lage erheblich verändert: Es gibt wieder eine deutsche Literatur von mehr als lokalem Interesse; sie ist das Werk von Schriftstellern, deren Erinnerungen an den Nationalsozialismus sich auf Kindheit und Jugend beschränken. Aber noch vor zehn Jahren genügte ein Blick in eine Buchhandlung oder auf ein Theaterprogramm, um zu sehen, daß hier irgend etwas grundsätzlich nicht in Ordnung war. Die große Mehrzahl jener hervorragend ausgestatteten Bände in den freundlichen, gut geführten kleinen Münchner Buchhandlungen waren Übersetzungen, vorwiegend „aus dem Amerikanischen", wie sie es ausdrückten. Es fiel mir auf, daß die amerikanischen Schriftsteller, die damals in Deutschland bewundert wurden, eine merkwürdig bunte Gesellschaft waren: Thomas Wolfe, Archibald MacLeish, Thornton Wilder, Truman Capote und natürlich Hemingway. Im Theater hingegen herrschte eine strenge Teilung zwischen den Alten — vertreten durch Schiller, Kleist und Grillparzer — und den Modernen — vertreten durch Tennessee Williams, Jean Giraudoux und Christopher Fry. Wo waren die jungen Dramatiker? Das war — und ist noch immer — der Kummer der Kritiker. Dürrenmatt und Frisch wurden viel aufgeführt; aber daß Deutschland selbst seit Brecht nichts Erstrangiges hervorgebracht hatte, konnte nicht geleugnet werden. Die Bereitschaft der deutschen Intellektuellen, jedes ausländische Stück oder Buch ipso facto für besser als sein deutsches Gegenstück zu halten, hatte damals etwas Beunruhigendes. Der eigentliche Unterschied zwischen dem Deutschland jener Jahre und dem Deutschland der Weimarer Republik — und ich glaube, darin ist auch der Unterschied in der Qualität begründet — liegt darin, daß das Vertrauen in den „deutschen Geist" nach dem politischen Zusammenbruch von 1918 ungebrochen blieb, während nach 1945 nicht einmal der Ausdruck ohne schärfste Ironie gebraucht werden konnte. Idi habe im ganzen vier Jahre in Deutschland zugebracht: ein Jahr in München, drei in Berlin. Im Herbst 1958 kehrte ich nach England zurück und bin seitdem etwa ein halbes Dutzend Mal im Urlaub oder zur Berichterstattung über politische Ereignisse wieder dort gewesen. Aber wenn man mich fragt, worin sich das heutige Deutschland von dem von vor zehn Jahren unterscheidet, so kann ich die Frage nur schwer beantworten. Dramatische Veränderungen haben jedenfalls nicht stattgefunden. Die Lücken in jenen finsteren grauen Fassaden sind nun gefüllt worden. Die Studenten, die ich gekannt hatte, die noch bei der Wehrmacht gewesen waren, sind von einer Generation abgelöst worden, die nichts weiß vom Krieg, vom Nationalsozialismus oder von überhaupt irgendeinem Deutschland vor Professor Erhards Wirtschaftswunder. Ist Deutschlands böse Vergangenheit überwunden worden — „bewältigt", wie sie sagen? Wenn man einen allgemeinen Sühneakt, irgendeine kollektive Verurteilung des Nationalsozialismus und seiner Werke sucht, muß die Antwort Nein lauten. Dennoch glaube ich — obwohl Deutsche meiner Generation wie Martin Walser oder H. M. Enzenberger hier anderer Meinung sein mögen —, daß die Vergangenheit in einem gewissen Sinne tatsächlich überwunden worden ist: sie ist unwirklich geworden. Vor kurzem las ich, einer Gruppe deutscher Schulkinder sei die Frage vorgelegt worden: Wer war Hitler? Ein verhältnismässig hoher Prozentsatz wußte es einfach nicht. Diejenigen, die es zu wissen glaubten, waren sich einig, daß er ein sehr böser Mann gewesen sei (20 v. H. glaubten, er sei Kommunist, 10 v. H., er sei Jude gewesen). Oberflächlich gesehen mag das ein enttäuschendes Ergebnis unserer eigenen Bemühungen und der Bemühungen demokratischer Deutscher sein, Deutschland „umzuerziehen“. Es ist natürlich nicht zu leugnen, daß diese Unwirklichkeit der jüngsten Vergangenheit ein Zeichen dafür ist, daß die Deutschen sie innerlich nicht „bewältigt" haben. Aber es ist auch ein Zeichen dafür, daß sie zu fern, zu fremd, zu anders als die Gegenwart ist, um zum Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen zu werden. In gleicher Weise kann man sagen, da die meisten Deutschen keine Sehnsucht nach der Vergangenheit haben, scheint die Gefahr einer Wiederholung unendlich fern zu liegen. Für die jetzt heranwachsende Generation liegt der furor teutonicus kaum weniger weit zurück als der Dreißigjährige Krieg.
Dennoch ist das Deutschland von 1964 nicht ganz dasselbe wie vor zehn Jahren. Politisch allerdings befindet es sich noch immer in der gleichen Sackgasse; Deutschland ist der Wiedervereinigung nicht näher gekommen, die SPD ist der politischen Macht nicht näher gekommen. Immerhin sind mir zwei wichtige, wenn auch kaum greifbare Veränderungen aufgefallen. Das alte Drei-Generations-Schema, das ich im Deutschland der fünfziger Jahre bemerkt zu haben glaubte, scheint von einer einfacheren Aufteilung in Vor-und Nachkriegsgeneration abgelöst worden zu sein.
Gleichzeitig hat in der Literatur und in der Kunst ebenso wie in der Politik ein bemerkenswertes, wenn auch langsames Wiederaufleben des Selbstvertrauens stattgefunden.
Die Buchhandlungen sind noch immer mit Übersetzungen reichlich versorgt, aber es gibt jetzt auch deutsche Werke von anspruchsvoller Qualität, die sich gegen die Flut der eingeführten Literatur durchaus behaupten können. Die schmeichelnde Bewunderung für Günter Grass ist vielleicht inzwischen zu weit gegangen. Vielleicht liegt — wie Peter Heyworth meint
Es ist wohl nur natürlich, daß man mit den jüngeren Schriftstellern sympathisiert, ebenso wie die natürliche Sympathie der Generation der dreißiger Jahre den Töllers, Piscators und Brechts galt. Und doch ist etwas daran, wenn Haffner der jüngeren Generation in Deutschland vorwarf, ihr Anti-Nationalsozialismus sei, sagen wir, billig erworben, und es stehe ihnen, die sie den Terror niemals erlebt haben, kaum zu, die ältere Generation einfach zu verur-teilen; irgend etwas an diesem Vorwurf überzeugt. Man hat das Gefühl, daß die jüngeren Deutschen sich allzu leicht aus der Affäre ziehen, wenn sie alle Schuld der älteren Generation zuschieben.
Deutschland ist nicht viel anders als andere Länder: Ist das der Schluß, zu dem wir kommen müssen? Ich persönlich bin — entgegen der Meinung der strengeren Kritiker in Deutschland wie im Ausland — dieser Auffassung. Es gibt zu viele Leute, die — aus zweifelhaften Motiven — bemüht sind, das Gegenteil zu behaupten: englische Anti-Deutsche, deutsche Nazis und Anti-Nazis, die Gesellschaft derjenigen, ganze die Deutschland zu ihrem „Fach" gemacht haben und dieses Fach „interessant" machen wollen. Wahrscheinlich wollte auch ich Deutschland zu einem ungewöhnlichen Lande machen: ruchlos, aber ruchlos im großen Maßstab; geheimnisvoll, aber ein Geheimnis, zu dem man vielleicht einen privaten Schlüssel finden konnte; gemein, gewalttätig und furchterregend, aber interessant, ein Land, über das es sich lohnte zu schreiben. Das Deutschland, das ich kannte, war in Wirklichkeit überhaupt nicht so. Die Deutschen waren, wie ich zu meiner Enttäuschung entdeckte, ganz gewöhnliche Leute. Wo, so fragte ich mich oft in Berlin, sind jene lebensvollen Gestalten, die Isherwood schildert und nach denen man überall Ausschau hält? Tatsächlich aber sind die wirklich lebensvollen Gestalten bei Isherwood — Sally und Mr. Norris zum Beispiel — alle Engländer. Im Berlin der dreißiger Jahre gab es echte Exoten, aber nicht bei Isherwood, dessen Deutsche einem oft so traurig, so blaß und bemitleidenswert vorkommen.
Isherwood und auch seine Leser litten alle an der apokalyptischen Illusion. Audi sie wollten, daß ihr Deutschland interessant sei.
Das mag ein niederdrückender Gedanke sein, aber vielleicht war die viktorianische Meinung über Deutschland die gesündere, vernünftigere. Fleißig, vergnügt, gesetzestreu, gutmütig, loyal, manchmal langsam von Begriff, aber eminent, oh eminent achtbar — das waren die Deutschen bei Arnold und George Eliot, der Königin Viktoria und ihrem Prinz-gemahl. Das sind auch die Deutschen, über die Enzensberger und Walser und ihre Freunde Klage führen. Aber Goethe und Nietzsche beklagten auch zu ihrer Zeit das Schicksal, das sie gerade in dieses Volk gestellt und sie gezwungen hatte, gerade in dieser Sprache zu schreiben. Für den Außenstehenden muß die Haltung von Enzensberger und Walser ganz traditionell erscheinen. Die Deutschen, über die sie sich beklagen, sind die Deutschen, wie sie immer waren — und vielleicht immer sein werden. Wahrscheinlich hängt es davon ab, ob man diese Eigenschaften bewundert oder verabscheut. Ich persönlich sehe darin weder einen exotischen Reiz, noch finde ich sie abstoßend. Der Anti-Germanismus ist in Großbritannien immer noch stark und wird auf der Linken wie auf der Rechten eifrig geschürt; aber auch das ist ein Überbleibsel aus dem apokalyptischen Zeitalter. Wahrscheinlich ist viel zu viel Aufhebens um die Deutschen gemacht worden. Wir alle brauchen eine Ruhepause und niemand braucht sie mehr als die Deutschen selbst. „Habt Mitleid mit Euch selberI" rief Brecht seinen Landsleuten nach dem Kriege zu. Das ist kein schlechter Rat. Schließlich — wenn die Deutschen es nicht lernen können, mit sich selber auszukommen wie sollen wir dann mit den Deutschen auskommen?
Enttäuschung
Ich wurde zum Germanophilen, als ich ungefähr siebzehn Jahre alt war. Zunächst verliebte ich mich in die Gelehrsamkeit des deutschen Universitätsprofessors. Ich glaubte damals der deutsche Professor wisse alles, was es zu wissen gab — ich neige immer noch dazu, das von den deutschen Professoren für Altphilologie, Altertumsgeschichte und Assyriologie zu glauben (und das mag für diese Fächer durchaus noch berechtigt sein). Max Weber, Werner Sombart und Eduard Meyer waren die ersten, die auf meinem Horizont auftauchten, über Max Weber las ich in Bucharins Historischen Materialismus und Tawneys Religion and the Rise oi Capitalism und machte mich daran, Deutsch zu lernen, um seine Schriften lesen zu können. Seine Themen erschienen mir großartig, seine Urteile von äußerster Strenge. Troeltsch, Rickert, Simmel, Dilthey, Scheler, Spranger, Windel-band — außer Rickert und Spranger waren sie alle tot, aber auch die Toten waren für mich sehr lebendig. Ich las eine Menge von der einzigartigen Reihe akademischer Selbstbiographien, die Felix Meiner unter dem Titel Die Wissenschaft der Gegenwart in Selbst-darstellungen herausgab. Die Photographien der triefäugigen alten Männer mit buschigen oder spärlichen Bärten übten zwar eine gewisse abkühlende Wirkung aus, aber alles andere war herzerwärmend. Die friedlichen Universitätsstädte, die mit Büchern und wissenschaftlichen Zeitschriften vollgestopften Arbeitszimmer der Professoren, die unbezahlten Privatdozenten, die reiner Liebe zu ihrem Fach ihren Dienst versahen, die Polemik für die Sache der Wahrheit — das alles gehörte zu dem freundlichen Bild. Erst sehr viel später erfuhr ich, wie langweilig, tyrannisch, eitel und trivial viele von ihnen waren; aber als ich jung war, sah ich das überhaupt nicht. Gelassenheit und Ruhe, nur durch die Intensität einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung unterbrochen, waren die vorherrschenden Züge einer „Gelehrtenrepublik", die ihren Anfang im 18. Jahrhundert genommen hatte und ungestört und unverändert bis in die Gegenwart fortbestand. Abgesehen von dieser friedlichen Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart erregten mich auch die positiven Seiten der Kultur der Weimarer Republik, die sich damals dem Ende ihres kurzen und unglücklichen Daseins näherte. Kein Jahrzehnt, nicht einmal die dreißiger Jahre in den Vereinigten Staaten, so deprimierend und dramatisch sie auch waren, hat mich jemals so gefangen genommen wie das Weimarer Jahrzehnt, das sich in meinen etwas ungenauen und bunt zusammengewürfelten Kenntnissen der Kultur der Weimarer Zeit — liberal, sozialistisch, marxistisch, bohemien, melanch -
lisch, intensiv und verzweifelt wie sie war — widerspiegelte. Es war eine berauschende Mischung aus Hermann Hesse, „Menschheitsdämmerung", Karl Mannheim, Heinrich Cu-
now, Georg Grosz, Peter Lorre, Gustav Lan-dauer, Ernst Toller, Georg Lukacs, Karl Wittfogel, dem Bund der religiösen Sozialisten, von Salomon, dem frühen Tillich, dem Malik Verlag und vieler anderer heute längst vergessener Dinge, denen aber noch immer ein feiner Duft anhaftet.
Das war auch die Zeit, in der das Reich — sofern es überhaupt regiert wurde — mit Hilfe des Artikels 48 der Weimarer Verfassung regiert wurde. Es gab unaufhörliche Krawalle in den Straßen und im Reichstag, und das Land durchlebte die Vorstufe zu dem, was ein Bürgerkrieg gewesen wäre, wenn die Kommunisten nicht solche Schurken, die Sozialdemokraten nicht solche Holzköpfe und beide — oder einer — nicht so feige gewesen wären.
Als mich diese unausgewogene und wirklichkeitsferne Germanophilie noch fest in ihren Fängen hielt, kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Ich wußte von Anfang an, daß sie Rohlinge und Fanatiker waren, und die Folterungen und Prügeleien in den Polizeipräsidien und Konzentrationslagern waren mir bekannt. Und doch litt mein Deutschlandbild auch nicht unter nicht darunter, der Tatsache, daß Heidegger, Freyer und Brinkmann Nazis geworden waren. Alle diese großen und kleinen Dinge hätten vielleicht meine Vorstellung von Deutschland stärker verändert. Daß dies nicht geschah ist — paradoxerweise — auf den Umstand zurückzuführen, daß deutsche Emigranten (Wissenschaftler und Gelehrte) in Scharen in der Vereinigten Staaten eintrafen. Wenn ich vernünftiger gewesen wäre, hätte ich begriffen, daß ihre Anwesenheit bei uns greifbarer Beweis für den Ruin Deutschlands war. Die meisten von ihnen — das ist wahr — verbrachten nur wenig Zeit damit, ihr Unglück zu beweinen; sie waren zu sehr damit beschäftigt, neue Stellungen an amerikanischen Universitäten einzunehmen, Vorträge zu halten und Bücher zu schreiben usw. Sie waren treue Deutsche und stolz auf das mitgebrachte Gepäck. Sie brachten ihre Vorurteile mit, ihre Nietzsche-und Burckhardt-Ausgaben, ihre Möbel, ihr Porzellan; sie entdeckten rasch die richtigen Konditoreien. Es waren „deutsche Staatsbürger mosaischen Glaubens". Die meisten fühlten sich in Amerika nicht wohl; das Vulgäre und Naive stieß sie ab. Selbst die, die die Großzügigkeit, mit der sie ausgenommen wurden, dankbar anerkannten, lebten in kleinen deutschen Zellen, sprachen vom alten Deutschland und wenig vom neuen, das sie ausgestoßen hatte. So lebte ich während der dreißiger Jahre mindestens teilweise in einer deutschen Kultur — in New York und Chicago. Es war zu jener Zeit unmöglich, in einer führenden amerikanischen Universität zu leben, ohne zahlreiche deutsche Kollegen und Freunde — ja sogar Klienten, wenn ich auch viel zu jung und jedenfalls zu wenig einflußB reich war, um ihnen wirklich nützen zu können — aus Emigrantenkreisen zu haben. Inzwischen arbeitete ich die deutsche Literatur zu meinen verschiedenen Fachgebieten durch.
Ich übersetzte eine Reihe deutscher Schriftsteller ins Englische. Ich war gewissermaßen Mitglied einer deutschen Universität, die Raum und Zeit überschritt und dennoch Deutschland zum Ruhme gereichte.
Allmählich wurde jedoch mein Bild vom deutschen akademischen Intellektuellen durch große Ereignisse, vertrauten Umgang und die einfache Tatsache, daß ich mit zunehmendem Alter und weiteren Studien weniger einfältig geworden war, getrübt. Was ich über die Geschichte der deutschen Universität und das Leben einzelner deutscher Professoren las, brachte mir die Grobheit und Arroganz, die bösen Vorurteile und die Unterwürfigkeit gegenüber den weltlichen Herrschern zum Bewußtsein, die einige der größten deutschen Gelehrten kennzeichneten. Ihre Eitelkeit und Kleinlichkeit wurde allmählich sichtbar für mich. Zunächst hielt ich das alles für charmante Absonderlichkeiten, aber allmählich ging ihr Reiz verloren.
Das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik mit seinen langen Aufsätzen, seinem schönen weißen Papier und dem starken gelben Einband, die Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die im gleichen gelben Einband auch bei Siebeck erschienen, sprachen mich immer noch an. Aber ich war weniger beeindruckbar geworden. Der autoritative Ton konnte die Vagheit der tiefen Erkenntnis oder die Oberflächlichkeit der vagen Erkenntnis, die Schwäche des Urteils und die Verschließung des Geistes vor neuen Problemen nicht verbergen. Es gab zu viele gängige Phrasen, die den Mangel an Ideen verdeckten. Natürlich zog mich diese Welt noch an — die bärtigen Männer im Gehrock und Flügelkragen, gelehrt, tiefgründig, ehrbar, manchmal vielleicht sogar aut grimmige Weise witzig. Aber hinter diesen Bärten schien sich immer öfter ein schwaches Kinn zu verstecken. Hinter der gefurchten Slim schien sich ein Intellekt zu verbergen, der weder seriöser noch tiefschürfender war als bei allen anderen. Ich erinnere mich, daß ich ein wenig stutzig wurde, als ich vor vielen Jahren den Bericht von William James über seine Begegnung mit Dilthey zum erstenmal las Der mit Saucen-flecken bedeckte Gehrock und die egozentrische Schwatzhaftigkeit waren mir auch damals schon unangenehm, aber was bedeutete das gegenüber der Tatsache, daß Dilthey alles gelesen hatte, was es zu lesen gab, alles wußte, was zu wissen war, und in irgendeiner Weise, die ich nicht ganz verstand, die wesentliche Wahrheit der Dinge begriffen hatte! Zehn Jahre später fiel mir seine gesprächige Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umgebung wieder ein und sie schien mir anstößiger. Außerdem war mir deutlicher geworden, daß er von Dingen schrieb, von denen er nicht sehr viel verstand, und daß die Probleme, über die er so entschiedene Meinungen äußerte, noch immer ganz und gar ungelöst waren.
Heute ist von meiner jugendlichen Germano-
philie fast nichts mehr übrig geblieben. Von Max Weber und zu einem geringen Teil auch von Troeltsch abgesehen, sind, so scheint es mir, die Verfasser, die mein jugendliches Herz höher schlagen ließen, auch nicht befähigter, die für mich wichtigen Probleme zu lösen als wir anderen. Und ihre Erben, von denen einige höchst achtbare Gelehrte sind, scheinen in einer noch schwierigeren Lage zu sein als wir, die wir in den dreißiger und vierziger Jahren ein leichteres Leben hatten. Denn sie müssen einen Standpunkt erneut behaupten, an dem sie selber zweifeln, und ein Erbe pflegen, das, von Max Weber abgesehen, schon viele Jahre, ehe die Nationalsozialisten sich an seine Zerstörung machten, zu verkümmern begonnen hatte. Sie dauern mich, besonders die der neuen Generation, die an den Ungeheuerlichkeiten der Rohlinge, die Deutschland von 1933 bis 1945 regiert haben, nicht schul-diger sind, als es die Erbsünde zuläßt. Idi bemühe mich, ihre Veröffentlichungen zu verfolgen — aber mehr aus einem allgemeinen geistigen Pflichtgefühl und sehr viel weniger aus der Erwartung, etwas Wesentliches zu entdecken. Während der fünfziger Jahre besuchte midi gelegentlich ein „führender“ Deutscher, der von der Naivität des amerikanischen Außenministeriums und der Großzügigkeit, mit der der amerikanische Kongreß mit öffentlichen Mitteln umging, profitierte. Es mochte ein Professor der Sozialwissenschaften oder ein Journalist sein. Es war meist ein Mann an der unteren Grenze des mittleren Alters — alt genug, um in den letzten Kriegsjahren bei der Wehrmacht gewesen zu sein. In unseren Gesprächen wurde der Nationalsozialismus selten berührt. Manchmal wurden Flüchtlinge aus den früheren deutschen Gebieten im Osten erwähnt, manchmal (besonders in den frühen fünfziger Jahren) die Fehler der amerikanischen Besatzungspolitik. Aber erst als wir au wissenschaftliche Fragen zu sprechen kamen, merkte ich, wie sehr wir uns verändert hatten. Die Deutschen erschienen mir wie Männer, die seit Jahren geschlafen hatten und auch heute noch nicht ganz wach waren. Es war nicht so, daß sie nicht reden wollten. Sie waren voll von den Gemeinplätzen der amerikanischen Soziologie und politischen Wissenschaft und dem in der ganzen Welt verbreiteten intellektuellen Unsinn über die Massengesellschaft. Sie hatten keine Flügelkragen, keine Gehröcke, keine Bärte, keine Saucen-flecken; aber sie hatten mehr verloren als die altmodischen Insignien der Welt der Gelehrten. Auch ging es nicht nur darum, daß sie geistig verarmt waren. Wie konnte das anders sein, da ihre Vorgänger die Universitäten in einen Kampfplatz verwandelt hatten? Hier ging es um noch etwas anderes. Oft schien ich einen Mann vor mir zu haben, dessen Vater oder Freund, Vetter, Onkel oder Bruder mit der „Endlösung" der Judenfrage in Osteuropa zu tun gehabt, der seine Pflicht getan und keinen weiteren Gedanken daran gewendet hatte; vielleicht hatte — wie sollte ich es wissen? — mein Gast geahnt oder genau gewußt, was jener Freund oder Verwandte tat und ihn sogar wegen seiner treuen Pflichterfüllung geachtet. In diesen Besuchern trat mir das andere Deutschland entgegen — nicht das Deutschland von Heidelberg oder der Weimarer Republik, sondern das Deutschland, das nicht einmal das Mindestmaß an moralischer Anstrengung aufbringen konnte, um das Böse zu mißbilligen.
Ich weiß, daß ich mich damit meinen Gesprächspartnern gegenüber manchmal ungerecht oder lieblos verhalten habe. Vielleicht war es eine übertriebene Reaktion auf die Begeisterung meiner Jugend. Den Nationalsozialisten Widerstand zu leisten, war, das weiß ich wohl, etwas, was nur die Tapfersten, die Edelsten, die Wahnsinnigsten vollbringen konnten, und ich nehme es niemandem übel, der das nicht vermochte. Aber daß sie das Verdammenswerte nicht mißbilligten, das beeinflußt heute noch meine Gefühle gegenüber Deutschland. Dabei weiß ich genau, daß diese Gefühle, so echt und so berechtigt sie sind, keine adäquate Grundlage für die rechten Beziehungen zwischen Nationen und Kollegen bilden können.
Mythen und Hoffnungen
Eine Nation ist im Grunde nur ein Mythos, den die Menschen zum Leben erwecken. Sie hat keine physische Existenz in sich, ebenso wenig wie Shakespeares König Lear eine physische Existenz hat. Zwar bedarf sie einer real vorhandenen Bühne und der Bühnen-requisiten, das heißt, eines geographischen Gebietes, öffentlicher Gebäude, militärischer Einrichtungen usw. — aber diese Dinge sind nicht die Nation selbst; sie sind nur Darstellungsmittel. Wenn wir sagen, die „jetzige Teilung Deutschlands" sei unannehmbar, so meinen wir, daß das Vorhandensein von zwei verschiedenen deutschen Staaten gegen einen Mythos verstößt, mit dem wir ausgewachsen sind. Es verstößt gegen den Text eines Stückes, das uns vertraut ist.
Wir stellen uns vor, das, was wir „Deutschland" nennen, habe ein unveränderliches Dasein in der Natur, so wie der Atlantische Ozean. Tatsächlich aber hat es sein Dasein in der Tradition, und Tradition ist, so hartnäckig sie sich auch halten mag, nicht unveränderlich. Vor 1871 umfaßte der Begriff „Deutschland" Österreich ebenso wie Bayern Sachsen, Preußen und die anderen Staaten, die heute „deutsch" sind. Bismarcks Leistung bestand darin, alle diese deutschen Staaten zusammenzuschließen mit der einzigen Ausnahme Österreichs, das traditionell der bedeutendste von allen war. An der ursprünglichen Tradition gemessen, gelang es Bismarck also nicht, aus Deutschland ein Land zu machen_ es gelang ihm nur, es auf zwei zu reduzieren. Die neue Generation, die nach 1871 heran-wuchs, fand eine neue formal-rechtliche Lage und einen darauf beruhenden neuen Mythos vor. Bismarcks Leistung von 1871 hatte zur Folge, daß der Name „Deutschland" Österreich nicht mehr umfaßte; so war „Deutschland" vollständig geeint. Als Adolf Hitler wenige Generationen nach 1871 Österreich Deutschland mit Gewalt einverleibte, verletzte er, so hieß es, „Deutschland" und „Osterreich" als eigenständige nationale Einheiten durch eine Union, die als unnatürlich angesehen wurde. Fünfundsechzig Jahre früher aber, bevor der Mythos den großen süddeutschen Staat ausschloß, hätte sie nicht als unnatürlich gegolten.
Mythen und Traditionen, ich wiederhole es, haben kein Dasein in der Natur. Sie sind mit der fortschreitenden Zeit Veränderungen unterworfen. In der Bundesrepublik Deutschland steht heute der Mythos eines künstlich in zwei Teile gespaltenen Deutschlands im Widerspruch zu gewissen praktischen Überlegungen. Die meisten westdeutschen Wirtschaftler und Politiker legen zwar ein mehr oder weniger glühendes Lippenbekenntnis zur Wiedervereinigung ab, geben aber privat zu, daß eine Panik unter ihnen ausbrechen würde, wenn die Wiedervereinigung für morgen nachmittag um drei Uhr angekündigt würde. Welche Wirkung hätte sie auf einzelne Unternehmen (so fragen sie sich) und auf die gesamte westdeutsche Wirtschaft? Welche Wirkung hätte sie auf das Gleichgewicht der politischen Kräfte? Wie würde sich die Wiedervereinigung nach fast zwanzig Jahren, in denen die Ostdeutschen von einem linksgerichteten autoritären Regime indoktriniert worden sind, auf den Liberalismus auswirken, den die Westdeutschen zu und zu festigen versucht entwickeln wird haben? Bald es eine neue Generation von Ostdeutschen geben, die getrennt von der herangewachsen westdeutschen Generation ist, eine Generation mit anderen Mythen, anderen Traditionen.
Die Frage nach den unheilvollen praktischen Folgen einer baldigen Wiedervereinigung ist jedoch theoretisch, da jedermann weiß, daß sie nicht durchführbar ist. Gerade deshalb ist es vielen Westdeutschen möglich, die Fahne der Wiedervereinigung mit unbekümmerter Begeisterung zu schwingen. Es ist so, als verschreibe man sich theoretisch der Tugend, ohne Seine Lebensweise zu ändern. Die Wiedervereinigung ist zum eschatologischen Ziel geworden, und niemand, der bei Verstand ist, macht Sich um die praktischen Probleme, die Vielleicht daraus entstehen könnten, Sorgen. Dennoch spricht viel für die Wiedervereinigungsbewegung Die Ostdeutschen sprechen Deutsch (wie die Österreicher) und nennen sich (anders als die Österreicher) Deutsche; sie haben mit den Westdeutschen eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit; viele ha20 ben Verwandte in Westdeutschland; und das geographische Gebiet, in dem sie leben und leiden, liegt sozusagen in Rufweite ihrer westdeutschen Angehörigen. Auch gibt es das Problem Berlin, das kaum für den Westen befriedigend gelöst werden kann, solange das jetzige Schema der beiden Teile Deutschlands fortbesteht. Diejenigen also, die in eine Panik Verfallen würden, wenn sie von der unmittelbar bevorstehenden Wiedervereinigung hörten, dürfen dennoch die jetzige Lage nicht als endgültig akzeptieren.
Was nun?
Wir täuschen uns, wenn wir an die Möglichkeit einer Rückkehr zum Status quo ante bellum glauben. Zwar stellt der Status quo ante bellum für diejenigen von uns, die vor dem zweiten Weltkrieg erwachsen waren, die Norm dar. Daraus folgt, daß uns alles andere als unnatürlich erscheint. Es kann, so nehmen wir an, keine Stabilität und keinen Frieden geben, ehe nicht wieder „normale" Verhältnisse herrschen. Wo wir es aber mit Mythen zu tun haben, ist das „Normale" relativ: Wer mit neuen, auf neuen Verhältnissen beruhenden Mythen aufwächst, wird es anders sehen als der, der mit alten, auf der alten Lage beruhenden Mythen ausgewachsen ist. Lange nachdem das weströmische Reich zerfallen war, versuchte Karl Große, Verhältnisse'der „normale wiederherzustellen, indem er sich in der Nachfolge Augustus in Rom zum Kaiser krönen ließ. Aber das funktionierte nicht. Die Geschichte schreitet voran und läßt die alten Positionen wieder hinter sich, so daß der immer Status quo ante niemals werden kann. Daraus schließe daß -ich, das Vor kriegsdeutschland niemals wiederhergestellt werden wird.
Daraus folgt jedoch nicht, daß die jetzige Lage andauern wird. Im Gegenteil, dafür scheint mir die jetzige Lage zu gespannt zu sein und zu sehr auf Gewaltanwendung zu beruhen. Worum also können wir, wenn wir realistisch denken, uns bemühen?
Ich glaube, es wäre realistisch, sich um eine fortgesetzte Reihe kleiner Anpassungshandlungen zu bemühen, die weiterführen und -auf die Dauer gesehen — alle in eine Richtung zielen. Die beiden Teile Deutschlands haben bereits Abkommen getroffen über die recht umfangreichen Handelsbeziehungen zwischen ihnen; daß diese Abkommen inoffiziell sin , hat nur begrenzte Bedeutung. Außerde scheint es eine Reihe stillschweigender Ab kommen über polizeiliche Regelungen auf bei den Seiten der Berliner Mauer zu geben, um gefährliche Zwischenfälle zu verhindern. Es gibt Abkommen, stillschweigende und andere, über die westliche Benutzung bestimmter durch ostdeutsches Gebiet führender Straßen nach West-Berlin; zwar sind diese Abkommen offiziell zwischen den Verbündeten Westdeutschlands und den Sowjets geschlossen worden, gehen aber inoffiziell die westdeutschen Behörden und die Herrscher Ostdeutschlands in gleichem Maße an. Im Dezember 1963 sind einige zusätzliche Übergangsstellen an der Berliner Mauer geschaffen worden, um den West-Berlinern während der Weihnachtsferien Verwandtenbesuche in Ost-Berlin zu ermöglichen; dabei spielten ostdeutsche kommunistische Kapellen Weihnachtslieder. So hat sich über die Grenze von Stacheldraht und Mauersteinen ein ganzer Komplex von Beziehungen entwickelt.
Die Beziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands sollten sich ebenso rasch entwikkeln wie der Kalte Krieg an Intensität verliert. Wenn wir auf eine Zeit hoffen dürfen, in der der Kalte Krieg der Vergangenheit angehört, so dürfen wir doch wohl mit Sicherheit auf eine Zeit hoffen, in der diese Entwicklung allmählich zu einer engeren Verbindung zwischen den beiden Teilen geführt hat. Walter Ulbricht, der jetzt im Namen Moskaus über die Ostdeutschen herrscht, ist nicht unsterblich. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem die Ostdeutschen Wohlstand und ein verhältnismäßig freies Leben genießen können. Vielleicht werden sie dann ohne Zwang Treue zu einem ostdeutschen Staat empfinden, der sich entfaltet und in ihren iugen Ansehen und die Bestätigung der Gewohnheit erworben hat — der sich, mit anderen Worten, legitimiert hat. (Schließlich entsteht die gute Gesellschaft im allgemeinen durch die Evolution der schlechten.) Dann wird er auch in den Augen der Westdeutschen sowie der übrigen Welt Legitimität erlangt haben. Auch wenn er immer noch mit der überholten Bezeichnung „Kommunismus* versehen wäre, würde das nicht viel ausmachen. Auch Kommunismus ist ein Mythos, der sich wandeln kann. (Kommunistische Musikkapellen können amerikanische Weihnachtslieder spielen!)
Als Deutschland 1871 geeint wurde, verschwanden die Grenzen Bayerns, Sachsens und der anderen vorher bestehenden deutschen Staaten nicht. Sie sind auch heute noch vorhanden. Ich sehe auch keine Zeit voraus, in der die jetzige Grenze zwischen Ost-und West-Deutschland verschwinden wird. Wenn aber beide Staaten über eine im gleichen Maße anerkannte Legitimität verfügen, werden ihre gemeinsamen Interessen sie zwingen, Institutionen zur Regelung ihrer Assoziierung einzurichten. Vielleicht fangen sie mit gemeinsamen Ausschüssen zu einem bestimmten Zweck an und enden mit einem gemeinsamen Parlament. So wie es heute ein . Groß-London* gibt, das allmählich aus einer Reihe einzelner Städte entstanden ist, die sich eng zusammengeschlossen haben, dürfen wir auf den Tag hoffen, an dem es ein größeres Deutschland gibt, das Ost und West umschließt; und vielleicht wird, ebenso wie „Groß-London* Teil des Vereinigten Königreichs ist, das größere Deutschland Teil eines Vereinigten Europas sein. Das, so scheint es mir, ist die Richtung, in der die Bemühungen aller Beteiligten zielen sollten.
In diesem Fall wäre es klug, wenn wir gewisse lebenswichtige Probleme erkennen würden, mit denen sich Moskau in Osteuropa auseinandersetzen muß, Probleme, die wir durch unser Verhalten verschärfen oder mildern können. Um es in einem Satz zu sagen: Moskau hat heute einen Bären am Schwanz gefaßt. Wenn es die Ostdeutschen plötzlich losläßt, kann es sehr gut sein, daß alle anderen Osteuropäer ausbrechen, über Osteuropa Chaos verbreiten und sich gegen Moskau wenden. Allein die Aussicht auf ein feindseliges, wiedervereinigtes Deutschland würde genügen, um Moskau stark zu beunruhigen. Wenn wir also die Befreiung der Ostdeutschen erregt, scharf und kriegerisch verlangen, wird Moskau aus einer zwangsmäßigen Angst heraus den Schwanz des Bären nur um so fester packen. Der Bär und seine Fürsprecher müssen erst etwas friedlicher werden, ehe Moskau sich sicher genug fühlen wird, um loszulassen Man kann daran zweifeln, ob die Erfahrungen mit Ungarn im Jahre 1956 vergessen worden sind. Auch die beiden deutschen Invasionen in diesem Jahrhundert sind nicht vergessen worden. Das Problem liegt nicht so sehr darin, Moskau ausdrückliche Garantien dafür zu geben daß ein größeres Deutschland sich nicht wieder nach Osten bewegt, als darin, eine Lage zu schaffen, in der solche Garantien stillschweigend inbegriffen sind. Eine solche Lage aber kann in dem jetzigen Rahmen des Kalten Krieges kaum bestehen.
Wir sollten, so meine ich, die essentielle Stärke des Westens aufrechlerhalten, um es Moskau schwer zu machen, Ostdeutschland und die Satelliten zu behalten; gleichzeitig aber sollten wir uns so behutsam und verständnisvoll zeigen, daß Moskau im Rüdezug keine Gefahr mehr sieht. Der Tag, den wir damit vielleicht rascher herbeiführen können, ist nicht notwendig der, an dem die deutsche Wiedervereinigung stattfindet, sondern der, an dem es kein Wiedervereinigungsproblem mehr gibt.