In den ersten beiden Kapiteln ihrer Ulbricht-Biographie schildert die Autorin ‘die Kindheit und Jugend des heutigen Staatsratsvorsitzenden, die politische Betätigung des jungen Tischlers in der Sozialistischen Arbeiterjugend und in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, seinen Bruch mit der SPD und seine Tätigkeit als KPD-Funktionär während der Weimarer Republik in Thüringen, Berlin und Moskau. Das zweite Kaptiel schließt mit einem Essay über den Typ des Apparatschiks, mit dem der Vorabdruck beginnt.
Beschreibung eines Typus: der Apparatschik
Als Walter Ulbricht am Ende der Weimarer Republik den ersten Höhepunkt seiner Karriere erreicht hatte, als ihm der Aufstieg in die Führung gelungen war, verkörperte er in erstaunlicher Vollkommenheit einen Gruppen-typus. Sein Werdegang, Technik und Methoden seines Aufstiegs in der KP-Funktionärs-hierarchie, wiesen ihn als ein Musterexemplar des Apparatschiks aus. Was kennzeichnet den Apparatschik? Wie unterscheidet er sich von anderen Funktionärstypen? Unter welchen Voraussetzungen gelangt er zu Einfluß? Schon zu Beginn seiner Funktionärslaufbahn vermag der junge Leipziger Kommunist nicht zu gewinnen — nicht für sich und deshalb auch nicht für seine Sache. Ihm fehlen Verbindlichkeit, Charme, Liebenswürdigkeit, Dämonie, rhetorische Talente, Originalität und Brillanz, Bildung, Phantasie und die mitreißende Vitalität des leidenschaftlichen Revolutionärs. Ihm fehlt Format. Volkstribun kann er nicht werden; es fehlt ihm die Gabe, die Massen zu begeistern Er gehört nicht zu denen, die kommen, sehen, siegen. So fängt er ganz unten an und dient sich langsam hoch, lernt von der Pike auf das Handwerk des Apparatschiks: Organisation. Hier zeigt er Talent und wird ein brauchbarer KP-Organisator. Ist das ein Synonym für Apparatschik? Nein; die kommunistische Partei braucht und erzeugt zwei einander entgegengesetzte Typen des Organisators, den Revolutionär und den Bürokraten. Ohne die bis an den Rand des Phantastischen gesteigerte und dort noch ständig aus-und eingeübte Verbindung von schöpferischer Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepen-heuer & Witsch, Köln, werden in dieser Ausgabe Teile aus dem in Kürze erscheinenden gleichnamigen Buch vorabgedruckt.
Organisation und Improvisation gelingt schon lange keine Revolution mehr. Der russische Oktober, der Aufbau der Roten Armee inmitten der Revolutionswirren sind nicht denkbar ohne Leo Trotzki, den Meister revolutionärer Organisation und Improvisation. In solchen Zeiten der organisierten Unordnung und Regellosigkeit wird der ganz unschöpferische Bürokrat noch nicht gebraucht. An irgendeiner Stelle spielt er eine Statistenrolle. Ordnungshüter wirken lächerlich in Revolutionen. Und der Bürokrat, auch der kommunistische, ist ein Ordnungshüter.
Aber auf die Revolution muß die Ordnung folgen, und mit ihr kommt die Zeit des Bürokraten. Sie kam in Rußland, als nach dem Sieg der Revolution und nach dem Bürgerkrieg ein neuer Staat aufzubauen war, der die Revolutionäre von der Straße an die Schreibtische rief. Sie kam in Deutschland, als nach zahlreichen mißglückten Aufstandsversuchen der geordnete Rückzug anzutreten war. Dort mußte neue Macht verwaltet werden, hier eine trotz allen Muts entmutigte Gruppe von Revolutionären. Aber im Alltag nach der verlorenen, ja sogar nach der siegreichen Schlacht zerfällt nur zu bald die im Frontalangriff unerläßliche Einheit jeder Phalanx. Auch die Ideologie-Automaten der Kommunisten speien keine gebrauchsfertigen Ordnungen und Anordnungen aus; auch ihre Lehre ist nach vielen Seiten auslegbar. Sie liefert verschiedene Antworten auf die Frage nach dem richtigen Aufbauprogramm oder nach den Gründen der Niederlage.
Außerdem: Nach Sieg und Niederlage sind jeweils neue Posten zu besetzen. So ist der Boden für heftige Fraktionskämpfe bereitet, in denen schließlich auch noch brachgelegte Revoluzzer Ersatz für Aufruhr suchen. Von nun an sichert der Bürokrat die Kontinuität der Bewegung, weil er sich allen anderen Typen des Funktionärs auf trächtige und niederträchtige Weise überlegen erweist.
So hatten auch in der deutschen KP in den ersten Jahren nach der Novemberrevolution Tausende von aufrührerischem Charakter bestimmte Revoluzzer ihre Heimat gefunden und drängten auf Was-los-Zeiten, auf Aktion um der Aktion willen. Brauchbar für die kommunistische Partei sind sie nur als Landsknechte in der Revolution und als Schläger in Straßenschlachten. In Zeiten det Illegalität und des jahrelangen Wartens auf die neue Chance bilden sie durch Disziplinlosigkeit nur eine Gefahr und Belastung. Ihrem Wesen nach sind sie kontinuitätsfeindlich.
Hauptsächlich aus zwei Gründen konnte jedoch auch der Gegenspieler des Rabauken, der von der Lehre überzeugte gläubige Kommunist — ganz gleich, welchen Formats —, in den ersten dreizehn Jahren der KPD-Geschichte Kontinuität nicht sichern.
Erstens: Seinem Eintritt in die KPD war häufig eine selbständige Entscheidung, der Bruch mit der Sozialdemokratie, vorausgegangen. Dort hatte er gelernt, seine Meinung zu sagen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Waren die Kommunisten die echten Marxisten und Revolutionäre, wieviel größer noch war für ihn die Verpflichtung, nach bestem Wissen und Gewissen marxistisch-revolutionär zu denken, zu sagen und zu tun, was er als Kommunist für richtig hielt.
Selbstbefragung, eigene kommunistische Ge-wissensentscheidung, selbständiges Denken im Rahmen der Doktrin mußten jedoch unweigerlich in eine der unzähligen Fraktionen führen und konsequenterweise zu dem Versuch, andere Fraktionen mit „falschen" oder „irregeleiteten" Kommunisten von der Macht fernzuhalten oder wegzudrängen Woraus folgt: Jede Partei, die nicht verschiedenen Auffassungen und Interessengruppen Spielraum gewährt. sondern auf eine totalitäre Ideologie fixiert ist, muß sich vor einer Überzahl überzeugter und damit unbequemer, einheitzersto-render Anhänger hüten; diese Selbsterhaltung gebietet ihr, den Opportunisten in ihre Reihen zu ziehen Zweitens: Eine große Anzahl dieser überzeugten und gerade darum in Fraktionen aufgesplitterten deutschen Kommunisten sah zwar in der Sowjetunion das Land der Verheißung, den ersten sozialistischen Staat; sie sah aber auch die situationsund traditionsbedingten Unterschiede zwischen der sowjetischen und der deutschen KP. Sie hielt deshalb eine unkritische Übernahme sowjetischer Parteipraktiken für falsch und eine Unterordnung der KPD-Politik unter sowjetische Staatsinteressen für Verrat an den Prinzipien des „proletarischen Internationalismus". Als die Komintern immer mehr zu einem Machtinstrument Moskaus und schließlich Stalins wurde, zum Schiedsrichter in deutschen Fraktionskämpfen und zur bestimmenden Instanz für die KPD-Politik, meldeten deutsche Kommunisten verschiedener Fraktionen zwar Widerstand an (von vornherein zersplittert und darum ergebnislos), unterlagen jedoch zum Teil genauso wie die verschiedenen Gegner Stalins innerhalb der KPdSU der Versuchung, sich vorübergehend mit dem Mächtigen in Moskau zu verbinden, um andere Fraktionen, die in jahrelangen Auseinandersetzungen um die Linie zu Feindgruppen deklariert worden waren, zu verdrängen. Danach wurden sie selbst verdrängt. Fast Jahr für Jahr wurde der geschwächte Körper der KPD von einer neuen Krankheit befallen. Immer häufiger verseuchte der Bazillus „Abweichung" ganze Bezirke und gestern noch gesunde Glieder. Wenigstens über die Therapie waren sich die jeweils bestellten Ärzte einig: radikale Desinfektion durch Verjagung oder Isolierung aller Bazillenträger. Noch Gesunde, aber vielleicht morgen schon Kranke, wieder Genesene, aber vielleicht morgen schon Rückfällige, nahmen immer nur eine Zeitlang die Plätze der Verseuchten ein. Allein der Bürokrat erwies sich immun gegen die gefährlichste Krankheit der Kommunisten, gegen die Abweichung. Aber diese Immunität und die daraus erwachsende Stärke mit landläufigem Opportunismus erklären zu wollen, wäre zu einfach Der uns aus autoritären, totalitären und demokratischen Systemen, aus Geschichte und Gegenwart vertraute klassische Opportunist siedelt sich im Dunstkreis der Regierungen an. Hier bringt er seine Schafe ins Trockne, hier will er partizipieren, möglichst risikolos Gewinne einstreichen oder — im totalitären Staat — wenigstens relativ ungefährlich leben Was hatte ihm die KPD der Weimarer Republik schon zu bieten? Hier wurden von jedem, der sich auf das Wagnis der Mitgliedschaft einließ, erst einmal Opfer verlangt. Hier drohten Entlassung vom Arbeitsplatz und Gefängnis Wäre Ulbricht ein Opportunist im althergebrachten Sinne, er wäre vor 1918 nicht Sozial-demokrat und nach 1918 nicht Kommunist geworden. Sein Parteieintritt und sein Partei-wechsel beruhten auf Überzeugung. Auch als KP-Apparatschik wurde er kein nihilistischer Zyniker, sondern bewies in dieser dafür wie geschaffenen Funktion, daß Überzeugung und Opportunismus sich nicht ausschließen müssen, sondern einander bedingen können.
Der Apparatschik folgt den Gesetzen des Apparates. Hier, im Apparat, ist nicht das Feld der weitplanenden Politiker, hier werden nicht Programme und „Generallinien“ entworfen, hier wird Kleinarbeit geleistet, hier wird durchgeführt. Der Apparatschik ist ein Durch-führer. Ihm kommt es weniger darauf an, welche Richtung sich im Machtkampf der Fraktionen durchsetzt — das mögen andere besser entscheiden können als er —; ihm kommt es vor allem darauf an, daß sich überhaupt eine Richtung durchsetzt, daß eine Ordnung hergestellt wird, die er verwalten kann. Nicht zu wissen, an wen er sich zu halten hat, ist dem Apparatschik ein Greuel. Fraktionskämpte mit wechselndem Ausgang, ständige Führungskrisen sind ihm zuwider. In solchen Zeiten ständiger Unsicherheit kann er nichts weiter tun, als den technischen Apparat einigermaßen in Ordnung zu halten. Ihm fehlen verbindliche Richtlinien, ohne die er nicht organisieren kann. Aber unter straffer, fest im Sattel sitzender Führung kann auch straff verwaltet, ordentlich organisiert und perfekt durchgeführt werden.
Solange der Machtkampf tobt, bewahrt sich der Bürokrat jene Unabhängigkeit, die ihm seine Stellung gestattet. Er braucht sich von allen Funktionärstypen am wenigsten festzulegen. Er führt die Akten weiter. Sowie der Machtkampf entschieden ist, stellt er sich dem Sieger zur Verfügung, nicht mehr danach fragend, ob dieser einmal ein Abweichler war, wohl wissend, daß dieser ihn brauchen wird. Der Apparatschik ist ein Fachmann, ein „Nur-Fachmann", der bei klaren Machtverhältnissen seine Fähigkeiten am besten entfalten kann und der in seiner Partei dem am besten dient, der seine Dienste am nötigsten braucht und am besten zu schätzen weiß. Den Vorwurf des Opportunismus würde er, ähnlich wie ein unter mehreren Systemen gedienter Beamter, weit von sich weisen. Ihm gehe es um die Sache, würde er sagen. Aber was ist „die Sache"? Der Apparat? Die Partei? Der Kommunismus? Für den Apparatschik sind dies identische Begriffe Keine der zahlreichen KPD-Fraktionen, deren Mitglieder zu gegebener Zeit als Abweichler klassifiziert wurden, hat Ulbricht zu ihren verläßlichen Anhängern zählen können. Ruth Fischer sagte von ihm: „Wenn er sich bei den Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen für die eine oder andere entschied, dann immer mit einem Vorbehalt, der ihm später alle Möglichkeiten offenließ. Brandler? Ja! Aber da und dort zu rechts. Fischer? Ja! Aber da und dort zu links."
Anfänglich, in den ersten Jahren nach Gründung der KPD, mag Unsicherheit dabei im Spiel gewesen sein. Im Tohuwabohu der Meinungen fühlte sich Ulbricht überfordert, gab für sich selbst vielleicht erst diesem, dann wieder jenem recht. Aber während andere mit Genossen „um die richtige Linie kämpften", brachte er den Thüringer Bezirk „in Ordnung" und „organisierte ihn durch". „Ideologisches Geschwätz" lag ihm nicht. Seine Standardlormel, die er immer häufiger benutzte, lautete: „Heute steht die Frage." Er „stellte die Frage konkret". Spätestens 1924, als er zum erstenmal den Moskauer Komintern-
Apparat kennenlernte, muß ihm klargeworden sein, daß er ein Mann des Apparates werden wollte und werden würde, muß auch die Interessengleichheit der sowjetischen apparatschiki und Ulbrichts sich ergeben haben. Sie, die Sowjets, konnten einen Mann wie ihn gebrauchen; er, Ulbricht, fand hier alles, was er suchte: Tätigkeiten, die ihm auf den Leib geschrieben waren, Aufgaben, in denen auch noch seine Mängel — Trockenheit, Kontakt-armut, Phantasielosigkeit — als Vorzüge wirkten; eine Hierarchie, in der die Linie von anderen bestimmt wurde, aber die Durchführer hohes Ansehen genossen. War es verwunderlich, daß er sich alsbald für Moskau und, als dort der Machtkampf entschieden war, für Stalin entschied? Hier „stand" bereits ein Apparat, in dem sich Bürokraten zu Apparatschiks mausern konnten. Hier lag, das witterte er mit dem Gespür des sich freiwillig in die Abhängigkeit begebenden und nach einer stabilen Größe suchenden Bürokraten, das Zentrum der Macht. Als überzeugtem Internationalisten waren ihm patriotische Gefühle fremd.
Die Entscheidung für Moskau machte ihn auch vollends unabhängig von deutschen Fraktionskämpfen. Eine ihm einleuchtende und genehme Alternative gegen Moskau hatte keine der deutschen Gruppen zu bieten. Andererseits stellte die Unterwerfung der KPD unter den Willen des Zentrums zumindest zwei Vorteile in Aussicht: eindeutige Orientierung durch geklärte Machtverhältnisse sowie Prestigeerhöhung und Aufstiegschancen für Appa-B ratschiks. Die Moskauer Zentrale würde bestimmen, wer als Abweichler zu bekämpfen war, und dem Fraktionswesen ein Ende setzen Und die Moskauer Zentrale würde in der deutschen Sektion nicht eigenwillige Köpfe, sondern disziplinierte Durchführer brauchen. Ulbricht sah seine Chance und ergriff sie.
Konsequent vertrat er in der KPD der -Wei marer Republik die jeweiligen Interessen Moskaus. Konsequent trug er das Seine zur Ausschaltung der Andersdenkenden bei. Auch als er nicht mehr Betriebsgruppen organisierte, sondern den wichtigsten Bezirk der KPD, die Berliner Parteiorganisation, leitete und sein Name bei Reichstagswahlen an vierter Stelle der KP-Liste stand, blieb er ein Durchführer.
Seine Kollegen in der KPD-Zentrale liebten ihn nicht sonderlich. Thälmann, der bramarbasierende Volkstribun, nannte ihn „den Ulanen von Leipzig" und einen unverbesserlichen Bürokraten. Aber der Bürokrat hatte sich unersetzlich gemacht. Wie kein anderer kannte er den Apparat und handhabte ihn. Und während sich die Schultes, Schuberts, Schehrs, Florins als Politiker gebärdeten und um die Nachfolge „Teddys"
Illegalität
„Wenn es in diesem Hause nicht zulässig ist, eine Person wie den Herrn Goebbels so zu charakterisieren, wie es sich gehört, werden wir das woanders tun, und nicht nur mit Worten, sondern ... daß [den Nationalsozialisten] Hören und Sehen vergeht. ”
Beifall ganz links. Im Deutschen Reichstag hatte Walter Ulbricht, Bezirkssekretär der KPD in Berlin, gesprochen.
„Wir werden den Herren im Karl-Liebknecht-Haus alsbald Töne beibringen, die sie noch niemals vernommen haben."
Beifall ganz rechts. In der deutschen Reichshauptstadt hatte Joseph Goebbels, Gauleiter der NSDAP in Berlin, gesprochen.
Doch nicht den Nationalsozialisten — den Kommunisten verging das Hören und Sehen. Während aus dem Holz der Abgeordneten-sitze, der Balustraden und Rednerpulte des Deutschen Reichstages in der Nacht des 27. Februar 1933 die Flammen in den Himmel schlugen und die Führer der KPD nichts-ahnend in einem Schanklokal Wahlstrategie betrieben, machten die Nazis die Drohung wahr Sie waren die Sieger geblieben.
Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes wurden Tausende von Kommunisten, darunter
Parteiführer und zahlreiche Abgeordnete, verhaftet. Ihre Partei wurde verboten. Die nahezu fünf Millionen kommunistischer Wählerstimmen bei den Reichstagswahlen am 5 März — durch eine Regierungsverordnung sofort für ungültig erklärt — konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Koloß Partei auseinandergerissen war in Hunderte von Gruppen und Grüppchen ohne Verbindung und ohne Führung, in viele tausend benommene, kopflose, aufbegehrende oder resignierende Einzelne. Was nun? Die Parteibüros waren versiegelt, die Schalmeien der Roten Frontkämpfer verklungen, das Heilgeschrei anderer Verblendeter verschlug den Kommunisten den Atem. Die wehrlosen und wie betäubten Männer, die sich jahrelang darauf vorbereitet hatten, eines Tages selber „abzurechnen", konnten noch nicht fassen, daß sie die Unterlegenen sein sollten. In Zuchthäusern und den ersten Konzentrationslagern, in denen sie gefangen-gehalten wurden, in illegalen Quartieren, in dunklen Hinterzimmern, in Schuppen und Gartenlauben, auf Dachboden und in Wäldern, wo sie sich versteckt hielten oder zu heimlichen Treffs zusammenkamen, lernten sie die Angst kennen Mancher sah sich zum ersten-mal in seinem Leben gezwungen, ganz allein eine große Entscheidung zu treffen Viele erlebten, wie in ihnen der Glaube zu schwinden und der Wunsch zu wachsen begann, nicht ergriffen und nicht mißhandelt zu werden, sich nicht opfern zu müssen für eine aussichtslose Sache, sondern zu leben — und sei es um den Preis des Verrats. Unter diesen fand die Gestapo ihre Spitzel, fanden SA und NSDAP neue Mitglieder
Die vielen Kommunisten, die dennoch in den Widerstand gingen, verscheuchten solche Zweifel, manchen kamen sie überhaupt nicht. Berufsfunktionäre hatten gar keine Wahl. Ihre Namen standen auf allen schwarzen Listen. Ihre Steckbriefe hingen an den Anschlägen. Sie waren abhängig vom Apparat und konnten nur darauf hoffen, eines Tages ins Ausland, in die Emigration, geschickt zu werden, überdies waren zahlreiche Kommunisten überzeugt, der Spuk werde nicht länger als ein paar Monate, allerhöchstens ein, zwei Jahre dauern, und jede Aktion werde sein Ende beschleunigen. Anderen wieder war die Partei-disziplin derart in Fleisch und Blut eingegangen, daß sie wie selbstverständlich auch in der Illegalität den Anweisungen irgendeines Instrukteurs folgten, in der Nacht heimlich Bürgersteige und Häuserwände mit Anti-Nazi-Parolen beschrifteten und illegale Flugblätter verteilten.
Aber Abhängigkeit vom Apparat, Illusionen über das baldige Ende der Hitler-Herrschaft und Parteidisziplin sind noch keine ausreichenden Erklärungen für den Widerstand deutscher Kommunisten gegen den NS-Staat. Unzählige, die in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern des Dritten Reiches ihr Leben ließen, starben für ihren Glauben — wie Protestanten, Katholiken und Zeugen Jehovas. Als sie den ungleichen Kampf gegen die Sieger aufnahmen, folgten sie ihren Grundsätzen und ihrem Gewissen. Mancher starb, ohne zu ahnen, daß eigene Genossen ihn verraten hatten — und zwar nicht allein solche, die nun ganz bewußt als Handlanger für die Gestapo arbeiteten.
Vielmehr wurden Tausende von Kommunisten Opfei der wahnwitzigen Politik ihres Parteiapparates. Obwohl sich die KP-Zentrale in der Annahme, die Partei werde von der Regierung Papen verboten werden, schon ab Spätsommer 1932 auf die Illegalität vorbereitet hatte, obwohl sie gleich nach dem 30. Januar das Karl-Lieb knecht-Haus räumen ließ und mit Hilfe des Kippenberger-Apparates
Ulbricht, der den ersten Massenverhaftungen entgangen war, beschloß, sich um diese Nachfolge zu bewerben, obwohl er natürlich nicht hoffen konnte, in das hohe Amt gewählt zu werden, solange Thälmann lebte. Zunächst ging es also darum, wer in Abwesenheit Thälmanns die Verantwortung tragen sollte
Schehr konnte sich auf einen Beschluß Moskaus berufen, wonach er das Amt Thälmanns übernehmen sollte, und fand in Kippenberger einen wichtigen Bundesgenossen. Schubert konnte auf einen früheren Beschluß des deutschen Politbüros verweisen, mit dem ihm die Nachfolge versprochen worden war, und brachte als weitere Pluspunkte die enge Freundschaft Thälmanns und gute Verbindungen zu einigen Bezirkssekretären ein. Nur Ulbricht hatte nichts desgleichen in der Hand, und doch erwies er sich in diesem Erbfolgekrieg als der Stärkere. Um nicht von vornherein in einen Zweifrontenkrieg zu geraten, verbündete er sich während einer längeren Reise Schehrs nach Moskau zunächst mit Schubert. Schnell zeigte sich, daß dieser dem erfahrenen Apparatmann nicht gewachsen war. Im Laufe des Sommers 1933 resignierte Schubert, verließ Deutschland und versuchte anfangs von Prag aus, später im Saargebiet, eine eigene Fraktion um sich zu bilden. Schehr hingegen verließ sich zu sehr auf den Beschluß Moskaus und auf das Bündnis mit Kippenberger. Er vernachlässigte die Zusammenarbeit mit den Bezirkssekretären, deren Lagemeldungen für die Berichte nach Moskau wichtig waren, und überließ so Ulbricht eine wertvolle Informationsquelle und Aber der Leipziger eine nützliche Hilfstruppe.
baute nicht nur auf die Schwächen seiner Rivalen, sondern auch auf seine eigene Stärke.
„Ulbrichts Stärke", so schreibt Herbert Wehner in seinen Erinnerungen, „bestand in einer unermüdlichen Geschäftigkeit, die ich an ihm immer und in allen Lagen habe feststellen können. Er hielt seine Mitarbeiter und Untergebenen (er brauchte Untergebene) fortgesetzt in Bewegung und kontrollierte unnachsichtig deren Arbeit. Seine Überlegenheit über andere bestand nicht in tieferer Einsicht oder größerer Reife, sondern in seiner Fähigkeit, stets besser informiert zu sein als andere und viel hartnäckiger der Durchführung von Einzelheiten nachzugehen ..."
Gewissenhaft beachtete Ulbricht die strengen Regeln der Konspiration. Nach der Verhaftung Thälmanns verlangte er, alle Leute aus dem Apparat zu entfernen, die „mit Teddy herumgesoffen" hätten. Das war zwar ein wichtiges Argument gegen die Thälmann-Kumpane Schehr und Schubert — entsprach aber auch zweifellos seiner Überzeugung, daß die Illegalität jede Ausschweifung verbiete und eine strenge, spartanische Lebensweise erfordere. Ulbricht fiel es nicht schwer, nach diesen Grundsätzen zu leben.
In welchen Berliner Stadtteilen er sich in den ersten Monaten nach Hitlers Machtantritt aufgehalten hat, ist nicht bekannt. Als jedoch im Sommer Wilhelm Pieck emigrierte, übernahm er dessen illegales Zimmer in einem Berliner Vorort und blieb dort von Juli bis Anfang Oktober 1933 Der Besitzer des Hauses berichtet über seinen damaligen Untermieter: „Ulbricht war zu jener Zeit ein äußerst verschlossener Mensch, der meist zurückgezogen in seinem Zimmer lebte, und dessen abweisende Miene jeden Versuch ausschloß, sich mit ihm zu unterhalten. Das galt auch für die wenigen Male, da er sich an Sonntagen jenes Sommers 1933 an den Ballspielen beteiligte, die meine Frau in unserem großen, vor der Einsicht von außen her gut geschützten Garten für unsere Kinder und unsere Besucher aus der Stadt veranstaltete. Auch da blieb Ulbricht wortkarg und ließ sich mit den Mitspielern in keine Gespräche ein . .. Wir wußten freilich nicht, daß dieser Mann der Reichstagsabgeordnete Walter Ulbricht war, der unter einem anderen Namen bei uns lebte, und von meiner Frau verpflegt wurde, bis eines Tages ... sämtliche Berliner Zeitungen die Fotos mehrerer Personen mit der Aufforderung an die Bevölkerung veröffentlichten, ein Auge auf diese Personen zu haben und sie gegebenenfalls der Polizei zu übergeben. Darunter befand sich auch Herr Ulbricht, dessen richtigen Namen wir erst auf diese Weise erfuhren. Ich brachte ihm einige dieser Zeitungen auf sein Zimmer und sprach die Erwartung aus, daß es nun ja wohl die höchste Zeit sei, sein nunmehr besonders gefährlich gewordenes Versteck zu verlassen. Das gab er auch weiteres zu, aber ohne es dauerte immerhin noch mehrere Tage, bis er mit den Vorbereitungen . . . fertig war. Er gab auch jetzt seine Gewohnheit nicht auf, in der Dämmerung das Haus zu verlassen und seinen Geschäften nachzugehen ..."
Damit war einer der Rivalen Ulbrichts ausgefallen, aber der Kampf um die Nachfolge Thälmanns noch immer nicht entschieden. Ulbricht, dessen Kandidatur die Eingeweihten erstaunte — mit ihm hatten die potentiellen Anwärter auf die Führung am wenigstens gerechnet —, zeigte auch in der Emigration, daß er den anderen Spitzenfunktionären durchaus ebenbürtig, ja überlegen war.
Emigration in Paris und Voiksfrontpolitik
Die Mitglieder der Auslandsleitung lebten illegal in Paris. Ihre Adressen waren nur einem sehr kleinen, ausgesuchten Kreis bekannt
Als Ulbricht nach Paris kam, war dort immer noch nicht bekannt, ob Berlin einen Prozeß gegen Thälmann vorbereitete. Die Auslandsleitung fürchtete, die Nationalsozialisten könnten Thälmann in einem Geheimprozeß verurteilen und in irgendeinem Provinzzuchthaus verschwinden lassen; das lag keineswegs in ihrem Interesse. Die Emigrationsleitung hoffte vielmehr auf einen öffentlichen Prozeß nach Art des Reichstagsbrandprozesses, in dem Thälmann, ähnlich wie Dimitroff, die Rolle des Anklägers gegen den NS-Staat übernehmen und den deutschen Kommunisten zu weltweiter Publizität und Popularität verhelfen sollte.
Aus diesem Grund verbat sie sich auch alle Vorschläge und Bemühungen des inzwischen für Thälmann gewonnenen Rechtsanwalts, Dr. Langbehn, den KPD-Vorsitzenden durch Beziehungen zu hohen NS-Stellen ohne Prozeß freizubekommen. Der Anwalt protestierte gegen eine solche Haltung und legte sein Mandat nieder. Doch die Auslandsleitung blieb bei ihrer Meinung und untersagte 1934 in letzter Minute einen von Berliner Kommunisten geplanten Versuch, Thälmann zu befreien
Daß Ulbricht von einer solchen Einstellung und Entscheidung in seinem Kampf um die Nachfolge profitierte, liegt auf der Hand; doch kann ihm nicht bewiesen werden, daß seine Haltung, die die übrigen Mitglieder der Auslandsleitung offensichtlich teilten, von persönlichen Motiven bestimmt war. Humanitäre Überlegungen haben bei den Kommunistenführer nie eine Rolle gespielt, und von ihrem politischen Standpunkt aus gesehen, erscheint die Haltung der Auslandsleitung im Fall Thälmann nicht abwegig.
Zu Ulbrichts Aufgaben in der Emigration gehörte es, in Artikeln und Aufsätzen die Politik der Kommunistischen Partei Deutschlands nach dem Machtantritt Hitlers zu erläutern. Zunächst unterschieden sich seine Interpretationen der politischen Lage und seine Schlußfolgerungen in nichts von den Auffassungen der übrigen Funktionäre. Wie auch die anderen Führer der KPD leugnete er die erlittene Niederlage und sprach von einem „neuen revolutionären Aufschwung". So schrieb Ulbricht in der Kommunistischen Internationale, Nr. 12/1934: „In der gegenwärtigen Periode, unter den Bedingungen des Heranreifens der revolutionären Krise, des Sieges des Sozialismus in der Sowjetunion und des revolutionären Aufschwunges in Deutschland, steht ... auf der Tagesordnung ... die Organisierung des Kampfes um die Sowjetmacht ! ] ... Das ist aber keine einfache agitatorische Aufgabe, sondern das bedeutet unmittelbare [I] Formierung der revolutionären Armee zum Sturz des Faschismus durch die Organisierung aller For-men des Widerstandes gegen den Faschismus, des Streikkampfes, der Massendemonstrationen, des politischen Massenstreiks, bis zum bewaffneten Aufstand ... ” Wer sich dieser Aufforderung zum Selbstmord widersetzte, wurde von Ulbricht als „Opportunist"
bezeichnet:
„... opportunistische Einflüsse [zeigen sich] vor allem in der Unterschätzung der Kampfkraft des Proletariats und der Überschätzung der Kraft des Faschismus, sowie in der Behauptung: , die faschistische Diktatur ist keine kurzlebige Sache'. In demselben Sinne sagen einige, , die deutsche Arbeiterklasse ist im gegenwärtigen Zustand der Niederlage zur Verteidigung der Sowjetunion unfähig'... Die Tendenzen zur Unterschätzung des revolutionären Aufschwungs stehen im Zusammenhang mit der mangelhaften Verbindung der Tagesförderungen mit der Propaganda für die Sowjetmacht. Das . Vergessen'...der Losung der Sowjetmacht ... ist ein charakteristischer Ausdruck des Opportunismus."
Der schnellen Realisierung der „Losung der Sowjetmacht" standen jedoch — nach Meinung der Auslandsleitung — nicht nur die Nationalsozialisten im Wege, sondern auch die Sozialdemokraten. Ulbricht meinte daher:
„Wenn wir z. B. rechtzeitig die sozialdemokratische Politik des . Abwartens’ und der Diskreditierung des Bolschewismus als Unterstützung des Hitler-Faschismus entlarven..., dann wird es bei der Auslösung von Kämpfen den Arbeitern in jedem Betrieb um so leichter sein, die sozialdemokratische und trotzkistische Dienstleistung für den Hitlerfaschismus zu entlarven."
Besonders wichtig in seinem Kampf gegen die SPD nach Hitlers Machtantritt erschien Ulbricht der Nachweis, daß der Ruf der SPD nach Demokratie „eine reaktionäre Utopie" sei ..... die von der SPD geforderte . Demokratie' ist . . eine faschistische Form im Sinne der . autoritären Demokratie', wie sie von Masaryk in Prag und Tardieu in Paris vertreten wird . . Unter den gegenwärtigen Bedingungen ... ist die Losung der . Demokratie’ eine reaktionäre Utopie. Es gibt keinen Weg vom Faschismus zur Demokratie."
Eine der wichtigsten Schlußfolgerungen war nach Meinung Ulbrichts, die sozialdemokratischen Arbeiter in Deutschland so schnell wie möglich „von der SPD zu lösen", ihnen zu „helfen, den Weg zum Kommunismus zu fin-den"
und sie „als Mitglieder der KPD zu gewinnen".
Zur Erreichung dieses Ziels waren fast alle Mittel erlaubt; verboten war nur das Nächtliegende:
Selbstbesinnung. Als kommunistische Widerstandskämpfer in Deutschland zu der Einsicht gelangten, daß auch die KPD vielleicht bestimmte Fehler begangen habe, belehrte sie Ulbricht: „Die Entwicklung hat die Richtigkeit der Strategie und Taktik der KPD bestätigt."
Als dieser Artikel erschien, beschäftigten sich jedoch die Generalstäbler des Kreml schon mit einer neuen Strategie, deren Verwirklichung auch die bisherige Politik der KPD-Auslandsleitung über den Haufen werfen sollte. Unter dem Eindruck des erfolgreichen gemeinsamen Widerstandes französischer Kommunisten, Sozialisten und linksbürgerlicher Radikaler gegen den Februar-Putsch rechtsextremistischer Elemente in Paris
Aber die ein Jahrzehnt lang als Sozialfaschisten bekämpften Sozialdemokraten und andere Antifaschisten konnten, wenn überhaupt, nur dann für die neue Einheitsfront geworben werden, wenn sich ihnen die kommunistischen Kader in neuer Feldausrüstung zeigten, wenn sie die roten Sowjetsterne von ihren Mützen trennten und in die Tasche steckten. Mit dem bisherigen Schlachtruf: „Alles für die Sowjet-macht"
Unter den KPD-Führern löste die Ankündigung der beabsichtigten Kursänderung sehr unterschiedliche Reaktionen und neue Fraktionskämpfe aus, die erst mit der Großen Säuberung in der Sowjetunion ein schreckliches Ende fanden. Zwar wußten sie alle, daß der Held des Reichstagsbrandprozesses, der bulgarische Kominternfunktionär Georgi Dimitroff, entscheidenden Anteil an der neuen Strategie hatte
Jeder in der Parteiführung, ganz gleich, zu welcher der beiden Gruppen er gehörte, wußte, welche Bedeutung unter diesen Umständen dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale zukam, der nach mehrmaliger Verschiebung im Juli/August 1935 in Moskau tagen sollte. Auf diesem Kongreß mußte klar werden, wie Stalin sich entschieden hatte. In den Monaten vor der Konferenz entfalteten beide Fraktionen in der KPD-Auslandsleitung eine fieberhafte Tätigkeit, um eine endgültige Entscheidung für oder gegen die Volksfront in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Ulbricht bemühte sich plötzlich um eine Annäherung an den linken Flügel der nach Prag emigrierten SPD-Führung
Die Kuriere aus Deutschland, die der Auslandsleitung über die illegale Arbeit im Reich Bericht erstatteten, übertrieben fast regelmäßig die Erfolge — das hatte sich bald eingebürgert, das wußte jeder, und das schien auch notwendig zu sein aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt, um Gelder aus Moskau zu bekommen. Bald begann jedoch Ulbricht, eigene Informationen zu sammeln, indem er durch einen kleinen Kreis von Vertrauten die wirklichen Verhältnisse in Deutschland eruieren ließ und Kuriere dazu überredete, nach ihrem offiziellen Bericht vor mehreren Vertretern der Auslandsleitung ihm allein „die Wahrheit zu sagen". Mußte die Auslandsleitung in Moskau berichten, so ließ Ulbricht zunächst seinen Fraktionsgegnern das Wort zu den üblichen „Schönfärbereien" und Erfolgsmeldungen. Eist danach legte er seine eigenen Informationen auf den Tisch, die weit mehr der Wirklichkeit entsprachen, viel besser als Rechtfertigung eines neuen Kurses geeignet waren als zweifelhafte Erfolgsmeldungen und darüber hinaus die Vertreter der Mehrheit als unehrliche Aufschneider bloßstellten
„Ulbricht notierte alles, was sie sagten: von den Streiks gegen die Hitlersche Arbeitsfront, von Sabotage, von den geheimen Verbänden und von der zunehmenden Unzufriedenheit aller Arbeiter. Später nahm Ulbricht die Burschen unter irgendeinem freundlichen Vorwand mit sich. Er ging ins nächtliegende Cafe, wo er die ganze Vernehmung mit ihnen durchging und sie nach kurzer Bedrohung soweit brachte, daß sie ihm nun den wirklichen, korrekten Bericht über die Lage gaben. Sie gestanden, daß Hitlers Arbeitsfront fest stehe wie ein Fels, daß Gewerkschaftsgrüppchen sinnlose kleine Aktionen versuchten, daß man die Unzufriedenen keineswegs sofort verhafte, sondern sie zu überreden wisse. Daß man vieles verspreche, daß auch viel in den Fabriken verbessert werde, daß der Zwang größer sei, aber auch der Verdienst besser. Ulbricht notierte wiederum alles, dann belobte er die Boten. Er sprach davon, daß ein echter Bolschewik immer der Wahrheit die Ehre geben müsse."
Zur Verwunderung seiner Anhänger wie auch seiner Gegner in der Partei wurde dem so eifrigen Verfechter des „Neuen Kurses" die Belobigung für seine Haltung, besser gesagt, die öffentliche Anerkennung und Beförderung, zunächst vorenthalten. Der VII. Weltkongreß brachte zwar die Entscheidung Moskaus für die
Volksfrontpolitik
Hier konnte Ulbricht wieder einen Erfolg bu-chen. Nadi heftigen Debatten und gegenseitigen Beschuldigungen der Fraktionsgegner beschlossen nämlich die Delegierten, zwei der heftigsten Gegner einer Volksfrontpolitik, Schubert und Schulte, nicht wieder in das Zentralkomitee zu wählen
Ulbricht fuhr von Moskau aus zurück nach Westeuropa und bemühte sich entsprechend den Beschlüssen des VII. Weltkongresses um Kontakte mit den emigrierten Führern der deutschen Sozialdemokratie. Am 10. November 1935 schlug er dem SPD-Parteivorstand brieflich vor, die Führer der beiden Parteien sollten einen gemeinsamen Appell an alle Sozialdemokraten und Kommunisten in Deutschland richten und zum „kameradschaftlichen gemeinsamen Handeln" auffordern. Am 23. November reiste er mit dem inzwischen zur siegreichen Fraktion übergegangenen Dahlem
Wie berechtigt dieses Mißtrauen war, hatte Ulbricht selbst bewiesen. In seiner Weltkongreß-Rede über die Ziele einer deutschen Volksfront hatte er nämlich gesagt:
„Im Kampf um die Sowjetmacht kann unter den Bedingungen der politischen Krise, wenn das Kräfteverhältnis in den Massen die Rätemacht noch nicht möglich macht, die Schaffung einer Regierung der antifaschistischen Volksfront möglich sein, um dann unter besseren Bedingungen weiter zu kämpfen für die proletarische Diktatur."
Und: „Das Ziel unseres Kampfes ist Sowjetdeutschland."
Enttäuschung und Ärger über den Mißerfolg in Prag verleiteten Ulbricht, dem SPD-Parteivorstand Anfang 1936 auf die Absage öffentlich zu antworten
„Wir Kommunisten kämpfen für die demokratischen Freiheiten, weil sie der Arbeiterklasse und ihren Organisationen größere Bewegungsfreiheit geben und ihnen erlauben, die Massen für den Kampf um die Sowjetmacht vorzubereiten ..."
Mehr Glück als in Prag hatten die Führer der KPD in Paris. Angesichts der sich festigenden Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutsch-land und unter dem Eindruck des VII. Weltkongresses und weitergehender Beteuerungen der Kommunisten, auch sie seien für Demokratie, fand sich im ersten Halbjahr 1936 eine Anzahl emigrierter Hitler-Gegner in der französischen Hauptstadt bereit, gemeinsam mit den Kommunisten eine deutsche „Volksfront" zu gründen.
Zu diesem Zweck traf man im Hotel Lutetia, dem späteren Sitz der Gestapo in Paris, zusammen und etablierte einen Arbeitsausschuß, dem sowohl nicht parteigebundene Persönlichkeiten, hauptsächlich aus dem Bürgertum, als auch Vertreter der SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) und der KPD angehörten. Sozialdemokraten wie Rudolf Breitscheid und Max Braun beteiligten sich als Personen, da sie von ihrem Parteivorstand nicht ermächtigt waren, im Namen der SPD in der „Volksfront" zu wirken. Als Vertreter der KPD nahmen an den Ausschußsitzungen zunächst Herbert Wehner, Paul Merker und Willi Münzenberg teil, der am Zustandekommen der Pariser „Volksfront“ wesentlichen Anteil hatte
Im Juni 1937 und dann wieder auf einer Sitzung im September wurde Ulbricht und Merker vorgeworfen, sie hätten im Arbeitsausschuß gefaßte Beschlüsse nicht eingehalten und sabotiert. Die beiden Kommunisten wurden aufgefordert, ihre zunehmend illoyale Haltung aufzugeben und dadurch die frühere „Vertrauens-und Kameradschaftsbasis" wiederherzustellen. Trotz Ulbrichts und Merkers Versprechungen änderte sich nichts.
In einer weiteren Sitzung am 28. September beklagte sich Heinrich Mann wiederum über die „mangelhafte Vertrauens-und Solidaritätsbasis“, die „durch verschiedene illoyale Handlungen der kommunistischen Vertreter entstanden" sei. Prof. Bernhard sprach von einer „Irreführung“ des Volksfrontausschusses durch die Kommunisten, und Max Braun klagte sie ständiger „Täuschungsversuche" an. Die empörten Ausschußmitglieder beschlossen, sich nunmehr brieflich mit einer Beschwerde an das ZK der KPD zu wenden und die kommunistische Parteiführung aufzufordern, den „unhaltbaren Zuständen, die durch die KPD-Vertreter im Volksfrontausschuß eingerissen" seien, ein Ende zu bereiten.
Heinrich Mann und seine Freunde waren nicht wenig überrascht, als sie auf diese Beschwerde ein Schreiben Ulbrichts erhielten. Dieser Brief, ließ Ulbricht wissen, sei die Antwort seines Zentralkomitees. Daraufhin wandten sich die nichtkommunistischen Ausschußmitglieder am 13. November 1937 mit einem neuen Brief an das ZK der KPD. (Diesmal antwortete Pieck mit einer halben Entschuldigung.)
Der Brief vom 13. November 1937 enthält aufschlußreiche Einzelheiten über das Wirken Ulbrichts in der deutschen „Volksfront". Die Mehrheit im Ausschuß bezichtete ihn der Lüge und Verdrehung und warf ihm wie auch Merker vor, seit Sommer 1937 versucht zu haben, „eine Volksfront zu schaffen, die allein von der kommunistischen Partei geführt und dirigiert wird“. „Walter Ulbricht versucht", so heißt es weiter, „alle entstandenen Schwierigkeiten den nichtkommunistischen Mitgliedern des Volksfrontausschusses . . . zuzuschieben, die sich — und das ist der Gipfel der von Unwahrheiten strotzenden Antwort Ulbrichts — angeblich von . dunklen Mächten und Hintermännern . . . schieben lassen, und eine Einheitsfront mit . großkapitalistischen Kreisen, rechtsstehenden katholischen Führern und Reichswehrgeneralen'anzustreben.
Diese Beleidigung aller nichtkommunistischen Mitglieder des Volksfrontausschusses ist ebenso groß wie der in diesen Worten enthaltene Unsinn. Die Wahrheit ist, daß es . . . besonders die kommunistischen Vertreter und besonders Ulbricht waren, die sich gegen jede Forderung nach Enteignung und Sozialisierung wandten, um sich den Weg zu Düsterberg und großkapitalistischen Kreisen offenzuhalten . . . Wir erinnern Ulbricht daran, daß er es war, der im letzten Jahr ernsthaft den Vorschlag gemacht hat, Otto Strasser
Heinrich Manns Empörung über Ulbricht wird besonders deutlich in einem Brief, den er am 25 Oktober 1937 an Max Braun schrieb: . Ihre Mitteilungen vom 23. Oktober zeigen mir. daß Ulbricht eine eigene Volksfront, die ihm unterstehen soll, ins Werk setzen möchte. So ungern ich Mitglieder der deutschen Opposition als Gegner ansehe, einige wollen es offenbar nicht anders. Ich bin daher gegen eine Zusammen-berufung des Gesamtausschusses, solange U. als Hauptvertreter oder auch nur als ein Ver-* treter seiner Partei dort erscheinen darf ..."
Münzenberg gab die Klagen Heinrich Manns und anderer nach Moskau weiter. Diese Initiative trug dazu bei, daß Ulbricht im Frühjahr 1938 in der Pariser Auslandsleitung durch Dahlem abgelöst und in ein von der Internationalen Kontrollkommission der Komintern eingeleitetes Verfahren verwickelt wurde
Doch sollte niemand behaupten, die Zerstörung der deutschen „Volksfront“ in der Emigration sei das persönliche Werk Ulbrichts. Auch in dieser Phase kommunistischer Politik folgte er nicht irgendwelchen eigenen Ambitionen, sondern vollstreckte den Willen Moskaus. Und Ende 1937 hatte der Kreml das Interesse an der Volksfrontpolitik anscheinend schon wieder verloren
überall dort, wo die Kommunisten durch ihre neuen Parolen erste Erfolge verzeichnen konnten, erinnerten sie sich sogleich der Mahnung Lenins, die KP dürfe niemals ins Schlepptau einer Bewegung geraten, sondern müsse sich an deren Spitze stellen und die „führende Rolle" übernehmen. Die Anerkennung gleichberechtigter Partner ist damit ausgeschlossen, was implizite bedeutet, daß Partner, die sich nicht unterwerfen wollen, zu bekämpfen sind.
Folgerichtig weigerte sich 1936 die KP Frankreichs, in die von dem Sozialisten Leon Blum geführte französische Volksfront-Regierung einzutreten, damit sie diese Regierung von außen her bekämpfen und unter Druck setzen konnte. Folgerichtig ließ die Komintern im Mai 1937 in Katalonien und während des ganzen spanischen Bürgerkrieges Tausende jener sozialistischen und anarchistischen Franco-Gegner liquidieren, die nicht gewillt waren, sich dem Willen der Kommunisten zu beugen
Die Kommunisten in aller Welt betrieben jedoch nicht nur leninistische Bündnispolitik; sie besorgten zugleich die Geschäfte der Stalin-sehen Außenpolitik. Sie kämpften in der Volksfront von vornherein nicht nur gegen den Faschismus, sondern mit der gleichen Intensität für sehr handfeste Interessen Moskaus. Interessengleichheit der Volksfront-Partner konnte nur in dem Wogegen bestehen; Einigkeit über das Wofür war schon deshalb nicht zu erreichen, weil in dem Demokratie-Bekenntnis der Kommunisten selbst in Zeiten größter Zugeständnisse an vorübergehende Bundesgenossen die Vorstellung mitschwang, die bürgerliche Demokratie sei nur Ausgangsbasis für die Verwirklichung der Sowjetmacht. Bald jedoch wurde auch die Einigkeit im Negativen zweifelhaft.
Schon Ende 1931 hatte Stalin zu dem deutschen Kommunisten Heinz Neumann geäußert: „Glauben Sie nicht auch, Neumann, daß, falls in Deutschland die Nationalsozialisten zur Macht kommen sollten, sie so ausschließlich mit dem Westen beschäftigt sein würden, daß wir in Ruhe den Sozialismus aufbauen könnten?"
Doch das Makabre der kommunistischen Volksfrontpolitik wurde bereits Jahre vor dem Stalin-Hitler-Pakt offensichtlich, denn in die Zeit der Volksfront fällt die große Tschistka in der UdSSR.
Wären nicht vielen aufrechten Gegnern des Nationalsozialismus in ihrer berechtigten Furcht und ihrem berechtigten Haß die Augen getrübt gewesen, sie hätten aus den Anklageschriften der Moskauer Schauprozesse herauslesen müssen, daß der Volksfront der Todes-sturz versetzt wurde, als Stalin nach eigenem machtpolitischen Gutdünken bestimmte, wer ein Faschist sei. Die Gleichsetzung von Faschismus und innenpolitischer Opposition in der Sowjetunion, die gegen persönliche Rivalen Stalins und zahlreiche unschuldige Menschen erhobene Anklage, „Agenten des Faschismus"
zu sein, nahm der Volksfront sowohl ihre moralische als auch ihre politische Glaubwürdigkeit.
Die große Säuberung in der Sowjetunion
Ulbricht hat, so wie andere linientreue und zugleich von Furcht gepackte Funktionäre, die Moskauer Schauprozesse in zahlreichen Artikeln bejaht und entsprechende Schlußfolgerungen für die KPD gezogen.
In der Kommunistischen Internationale, Nr. 5/1937, schrieb er z. B.:
„Angesichts der Verbundenheit des konterrevolutionären Trotzkismus mit dem deutschen Faschismus als dem Hauptkriegstreiber in der Welt, dem Todfeind der Sowjetunion und des internationalen Proletariats, ist es eine besonders verantwortliche Aufgabe der KPD, eine Aufklärungsarbeit in der Partei, unter den sozialdemokratischen Massen wie unter allen Freunden des Friedens in Deutschland über die volksfeindliche Rolle des Trotzkismus zu leisten. Für die antifaschistische Bewegung in Deutschland ist der Trotzkismus besonders gefährlich, weil er mit der Gestapo verbunden ist und durch seine zersetzende Tätigkeit der Gestapo in die Hände arbeitet.“
Auch noch 1939 behauptet er, „trotzkistische Spione des Nazifaschismus" lieferten „tapfere Antifaschisten" an die Gestapo aus
Hat Ulbricht das wirklich geglaubt? Wenn unter den KPD-Führern die Rede auf dieses Thema kam, so gehörte er immer zu jenen, für die „alles sonnenklar und einfach" war. Er sah, so berichtet Wehner, in der Tschistka „ein glänzendes Beispiel für die Schonungslosigkeit, mit der vom sozialistischen Staat — ohne Ansehen der Person und früherer Verdienste — die . Fünfte Kolonne'ausgerottet würde, bevor sie in Aktion treten könnte."
Die meisten jener Kommunisten, denen die Flucht vor der Gestapo gelungen war, lebten in der Emigration in finanzieller Abhängigkeit von ihrer Parteibehörde. Jeder von ihnen wußte, was der Vertrauensentzug durch diese Behörde bedeutete: Entzug der Unterstützung, Isolierung von den Genossen, Konflikte mit den Behörden des Gastlandes, unter Umständen sogar Ausweisung. Wer unter diesen Voraussetzungen noch den Mut zum Widerspruch fand, dem drohte das kommunistische „Staatsbegräbnis": der Beschluß der Auslandsleitung, den unbequem Gewordenen aus der Emigration „auf illegale Arbeit nach Deutschland", „zur Bewährung" zu schicken. Oft genügte die Aushändigung eines — vielleicht sogar mit Absicht — stümperhaft gefälschten Passes oder die Angabe eines von der deutschen Polizei längst entdeckten Grenzüberganges, um den Genossen direkt in die Hände der Gestapo fallen zu lassen. Die Anlaufadresse eines zum Spitzel gewordenen Kommunisten erfüllte den gleichen Zweck; noch als Handlanger der Gestapo stand der wirklich Abtrünnige ungewollt im Dienst des KP-Apparates. Nichtsahnend oder mit einer nicht faßbaren Ahnung seines Schicksals lief der zum Tode Verurteilte in die aufgestellte Falle.
Den „Unterirdischen", den vielleicht durch kleine Erfolge im Widerstand selbstbewußt gewordenen Illegalen, die schon vor 1933 einer oppositionellen Richtung in der KPD angehört hatten, drohte eine andere Gefahr vom Apparat. Die Genossen im Reich, so hatte Ulbricht mit anderen Mitgliedern der Auslandsleitung angeordnet, müßten vor Trotzkisten und anderen Agenten der Gestapo gewarnt werden. „Warnlisten" oder „Rundbriefe" mit Namen und Adressen, mit Angaben über illegale Quartiere und politische Tätigkeit, mit Vermerken über das „Verbrechen“ (in der Mehrzahl mit dem Vermerk „Trotzkist") wurden von der Auslandsleitung — allerdings gegen den Willen einzelner Funktionäre — in Umlauf gesetzt, gelangten in die Hände der verstörten Illegalen — und in die Hände der Gestapo
Wer von den Apparat-Gejagten wie durch ein Wunder eine Zeitlang der Verhaftung entging, forderte ebenfalls sein Todesurteil heraus. War sein unwahrscheinliches Glück nicht der schlüssige Beweis, daß er im Dienste der Gestapo stand?Fast ein Jahrzehnt lang kreiste das Verderben deutsche Kommunisten von allen Seiten ein. Sie wurden von ihren Landsleuten durch ganz Europa gejagt. In der Illegalität und Emigration lauerten die Intrige, der Verdacht, der Verrat. Und in ihrer einzigen Zuflucht, in der sie sich sicher und geborgen glaubten, in dem Land, dem ihre Liebe und Verehrung galt, wurden sie in Gefängnisse und Todeslager geworfen, starben sie unter der Folter, verhungerten sie in den Oden Kasachstans, wurden sie an ihren ärgsten Feind, die Gestapo, ausgeliefert. In der Sowjetunion hatte die Säuberung kaum begonnen, da erschienen auch schon in Paris die Instrukteure aus Moskau, um Material zu sammeln
Sehr viele ausländische Mitarbeiter der Komintern und auch eine Anzahl der in die UdSSR emigrierten deutschen Funktionäre waren mit ihren Familien im Moskauer Lux untergebracht, einem Ende des vorigen Jahrhunderts erbauten und in der Zarenzeit vornehmlich von reichen Kaufleuten besuchten, nun schon etwas heruntergewirtschafteten großen Hotel. Hier erschienen in den Jahren der Tschistka jede Nacht die Männer des NKWD, durchsuchten die Zimmer, nahmen die neu Verhafteten in ihre Mitte und ließen die anderen in Angst und Schrecken zurück. Am nächsten Tag liefen die Frauen, wenn sie nicht selbst verhaftet worden waren, von einem Gefängnis zum anderen, um wenigstens zu erfahren, wohin man den Mann, den Vater, den Bruder gebracht hatte.
Wenn jemand am Morgen nicht zur Arbeit erschien, nahmen seine Kollegen an, er sei in der Nacht verhaftet worden. Nach außen war dann jeder bestrebt, ungerührt zu erscheinen und so zu tun, als überrasche ihn das nicht. Aber wer dem Fortgebliebenen näher stand, der fürchtete, als nächster an der Reihe zu sein.
Die Kommunisten wurden menschenscheu in diesen Jahren. Einen Vertrauten zu haben, war für sie ein lebensgefährlicher Luxus. Und selbst dem Fremden gegenüber, der sich mit einer harmlosen Frage näherte, wurden sie ängstlich und mißtrauisch. Konnte er nicht ein Spitzel sein, der eine Falle stellte? Nachts lagen sie stundenlang wach und warteten angespannt auf die Schritte im Flur. Tagsüber forderten diese von Furcht zerstörten Menschen die „schonungslose Ausrottung der Volksfeinde", feierten den „großen Stalin" und verrieten aus Angst ihre Freunde
Auch von den deutschen Kommunisten verschwand einer nach dem anderen in der Kellern des NKWD und in den großen Lagern. Es gab nur wenige, die sich in den ständigen Fraktionskämpfen der KPD nicht wenigstens einmal einer „Abweichung" schuldig gemacht hatten, die nun zum Vorwand der Verhaftung wurde. Zu denen, die gleich am Anfang der Tschistka ergriffen wurden, gehörten jene Funktionäre, die — wie Schubert und Schulte — gegen den Volksfrontkurs opponiert hatten. Sie, die damals geglaubt hatten, gerade im Namen Thälmanns widersprechen zu müssen, wurden nun in den Vernehmungen beschuldigt, Thälmann der Gestapo ausgeliefert zu haben
Bei den späteren Verhaftungen wurde es immer schwieriger, irgendeinen Grund zu erkennen. Der Terror wütete blindlings. Manche der Verhafteten erfuhren nie, was sie verbrochen haben sollten. Andere wurden Mitgefangenen gegenübergestellt und mußten hören, wie diese sie durch erpreßte „Geständnisse" mit ins Verhängnis gerissen hatten.
Nur wenige deutsche Kommunisten in sowjetischer Emigration entgingen der Tschistka. Selbst Ulbricht muß um seine Freiheit gefürchtet haben, als er 1937 zu Verhandlungen in die Kominternzentrale kam. Bevor er einen Bericht versuchte vorsichtig zu eruieren, schrieb, er welche Meinung in der Komintern erwünscht sei. Sorgfältig war er darauf bedacht, keinen falschen Schritt zu tun. Er durfte in die französische Hauptstadt zurückkehren 53).
Erst im Januar 1938 übersiedelte Ulbricht nach Moskau und wurde dort — nach Abschluß des Verfahrens gegen ihn — ständiger KPD-Ver-treter bei der Komintern 54).
Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben Historiker und Journalisten den Schicksalen deutscher Kommunisten sowohl im Dritten Reich wie in Sowjetrußland nachgespürt. Zwei frühere Politbüro-Mitglieder der KPD wurden von SS und Gestapo umgebracht: Ernst Thälmann und John Schehr.
Vier Politbüro-Mitglieder wurden im Laufe der Großen Säuberung in Sowjetrußland ermordet: Hermann Remmele, Heinz Neumann, Fritz Schulte, Hermann Schubert.
Neun Mitglieder des KPD-Zentralkomitees starben oder fanden ein gewaltsames Ende in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern.
Zehn Mitglieder des KPD-Zentralkomitees wurden in der Sowjetunion ermordet.
Unter den bekanntesten Opfern des NKWD befanden sich der deutsche Delegierte auf dem Gründungskongreß der Komintern und Mitbegründer der KPD, Hugo Eberlein, der Leiter des Militärapparates
Erst im Januar 1938 übersiedelte Ulbricht nach Moskau und wurde dort — nach Abschluß des Verfahrens gegen ihn — ständiger KPD-Ver-treter bei der Komintern
Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben Historiker und Journalisten den Schicksalen deutscher Kommunisten sowohl im Dritten Reich wie in Sowjetrußland nachgespürt. Zwei frühere Politbüro-Mitglieder der KPD wurden von SS und Gestapo umgebracht: Ernst Thälmann und John Schehr.
Vier Politbüro-Mitglieder wurden im Laufe der Großen Säuberung in Sowjetrußland ermordet: Hermann Remmele, Heinz Neumann, Fritz Schulte, Hermann Schubert.
Neun Mitglieder des KPD-Zentralkomitees starben oder fanden ein gewaltsames Ende in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern.
Zehn Mitglieder des KPD-Zentralkomitees wurden in der Sowjetunion ermordet.
Unter den bekanntesten Opfern des NKWD befanden sich der deutsche Delegierte auf dem Gründungskongreß der Komintern und Mitbegründer der KPD, Hugo Eberlein, der Leiter des Militärapparates der KPD, Hans Kippenberger, der Organisationssekretär Leo Flieg, der Leiter des Roten Frontkämpferbundes, Willy Leow, der Leiter der Roten Hilfe Deutschlands, Willi Koska, die Chefredakteure der üoten Fahne, Heinrich Süßkind und Werner Hirsch, sowie die Redakteure Erich Birkenhauer, Alfred Rebe, Theodor Beutling und Heinrich Kurella, der Bruder des bekannten SED-Funktionärs Alfred Kurella, außerdem der Parteitheoretiker Kurt Sauerland und der Jurist des Zentralkomitees, Felix Halle
Immer noch unbekannt ist die Zahl der vielen nichtprominenten deutschen Kommunisten, die als Opfer der Säuberung in sowjetischen Gefängnissen und Arbeitslagern starben oder schon vor Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes von sowjetischen Behörden gezwungen wurden, das Land zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren 56). Häufig ist der Verdacht geäußert worden, die Hauptschuld an dem Schicksal dieser Menschen treffe Ulbricht 57). Ein solcher Vorwurf geht an der Wahrheit vorbei. Ulbricht hat sich während der Tschistka nicht in Moskau, sondern hauptsächlich in Paris aufgehalten. Er reiste nur gelegentlich zu Konferenzen in die sowjetische Hauptstadt. Auch verhaftete das NKWD nach Gutdünken: Es pflegte vorher weder bei der deutschen noch bei einer anderen Emigra-tionsleitung nachzufragen, ob die Verhaftung dieses oder jenen Mannes erwünscht oder unerwünscht sei. Zumindest am Anfang hat es sich bei der Auswahl seiner Opfer auf Akten der Komintern oder eigene Unterlagen stützen können, die bereits vor Beginn der Tschistka angelegt worden waren und umfangreiche „Sündenregister" enthielten. Diese „Sündenregister" waren zwar häufig durch gegenseitige Beschuldigungen von Fraktionsgegnern zustande gekommen oder erweitert worden; aber die Denunzianten hatten nicht ahnen können, welche Auswirkungen ihre Angaben einmal haben würden.
Zweifellos enthielten die „Kaderakten" auch gegenseitige Anschuldigungen Ulbrichts und seiner Widersacher; zweifellos hat Ulbricht auch noch während der Säuberung Belastungsmaterial geliefert 58) — wie umgekehrt seine inhaftierten Gegner gegen ihn. Aber es gab einen wichtigen Unterschied: Die Anklagen ge-gen Ulbricht wurden nicht verwertet. Ulbrichts Anklagen konnten zu einem Todesurteil führen. Wenn seine Feinde ihm heute den Vorwurf machen, er vor allem sei schuld an der Verfolgung seiner Genossen in der Sowjetunion, so steht dahinter, wenn auch sicherlich oft unbewußt, eigentlich ein anderer Vorwurf: Ulbricht hat überlebt.
Allerdings scheinen sich einige ausländische Spitzenfunktionäre — vor allem der einflußreiche Dimitroff — häufiger und auch erfolgreicher als Pieck und Ulbricht für Verhaftete eingesetzt zu haben
Immerhin bemühten sich Pieck, Ulbricht und Florin, nach allem, was sie von den Entlassenen erfahren hatten, um die Freilassung einiger Verhafteter. Sie hatten wenig Erfolg. Wehner berichtet:
„Manuilski gab auf wiederholte Vorstellungen Piecks hin die Antwort, daß er nicht verstehen könne, warum sich Pieck für die Verhafteten überhaupt einsetze. Fast alle hätten ja selbst gestanden und unterschrieben, daß sie im Dienste der Gestapo oder anderer feindlicher Stellen gestanden hätten. Und da doch niemand behaupten könne oder wolle, sie hätten diese Geständnisse unter Zwang abgelegt, sei doch zumindest soviel klar, daß es sich bei den Verhafteten, die unterschrieben hätten, um unzuverlässige Personen handelte. Welchen Nutzen könnte die Partei von solchen Personen haben? Wie würden sie sich erst verhalten, wenn sie in den Händen der Gestapo wären und Torturen ausgesetzt würden? fragte Manuilski ..."
Seit Stalins Tod sind in der Sowjetunion viele Opfer der Tschistka nachträglich rehabilitiert worden, darunter auch deutsche Kommunisten
Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt
Die deutschen Kommunisten, die die Säuberungen überlebten, sollten bald erfahren, daß sie dafür einen hohen Preis bezahlen mußten: Am 23. August 1939 schloß Stalin mit Hitler den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Er einigte sich mit dem deutschen Diktator in einem geheimen Zusatzabkommen über die Aufteilung der in Osteuropa zu erwartenden Kriegsbeute, insbesondere über die Aufteilung Polens und die Annexion der Baltischen Staaten
Im Januar 1940 trafen sich die überlebenden deutschen Parteiführer in Moskau zu einer Konferenz mit hohen Kominternfunktionären, auf der die Politik der KPD unter den Bedingungen des Stalin-Hitler-Paktes besprochen wurde
Anhängern der NSDAP eine „starke Differenzierung"
zu beobachten. Unter den Einwirkungen des Krieges müsse daher mit einer sprunghaften revolutionären Entwicklung gerechnet werden. Unter diesen Umständen sei es notwendig, vor allem in Deutschland selber wieder verschiedene Zentren zu bilden, die dann zu einer einheitlichen Organisation unter dem Namen Sozialistische Einheitspartei [! ] verbunden werden müßten.
Vier Jahre später, als in dem Hochverratsprozeß gegen den KPD-Funktionär Wilhelm Knöchel die Moskauer Januar-Tagung zur Sprache kam, glaubte der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof in den Ausführungen des Kominternchefs „eine eigenartige Auffassung der politischen Gesamtlage" feststellen zu können. Doch offenbar war er nicht ausreichend darüber informiert, daß der Kominternchef den KPD-Funktionären damals in Moskau noch eine zweite, zunächst viel wichtigere Aufgabe gestellt hatte: die Unterstützung der sowjetischen Paktpolitik durch „Entlarvung der Kriegspläne des englischen und französischen Imperialismus".
Wieder einmal mußte die Komintern, das Interessenorgan sowjetischer Machtpolitik, und mit ihr die deutsche Sektion, auf zwei verschiedenen Gleisen fahren. Sowohl Dimitroff als auch verschiedene deutsche Funktionäre, unter ihnen besonders Ulbricht und Dengel’
Diese Bemerkung traf den Nagel auf den Kopf. Natürlich waren Stalin und seine Funktionäre nicht abgeneigt, mit ihren Sympathieund Freundschaftsbekundungen für das nationalsozialistische Deutschland auch Sympathie für das bolschewistische Rußland einzuhandeln und alle neuen Möglichkeiten für die sowjetische Propaganda in Deutschland auszunutzen. Nebenbei hatte das den Vorteil, die durch den Pakt verwirrten Kommunisten in Deutschland — einige von ihnen waren nach dem Paktabschluß aus den Zuchthäusern und KZs entlassen worden — mit einer Aufgabe zu be-schwichtigen, die sie halbwegs verstehen konnten.
Aber die gefährliche „Abweichung" in dieser Zeit war das, was Ulbricht als „primitiven Antifaschismus" bezeichnete. Die deutschen Kommunisten mußten lernen, daß es im Rah-men des Paktes zwar in gewissen Grenzen möglich war, Propaganda für die Sowjetunion zu machen, nicht aber, Propaganda gegen Hitler und den Nationalsozialismus. Der „primitive Antifaschismus" gefährdete Stalins wichtigstes außenpolitisches Ziel: die Aufteilung Europas zwischen ihm und Hitler. Die erste gemeinsame Kriegsbeute war in Polen gemacht worden. Sowjetische Truppen hatten im November 1939 mit Billigung Hitler-Deutschlands den Feldzug gegen Finnland eröffnet. Die Einverleibung Litauens, Lettlands und Estlands in die UdSSR sollte wenige Monate später folgen. Die gemeinsame Sache mit dem deutschen Diktator ließ sich so gut an, daß das scheinbar so ertragreiche Bündnis auf keinen Fall durch politischen Bekenntnisdrang deutscher Kommunisten gefährdet werden durfte. Die KPD hatte genauso wie ihre sowjetische Bruderpartei und genauso wie die anderen den Sektionen der Komintern
Ulbricht suchte einen Anlaß, diese neue Sprachregelung auch anzuwenden. Er fand ihn in einem Aufsatz des Sozialdemokraten Dr. Rudolf Hilferding. Unter der Überschrift „Der Sinn des Krieges" hatte dieser seine politischen Freunde aufgerufen, rückhaltlos und ohne Vorbehalt den Sieg Frankreichs und Englands zu bejahen, da diese beiden Länder für die Ideale der Freiheit den Krieg führten. Diesen Aufsatz benutzte Ulbricht, um sich in der in Stockholm erscheinenden Komintern-Zeitung Die Welt hinter den Stalin-Hitler-Pakt und gegen die englische und französische Regierung zu stellen. Unter der Uberschrift „Hilferding über den Sinn des Krieges“ erklärte er:
„Die revolutionären Arbeiter und fortschrittlichen Kräfte in Deutschland, die unter größten Opfern den Kampf gegen den Terror und gegen die Reaktion in Deutschland führen, wollen nicht das jetzige Regime mit einer nationalen und sozialen Unterdrückung durch den englischen Imperialismus und durch die englisch orientierten Kreise des deutschen Großkapitals vertauschen, sondern kämpfen gegen jede Knechtung des werktätigen Volkes, für ein Deutschland, in dem wirklich das arbeitende Volk bestimmt ...
Das Hitlerregime hielt es für zweckmäßig, den Weg der Herstellung friedlicher Beziehungen zur Sowjetunion zu gehen, weil die Unterstützung des englischen Planes nicht nur Deutschland zu einem Objekt des englischen Planes, zu einem Vasallen des englischen Imperialismus gemacht hätte, sondern auch, weil die Stärke der Roten Armee, die internationale Kraft der Sowjetunion und die Sympathie in den werktätigen Massen Deutschlands für die sozialistische Sowjetunion, dieses Abenteuer als aussichtslos erscheinen ließ. Die herrschenden Kreise Deutschlands entschlossen sich zu einer Neuorientierung der Außenpolitik Deutschlands.
Die deutsche Regierung erklärte sich zu fried-lichen Beziehungen zur Sowjetunion bereit, während der englisch-französische Kriegsblock den Krieg gegen die sozialistische Sowjetunion will. Das Sowjetvolk und das werktätige Volk Deutschlands haben ein Interesse an der Verhinderung des englischen Kriegsplanes ...
Deshalb sehen nicht nur die Kommunisten, sondern auch viele sozialdemokratischen Arbeiter und nationalsozialistische Werktätige ihre Aufgabe darin, unter keinen Umständen einen Bruch des Paktes zuzulassen. Wer gegen die Freundschaft des deutschen und des Sowjetvolkes intrigiert, ist ein Feind des deutschen Volkes und wird als Helfershelfer des englischen Imperialismus gebrandmarkt ... Vor dem deutschen Volke wie vor den im deutschen Nationalitätenstaat eingegliederten Völkern [! ] steht die Frage: nicht mit dem englischen Großkapital für die Ausdehnung des Krieges und ein neues Versailles, sondern mit der Sowjetunion für den Frieden, für die nationale Unabhängigkeit und die Freundschaft der Völker. Die Arbeiterklasse, die Bauern und die werktätige Intelligenz Deutschlands, Österreichs, der Tschechoslowakei und Polens werden der stärkste Garant des sowjetisch-deutschen Paktes und der Verhinderung des englischen Planes werden . .."
Dieser Artikel Ulbrichts erschien in der Welt vom 9. Februar 1940. Am selben Tage lieferte ein deutscher SS-Mann im Gefängnis der polnischen Provinzstadt Biala pod Laska 28 Männer und zwei Frauen ab. Sie waren als Hitler-gegner und Kommunisten in die Sowjetunion geflüchtet und dort während der Säuberung verhaftet worden. Im Rahmen des Stalin-Hitler-Paktes hatten die sowjetischen Behörden beschlossen, sie und ungefähr 470 andere deutsche Antifaschisten an Deutschland auszuliefern. Viele von ihnen starben in deutschen Konzentrationslagern
Der deutsch-sowjetische Krieg und das Nationalkomitee „Freies Deutschland"
Am Montag, dem 16. Juni 1941, versammelten sich in Moskau deutsche Emigranten zu einem Schulungsabend mit Walter Ulbricht. In der aut das Referat folgenden Aussprache wies einer der Anwesenden darauf hin, daß in ausländischen Zeitungen immer häufiger von der Gefahr eines deutschen Angriffes auf die Sowjetunion gesprochen werde. Diese Meldungen seien zwar in der sowjetischen Presse dementiert worden, aber vielleicht sei es doch möglich, so meinte der Fragesteller, von dem Referenten etwas Genaueres zu erfahren. Ulbricht wiederholte in seiner Antwort lediglich die offiziellen Dementis und schloß mit den Worten: „Das sind Gerüchte, die mit provokatorischen Absichten verbreitet werden.
Es wird keinen Krieg geben."
Und einige Wochen später, nach einem Vortrag an der sowjetischen Militärakademie: „Ich muß sagen, daß mir noch kein Vortrag so schwergefallen ist wie dieser, ... ich fand keine überzeugenden Argumente, um den Sowjetoffizieren zu erklären, warum die Arbeiterklasse im Land von Marx und Engels, an deren Spitze die Partei Thälmanns stand, nicht imstande gewesen war, die Aktionseinheit der Arbeiter herzustellen und die Widerstandsbewegung in Deutschland so zu entfalten, daß Hitler den Überfall auf die Sowjetunion nicht hätte wagen können."
Noch am Tage des Kriegsausbruches wurden Ulbricht und Pieck zu Dimitroff gerufen, der ihnen ihre neuen Aufgaben erläuterte. Während die meisten deutschen Emigranten einige Wochen nach Beginn des Krieges die sowjetische Hauptstadt verlassen mußten (sie wurden in weit entfernte östliche Unionsrepubliken, hauptsächlich in die Gegend von Karaganda zwangsumgesiedelt)
Für die deutschen Kommunisten, die die Säuberungen und die Demütigung des Stalin-Hitler-Paktes überstanden hatten und die jetzt, nach dem Überfall ihrer Landsleute auf das „sozialistische Vaterland", Schuld und ein Gefühl des Versagens gegenüber der Sowjetunion empfanden — das spricht auch aus den Tagebuchaufzeichnungen Ulbrichts —, muß es wie eine Erlösung gewesen sein, nun wieder vom „unversöhnlichen Kampf aller antifaschistischen Kräfte" und von der Verteidigung der Sowjetunion sprechen zu können. Die Pakt-Verteidigung war schnell vergessen.
Aber schon in den ersten Gesprächen zwischen Emigranten und in Gefangenschaft geratenen Soldaten und Offizieren zeigte sich, wie weit sich die kommunistischen Funktionäre in der nun schon fast zehn Jahre dauernden Emigration ihrer Heimat und ihren Landsleuten entfremdet hatten. Menschen standen sich gegenüber, die zwar die gleiche Sprache redeten, einander aber doch nicht verstanden. Die Männer in den Kriegsgefangenenlagern sahen in den kommunistischen Emigranten Vaterlandsverräter, die mit dem Feind paktierten und denen jedes Gefühl für Ehre abging. Verstiegen sich die Emigranten auch noch zu mar-xistischen Exkursen über die „Gesetzmäßigkeit der Geschichte und den unvermeidlichen Sieg des Sozialismus", so erhielten sie meistens nur ein Hohngelächter als Antwort. Die deutsche Flagge wehte über Polen, Skandinavien und ganz Westeuropa. Die deutsche Wehrmacht marschierte auf Moskau. Wer sich unter solchen Umständen mit den „Russenknechten" einließ, meinten die meisten, könne es nur auf materielle Vorteile abgesehen haben — zum Beispiel auf höhere Verpflegungssätze die das schwere Leben in der Gefangenschaft erleichtern sollten und die in der Tat jenen gewährt wurden, die sich bereit erklärten, antifaschistische Aktivs in den Lagern zu bilden. Unter allen diesen Umständen hatten Ulbricht und seine Freunde zunächst so gut wie gar keinen oder doch nur wenig Erfolg bei ihren Landsleuten. Erst nach der Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 trat eine Wende ein. Mit den 91 000 Soldaten der geschlagenen Sechsten Armee gerieten über 2 000 Offiziere in sowjetische Gefangenschaft. Die Männer in den Gefangenenlagern wurden nachdenklich. Die Siegeszuversicht begann zu schwinden. Aber auch die Sowjets begannen, aus den Mißerfolgen in den Lagern ihre Schlüsse zu ziehen. Ende Juni 1943 erschien in der Zeitung für die deutschen Kriegsgefangenen, Das freie Wort, der Aufruf zur Gründung eines „Nationalen Komitees Freies Deutschland"
Dennoch löste der von Ulbricht und anderen Kommunisten ausgearbeitete Entwurf des Manifests, das auf einer Gründungsversammlung des Nationalkomitees angenommen werden sollte, bei der kleinen Gruppe von Offizieren, die sich zur Mitarbeit bereit erklärt und einen eigenen Entwurf vorbereitet hatten, starken Protest aus. Heinrich Graf von Einsiedel, der zu den Mitbegründern des Nationalkomitees gehörte, schrieb später in seinen Erinnerungen, der Entwurf der deutschen Kommunisten hätte in seiner Diktion und mit seinen Losungen besser in eine Soldatenratszeitung oder eine KPD-Versammlung gepaßt
Ulbricht direkt unterstellt waren auch die hinter den sowjetischen Linien eingerichteten Frontschulen für gerade erst eingebrachte Gefangene, die dort in Schnellkursen politisch umgeschult werden sollten und zeitweilig auch in . Diversionstrupps hinter den deutschen Linien eingesetzt wurden. Das Nationalkomitee in Lunjowo hatte auf solche Aktionen nicht den geringsten Einfluß
Mit dem immer schnelleren Vormarsch der russischen Truppen nach Westen und der Aussicht auf die bedingungslose deutsche Kapitulation sowie nach den ersten Vereinbarungen mit den westlichen Alliierten über das künftige Schicksal des besiegten Deutschland verloren die Sowjets immer mehr das Interesse an der Arbeit des Nationalkomitees. Jetzt kam es vielmehr darauf an, noch möglichst viele willige Kriegsgefangene zu marxistisch halbwegs geschulten Funktionären auszubilden — eine Aufgabe, deren organisatorische Überwachung einem Mann wie Ulbricht sehr viel mehr lag als die politische Konversation mit deutschen Offizieren.
Ulbrichts wichtigste Tätigkeit in den letzten Monaten des Krieges bestand jedoch darin, zusammen mit einigen anderen führenden KPD-Emigranten die Grundsätze für die sowjetische Nachkriegspolitik in Richtlinien für die deutschen Kommunisten zu übertragen und die KPD-Emigration auf die künftige Arbeit in Deutschland vorzubereiten.
Im Februar 1945 wurde für diese Aufgabe unter Leitung Ulbrichts eine Kommission des KPD-Politbüros gebildet
In ihren Vorträgen betonten die einzelnen Referenten — unter anderem Pieck, Ulbricht, Hermann Matern und Anton Ackermann —, daß die Niederlage des deutschen Faschismus nicht durch eine Volkserhebung im Innern, sondern von außen, durch den militärischen Sieg der Alliierten herbeigetührt worden sei. Da es in Deutschland keine starke Widerstandsbewegung gegeben habe und das an den Verbrechen der Nationalsozialisten mitschuldig gewordene deutsche Volk erst gründlich umerzogen werden müsse, bevor man ihm wieder politische Selbständigkeit einräumen könne, sei eine längere Besetzung des Landes durch die Mächte der Anti-Hitler-Koalition unausbleiblich. Zweifellos, so hieß es weiter, würden Nazis und andere reaktionäre Kräfte in Deutschland versuchen, die einzelnen Besatzungsmächte gegeneinander auszuspielen und ihre Eintracht zu unterminieren. Die wichtigste Aufgabe der deutschen Kommunisten sei deshalb, die Besatzungsmächte in ihrem Bemühen um die endgültige Vernichtung des deutschen Faschismus und Militarismus zu unterstützen und auch ihrerseits alle Versuche zu verhindern, die Einigkeit der vier Alliierten — „das Unterpfand des Sieges" — zu untergraben.
In einigen europäischen Ländern hätten Kommunisten unmittelbar nach der Befreiung die Einführung des Sozialismus gefordert. Es müsse damit gerechnet werden, daß solche „linkssektiererischen" Auffassungen auch unter den Genossen in Deutschland vorhanden seien. Diesen schädlichen Tendenzen müsse von Anfang an energisch entgegengetreten werden; denn in Deutschland komme es nicht darauf an, die Diktatur des Proletariats auszurufen, sondern erst einmal die bürgerlichdemokratische Revolution von 1848 zu vollenden. Das erfordere die Ausrottung des deutschen Imperialismus und Militarismus und die Verwirklichung verschiedener großer Reformen. Mit der Zulassung von politischen Parteien sei vorerst nicht zu rechnen; alle Antifaschisten sollten sich in einer Massenorganisation unter der Bezeichnung „Block der kämpferischen Demokratie" sammeln.
Am 1. April 1945 konferierten Pieck, Ulbricht und Anton Ackermann noch einmal ausführlich mit Dimitroff über die bevorstehende Arbeit in Deutschland
„Er sprach zu uns, als ob es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt handeln würde, nach so vielen Jahren nach Deutschland zurückzukehren."
Ulbricht, Deutschland und die Sowjetunion
Der frühere Komintern-Funktionär Eudocio Ravines schildert in seinem Erinnerungsbuch The Yenan Way eine Versammlung hoher Komintern-Vertreter in Moskau. Sie fand in den Jahren des spanischen Bürgerkrieges oder kurz danach statt. Dimitroff hielt das Referat. Er sprach über die Erfolge und Mißerfolge der einzelnen kommunistischen Parteien und machte in diesem Zusammenhang auch eine abfällige Bemerkung über die Arbeit der Kommunisten in Deutschland. Im gleichen Augenblick, so berichtet Ravines, sprang Pieck auf. Erregt erwiderte er:
„So etwas kann man einfach nicht sagen! . .. Es ist jetzt Zeit, das vor allen diesen Genossen auszusprechen! Wir sind es leid, immer zu hören, die deutschen Kommunisten hätten nicht gekämpft, sie hätten ohne Widerstand aufgegeben. Das alles geschah, um in Deutschland den Ausbruch eines Bürgerkrieges zu verhindern. Die unvermeidliche Intervention der Westmächte hätte die sowjetischen Grenzen erreichen und damit die Sowjetunion in den Konflikt hineinziehen können."
Der ebenfalls anwesende Manuilski versuchte, Pieck zu beruhigen und zum Schweigen zu bringen Ohne Erfolg. Der Deutsche sprach weiter, ja er schrie:
..... Moskau hat uns befohlen, aufzugeben. Ich muß das hier vor diesen Genossen klarstellen, weil wir mit Hohn überschüttet werden: . Warum habt Ihr nicht gekämpft wie die Spanier? Ihr seid die Schande des Weltkommunis musl’ . Wir Deutschen sind keine Feiglinge Genossen! Wir sind nicht unwürdig, mit sPa nischen oder chinesischen Kommunisten an einem Tisch zu sitzen . . .
Übereilt brach Dimitroff die Sitzung ab. Zwei Tage später, als sie fortgesetzt wurde, erhob sich Pieck noch vor Eintritt in die Tagesordnung, bedauerte sein Verhalten und nahm seine Äußerungen zurück.
Bei diesem Zwischenfall traten für einen Augenblick alle jene Elemente ans Licht, die das gegenseitige Verhältnis der deutschen Emigranten und der sowjetischen Kommunisten in den Jahren der Hitler-Herrschaft charakterisierten: Auch in dieser Zeit wurde die kommunistische Politik von der Frage bestimmt: , Was dient den Interessen der Sowjetunion?'Diesem Grundsatz mußten alle anderen Gesichtspunkte, mußten der Glaube an den proletarischen Internationalismus und die Feindschaft gegen Faschismus und Nationalsozialismus untergeordnet werden. Diese Politik erreichte ihren Höhepunkt im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und in den Geheimabkommen zwischen Hitler und Stalin. Gleichzeitig drängten die Sowjets den deutschen Emigranten ein schweres Schuldgefühl auf. Immer wieder warfen sie ihnen vor, versagt zu haben. Das gilt besonders für die Jahre des deutsch-sowjetischen Krieges.
Und schließlich: Widerspruch gegen die Sowjets endete entweder mit Verhaftung und Todesurteil oder mit Selbstkritik und neuer Unterwerfung.
Von Ulbricht ist nicht bekannt, daß er jemals in ähnlicher Weise wie Pieck aufbegehrt hätte. Aber in seinem Verhalten als Statthalter der Sowjets in Deutschland finden sich jene eben beschriebenen Elemente wieder. Sie bestimmten auch nach 1945 Ulbrichts Verhältnis zu den Sowjets, — und sie bestimmten gleichzeitig sein Verhältnis zu den Deutschen. Was die Sowjets von den Emigranten und von ihm verlangt hatten, verlangte er nun von den Deutschen: das Eingeständnis schwerer Schuld gegenüber der Sowjetunion, Hintanstellung deutscher Interessen und Gehorsam.
Sollte es den Millionen überzeugter Nationalsozialisten besser gehen als den von ihnen zwölf Jahre lang verfemten KP-Emigranten? Wenn die Kommunisten versagt hatten — hatten nicht auch die anderen Gegner Hitlers versagt? Sollten sie frei von Schuld sein? Ulbricht gab die Anklage Moskaus „Ihr seid schuld!'nach dem Ende des Krieges tausendfach weiter: „Der heimtückische Überfall der Hitlerarmeen auf den ersten Staat der Werktätigen ist das schändlichste Kapitel in der Geschichte des deutschen Volkes."
Zwar hat dieser Mann schon in den Jahren vor Hitler Moskau als das Zentrum des Weltkommunismus anerkannt und Direktiven in Deutschland verwirklicht, die an den Schreibtischen des Kreml entworfen worden waren. Dennoch haben die Jahre von 1933— 1945 sein Verhältnis zur Sowjetunion und zu Deutschland verändert. Man sollte die Tatsache nicht unterschätzen, daß Ulbricht 1937 aus Deutschland ausgebürgert wurde — wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Selbst einem Kommunisten, der als Internationalist fühlt, mag das nicht gleichgültig sein.
Es wird behauptet — das sei hier erwähnt — Ulbricht habe die sowjetische Staatsbürgerschaft angenommen. Der Beweis dafür ist nicht zu erbringen. Ulbricht sagt, er sei nie sowjetischer Bürger gewesen
Aber selbst der kommunistische Emigrant spürt die Entwurzelung seines Lebens. Seine Heimat, die er verlassen mußte, wird ihm fremd. Doch alle Versuche, sich von ihr zu befreien, scheitern. Für seine Gastgeber bleibt er der Repräsentant seines Geburtslandes; ihre Anklagen gegen das Unrecht dort gehen an seine Adresse; an ihn, den Flüchtling, geht die Frage: , Wie war das möglich? Warum habt Ihr es zugelassen?'In den Jahren des Krieges mag Ulbricht sich manchmal gewünscht haben, nicht Deutscher zu sein, sondern ein gebürtiger Russe. Vieles wäre dann für ihn einfacher gewesen. Es ist schwer, eine zweite Heimat zu finden. Es ist schwer, nicht mehr dahin zu gehören und noch nicht hierhin. Aber auch der Emigrant, gerade er, will irgendwo hingehören, irgendwo dazugehören. Ulbricht versuchte, sowjetischer als die Sowjets zu sein, „päpstlicher als der Papst". Sein in den zwanziger Jahren gewonnener Glaube, die Sowjetunion sei der erste sozialistische Staat, „das Vaterland aller Werktätigen", half ihm dabei. Bald begann er, seine Landsleute mit den Augen der Sowjets zu sehen — oder glaubte doch, sie so zu sehen. Dann kam er zurück nach Deutschland.
Er glaubte, sein Haß auf das Land und seine Menschen, die über die Städte und Dörfer der Sowjetunion Tod, Verderben und großes Leid gebracht hatten, sei der gleiche Haß, wie ihn die Sowjetbürger spürten. Aber Ulbrichts Haß war vielschichtiger. Er muß die Deutschen mehr gehaßt haben, als die Sowjets das taten. In seinem Haß entlud sich alle Schmach, die deutsche Kommunisten in der Sowjetunion erlitten hatten und für die er nicht die Sowjets, sondern nun die Deutschen verantwortlich machte. In seinem Haß entlud sich auch die Erbitterung darüber, daß er als Statthalter heimkehren mußte. Der Traum des alten Kommunisten, ein durch die siegreiche Revolution entstandenes Sowjetdeutschland repräsentieren zu können, war ausgeträumt. Und auch der neue Widerspruch, der erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges für Ulbricht entstand, muß den Haß vertieft haben. Ulbricht verachtete das Hitler-Volk, aber nur mit diesem Volk konnte er wiedergutmachen; mit diesen Menschen mußte er die Voraussetzungen für einen bolschewistischen Staat auf deutschem Boden schaffen.